Kant diskutiert den Suizid in einer Vielzahl seiner Schriften. Auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten misst er ihm eine besondere Stellung zu. Gleich zweimal führt der Suizid eine Reihe von Beispielen an, die die Anwendung des Maximentests veranschaulichen. Kants Position zum Suizid ist hier eindeutig: Eine Suizidmaxime ist mit dem kategorischen Imperativ nicht vereinbar. In dieser Arbeit wird seine Argumentationen gegen eine Suizidmaxime rekonstruiert. Anschließend erfolgt ein Übergriff zur Tugendlehre, um ein umfassenderes Bild von Kants Position zum Suizid zu gewinnen.
Der Suizid bei Kant
Kant diskutiert den Suizid in einer Vielzahl seiner Schriften. Auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten misst er ihm eine besondere Stellung zu. Gleich zweimal führt der Suizid eine Reihe von Beispielen an, die die Anwendung des Maximentests veranschaulichen. Kants Position zum Suizid ist hier eindeutig: Eine Suizidmaxime ist mit dem kategorischen Imperativ nicht vereinbar. Im Folgenden werden seine Argumentationen gegen eine Suizidmaxime rekonstruiert. Anschließend erfolgt ein Übergriff zur Tugendlehre, um ein umfassenderes Bild von Kants Position zum Suizid zu gewinnen.
Kant diskutiert die Suizidmaxime in der Grundlegung mithilfe von zwei unterschiedlichen Ableitungen des kategorischen Imperativs: der Naturgesetzformel und der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel. Diese Ableitungen können wie mathematische Regeln verstanden werden, die die Überprüfung von Maximen, wie der Suizidmaxime, erleichtern.1 Dabei ist es wichtig zwischen der suizidalen Handlung und der Maxime der suizidalen Handlung, der Suizidmaxime, zu differenzieren. Kant prüft explizit mithilfe der Formeln Maximen und keine Handlungen. Unter einer Maxime versteht Kant „den Grundsatz, nach dem es [das Subjekt] handelt“ – sein „subjektives Gesetz“ (GMS, AA 04:421). Letztlich diskutiert Kant, ob das subjektive Gesetz der suizidalen Handlung mit den vom kategorischen Imperativ abgeleiteten Formeln im Einklang ist.
Kant legt der Diskussion der Naturgesetzformel und der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel das gleiche Beispiel zugrunde. Er zeichnet das Bild eines von Übeln geplagten Menschen, der zuletzt in Hoffnungslosigkeit verfällt. Diesem Menschen scheint der Suizid ein möglicher Ausweg aus seiner leidvollen Situation zu sein. Als Wesen, das nicht nur von Trieben, sondern auch der Vernunft bestimmt ist, hält er einen Moment inne und überdenkt seine geplante Handlung. Der Suizidant ist sich unklar, ob der Suizid nicht pflichtwidrig sei. Um moralische Sicherheit zu gewinnen, prüft er die seiner Handlung zugrunde liegende Maxime. Sie lautet: „[I]ch mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen“ (GMS, AA 04:422). Kant spricht allen Maximen – und so auch der Suizidmaxime – eine formale und eine materiale Seite zu. Unter der Form der Maxime versteht er ihre Allgemeinheit, also ob sie als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann. Unter der Materie der Maxime versteht Kant ihren Zweck und zielt somit auf den Inhalt der Maxime ab2. So beleuchtet er beide Seiten der Suizidmaxime in der Grundlegung: mit der Naturgesetzformel die formale Seite und mit der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel die materiale Seite.
Der Suizidant soll mit der Naturgesetzformel prüfen, „ob die Maxime [s]einer Handlung durch [s]einen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (GMS, AA 04:421). Das Prüfverfahren lässt sich in vier Schritte zusammenfassen: (1) Formulierung der Maxime. (2) Verallgemeinerung der Maxime. (3) Prüfung der Maxime als allgemeines Naturgesetz. (4) Bilanzierung. Die Suizidmaxime kann in den folgenden Satz rekonstruiert werden: Ich will unter dem Umstand U (dem Leben droht bei längerer Frist mehr Übel als Annehmlichkeit) die Handlung H (das Leben abkürzen) tun, um den Zweck Z (Selbstliebe) zu erreichen.3 Der Maxime liegen des Weiteren zwei Präsuppositionen zugrunde. Zum einen werde der Mensch durch ein Prinzip der Selbstliebe bestimmt. Zum anderen muss er aufgrund seiner Biologie sterblich sein.4 Letztere Präsupposition scheint trivial, dennoch verdeutlicht sie, dass in das nicht-empirische, formale Prüfverfahren empirische Elemente eingeführt werden. Im zweiten Schritt wird die Suizidmaxime verallgemeinert; etwas, das in dem Suizid-Beispiel nicht explizit aufgeführt wird, aber gedanklich vollzogen werden muss: Jeder, der dem Zweck Z (Selbstliebe) folgt, tut die Handlung H (das Leben abkürzen) unter dem Umstand U (dem Leben droht bei längerer Frist mehr Übel als Annehmlichkeit). Nun stellt der Suizidant die verallgemeinerte Suizidmaxime als neues Naturgesetz auf die Probe. Er testet, inwiefern er seine Maxime als allgemeines Naturgesetz denken und darüber hinaus wollen kann.5 Die möglichen Widersprüche können in der Maxime, in der verallgemeinerten Maxime oder zwischen ihr und der durch sie bedingten neuen Naturordnung liegen. Je nach Interpretationsansatz sind in der Forschungsliteratur diese Widersprüche begrifflich-logischer, teleologischer oder praktischer Art.6 Einige dieser Widersprüche lassen sich bei einer Interpretation im Sinne Kants von vorneherein ausschließen lassen (z. B. Widerspruch innerhalb der Maxime).7 Der Suizidant erkennt Kant zufolge einen Widerspruch zwischen der Maxime und einem teleologischen Naturverständnis. Es ergibt sich also ein Denkwiderspruch. Vor diesem Hintergrund bilanziert der Suizidant und erklärt die Maxime für pflichtwidrig.
Die Erklärung des Widerspruchs zwischen der Maxime und einem teleologischen Naturverständnis bildet den Kern Kants Diskussion der Naturgesetzformel im Suizid-Beispiel. Kant setzt bei der Triebfeder, die den Suizidanten zu seiner Handlung bewegt, an. Der Suizidant empfindet in dem Beispiel „einen Überdruß am Leben“ (GMS, AA 04:421). Dieser Lebensüberdruss kann mit einer allgemeinen Unlustempfindung gleichgesetzt werden.8 Dieser Unlustempfindung steht das Prinzip der Selbstliebe entgegen. Der Suizidant wird von diesem Prinzip angetrieben und will sich, um der Unlustempfindung zu entgehen, das Leben nehmen. Als allgemeines Naturgesetz gedacht bedeute das, dass jedes Unlust empfindende Wesen, dem Prinzip der Selbstliebe folgend, sich das Leben nehmen würde. Hier verortet Kant den Widerspruch. In einem teleologischen Naturverständnis habe jede Empfindung einen bestimmten Zweck, so auch die Unlustempfindung. Sie würde „zur Beförderung des Lebens“ (GMS, AA 04:422) antreiben. Unlust wird also als ein notwendiger Antrieb, um sich selbst zu überwinden, verstanden. Wenn diese Empfindung ebenfalls das Leben zerstöre, widerspräche sie ihrem eigenen Zweck. In diesem Sinne ist die Suizidmaxime nicht als allgemeines Naturgesetz, nach dem alle Wesen notwendigerweise handeln, denkbar.
Kants Beispiel ist auf den ersten Blick umstritten. Zum einen scheint eine Welt, in der sich alle Wesen aus Lebensüberdruss, genauer gesagt Unlust, das Leben nehmen, problemlos denkbar. Dem ist einzuwenden, dass Kant in seinem Beispiel nicht spezifische Handlungsregeln wie Selbstmord aus Lebensüberdruss, sondern Willensbestimmungen prüft. Selbstmord „aus Lebensüberdruss“ ist hier also keine nähere Bestimmung der Art des Selbstmordes. Vielmehr wird die Empfindung „Lebensüberdruss“ als Beispiel einer Triebfeder, die den Willen beeinflusst, eingeführt. Kant fordert den Leser nicht auf, ein Szenario aus Handlungsfolgen zu entwerfen. Vielmehr soll er den Grundsatz der Maxime erkennen und diesen als Gesetz einer Naturordnung prüfen.9 Zum anderen kann kritisiert werden, dass Kant sein teleologisches Verständnis der Unlust und der Natur voraussetzt, ohne es zu begründen. Angenommen, die Natur wäre nicht teleologisch gedacht, gäbe es keinen Widerspruch mehr. Dieser Einwand kann zurückgewiesen werden. Kant geht es in seinem Beispiel nicht um die Aussprache eines Suizidverbots, sondern um das rein formale Verfahren des Maximentests.10 Dieses formale Verfahren kann nie in einem luftleeren Raum angewendet werden. Der logische Widerspruch benötigt für sein Zustandekommen inhaltliche Voraussetzungen. Darunter fallen Präsuppositionen, Umstände und Zwecke der Handlung, und die Vorstellung einer neuen Naturordnung.11 Des Weiteren muss von dem eigentlichen Verfahren die Möglichkeit der Aufstellung, Anwendung und Annahme der Maxime abgegrenzt werden. Angenommen, der Mensch wäre nicht durch das Prinzip der Selbstliebe bestimmt oder es gäbe keine teleologische Naturordnung, wäre die Maxime dennoch aufstellbar. Sie wäre dann eine hypothetische Maxime für den hypothetischen Fall, dass beide Annahmen zutreffen. Der Maximentest wäre folglich ein hypothetischer, was nicht die Gültigkeit des Verfahrens schmälert.
Die zweite prominente Stelle in der Grundlegung, an der Kant den Suizid thematisiert, folgt der zuvor aufgestellten Menschheit-als-Selbstzweck-Formel. In dieser Formel des kategorischen Imperativs legt Kant den Schwerpunkt auf den Zweck des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, AA 04:429). Er wendet diese Formel erneut auf das Beispiel des Suizids aus Lebensüberdruss an. Nun wird geprüft, ob die „Handlung mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne“ (GMS, AA 04:429). Dafür stellt Kant zwei Prämissen auf: Zum einen dürfe der Mensch sich im Sinne der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel nicht als Mittel, d. h. Sache, gebrauchen. Zum anderen instrumentalisiere sich der Mensch im Vollzug des Selbstmords, da er sich als ein Mittel zu einem Zweck behandle. Vor dem Hintergrund habe sich der Mensch immer nur als Sache zur „Erhaltung eines erträglichen Zustands “(GMS, AA 04:429) behandelt. Daraus folge, dass der Suizid pflichtwidrig sei. Kant lehnt darüber hinaus die Selbstverstümmelung ab, was er in der Grundlegung nicht konkretisiert.
Die erste Prämisse ist eine Wiedergabe der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel, die an dieser Stelle nicht diskutiert wird. Die zweite Prämisse wirft innerhalb der Argumentation die Frage auf, wie Kant die Instrumentalisierung des Menschen im Selbstmord versteht. Um über etwas zu verfügen, muss ein transitives Verhältnis zwischen den beiden Beteiligten herrschen. Bei einem Mord ist dieses Verhältnis zwischen zwei Personen einfach zu beschreiben – weniger bei einem Selbstmord. Hier fallen der Handelnde und Behandelter in einer Person zusammen, das Verhältnis ist somit reflexiv. Auch wenn der Suizidant im Selbstmord über sich selbst verfügt, ist er immer zugleich frei handelndes Subjekt, was ihn nicht zu einem Mittel macht.12 Kant unterscheidet in seinem Beispiel jedoch zwischen der Person und dem „Menschen in meiner Person“ (GMS, AA 04:429). Da er die Begriffe in dem Beispiel synonym verwendet, ist nicht eindeutig, welche Bedeutung er ihnen zuschreibt. Ein Hinweis taucht im dritten Kapitel der Grundlegung auf. Hier spricht Kant von zwei Standpunkten, die der Mensch einnimmt – den der Sinnenwelt und den der intelligibelen Welt.13 Er könne „als Intelligenz mit einem Willen“ und „wie ein Phänomen der Sinnenwelt“ (GMS, AA 04:457) auftreten. Im Selbstmord aus Lebensüberdruss, mit dem Ziel der Unlust ein Ende zu bereiten, nimmt der Mensch den Standpunkt eines „Phänomen[s] der Sinnenwelt“ (GMS, AA 04:457) ein. Der kategorische Imperativ gebietet dem Menschen hingegen, sein Handeln an objektiven Prinzipien rein vernünftiger Wesen auszurichten. Er soll aus dem Standpunkt der intelligibelen Welt heraus handeln, um den Zweck an sich selbst, an dem intelligibelen Wesen, zu erfüllen.
Die Suizidmaxime erweist sich an beiden diskutierten Textstellen der Grundlegung als pflichtwidrig. Sie kann den kategorischen Imperativ und den daraus abgeleiteten Formeln, der Naturgesetzformel und Menschheit-als-Selbstzweck-Formel, nicht standhalten. Zum einen könne sie nicht als allgemeines Naturgesetz gedacht werden. Zum anderen disponiere der Mensch im Selbstmord über sich wie über eine Sache und behandle sich somit nicht als Zweck an sich selbst. Kants Beurteilung des Suizids fällt in der Grundlegung also eindeutig aus. Dennoch kann an dieser Stelle nicht von einem expliziten Suizidverbot gesprochen werden. Warum die Beispiele nicht mehr als exemplarischen Charakter haben, wird deutlich, wenn sie im Kontext von Kants ethischem Gesamtwerk betrachtet werden.
Kant legt in der Grundlegung nur das Fundament für sein ethisches Gesamtwerk. Er geht in ihr seinem in der Vorrede angekündigtes Programm, der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS, AA 04:392.3 f.), nach. Er betont die Notwendigkeit einer Moralphilosophie, die von allen empirischen und anthropologischen Vorstellungen abstrahiert ist.14 Nur diese „reine Moralphilosophie “ , in ihrer abstraktesten Form, entspräche einem moralischen Gesetz. Es habe ähnlich einem Naturgesetz einen rein deskriptiven und keinerlei präskriptiven Charakter, denn: „[F]ür den göttlichen und überhaupt einen heiligen Willen [gelten] keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist“ (GMS, AA 04:414). Auf dieser Abstraktionsebene bezieht Kant das moralische Gesetz lediglich auf reine Vernunftwesen, wie Gott. Für solche Wesen fällt das deskriptive und somit objektive Moralgesetz mit der Maxime des Subjekts zusammen, wodurch sich ein Verfahren wie der Maximentest erübrigt.
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1 Vgl. Horn (2007), S. 218
2 Vgl. GMS, AA 04:436
3 Vgl. Horn (2007), S.227
4 Vgl. Rose (2021), S.85
5 Vgl. GMS, AA 04:424
6 Vgl. Rose (2021), S. 227
7 Ebd., S. 76f.
8 Vgl. Höffe (1977), S. 374f.
9 Ebd., S. 373f.
10 Ebd., S. 375
11 Vgl. Rose (2021), S. 86-89
12 Vgl. Wittwer (2001), S. 188f.
13 Vgl. GMS, AA 04:452
14 Vgl. GMS, AA 04:389
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