Die Zielsetzung dieser anwendungsorientierten Studie ist es, den derzeitigen Stand des Wissensmanagements im Bereich der IEBBw als organisationale Realität empirisch zu erheben und somit einerseits Schwächen und Versäumnisse offenzulegen, andererseits Möglichkeiten und Chancen zur Verbesserung auf dem Weg zu einer lernenden Organisation dieses kleinen Teilbereiches der Einsatzorganisation Bundeswehr aufzuzeigen. Ein besonderer Fokus soll auf der Möglichkeit einer digitalen Unterstützungsmöglichkeit des Wissensmanagements für IEBBw liegen. Hier soll herausgefunden werden, welche Anforderungen Einsatzkräfte an eine digitale Unterstützung durch ein Wissensmanagement-Tool stellen.
Die Bundeswehr operiert seit Beginn der 1990er Jahre in verschiedenen Auslandseinsätzen in einem fremden kulturellen Umfeld. Zur Unterstützung der Handlungsfähigkeit von militärischen Entscheidungsträgern in Auslandseinsätzen wurde die Interkulturelle Einsatzberatung der Bundeswehr (IEBBw) aufgebaut. Das Expertenwissen über ethnische, kulturelle, historische und politische Prägungen eines bestimmten Ein- satzgebietes ist seitdem unabdingbar, um deutsche Kontingentführer5 und ihre Stäbe zielgerichtet in einem fremdkulturellen Kontext beraten zu können. Ein effizientes Wissensmanagement, das militärische Entscheidungsträger bei der Erfüllung ihres Auftrages unterstützt, ist dagegen eine weitgehend ungelöste Herausforderung für Streitkräfte wie die Bundeswehr. Daher besteht die Notwendigkeit, dem Thema Wissensmanagement in Auslandseinsätzen eine größere wissenschaftliche und praktische Aufmerksamkeit zu schenken.
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkurzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Ausgangssituation
1.2 Problemstellung
1.3 Zielsetzung
1.4 Aufbau
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Forschungsstand
2.2 Wissenskategorien
2.3 Wissensmanagement und Auslandseinsatze
2.4 Instrumente des Wissensmanagements in Streitkraften
2.5 Prolog: Interkulturelle Einsatzberatung der Bundeswehr
3. Forschungsmethodik
3.1 Datenerhebung: Beobachtungs- und Archivdaten
3.2 Datenerhebung: Onlineumfrage
3.2.1 Pretest
3.2.2 Stichprobe
3.2.3 Qualitative Inhaltsanalyse
4. Darstellung der Ergebnisse
4.1 Soziodemografische Daten
4.2 Einsatzerfahrung
4.3 Aufgabenspezifische Wahrnehmung
4.4 Relevanz von Wissensmanagement
4.5 Zufriedenheit mit dem Wissenstransfer
4.6 Wissensbewahrung
4.7 Unterstutzung durch Digitalisierung
5. Diskussion
5.1. Zusammenfassung der Ergebnisse
5.2 Einschrankungen und Ubertragbarkeit
5.3 Beitrag zur Forschung und weiterer Forschungsbedarf
6. Fazit
Literatur- und Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Anlage Datenerhebung
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Identifizierte relevante Literatur
Tabelle 2: Wissenskategorien
Tabelle 3: Ubersicht der verwendeten Datenquellen
Tabelle 4: Qualifikationen fur die Tatigkeit als IEB
Tabelle 5: Relevanz von Wissensmanagement
Tabelle 6: Zufriedenheit mit dem expliziten Wissenstransfer bei Einsatzbeginn
Tabelle 7: Kodierung und Kategorienbildung
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Anzahl der Veroffentlichungen pro Jahr
Abbildung 2: Dienstgradgruppen
Abbildung 3: Einsatzerfahrung
Abbildung 4: Einsatzgebiete
Abbildung 5: Einsatzhaufigkeit
Abbildung 6: Verweildauer und Aufbau von Erfahrungswissen
Abbildung 7: Wissensbewahrung
Abbildung 8: Wissensmanagement-Hilfsmittel
Abbildung 9: Funktionen eines Wissensmanagement-Tools
Abkurzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
1.1 Ausgangssituation
Das Forschungsfeld Wissen hat aufgrund schneller struktureller Veranderungen in der Okonomie, der fortschreitenden Digitalisierung und Technisierung sowie der zuneh- menden Komplexitat aktuelle Relevanz fur Unternehmen und Organisationen (Burger 2011: 13). Zunehmend auch Institutionen aus dem offentlichen Sektor und Non-Profit- Organisationen beschaftigen sich mit der Thematik des Managements von Wissen (North 2016: 7). Trotz des Bewusstseins uber die Bedeutung des personellen Wissens werden schatzungsweise nur etwa 30 % des real vorhandenen Wissens einer Organisation effektiv genutzt (Lehner 2014: 6). In mehreren wissenschaftlichen Studien wurde aufgezeigt, dass insbesondere mit dem Ausscheiden von Personal aus einer Organisation die Gefahr eines Wissensverlustes droht (Singh & Gupta 2021; Muller et al. 2021). Die Fluchtigkeit von Wissen wird damit zum zentralen Problem der organi- satorischen Wissensbasis und der adaquate Umgang mit Wissen ist eine wesentliche Quelle fur die Einsatzfahigkeit einer Organisation. Nichtsdestoweniger stellen Probst und Romhardt (1997: 130) fest, dass zwar ein breiter Konsens uber die Bedeutung von Wissen fur den Erfolg von Unternehmen in der Wissensgesellschaft besteht, aber die Ressource Wissen so schlecht gemanagt wird.
Besonders personalstarke Organisationen verbunden mit einer hohen Personalfluktu- ation, z. B. die Bundeswehr mit rund 183 131 Soldatinnen und Soldaten sowie 80 572 zivilen Mitarbeitenden (Stand Juni 2021), sind bestrebt, die eigene organisatorische Wissensbasis durch die Implementierung von MaBnahmen des Wissensmanagements stetig zu verbessern und den Wissensverlust zu minimieren.1 Als eine High-Reliability-Organization (HRO) ist die Bundeswehr durch komplizierte eigene Strukturen und ein komplexes, unsicheres und stetig wechselndes Umfeld gekennzeichnet. Sie gliedert sich in verschiedene Teilstreitkrafte und Organisationsbereiche sowie in zivile und militarische Strukturen und muss in multinationalen Missionen in einem fremden kulturellen Umfeld gemaB den eigenen politischen und rechtlichen Vorgaben erfolg- reich operieren konnen.
Gerade physisch und psychisch gefahrliche Auslandseinsatze2 unterstreichen aber die besondere Bedeutung des Wissensmanagements fur Einsatzorganisationen wie die Bundeswehr (Muller 2020). Deren Einsatzkrafte agieren oft in einer gefahrlichen, ihnen fremden Umgebung mit hohem personlichem Risiko. Im Kampfeinsatz, was ein Extremfall ist, riskieren Soldaten ihr Leben, wenn sie direkt mit Feinden kampfen. Sie tragen die Verantwortung fur die Erfullung des militarischen Auftrages sowie fur ihre Untergebenen und Kameraden. Sie treffen oft auf extreme Gelande- und Klimabedin- gungen. Von ihnen wird erwartet, dass sie in hochst unsicheren Situationen richtig und den Einsatzregeln entsprechend agieren und die bestmoglichen Entscheidungen tref- fen. Soldaten brauchen daher Wissen, das tief in den Kontext des Einsatzgebietes ein- gebettet ist (Lis 2014).
In der Realitat sieht das das Management von relevantem Wissen in Auslandseinsatzen oftmals anders. Das Bonmot ,die Bundeswehr weiB nicht, was die Bundeswehr weiB‘ ist ein geflugeltes Wort in der Truppe und Fehlentscheidungen werden auch immer mit fehlerhaftem Umgang mit Wissen in Verbindung gebracht. Der Wissensverlust wahrend der Kontingentwechsel wird durch das eigene Personal kritisch reflektiert. Hier ist z. B. zu horen: ,50. Einsatzkontingent, erster Versuch!‘. Wiederholt ist auch zu vernehmen, dass bei der Ubergabe und Ubernahme des Dienstpostens im Einsatz- gebiet oftmals Material, Waffen und Ressourcen etc. akribisch ubergeben werden, Da- ten, Informationen und ein kontextualisiertes Einsatzwissen dazu aber nicht. Schon bei der Pflege und dem Transfer expliziter Wissensbestande scheint es eklatante Miss- stande zu geben, wie schon 2008 ein Stabsfeldwebel einer Einheit der Zivil-Militari- schen Zusammenarbeit (CIMIC)3 in Afghanistan in sein Tagebuch notierte: „ Daten- banke nicht vorhanden. Rudimentare Excel-Tabellen, kaum auf dem neuesten Stand, doppelt und dreifach abgespeichert “ (Neitzel 2020: 502). Auch zehn Jahre spater scheint das Thema Wissensmanagement in den Einsatzgebieten eine Rolle zu spielen. Bei einem Besuch des Generalinspekteurs beim deutschen Einsatzkontingent in Kosovo im Jahr 2018 wunschte sich ein Soldat im Gesprach mit dem Generalinspekteur ebenfalls mehr Sorgfalt beim Wissenstransfer an die Folgekontingente.4 Es scheint fur die Bundeswehr bis heute schwierig zu sein, die Anspruche einer lernenden Organisation im Kontext von Auslandseinsatzen zu erfullen und dazu die notwendige techni- sche Unterstutzung bereitzustellen. Wen man bedenkt, dass allein von 1991 bis August 2017 insgesamt 408 932 deutsche Soldaten in 52 mandatierten Auslandseinsatzen in- volviert waren (Glatz et al. 2018), erschlieBt sich die hohe Bedeutung des Wissensma- nagements fur die Auslandseinsatzen der Bundeswehr. Auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Debatte uber lessons learned aus dem Afghanistan-Einsatz in den Jahren 2001 bis 2021 ist das Thema Wissensmanagement in Auslandseinsatzen von aktueller Brisanz (Munch 2020).
1.2 Problemstellung
Die Bundeswehr operiert seit Beginn der 1990er Jahre in verschiedenen Auslandsein- satzen in einem fremden kulturellen Umfeld. Zur Unterstutzung der Handlungsfahig- keit von militarischen Entscheidungstragern in Auslandseinsatzen wurde die Interkul- turelle Einsatzberatung der Bundeswehr (IEBBw) aufgebaut. Das Expertenwissen uber ethnische, kulturelle, historische und politische Pragungen eines bestimmten Ein- satzgebietes ist seitdem unabdingbar, um deutsche Kontingentfuhrer5 und ihre Stabe zielgerichtet in einem fremdkulturellen Kontext beraten zu konnen. Die Bundeswehr wirbt vor allem Zivilisten und Seiteneinsteiger als Soldaten oder Reserveoffiziere fur diese Tatigkeit an, da spezielles Wissen zu einem bestimmten Kulturraum in der Organisation Bundeswehr lange Zeit nicht verfugbar gewesen ist.6 Ein normaler Berufs- werdegang eines Offiziers lasst eine mehrjahrige Auslandserfahrung in einem Krisen- gebiet auBerhalb militarisch-administrativer Strukturen kaum zu. Integrierte Verwen- dungen in multinationalen Staben oder an Botschaften im Ausland stehen meist nur Berufsoffizieren in einem spateren Stadium ihrer Karriere offen.
Interkulturelle Einsatzberater (IEB) sollen aufgrund ihres breit angelegten Wissens diese Wissenslucke fur die Streitkrafte schlieBen und zum erfolgreichen Operieren in einem fremden kulturellen Umfeld beitragen. Hinzu kommt, dass IEBs viel Einsatz- wissen aufgrund ihrer durchschnittlich langen Dienstzeit in Einsatzgebieten sammeln. Wahrend die Dienstzeit eines gewohnlichen Soldaten im Einsatzgebiet normalerweise vier bis sechs Monate betragt, sind IEBs der Bundeswehr wesentlich langer in Aus- landseinsatzen tatig, um enge Vertrauensbeziehungen zu lokalen Entscheidungstra- gern aufzubauen und zu halten (Tappe 2015). Die lange Dienstzeit im Einsatzgebiet wirkt sich positiv auf den Wissensschatz des eingesetzten IEB aus.7
Innerhalb der Bundeswehr gibt es bereits Prozesse und Informationen, die die Ent- scheidungsfindung in Auslandseinsatzen unterstutzen. Das Problem besteht darin, dass diese ,Informationen‘ oder isoliertes Wissen oft in den Gedanken von Experten inner- halb der Organisation (und auBerhalb) gespeichert sind, aber weder zusammengefuhrt noch geteilt werden, zumindest nicht auf formelle und etablierte Weise. Oft ist das Wissen nicht in einem elektronisch abrufbaren Format verfugbar. Auf der anderen Seite stehen Einsatzorganisationen durch die fortschreitende Digitalisierung immer mehr Daten und Informationen zur Verfugung, dieser information overload uberlastet aber oftmals den menschlichen Bearbeiter und nutzt besonders in volatilen Einsatzsze- narien nur wenig. Ein effizientes Wissensmanagement, das militarische Entschei- dungstrager bei der Erfullung ihres Auftrages unterstutzt, ist eine weitgehend unge- loste Herausforderung fur Streitkrafte wie die Bundeswehr (Kaster et al. 2009: 116). Daher besteht die Notwendigkeit, dem Thema Wissensmanagement in Auslandsein- satzen eine groBere wissenschaftliche und praktische Aufmerksamkeit zu schenken.
1.3 Zielsetzung
Wie wird das Wissensmanagement der Bundeswehr in Auslandseinsatzen umgesetzt? Um diese Frage vollumfanglich beantworten zu konnen, waren eine Datenerhebung uber alle Organisationsbereiche, Teilstreitkrafte und Einsatzszenarien (landgebundene Auslandseinsatze, maritime Einsatze, einsatzgleiche Verpflichtungen etc.) hinweg so- wie die Teilnahme einer moglichst groBen reprasentativen und validen Stichprobe er- forderlich. Aufgrund der Begrenztheit der vorliegenden Studie, zeitlicher und raumli- cher Restriktionen aufgrund der COVID-19 Pandemie sowie der Fokussierung soll der aktuelle Stand des Wissensmanagements in der Bundeswehr exemplarisch an der Fa- higkeit der Interkulturellen Einsatzberater der Bundeswehr (IEBBw) dargestellt wer- den. Diese wurden als Stichprobe gewahlt, weil sie bei allen groBeren Auslandseinsat- zen der Bundeswehr in den letzten 10 Jahren (Afghanistan, Irak, Kosovo, Mali) uber weitreichende Einsatzerfahrung verfugen und einen hohen Grad der Spezialisierung aufweisen, die den Einsatz von Wissensmanagement erforderlich erscheinen lassen.
Die Zielsetzung dieser anwendungsorientierten Studie ist es, den derzeitigen Stand des Wissensmanagements im Bereich der IEBBw als organisationale Realitat (Muller 2018: 3) empirisch zu erheben und somit einerseits Schwachen und Versaumnisse of- fenzulegen, andererseits Moglichkeiten und Chancen zur Verbesserung auf dem Weg zu einer lernenden Organisation dieses kleinen Teilbereiches der Einsatzorganisation Bundeswehr aufzuzeigen. Aufbauend auf dieser Zielsetzung stellt sich die forschungs- leitende Frage:
„Welche Bedeutung hat Wissensmanagement in Auslandseinsatzen der Inter-
kulturellen Einsatzberatung der Bundeswehr?“
Um diese Frage zu beantworten, wird untersucht, welche Relevanz Wissensmanage- ment fur die Auftragserfullung hat, wie die Zufriedenheit mit dem Wissenstransfer wahrend des Auslandseinsatzes war und welches explizite Wissen bewahrt wurde. Ein besonderer Fokus soll auf der Moglichkeit einer digitalen Unterstutzungsmoglichkeit des Wissensmanagement fur IEBBw liegen. Hier soll herausgefunden werden, welche Anforderungen IEBs an eine digitale Unterstutzung durch ein Wissensmanagement- Tool stellen.
1.4 Aufbau
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in insgesamt sechs Kapitel. Nach der Erorterung der Ausgangssituation, der Vorstellung der zentralen Problemstellung sowie der wis- senschaftichen Zielsetzung und dem Aufbau der Studie schlieBen sich der Einleitung (Kapitel 1) folgende Kapitel an:
In Kapitel 2 werden die theoretischen Grundlagen der Studie beschrieben. Dazu wird zuerst der aktuelle Stand der Forschung hinsichtlich des Wissensmanagements von Streitkraften in Auslandseinsatzen aufgezeigt. Infolgedessen wird der Begriff des Wis- sensmanagements definiert und Instrumente des Managements von Wissen von Streit- kraften in Auslandseinsatzen werden aufgezeigt. Daran schlieBt sich ein Prolog uber die Genese der IEBBw an. Dieser dient dazu, ein gemeinsames sprachliches Verstand- nis zu erzeugen und semantischen Missverstandnissen im weiteren Verlauf dieser Un- tersuchung vorzubeugen. Die Ausfuhrungen sind so knapp wie moglich und so sub- stanziell wie notwendig gehalten, um der Methodik, Analyse und Diskussion mehr Raum zu verschaffen.
In Kapitel 3 wird die Forschungsmethode dieser Arbeit zur Beantwortung der in der Einleitung gestellten Leitfrage erlautert. Diese gliedert sich in zwei Datenerhebungen. Zuerst wurden offentlich zugangliche Archivdaten der Bundeswehr zum Thema Wis- sensmanagement ausgewertet, um sich dem Thema Wissensmanagement in der Bun- deswehr bzw. in Auslandseinsatzen weiter zu nahern. Zur Gewinnung der fur die Leit- frage relevanten Daten wurde ein Fragebogen entwickelt und eine Onlineumfrage un- ter ehemaligen und aktiven IEBs durchgefuhrt. Im Besonderen wird der Einsatz der qualitativen Methode der Inhaltsanalyse fur die Auswertung der offenen Frage darge- legt und deren Eignung zur Generierung und Auswertung der Daten argumentiert.
In Kapitel 4 werden die Ergebnisse der empirischen Datenerhebung deskriptiv darge- stellt. Hier wird auf die insgesamt sieben Frageblocke eingegangen: (1) Soziodemo- graphische Daten, (2) Einsatzerfahrung, (3) aufgabenspezifische Wahrnehmung, (4) Relevanz von Wissensmanagement, (5) Zufriedenheit mit dem Wissenstransfer, (6) Wissensbewahrung und (7) Unterstutzung durch Digitalisierung.
In Kapitel 5 werden die Ergebnisse zusammengefasst. Hierbei werden die Grenzen dieser Arbeit besprochen und die Moglichkeiten fur weitere Forschung erortert sowie Handlungsempfehlungen abgeleitet. Im Kapitel 6 wird das abschlieBende Fazit dieser Arbeit gezogen und an der forschungsleitenden Fragestellung gespiegelt. Anhand der Ergebnisse sollen mogliche Implikationen fur das Wissensmanagement der Einsatzor- ganisation Bundeswehr aufgezeigt werden.
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Forschungsstand
Dem breiten Themenfeld des Wissensmanagements ist in der Literatur und Forschung viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Die Disziplinen, die sich im Forschungsfeld des Wissensmanagements betatigen, reichen von Wirtschaftswissenschaften (North 2016, 2020; Porschen 2008), Informationswissenschaften, Wirtschaftsinformatik, Or- ganisationswissenschaften (Muller 2018, Muller et al. 2020, Kern 2018), Psychologie und Managementlehre (Burger 2011) bis hin zur Soziologie. Laut Muller (2018) ist insbesondere in der Betriebswirtschaftslehre im Allgemeinen sowie der Wissensma- nagement-Forschung im Speziellen in den zuruckliegenden Jahren vor allem in engli- scher Sprache ein starker Publikationsanstieg zu verzeichnen.8 Dies kann vor dem Hintergrund dieser Recherche bestatigt werden.
Insgesamt konnen drei Epochen in der Ausrichtung der wissenschaftlichen Literatur differenziert werden (Dixon 2018): Ab 1995 lag der wissenschaftliche Fokus auf dem Informationsmanagement und damit auf explizitem Wissen, ab 2000 wurden das Er- fahrungsmanagement und implizites Wissen starker untersucht. Seit 2010 ruckten das Ideenmanagement und kollektives Wissen starker in die Betrachtung. Seit 2020, um im Duktus von Dixons Epocheneinteilung des Wissensmanagements zu bleiben, wer- den vermehrt die Bedeutung der Digitalisierung und damit die technischen Aspekte des Wissensmanagements untersucht (Hawamdeh & Chang 2018; Sanzogni et al. 2017; Hanako 2016). Tatsachlich hat aber keine der folgenden Epochen die vorherge- hende abgelost, sondern eher komplettiert und mit neuen Ansatzen sowie Methoden bereichert.
Auch die Scientific Community aus den Bereichen Sicherheits- und Konfliktstudien oder Military Studies nimmt sich zunehmend dieses Themas an, wie die durchgefuhrte Literaturrecherche aufzeigt. Im Folgenden wird der Stand der Forschung, welche As- pekte des Wissensmanagements innerhalb von Streitkraften in der Literatur diskutiert werden, vorgestellt. Insgesamt konnten wahrend der Literaturrecherche zum Thema Wissensmanagement in Streitkraften 55 Publikationen identifiziert werden, von denen 49 Publikationen (89 %) englischsprachig waren und von denen nur 18 Publikationen (32,7 %) einen konkreten Einsatzbezug hatten. Abbildung 1 zeigt die Anzahl der iden- tifizierten Veroffentlichungen pro Jahr.
Abbildung 1: Anzahl der Veroffentlichungen pro Jahr
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eine umfassende deutschsprachige Untersuchung zum Wissenstransfer in Einsatzor- ganisationen (HRO), darunter auch Streitkraften, und Referenzrahmen fur weitere For- schungen in diesem Bereich sind die jungst erschienenen Studien von Muller (2018; 2020).9 Die vorliegenden Veroffentlichungen uber Wissensmanagement und Streit- krafte bzw. militarische Einsatze untersuchen konkrete Instrumente fur den Wissens- transfer (Hasnain 2016), wie Debriefing (Firing et al. 2015; 2020, McChrystal et al. 2020), After-Action-Review (Moldjord & Hybertsen 2015), Lessons Learned (Dyson 2021; Hardt 2018), Fuhrungsverhalten und Werte (Bennet et al. 2010). Andere Bei- trage bezogen sich auf organisationales Lernen und Wissensgenerierung in der Aus- bildung von Streitkraften (Hasselbladh & Yden 2020; Haaland 2016; Noll & Rietjens 2015; Catignani 2014; O’ Toole & Talbot 2011, Farias et al. 2009), den Wissensverlust durch das Ausscheiden von Soldaten aus dem aktiven Dienst (Singh & Gupta 2021), die Notwendigkeit des uneingeschrankten Wissens- und Informationsflusses fur den operativen Erfolg (McChrystal et al. 2020, Ouriques et al. 2019) oder fokussierten sich auf die Anwendung von Wissenspraktiken fur einen militarischen Teilbereich (Koerner & Staller 2021; DeMattei 2013; Jewell 2012; Waltz 2003). Der Sammelband von Goldenberg et al. (2017) untersucht zwischenmenschliche, organisatorische und tech- nologische Voraussetzungen sowie Hindernisse fur den Informationsaustausch in mul- tinationalen und behordenubergreifenden Operationen. Eine Kombination verschiede- ner Wissensmanagementmethoden anhand des SECI-Modells (Socialization, Externa- lization, Combination, Internalization) schlagen Lis (2014) sowie Sandor & Tanot (2021) fur Streitkrafte vor. Diese Studien differenzieren aber nicht zwischen Routine- dienst und Einsatz. Sternberg et al. (1995) sowie Wagner & Sternberg (1985) haben in ihren Studien fur das US-amerikanische Militar fokussierte Interviews eingesetzt, um die Relevanz des impliziten Wissens aufzuzeigen.
Der Mehrwert von digitalen Technologien und Instrumenten fur das militarische Wis- sensmanagement in Auslandseinsatzen wird bis heute wissenschaftlich kaum adres- siert (Schulte & Sample 2006). Manuri & Yacoob (2011) elaborierten in ihrer quanti- tativen Studie die Wahrnehmung des malaysischen Offizierskorps gegenuber den Schlusselfaktoren des Wissensmanagements zu denen Menschen, Prozesse und Technologie gehoren. Sie fanden einen positiven Zusammenhang zwischen Technologie und Wissensmanagement fur Streitkrafte und Alkhred et al. (2018) untersuchten die Notwendigkeit von Datenbanken zur Speicherung expliziter Wissensbestande in Peacekeeping-Operations.
Tabelle 1: Identifizierte relevante Literatur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Durchsicht der einschlagigen Literatur zeigt daher, dass es zwar eine reichliche Literatur zum Thema Wissensmanagement in Streitkraften gibt, jedoch nur begrenzte Erkenntnisse daruber gewonnen wurden, wie HRO und Einsatzkontingente von Streit- kraften diese zum maximalen Einsatznutzen einsetzen konnen. AuBerdem gibt es kaum empirische Daten daruber, was sich Einsatzkrafte von einer technischen bzw. digitalen Unterstutzung fur das eigene Wissensmanagement im Auslandseinsatz er- warten und welche Funktionen ein solches Tool haben sollte. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Fur das mangelnde Interesse am Nexus von Streitkraften und Wis- sensmanagement sind mehrere Grunde zu nennen. Zum einen ist es aufgrund von Si- cherheitsbarrieren schwierig, an valide Daten aus den Streitkraften zu kommen. Zum anderen herrscht vor allem in der deutschsprachigen Forschungslandschaft eine unge- minderte Skepsis bezuglich militarischer Themen vor oder es werden andere Aspekte von Auslandseinsatzen der Streitkrafte beleuchtet, wie z.B. die RechtmaBigkeit dieser Einsatze, politische Implikationen oder die Auswirkungen auf das soziale Umfeld. Die vorliegende Untersuchung wird somit bewusst in die Grundlagenforschung zum Wis- sensmanagement in Auslandseinsatzen von Streitkraften eingereiht.
2.2 Wissenskategorien
Innerhalb des Wissensmanagements in Organisationen wird seit den 1960er Jahren durch das von Michael Polanyi gepragte Klassifikationssystem zwischen verschiede- nen Kategorien von Wissen10 unterschieden, die auch in Streitkraften eine groBe Rolle spielen. Einen umfangreichen Uberblick uber verschiedene Wissensdichotomien fur Einsatzorganisationen bietet Muller (2020: 223), der insgesamt 94 Arten im wissen- schaftlichen Diskurs gezahlt hat. Philp und Martin (2009) argumentieren hingegen, dass in einer militarischen Organisation nur zwei Arten von Wissen benotigt werden: detailliertes Wissen uber eine bestimmte taktische Situation in einem volatilen Umfeld und relevantes Wissen fur das Erreichen eines militarischen Zieles auf operativer Ebene. Die Autoren sind der Meinung, dass die meisten der in der Literatur definierten Wissenstypen miteinander verknupft und daruber hinaus sehr generisch sind. Singh und Gupta (2021) zeigen in ihrer Studie uber den Wissensverlust durch ausscheidende Soldaten, dass es in militarischen Organisationen vor allem um operativen Erfolg geht, d. h. um das fur die Operationsfuhrung erforderliche Einsatzwissen11. Daher ist das operative Einsatzwissen der Kern aller existierenden Wissensformen und der Verlust von operativem Einsatzwissen schadet der Gesamtorganisation der Streitkrafte am meisten. Im Folgenden sollen nur die fur die Aufgabe eines IEB der Bundeswehr maB- geblichen Wissensarten exemplarisch vorgestellt werden.
Die groBte Aufmerksamkeit wird der Unterscheidung zwischen implizitem und expli- zitem Wissen geschenkt. Explizites Wissen kann eindeutig in Worte gefasst, leicht weitergegeben und durch logisches Denken erfasst werden. Explizites Wissen ist also vom Individuum losgelost und wird z. B. in Form von Textdokumenten (Doktrinen, Gesprachsberichten, soziokulturellen Lageeinschatzungen, Taschenkarten etc.) oder Datenbanken (Kontaktlisten von lokalen Schlusselpersonen) fur militarische Zwecke dokumentierbar gemacht (Alkhred et al. 2018).
Implizites Wissen hingegen ist subjektives Erfahrungswissen der Soldaten, das nicht vollstandig erfasst werden kann und kontextgebunden ist. Es gibt vier strukturale As- pekte des impliziten Wissens bzw. des tacit knowing: Es ist erfahrungsgesattigt, un- aussprechbar, ontologisch latent und praxisgebunden (Katenkamp 2011: 63). Teile des impliziten Wissens konnen nicht oder nur teilweise durch Worte wiedergegeben werden, wie Werte, Gefuhle oder kulturelles Wissen. Polanyi erklart dies in seiner Theorie des impliziten Wissens mit dem Satz: „Dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (Polanyi 1985: 14). Hauptsachlich fungiert kulturelles Wissen implizit bzw. praktisch im Modus eines tacit knowledge (Polanyi 1985). Es ist integraler Bestandteil einer Praxis, also ein Wissen der Praxis, nicht aber ein Wissen uber diese Praxis. Nach Straub (2007: 16) ist es „die Teilhabe an einer kulturellen Praxis. Es lasst sich nicht vom Horensagen kennen lernen, sondern nur durch Mittun und Einubung im Laufe der (lebenslangen) Sozialisation bzw. Enkulturation“.
Damit der externalisierbare Teil des impliziten Wissens fur andere zur Verfugung ge- stellt werden kann, muss es in dokumentierbares, systematisiertes explizites Wissen transferiert werden (vgl. Rehauser & Krcmar 1996; Thobe 2000). Dies wird in Streitkraften durch die Erstellung von Erfahrungsberichten, Vorschriften, Taschenkarten, Doktrinen oder Wissensdatenbanken wie BW-Wiki sichergestellt. Beim Transfer von implizitem ins explizite Wissen treten jedoch Wissensverluste auf. Erfahrungen, die in einem bestimmten Kontext wie einem Auslandseinsatz als IEB gemacht wurden, konnen nur schwer schriftlich fixiert werden. Fur Personen, die diese Umstande nicht kennen, bzw. fur ein spateres Nachvollziehen ist die einzelne Information aus diesem kontextspezifischen Wissen kaum brauchbar. Das wiederum bedeutet, dass dieses Wissen schwieriger an andere weitergegeben werden kann (Pawlowsky 2019: 114). Zum Beispiel kann ein IEB nicht alle seine personlichen Erfahrungen wahrend seines Einsatzes ohne Wissensverluste an seinen Nachfolger auf dem Dienstposten uberge- ben oder in Wissensdatenbanken, Handbuchern, Gesprachsberichten etc. verlustfrei transferieren. Auch eignen sich explizite Wissensbestande in volatilen und sich schnell andernden Lagen nur bedingt, wie Jones und Mahon konstatieren (2012).
Des Weiteren wird zwischen individuellem (privatem) und kollektivem (organisatio- nalem) Wissen unterschieden. Ersteres bezieht sich auf das Wissen einer Einzelperson, wahrend letzteres das einer Gruppe, z. B. der Fahigkeit der IEBBw oder der gesamten Bundeswehr, abbildet. Kollektives Wissen steht mehreren Individuen zur gleichen Zeit im gleichen Umfang zur Verfugung. Es ist groBer als die Summe des zum Kol- lektiv gehorenden individuellen Wissens. Das kollektive oder organisationale Wissen formiert sich nicht nur durch Kenntnisse einer Gruppe, sondern in Vorschriften, Standards, Verfahrensablaufen oder der militarspezifischen Organisationskultur. Das organisationale Wissen wird auch als organisationale Wissensbasis bezeichnet. Muller (2018: 163) beschreibt es auch als fachliches Wissen. Dieses Wissen umfasst alle fur Einsatze erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fahigkeiten, die zur erfolgreichen Auftragserfullung notwendig sind, in der einsatzvorbereitenden Ausbildung erlernt werden und in Dienstvorschriften externalisiert werden.
Externes und internes Wissen stellen eine weitere Wissenskategorie fur Streitkrafte dar. Ersteres muss von auBen bezogen werden, weil es in der eigenen Organisation der Streitkrafte nicht vorhanden ist. Dies kann durch die Einstellung oder das Anwerben zivilen Personals, durch externe Beratungsleistungen oder den Wissensaustausch mit zivilen Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen im Einsatzgebiet er- folgen. Interkulturelle Einsatzberater werden deshalb z. B. aufgrund ihrer Regionalex- pertise, ihrer Sprachkenntnisse oder ihres spezialisierten Studiums durch die Bundeswehr auf dem ,freien Markt‘ angeworben, eingestellt und danach militarisch ausgebil- det. Internes Wissen wird dagegen innerhalb der Streitkrafte generiert.12
Auf der Zeitachse kann man zwischen aktuellem und zukunftigem Wissen unterschei- den. Aktuelles Wissen bildet das derzeitig vorhandene und notwendige Erfolgswissen fur die Durchfuhrung von Auslandseinsatzen ab. Im Hinblick auf die Ausubung einer professionellen Tatigkeit ist es das Wissen, das benotigt wird, um diese Tatigkeit aus- uben zu konnen, z. B. die Regionalexpertise uber ein bestimmtes derzeitiges Einsatzgebiet der Bundeswehr wie Mali. Zukunftiges Wissen hingegen ist das Wissen, das erforderlich ist, um langfristig diese Tatigkeit ausfuhren zu konnen oder um sich neue Tatigkeitsfelder erschlieBen zu konnen, wie die Regionalexpertise uber ein zukunftiges Einsatzgebiet der Bundeswehr.
Daruber hinaus kann man Wissen weiterhin in Faktenwissen, Methodenwissen sowie Alltagswissen und Expertenwissen differenzieren (Bea 2000). Faktenwissen wird als Wissen uber reale Sachverhalte verstanden, z. B. das Wissen daruber, dass der albani- sche Volksheld Skanderbeg 1468 n. Chr. gestorben ist. Methodenwissen hingegen ist die Fahigkeit zur Durchdringung und Losung von Problemen, z. B. die Analyse der Auswirkungen der schiitischen Aschura-Prozessionen auf die Sicherheitslage im Zentralirak und die daraus folgende Ableitung welche Handlungsempfehlungen den eigenen Soldaten und dem militarischen Entscheidungstrager gegeben werden.
SchlieBlich sind das Expertenwissen und das Alltagswissen zu nennen. Ersteres ist ein Wissen in einem bestimmten Fachgebiet, z. B. in Islamwissenschaften, das weit uber dem Durchschnitt liegt und in besonderem AusmaB praxiswirksam wird. Dieses er- langt man durch Investitionen von Ressourcen. Nach Bogner et al. (2014: 45) werden Experten als Personen definiert, die „ausgehend von spezifischem Praxis- oder Erfah- rungswissen, das sich auf einen klar begrenzbaren Problemkreis bezieht, die Moglich- keit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend zu strukturieren“. Expertenwissen in den autonomen Teilsystemen funktional differenzierter Gesellschaften gehort laut Straub et al. (2007: 16) zum ex- pliziten Wissen. Alltagswissen ist das Wissen, das durch Erfahrung allgemein erlangt wird, ohne sich damit tiefer auseinandersetzen oder in Ressourcen investieren zu mus- sen. Dazu gehort z. B. das Wissen daruber, dass der Islam eine Weltreligion ist.
Zuletzt ist das Verhaltenswissen in Streitkraften zu nennen. Dieses ist die Kenntnis uber den zweckmaBigen Umgang mit anderen Individuen und druckt sich in Regeln, Standards und Verhaltensnormen aus (Bea 2000: 363). Das Verhaltenswissen besitzt in der interkulturellen Kompetenz und Kommunikation eine groBe Relevanz, bei- spielsweise bei der Durchsuchung von weiblichen Zivilisten an einem temporaren Checkpoint in konservativen muslimisch gepragten Gesellschaften. Verhaltenswissen wird im Auslandseinsatz auch durch die Rules of Engagement zum Gebrauch von Waf- fengewalt festgelegt und mit Hilfe von Taschenkarten fur Soldaten dokumentierbar gemacht sowie in der einsatzvorbereitenden Ausbildung trainiert.
Erganzend hierzu kann nach Muller (2018) das Einsatzwissen als eine spezielle Form des Verhaltenswissens benannt werden, das sich nicht durch Regeln, Standards oder Normen erschlieBen lasst, sondern nur durch und in selbsterlebte(n) Einsatze(n) und somit aus implizitem Erfahrungswissen, das ausnahmslos durch konkrete Einsatzsitu- ationen gewonnen wurde. Hier ist als Beispiel das Wissen zu nennen, wie auf Anwei- sung durch den militarischen Entscheidungstrager ein Vertrauensverhaltnis zu einem lokalen Stammesfuhrer in einem Einsatzgebiet aufbaut. Auch diese Wissensart lasst sich schwer externalisieren und in Dokumenten speichern. Tabelle 1 zeigt die zentra- len Kriterien und Unterscheidungsformen der eben genannten Wissenskategorien exemplarisch auf. Hier ist anzumekren, dass nicht jedes Kriterium nur fur sich steht sondern es oft Uberlappungen geben kann.
Tabelle 2: Wissenskategorien
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.3 Wissensmanagement und Auslandseinsatze
Wissensmanagement setzt sich im Gegensatz zum Informationsmanagement nicht nur mit explizitem Wissen, sondern auch mit dem impliziten Wissen der Mitarbeiter aus- einander. Neben der Externalisierung von implizitem Wissen stellt die Kollektivierung von individuellem Wissen also die Hauptaufgabe des Wissensmanagements auch in Streitkraften dar (Sensoy et al. 2015; 2000; Thobe 2000).Es existiert bis heute keine anerkannte Definition fur das Wissensmanagement, sondern es sind nur aus der jewei- ligen Perspektive der verschiedenen Disziplinen bereitgestellte Definitionsangebote vorhanden. Im Alltag und in der Belletristik werden zudem Wissens- und Informationsmanagement haufig synonym gebraucht oder nur unzureichend definitorisch von- einander abgegrenzt. Bullinger et al. (1998) definieren Wissensmanagement als ein systematisches Vorgehen zur Akquisition, Entwicklung, Verteilung, Nutzung, Bewer- tung und Bewahrung von Wissen innerhalb einer Organisation durch die Gestaltung entsprechender Strukturen und Prozesse sowie den Einsatz geeigneter mentaler, tech- nischer und organisatorischer Methoden und Instrumente.
Diese Definition besteht aus funf entscheidenden Merkmalen: Zuerst setzt sie (1) eine Systematik innerhalb (2) einer Organisation voraus, die sich durch (3) Strukturen und (4) den Einsatz technischer Hilfsmittel Wissen (5) langfristig nutzbar macht. Lis (2014) definiert Wissensmanagement in einer militarischen Organisation als einen Prozess, der das Erkennen, Abrufen, Bewerten und Teilen des Wissens umfasst, um militarische Operationsziele zu erreichen. Die Definition von Wissensmanagement in- nerhalb der Bundeswehr richtet sich nach Reinmann-Rothmeier und Mandl (2000). Diese Definition bleibt in ihrer Aussagekraft gegenuber der Definition von Bullinger unkonkreter: „Das Wissensmanagement der Bundeswehr ist der bewusste und syste- matische Umgang mit der Ressource Wissen und beschaftigt sich mit deren zielgerich- tetem Einsatz in der Organisation.“13
Der Versuch, militarisches Wissensmanagement in Auslandseinsatzen in seiner Ge- samtheit zu erfassen, ware vermessen, wenn nicht gar unmoglich. Das Militar ist in seinen Wissenssystemen und -praktiken vielfaltig. Kollektiv waren Streitkrafte das Aquivalent vieler groBer ziviler, global agierender Konzerne mit jeweils mehreren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sowie Niederlassungen in anderen Landern (Maule 2011). Dennoch gibt es einige Unterscheidungen zwischen der zivilen und mi- litarischen Nutzung von Wissensmanagement.
Streitkrafte mussen fur den Ernstfall gewappnet sein. Daher finden in Friedenszeiten Ausbildung und Ubungen entsprechend den zu erwartenden Einsatzen statt. Hierfur halten Streitkrafte explizites Wissen in Form von Doktrinen, Handbuchern oder Ta- schenkarten vor. Dieses Wissen wird durch Ausbildung und Lehre verinnerlicht und im Auslandseinsatz angewandt. Als Ergebnis dieser Aktivitaten entsteht neues implizites Wissen (Einsatzwissen). Die gewonnenen Erkenntnisse nach Auslandseinsatzen bringen wiederum kritisches Wissen in die militarische Organisation ein und fuhren somit zur Etablierung einer lernenden Organisation. 14 So waren z. B. die militarischen Dennoch ist zu berucksichtigen, dass das Wissensmanagement in Auslandseinsatzen anderen Bedingungen Rechnung tragen muss als im Friedensdienst im Inland. Alle Einsatze der Bundeswehr finden in einem multinationalen Rahmen statt, hierfur ist ein interoperables Wissensmanagement zwischen den Streitkraften der teilnehmenden Nationen und der dafur notwendige sprachliche Zeichenvorrat erforderlich. Daruber hinaus sind Einsatze durch sich schnell andernde auBere Lagen und Volatilitat gekenn- zeichnet, die eine schnelle Verfugbarkeit von kontextualisiertem, aktuellem Einsatzwissen verlangen (Jones & Mahon 2012, Sensoy et al. 2015). An das Militar werden besondere Anforderungen an Just-in-Time-Wissen fur eine erfolgreiche Operati- onsfuhrung gestellt. Im zivilen Wissensmanagement ist beispielsweise eine dynami- sche Situationsbewertung fur einen Echtzeitangriff kein typisches Unternehmensziel. Zur Komplexitat kommen erschwerend die Geheimhaltungsgrade vieler Systeme (Maule 2011) sowie die Need-to-know-Kultur in den Streitkraften hinzu (McChrystal 2020).
Modell haufig, wenn auch meistens in modifizierter Form, in HRO und Streitkraften benutzt (Muller 2018: 22). Als drittes ist das TOM-Modell zu nennen. Dieses adressiert die drei Gestaltungsfelder Tech- nik, Organisation und Mensch (Kaster et al. 2009; Reinmann-Rothmeier & Mandl 2000; Bullinger et al. 1998). Im Rahmen der Wissensverteilung wird deshalb auch zwischen einer organisatorischen, tech- nologischen und humanorientierten Perspektive unterschieden (Heisig & Orth 2005: 33).
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1 Bundeswehr (2021) Personalzahlen der Bundeswehr, Bundeswehr.de. Verfugbar unter: http://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr (Zugegriffen: 6. August 2021).
2 Unter Auslandseinsatzen werden hier alle Einsatze der Bundeswehr auBerhalb Deutschlands begriffen, die vom Bundestag als solche mandatiert sind, in der Regel in einem multilateralen Rahmen erfolgen und dort, wo sie zur Durchsetzung des Auftrags die Anwendung militarischer Gewalt einschliehen, durch einen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) legitimiert sind.
3 Ziel von CIMIC ist es, die Missionsziele durch den Aufbau und die Pflege von Kooperationen mit nichtmilitarischen Akteuren im Einsatzgebiet zu unterstutzen. Im Idealfall arbeiten alle Akteure an ei- nem gemeinsamen Ziel. Wo dies nicht moglich ist, wird durch Interaktion sichergestellt, dass die Akti- vitaten so weit wie moglich harmonisiert werden, um negative Auswirkungen auf die eigenen Operati- onen sowie auf nichtmilitarische Operationen und das zivile Umfeld zu vermeiden. Dadurch werden Storungen oder unbeabsichtigte Konflikte zwischen verschiedenen Akteuren minimiert. Quelle: Civil- Military Cooperation Centre of Excellence (2021) CIMIC Handbook, Cimic-coe.org. Verfugbar unter: https://www.handbook.cimic-coe.org (Zugegriffen: 23. November 2021).
4 Bundesministerium der Verteidigung (2018) Generalinspekteur besuchtKosovo, Bmvg.de. Verfugbar unter: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/generalinspekteur-besucht-kosovo-28790 (Zugegriffen: 23. November 2021).
5 In dieser Arbeit wird aus Grunden der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitaten werden dabei ausdrucklich mitgemeint, soweit es fur die Aussage erforderlich ist.
6 Hofer, K. M. (2014) Einsatzberater der Bundeswehr, DER SPIEGEL. Verfugbar unter: https://www.spiegel.de/karriere/einsatzberater-bei-der-bundeswehr-in-afghanistan-a-961107.html (Zu- gegriffen: 28. September 2021).
7 Wie bedeutsam ein standardisiertes Wissensmanagement fur diesen spezialisierten Aufgabenbereich ist, zeigte der Einsatz von Research-Managern innerhalb der Human-Terrain-Teams (HTT) der US- Streitkrafte. Die HTT hatten ein ahnliches Aufgabenportfolio wie die IEBBw. Diese funf- bis neun- kopfigen Teams unterstutzten ihre militarischen Entscheidungstrager, indem sie deren kulturelle Wis- senslucken im Operationsgebiet schlossen und kulturelle Interpretationen von Ereignissen fur militari- sche Operationen bereitstellten. Die Research-Manager waren ein integraler Bestandteil jedes HTT und in erster Linie fur das Wissensmanagement, die Informationsverfolgung, die Produktverbreitung, die Entwicklung und Umsetzung von Forschungsstrategien sowie die Entwicklung von Datenverarbei- tungstechniken und -standards verantwortlich.
8 Dieser Forschungsstrang beschaftigt sich mit humanorientierten Ansatzen und informellen Formen des Wissenstransfers und -managements. Diese werden in der Literatur Communities of Practice (CoPs) genannt. Die Bedeutung von CoPs als Instrumente des Wissensmanagements wurde in den letzten Jah- ren in der Literatur zunehmend diskutiert (Bolisani & Scarso 2014; Heiss 2009; Porschen 2008; Probst & Borzillo 2008; Zboralski 2007; Dixon 2004; Wenger, McDermott & Snyder, 2002). Ihr Mehrwert wurde innerhalb der hierarchisch gepragten Streitkrafte untersucht (Schulte 2021). Dass CoPs auch in der Bundeswehr bestehen und dass die Interkulturelle Einsatzberatung aus einem solchen informellen Wissensnetzwerk entstanden ist, wurde jungst erforscht (Schulte et al. 2020). CoPs beschreiben den sozialen Kontext, in dem Experten Wissen produzieren und reproduzieren, indem sie sich in situierter Praxis engagieren (Brown & Duguid 1991; Lindkvist 2005). Ein Blick in die Militargeschichte zeigt, dass informelle CoPs bzw. Praxisgemeinschaften in Streitkraften schon seit langem existieren und im- mer wieder Impulsgeber fur Innovationen und Wissenstransfer waren (Banerjee & MacKay 2020; White 1988).
9 Muller (2018) identifiziert in seiner Literaturrecherche 61 relevante Beitrage, die den Transfer von Wissen in Einsatzorganisationen unter verschiedenen Gesichtspunkten und in unterschiedlicher Inten- sitat betrachten, z. B. anwendungsbezogene Beitrage, Einflussfaktoren auf den Wissenstransfer, Instru- mente des Wissenstransfers, konzeptionelle Beitrage und den intraorganisationalen Wissenstransfer.
10 Wissen wird beschrieben „als die Gesamtheit der Kenntnisse und Fahigkeiten, die Individuen zur Losung von Problemen einsetzen“ (Probst et al. 2013). Wissen kann somit als intelligentes Verhalten umschrieben werden. Grundlagen fur Wissen sind wiederum Zeichen, Daten und Informationen. Die Umwandlung von Daten in umsetzbares Wissen ist ein komplexer Prozess, der den Einsatz kognitiver Kompetenzen, leistungsstarker Maschinen und fortschrittliche Analysetechniken erfordert (Hawamdeh & Chang 2018: 8). Der Zusammenhang zwischen Zeichen, Wissen und Kompetenz lasst sich anhand der Wissenstreppe von North (2016) visualisieren.
11 In der Studie von Singh und Gupta (2021) wurden acht Arten von Wissenskategorien identifiziert, die militarischen Organisationen durch ausscheidende Soldaten verloren gehen Diese sind: Operational Knowledge, Technical Knowledge, Locational Knowledge, Knowledge of Success and Failure, Process Knowledge, Knowledge of Additional Duties, Administrative Knowledge und Conditional Knowledge.
12 Schetter (2014: 90) merkt hier fur den Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan kritisch an: "Knowledge on Afghanistan was as a rule pooled with so-called ‘experts for regional and cultural studies' who primlary worked in the Provincial Reconstruction Teams (PRT). As a rule, these ‘experts' had only been assigned this task since the beginning of the intervention; they rarely had an prior knowledge of Afghanistan, only few of them spoke one of the local languages, and they had acquired their knowledge from text books only."
13 Bundesministerium der Verteidigung, Managemententwicklung (2017) Wissens-management der Bundeswehr, Bmvg.de. Verfugbar unter: https://www.bmvg.de/re- source/blob/27940/0a2503f46b9057e2602f31ab7557abe2/20180918-wissensmanagement-der-bundes- wehr-data.pdf (Zugegriffen: 8. Dezember 2021).
14 Das bekannteste Modell hierzu liefern Nonaka und Takeuchi (2012) mit ihrem Ansatz der Wissen- sumwandlung von implizitem in explizites Wissen durch Sozialisation, Externalisierung, Kombination und Internalisierung (SECI-Modell). Auch in Streitkraften findet dieses Modell weithin Anwendung (Lis 2014; Sensoy et al. 2015; Sandor & Tont 2021). Darauf aufbauend beinhaltet das operative Wis- sensmanagement-Modell von Probst et al. (2012: 29) folgende sieben Bausteine als Kernprozess: Wis- sensidentifikation, Wissenserwerb, Wissensentwicklung, Wissensverteilung, Wissensnutzung, Wis- sensbewahrung und Wissensbewertung. Aufgrund seiner praxisorientierten Anwendbarkeit wird dieses Operationen der Bundeswehr im nordafghanischen Kunduz wie ein Laboratorium fur die Entwicklung von deutschen Heeresausbildungskonzepten, in die nun in immer kur- zeren Zyklen Anderungen der feindlichen technischen Mittel oder taktische Lehren einflieBen konnten (Chiari 2014: 151). Muller (2019: 133) warnt aufgrund seiner For- schungsergebnisse vor einem knowledge overload durch zu viel explizites Wissen. Dieses Wissen in Form von Handbuchern, Vorschriften, Einsatzregeln etc. veraltet oftmals schnell und wird deshalb fur die Benutzer unbrauchbar. Somit versperrt es den Blick auf aktuelles, nutzliches Wissen. Implizites Erfahrungswissen von Individuen, die gerade aus einem Auslandseinsatz zuruckkehren, wird dagegen als wesentlich ak- tueller und nutzbarer erachtet.
- Citation du texte
- Philipp Starz (Auteur), 2021, Wissensmanagement in Auslandseinsätzen am Beispiel der Interkulturellen Einsatzberatung der Bundeswehr unter der besonderen Berücksichtigung digitaler Unterstützungsmöglichkeiten durch ein Wissensmanagement-Tool, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1271621
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