Die Bachelorarbeit widmet sich den Fragen, welche Akteur_innen sekundär viktimisierend wirken und welche Auswirkungen die sekundäre Viktimisierung auf die Betroffenen hat. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, welche Präventionsmaßnahmen eine sekundäre Viktimisierung erfolgreich verhindern können.
Laut einer Studie der Europäischen Grundrechtsagentur ist jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von sexualisierter und/oder physischer Gewalt betroffen und mehr als jede zweite Frau wird sexuell belästigt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geht sogar davon aus, dass etwa jede siebte Frau eine Form von schwerer sexualisierte Gewalt erlebt.
Die Studienergebnisse zeigen, dass sexualisierte Gewalt nicht, wie üblich angenommen, ein Randphänomen darstellt, sondern ein Alltagsproblem, wovon Mädchen und Frauen besonders häufig betroffen sind. Das Wissen möglicherweise jederzeit und überall Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden, hat nicht nur eine Einschränkung des Verhaltens zur Folge, sondern stellt auch einen tiefgreifenden Einschnitt in die Lebensgestaltung vieler Frauen dar.
Nach wie vor stellt die Warnung vor sexualisierter Gewalt einen Teil der weiblichen Erziehung dar. Noch vor jeglicher Form von sexueller Aufklärung erfahren Mädchen, dass sie aufpassen müssen, indem sie gewisse Orte, Zeiten oder Situationen meiden und ihr Verhalten entsprechend anpassen.
Dabei ist das eigene Zuhause am gefährlichsten. Denn die meisten Übergriffe finden im sozialen Nahraum des Opfers und durch eine_n bekannte_n Täter_in statt. Neben den Folgen der primären Viktimisierung im Zuge der Straftat, fühlen sich Betroffene häufig zusätzlich mit unangemessenen und negativen Reaktionen des sozialen Umfeldes und der Instanzen sozialer Kontrolle konfrontiert.
2 Kriminologische Einordnung sexualisierter Gewalt
2.1 Begriffsdefinition ‚sexualisierte Gewalt‘
2.2 Formen sexualisierter Gewalt
2.3 Strafrechtliche Einordnung sexualisierter Gewalt
3.1 Gründe für Anzeigen und Dunkelziffer
3.2 Einfluss der Täter-Opfer-Beziehungen
4 Viktimisierungsprozess
4.1 Begriffsdefinition ‚Opfer‘
4.1.1 Der Opferbegriff aus kriminologischer Sicht
4.1.2 Der Opferbegriff aus Sicht der Betroffenen
4.2 Primäre Viktimisierung
4.3 Sekundäre Viktimisierung
4.3.1 Sekundäre Viktimisierung durch Institutionen
4.3.1.1 Polizeiliche sekundäre Viktimisierung
4.3.1.2 Prozessinduzierte sekundäre Viktimisierung
4.3.2 Sekundäre Viktimisierung durch das soziale Umfeld
4.3.3 Sekundäre Viktimisierung durch die Gesellschaft
4.3.3.1 Mediale Berichterstattung
4.3.3.2 Soziale Medien
4.4 Tertiäre Viktimisierung
5 Folgen der Opferschädigung
5.1 Physische Folgen
5.2 Psychische Folgen
5.3 Wirtschaftliche Folgen
5.4 Soziale Folgen
6 Prävention
6.1 Opferorientierte Prävention
6.2 Ansätze zur Prävention sekundärer Viktimisierung
6.3 Institutionelle Prävention sekundärer Viktimisierung
7 Umgang mit Betroffenen im Kontext Sozialer Arbeit
8 Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Triggerwarnung
Die vorliegende Arbeit handelt von sexualisierter Gewalt, weshalb vorweg eine obligatorische Triggerwarnung ausgesprochen wird. Es erfolgen keine expliziten Beschreibungen sexueller Gewalthandlungen, dennoch werden Themen wie Vergewaltigung und andere sexualisierte Gewalttaten behandelt. Dies kann vor allem bei Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung und Opfern sexueller Übergriffe retraumatisierend wirken.
1 Thematische Einführung
„Alle acht Minuten wird ein Mensch in Deutschland Opfer von sexualisierter Gewalt“ (WEISSER RING e.V. 2020b: o. S.). Das geht aus der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hervor, die allein für das Jahr 2019 knapp 70.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zählte (vgl. BKA 2020: 17). Die PKS gibt jedoch nur einen Überblick über die Taten, die polizeilich erfasst wurden, weshalb von einem weitaus höheren Dunkelfeld auszugehen ist. Laut einer Studie der Europäischen Grundrechtsagentur ist jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von sexualisierter und/oder physischer Gewalt betroffen und mehr als jede zweite Frau wird sexuell belästigt (vgl. FRA 2014: 30). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend spricht sogar davon aus, dass etwa jede siebte Frau eine Form von schwerer sexualisierte Gewalt erlebt (vgl. BMFSFJ 2021: o. S.).
Die Studienergebnisse zeigen, dass sexualisierte Gewalt nicht, wie üblich angenommen, ein Randphänomen darstellt, sondern ein Alltagsproblem, wovon Mädchen und Frauen besonders häufig betroffen sind. Das Wissen möglicherweise jederzeit und überall Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden, hat nicht nur eine Einschränkung des Verhaltens zur Folge, sondern stellt auch einen tiefgreifenden Einschnitt in die Lebensgestaltung vieler Frauen dar. „Laute Typengruppen bedeuten einen Sraßenseitenwechsel, das bereite Handy für die Notruf-Schnellwahl, zwischen den Fingern zu einem Schlagring aufgestellte Schlüssel und viel Herzrasen. Sexualisierte Übergriffe haben sich in den Alltag normalisiert, all diese Maßnahmen sind zur Routine mutiert. Denn Frau sein bedeutet leider, in ständiger Angst vor Gewalt leben zu müssen“ (Yaghoobifarah 2016: o. S.). Nach wie vor stellt die Warnung vor sexualisierter Gewalt einen Teil der weiblichen Erziehung dar. Noch vor jeglicher Form von sexueller Aufklärung erfahren Mädchen, dass sie aufpassen müssen, indem sie gewisse Orte, Zeiten oder Situationen meiden und ihr Verhalten entsprechend anpassen (vgl. Sanyal 2016: 12). Dabei ist das eigene Zuhause am gefährlichsten. Denn die meisten Übergriffe finden im sozialen Nahraum des Opfers und durch eine_n bekannte_n Täter_in statt (vgl. Seith/Kelly/Lovett 2009: 6f.). Neben den Folgen der primären Viktimisierung im Zuge der Straftat, fühlen sich Betroffene häufig zusätzlich mit unangemessenen und negativen Reaktionen des sozialen Umfeldes und der Instanzen sozialer Kontrolle konfrontiert. Das stellt eine sekundäre Viktimisierung dar, die dazu führt, dass Betroffene eine zweite Opferwerdung erleben. Die Folgen der sekundären Viktimisierung werden von den Betroffenen häufig sogar als schwerwiegender eingeschätzt als die Folgen der Straftat (vgl. Kiefl/Lamnek 1986: 239f.). Vor diesem Hintergrund stellt die Ausarbeitung einen Versuch dar, das Problem der sekundären Viktimisierung am Beispiel von weiblichen Opfern sexualisierter Gewalt zu erklären. Die vorliegende Arbeit widmet sich den Fragen, welche Akteur_innen sekundär viktimisierend wirken und welche Auswirkungen die sekundäre Viktimisierung auf die Betroffenen hat. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, welche Präventionsmaßnahmen eine sekundäre Viktimisierung erfolgreich verhindern können. Ziel der Autorin ist es, zumindest einen kleinen Beitrag zur Aufklärung von sekundärer Viktimisierung zu leisten und Leser_innen für das Thema zu sensibilisieren.
Dafür erfolgt zunächst eine Einführung in die kriminologische und strafrechtliche Einordnung sowohl des allgemeinen als auch des sexualbezogenen Gewaltbegriffes. Dafür werden die wichtigsten Entwicklungen des Sexualstrafrechts kurz beleuchtet. Zur Verdeutlichung des Gewaltcharakters von sexuellen Übergriffen, werden zum einen die sexuelle Belästigung und zum anderen die Vergewaltigung als Formen der sexualisierten Gewalt konkret vorgestellt. Das dritte Kapitel untersucht das Anzeigeverhalten Betroffener und führt auf, weshalb lediglich ein Bruchteil der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung polizeilich angezeigt wird und welche entscheidende Rolle die Täter-Opfer-Beziehung in diesem Kontext einnimmt. Der Viktimisierungsprozess beginnt mit einer kritischen Betrachtung des Opferbegriffs sowohl aus kriminologischer Sicht als auch aus der Perspektive der Betroffenen. Da die sekundäre Viktimisierung den Forschungsschwerpunkt bildet, wird diese im vierten Kapitel detailliert am Beispiel der Akteur_innen der Polizei, des Gerichtsprozesses, des sozialen Umfeldes und der Medien dargestellt. Aus den Ergebnissen werden mögliche opferorientierte Präventionsansätze abgeleitet, die einer sekundären Viktimisierung entgegenwirken können. Im Anschluss an die Darstellung der einzelnen Ebenen des Viktimisierungsprozesses, werden die Folgen der Opferschädigung auf psychischer, physischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene aufgeführt. Das siebte Kapitel beleuchtet die Rolle der Sozialen Arbeit. Dabei wird untersucht inwieweit Sozialarbeiter_innen zu einer sekundären Viktimisierung beitragen und wodurch ein professioneller Umgang mit Betroffenen im Beratungskontext gekennzeichnet ist. Abschließend werden die bedeutsamsten Präventionsansätze von sekundärer Viktimisierung noch einmal als zentrale Ergebnisse zusammengefasst und durch weiterführende Überlegungen zur Thematik ergänzt, wobei primär die zu Beginn gestellten Fragen im Fokus stehen.
2 Kriminologische Einordnung sexualisierter Gewalt
Da das Themenfeld der sexualisierten Gewalt sehr umfangreich ist, erfolgt zu Beginn eine thematische Einschränkung zur Reduzierung der Diskussionsgegenstände. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf Frauen, die seit ihrem 18. Lebensjahr sexualisierte Gewalt durch einen oder mehrere Männer erfahren haben. Demnach handelt es sich um geschlechtsspezifische Gewalt. Geschlechtsspezifische Gewalt meint Gewalt gegen Frauen, die diese Gewalt erfahren, weil sie Frauen sind oder weil sie aufgrund des Geschlechts unverhältnismäßig oft von dieser Form der Gewalt betroffen sind (vgl. Henneberger 2018: 207). Der geschlechtsspezifische Fokus auf eine weibliche Opfer- und männliche Tätergruppe ergibt sich unter anderem aus der Polizeilichen Kriminalstatistik. Diese zeigt, dass bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Opfer mehrheitlich weiblich und die Täter fast ausschließlich männlich sind (vgl. BKA 2020: 20; Steffen 2013: 66 ). Um Missverständnisse zu vermeiden, wird an dieser Stelle explizit betont, dass ebenso Männer, Kinder und Angehörige der LSBTIQ+ Community von sexualisierter Gewalt betroffen sind und auch Frauen Täterinnen sein können, dies jedoch nicht den Gegenstand dieser Arbeit darstellt. Um den Begriff der sexualisierten Gewalt erfassen zu können, muss zunächst der ‚allgemeine‘ Gewaltbegriff aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Zum einen wird auf die, während der primären Viktimisierung erlebte sexualisierte Gewalt als körperliche Gewalt und zum anderen auf die erlebte psychische (non-)verbale Gewalt in Form der sekundären Viktimisierung eingegangen.
Gewalt gegen Frauen stellt laut der Weltgesundheitsorganisation eines der größten Gesundheitsrisiken und eine Gefährdung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen weltweit dar (vgl. WHO 2013: 10). Mit dem Begriff Gewalt wird oftmals überwiegend die körperliche Schädigung einer anderen Person gleichgesetzt, wie auch nachfolgende Termini verdeutlichen. Gewalt ist jedoch wohl einer der umstrittensten Begriffe der Sozialwissenschaften, da keine allgemeingültige Definition vorherrscht. Nach wie vor wird Gewalt oftmals extensiv bestimmt. So versteht Küper (2008) aus strafrechtlicher Sicht unter dem ‚entmaterialisierten‘ Gewaltbegriff jegliche Handlungen, die auf das Verhalten einer anderen Person durch „Zufügen eines gegenwärtigen empfindlichen Übels eine physische oder psychische Zwangswirkung“ (Küper 2008: 172) ausüben. Den ‚traditionellen‘ Gewaltbegriff im ‚engen‘ Sinn, beschreibt er als das Ausüben eines körperlichen Kraftaufwandes, mit dem Ziel den Widerstand des Opfers zu brechen. Die besondere körperliche Kraftanstrengung stellt heutzutage zwar kein notwendiges, aber doch ein relativ eindeutiges Gewaltmerkmal dar. Entscheidend ist jedoch auch die Art des erlebten Zwangs auf der Seite des Opfers (vgl. Küper 2008: 171f.). Otto fasst den Gewaltbegriff folgendermaßen zusammen: „Gewalt [ist] der - nicht notwendig erhebliche - Einsatz körperlicher Kraftentfaltung, der sich auf die Person, gegen die er sich richtet, nicht nur als seelischer (psychischer), sondern als körperlicher (physischer) Zwang auswirkt“ (Otto 1992: 568). Unter körperlichem Zwang werden alle Verhaltensweisen verstanden, wodurch das Opfer auf die Situation entweder gar nicht oder ebenfalls nur unter der Anwendung von Gegengewalt reagieren kann (vgl. Küper/Zopfs 2018: 296). Je nach verfolgtem Zweck der Gewaltanwendung, werden zwei Erscheinungsformen der Gewalt unterschieden. Zum einen gibt es, die willensausschließende Gewalt, die darauf gerichtet ist, die Willensbildung oder Willensäußerung des Opfers unmöglich zu machen (z.B. durch Fesseln oder Bewusstlos schlagen) und zum anderen die willensbeugende Gewalt, die den Willen des Opfers in eine bestimmte Richtung lenkt und somit den Willensentschluss des Opfers beeinflusst (vgl. Küper/Zopfs 2018: 186).
In der Rechtsprechung findet ebenfalls der ‚enge‘ Gewaltbegriff Anwendung, weshalb Gewalt als ein körperlich wirkender Zwang, der durch Kraftanwendung oder andere physische Einwirkung den Willen der betroffenen Person beeinflusst, definiert wird (vgl. BGH NJW 1995: 2643). Schubert und Klein beziehen bei ihrer Definition neben der körperlichen auch die psychische Ebene ein und bestimmen Gewalt als „den Einsatz physischer oder psychischer Mittel, um einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten [Gewalt] durch [Gegengewalt] zu begegnen“ (Schubert/Klein 2016: 135f.).
Diese Auswahl unterschiedliche Begriffsbestimmungen veranschaulicht die Problematik des fehlenden allgemeingültigen Terminus, dennoch stimmen sie in dem Punkt überein, dass Gewalt ausüben bedeutet, den eigenen Willen über den des Opfers zu stellen und diesen mit psychischem oder physischen Zwang durchzusetzen. Die verschiedenen Auslegungen verdeutlichen weiterhin, dass Gewalt sowohl körperlich als auch psychisch ausgeführt werden kann. Das Stigma der Gewalt als vordergründig körperliche Handlung wird vor allem dadurch geprägt, dass diese Form der Gewalt im Vergleich zur psychischen Gewalt einfacher zu erkennen ist, da Betroffene ihre äußerlich sichtbaren Verletzungen häufig nicht dauerhaft verbergen können. Doch leider sind oftmals die Folgen psychischer Gewalt schwerwiegender, was im Zuge dieser Ausarbeitung am Beispiel der sekundären Viktimisierung veranschaulicht wird. Da die sekundäre Viktimisierung durch psychische verbale und nonverbale Gewalt gekennzeichnet ist, wird eine Definition des ‚weiten‘ Gewaltbegriffs gewählt, die weniger die körperliche als die psychische Gewalt betrachtet. Sekundäre Viktimisierung erfolgt in Form von verbaler und nonverbaler psychischer Gewalt, wobei insbesondere die Mechanismen der Machtausübung des vermeintlich Überlegenen eine wesentliche Rolle spielen (vgl. Metzner 2018: 8f.).
2.1 Begriffsdefinition ‚sexualisierte Gewalt‘
Das Thema sexualisierte Gewalt ist vor allem seit der #MeToo-Dabatte vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. In der Literatur sind viele verschiedene Begriffe für das Phänomen der sexualisierten Gewalt vertreten. Dazu zählen neben sexualisierter Gewalt beispielsweise auch Termini wie sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch und sexuelle Übergriffe. In der vorliegenden Ausarbeitung wird vorwiegend der Terminus der sexualisierten Gewalt verwendet.
Zunächst gilt es den Begriff der sexualisierten Gewalt und anschließend auch die unterschiedlichen Formen zu erläutern. Eine Klärung der Termini im Vorfeld ist für die Erschließung der Zusammenhänge dieser Ausarbeitung erforderlich. Der Begriff der sexualisierten Gewalt wurde bewusst gewählt, um aufzuzeigen, dass es sich bei sexuellen Übergriffen um eine Form der Macht- und Gewaltausübung handelt. Mischkowski erklärt, dass bei sexualisierter Gewalt die Betonung nicht auf der Sexualität, sondern auf der Gewalttat liegt. „Sexualisierte Gewalt ist eine Form von Gewalt, die sich in voller Absicht gegen den intimsten Bereich eines Menschen richtet, [sic!] und deren Ziel die Demonstration von Macht und Überlegenheit durch die Erniedrigung und Entwürdigung des anderen ist“ (Mischkowski 2006a: 16). Es handelt sich demnach um ein Zusammenspiel von Macht, Demütigung, Gewalt und Sexualität. Sexualisierte Gewalt bedeutet einen massiven Eingriff in die Intimsphäre der betroffenen Person. Dies geschieht gegen deren Willen und stellt somit eine Handlung gegen die sexuelle Selbstbestimmung dar. Bei sexueller Gewalt geht es den Tätern nicht um die Befriedigung eines Triebes oder der sexuellen Lust, sondern um die Befriedigung von Herrschaftsgefühlen (vgl. Gottschalk 2014: 111). Sexuelle Übergriffe finden häufig, entgegen der öffentlichen Meinung, im sozialen Nahraum des Opfers und in Zweidrittel der Fälle nicht durch einen Fremdtäter, sondern durch (Ex-)Partner, Freunde oder Bekannte statt (vgl. Seith/Kelly/Lovett 2009: 6f.).
Neben dem Terminus der ‚sexualisierten Gewalt‘ wird im Rahmen dieser Arbeit ebenso der Begriff der ‚sexuellen Gewalt‘ synonym verwendet. Gleichwohl dieser als fehlleitend kritisiert wird, da er suggeriert, die Betonung würde auf der Sexualität liegen und nicht auf der, sich sexueller Mittel bedienenden Gewalt (vgl. Mischkowski 2006a: 16). Im Diskurs um die sexualisierte Gewalt, hat sich, sowohl im juristischen Kontext als auch in der Öffentlichkeit, ebenfalls die Bezeichnung des ‚sexuellen Missbrauchs‘ durchgesetzt. Davon wird sich in vorliegender Arbeit jedoch distanziert, da er synonym als Kindesmissbrauch verstanden wird und somit nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung ist. Außerdem suggeriert der Ausdruck ‚Missbrauch‘, es gebe die Möglichkeit eines legitimen ‚Gebrauchs‘ (vgl. Metzner 2018: 9). Doch unabhängig davon, welcher Begriff letztlich verwendet wird, handelt es sich bei sexualisierter Gewalt immer um eine Menschenrechtsverletzung (vgl. COE 2011: 5, Art. 3a).
2.2 Formen sexualisierter Gewalt
Studien zum Thema Gewalt gegen Frauen fanden heraus, dass etwa jede dritte Frau sexualisierte Gewalt erfährt (vgl. FRA 2014: 17). Sexuelle Gewalt kann viele Formen einnehmen. So fasst Mischkowski unter sexualisierter Gewalt „nicht nur Vergewaltigungen, [sondern auch] das unerlaubte Berühren von Körperteilen, erzwungenes Entkleiden, erniedrigende Untersuchungen, erzwungenes Scheren von Schamhaaren, gezielte Schläge auf Brüste und Genitalien und deren gezielte Verletzung sowie die Infektion mit Geschlechtskrankheiten […], Zwangsprostitution, dem damit verbundenen Frauen- und Mädchenhandel, [..] Sextourismus und Kinderpornographie“ (Mischkowski 2006a: 16) zusammen. Weitere Ausformungen sind sexuelle Nötigung, sexuelle Versklavung, sexueller Missbrauch, ‚Stealthing‘ (heimliches Entfernen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs), Ehrenmorde, Zwangsabtreibung und Exhibitionismus. Doch nicht nur körperliche Übergriffe, sondern auch verbales und grenzverletzendes Verhalten, wie sexuelle Belästigung, ‚Catcalling‘ und obszöne Gesten sowie das Versenden bzw. Zeigen pornografischer und sexueller Inhalte zählen zu dieser Form der Gewalt (vgl. BMFSFJ 2021: o. S.). Laut der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes beginnt sexuelle Gewalt bereits bei frauenfeindlicher Sprache oder der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bzw. der sexuellen Orientierung (vgl. Terre des Femmes 2013: o. S.). Es ist nicht möglich, in dem zur Verfügung stehenden Rahmen die Gesamtheit aller Formen sexualisierter Gewalt vorzustellen, weshalb anschließend die zwei Formen hervorgehoben werden, die für die Ausarbeitung am relevantesten erscheinen.
2.2.1 Sexuelle Belästigung
Laut einer Studie der Europäischen Union für Grundrechte wird mehr als jede zweite Frau mindestens einmal in ihrem Leben sexuell belästigt (vgl. FRA 2014: 30). Häufig findet sexuelle Belästigung dort statt, wo ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, mit dem Ziel Macht zu demonstrieren und das Gegenüber herabzuwürdigen. So gab bei einer Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) zum Thema „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“, jede Sechste der befragten Frauen an, sexuelle Belästigung in einem Beschäftigungsverhältnis erlebt zu haben. Die Studie fand heraus, dass die Täter, sowohl bei den betroffenen Frauen als auch bei den betroffenen Männern, mehrheitlich männlich waren. Interessant ist auch, dass Frauen sexuelle Belästigung eher als solche wahrnehmen als Männer (vgl. ADS 2015: 4ff.). Sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz sind keine Einzeltaten, sondern geplante und bewusste Handlungen, die wie jeder sexuelle Übergriff eine Grenzverletzung darstellen und die betroffenen Personen massiv belastet. Sexuelle Belästigung stellt nicht nur eine Straftat gemäß § 184 i StGB dar, sondern ist nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verboten, d.h. dass der/die Arbeitgeber_in verpflichtet ist, seine bzw. ihre Arbeitnehmer_innen vor sexuellen Übergriffen zu schützen (vgl. WEISSER RING e.V.: 2019: 29f., 34).
Dazu ist anzumerken, dass jeder Mensch ein eigenes Empfinden davon besitzt, welches Verhalten als sexuelle Belästigung eingestuft wird, d.h. die subjektive Betroffenheit bzw. das subjektive Erleben bilden den Maßstab für die Bewertung eines Verhaltens als Belästigung (vgl. Stucke 1993: 125). Sexuelle Belästigung beruht nicht auf gegenseitigem Einverständnis, „[…] sondern bezeichnet ein breites Spektrum an Verhaltensweisen, d.h. körperliches oder verbales Verhalten mit sexuellem Bezug oder mit Bezug auf das Geschlechterverhältnis, das einseitig unwillkommen und unerwünscht ist bzw. nicht erwidert und abgelehnt wird und die Selbstbestimmung der Frau mißachtet [sic!], Frauen abwertet, erniedrigt […] und subjektiv als beleidigend, verletzend, oder herabwürdigend empfunden wird“ (Stucke 1993: 124). Unter sexueller Belästigung werden unter anderem anzügliche Gesten und Blicke, sexistische Bemerkungen, unerwünschte Berührungen, sexuelles Bedrängnis, aber auch sexuell übergriffiges Verhalten verstanden.
Sexuelle Belästigung ist eine Straftat, doch nicht alle Formen sexueller Belästigung sind tatsächlich strafbar. In § 184i des Strafgesetzbuches ist der Straftatbestand der sexuellen Belästigung lediglich auf einen sexuell bestimmten Körperkontakt begrenzt, der mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe geahndet wird (vgl. § 184i Abs. 1 StGB). Doch die verbale sexuelle Belästigung in Form des ‚Catcallings‘ stellt in Deutschland noch immer keinen eigenen Straftatbestand oder gar eine Ordnungswidrigkeit dar und suggeriert somit jedem (potenziellen) Täter, dass sexuelle Belästigung ohne körperlichen Kontakt akzeptierbar wäre. Meist findet ‚Catcalling‘ auf öffentlicher Straße oder öffentlichen Verkehrsmitteln statt und gilt als Ausdruck männlichen Besitzanspruchs. In anderen Ländern wie Belgien, Frankreich, Portugal und den Niederlanden ist Catcalling längst strafbar. Es wird Zeit, dass auch Deutschland sich gegen verbale sexuelle Belästigung positioniert und Frauen ein gesetzliches Werkzeug zur Verfügung stellt, um sich gegen unerwünschte sexistische Äußerungen wehren zu können (vgl. Terre des Femmes 2021: o. S.).
2.2.2 Vergewaltigung
„Völlig orientierungslos und mit kaputtem Rock – so wachte Caroline S. frühmorgens in einem Hamburger Stadtpark auf. Ihr Kopf dröhnte laut. Ihr Unterleib schmerzte. Und sie fühlte sich benutzt und schmutzig […]. Caroline S. wurde vergewaltigt“ (WEISSER RING e.V. 2019: 2f.). Damit ist Caroline S. kein Einzelfall. Allein im Jahr 2019 wurden 8.541 Vergewaltigungen angezeigt (vgl. BKA 2019: 17). Die EU-weite Erhebung der ‚Agentur der Europäischen Union für Grundrechte‘ deckte 2014 auf, dass etwa jede 20. Frau seit ihrem 15. Lebensjahr bereits Opfer einer Vergewaltigung geworden ist (vgl. FRA 2014: 14, 21). Vergewaltigungsdelikte stellen den wohl gravierendsten Einschnitt in das Leben und die Intimsphäre des Opfers dar. Sie gelten als schwere Menschenrechtsverletzung und Verstoß gegen die Würde des Menschen. Mit der Tat setzt sich der Täter über das Recht der sexuellen Selbstbestimmung der Frau hinweg und unterwirft sie seiner Kontrolle. Für die betroffenen Frauen bedeutet dies eine tiefe Erschütterung ihres Selbst- und Fremdbildes und weitreichende psychische, gesundheitliche und gesellschaftliche Folgen, auf die sich das fünfte Kapitel bezieht (vgl. Goedelt 2010: 10f.).
Der Terminus Vergewaltigung stammt aus dem Germanischen von der Wurzel ‚walten‘ ab, was bedeutet Macht über etwas zu besitzen und über Mittel und Wege zu verfügen, um diese Macht ausüben zu können. Das althochdeutsche ‚giwalt‘ bedeutete Macht und Herrschaft und verknüpfte sich im Mittelalter mit der Vorstellung von Unrecht und Zwang. Im hohen Mittelalter entstand das Wort ‚verwaltige/verweltige‘, das aber noch keinen Bezug zu sexualisierter Gewalt besaß, sondern sich als erobern und überwältigen übersetzen lässt. Der Begriff der Vergewaltigung wie er heutzutage verstanden wird, entstand erst im späten 20. Jahrhundert und löste dadurch 1974 die ‚Notzucht‘ im Strafgesetzbuch ab. Notzucht wurde von dem Wort ‚not‘ abgeleitet – ein anderes deutsches Wort für Zwang – und entwickelte sich zu einem gewaltsamen Frauenraub. Die Änderung der Begriffsbezeichnung stellte einen wichtigen Bedeutungswechsel dar, da sich von dem Gedanken des Raubs der Ehre abgelöst wurde und nun die Selbstbestimmung der eigenen Sexualität im Vordergrund stand (vgl. Sanyal 2016: 137f.).
Die nachfolgende Begriffsbestimmung orientiert sich an der gegenwärtigen Definition des § 177 des Deutschen Strafgesetzbuches. Als Vergewaltigung werden sexuellen Handlungen, die gegen den Willen einer anderen Person erfolgen, verstanden. Dazu zählen gezwungene sexuelle Handlungen, die an der betroffenen Person selbst oder an bzw. durch Dritte durchgeführt werden oder welche das Opfer am Täter vollziehen muss, insbesondere wenn die Handlungen mit einer Penetration des sexuellen Intimbereichs einhergehen. Dabei gilt nicht nur der erzwungene vaginale, sondern auch der erzwungene orale und anale Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung. Ebenso zählt das manuelle Eindringen mit den Fingern sowie das Einführen von Gegenständen dazu. Das Eindringen in den Körper des Opfers wird dabei als besonders erniedrigend empfunden. Vergewaltigungen werden immer gegen den Willen des Opfers und unter Anwendung von Zwang durchgeführt. Dabei wird nicht nur körperliche Gewalt als Zwangsmittel angesehen, auch psychische Gewalt in Form von Gewaltandrohung, Bedrohung durch Waffengewalt, unter Druck setzen oder die hilflose Lage des Opfers ausnutzen zählen dazu (vgl. § 177 StGB; Gottschalk 2014: 36). Das Strafmaß für Vergewaltigungen beträgt eine Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren (vgl. § 177 Abs. 6 Satz 1 StGB).
Die Soziologin Ruth Seifert beschreibt Vergewaltigung nicht als sexuelle Handlung, sondern als einen Gewaltakt. „Das heißt, sie erfüllt in der Psyche der Täter keine sexuellen Funktionen. Woraus die Täter allerdings Befriedigung ziehen, das ist die Demütigung und Erniedrigung des Opfers und das Gefühl von Macht und Herrschaft über eine Frau. Täter berichten kaum jemals selbst von einem sexuellen Erlebnis. Sie berichten, aber von der Befriedigung, die ihnen das Herrschaftsgefühl über das Opfer verschaffe“ (Seifert 1996: 14). Seifert vertritt demnach die Meinung, dass bei einer Vergewaltigung die Gewalt, die auf sexualisierte Weise ausgeübt wird, im Vordergrund steht und nicht die sexuelle Lust des Täters (vgl. Gottschalk 2014: 58). Susan Brownmiller, die in ihrem Bestseller „Gegen unseren Willen“ erstmals die Existenz von Vergewaltigungen enthüllte, die unzählige Historiker vor ihr ignoriert oder bagatellisiert hatten, bezeichnet Vergewaltigung „nicht mehr und nicht weniger als eine Methode bewußter [sic!] systematischer Einschüchterung, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten“ (Brownmiller 1978: 22, Hervorh. i. Orig.). Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und betont „Bei Vergewaltigung geht es um Brecheisen, Fausthiebe und ein Messer an der Kehle, um Lebensangst, Demütigung und aufgezwungene Schwangerschaft“ (Brownmiller 1978: 7, Hervorh. i. Orig.).
2.3 Strafrechtliche Einordnung sexualisierter Gewalt
Einige Formen sexualisierter Gewalt werden im Strafgesetzbuch (StGB) als Sexualstraftaten zusammengefasst. Seit der 1974 in Kraft getretenen Vierten Strafrechtsreform, werden als Sexualstraftaten die Delikte verstanden, die sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen richten. Sexuelle Selbstbestimmung heißt, frei über Form, Partner_in, Ort und Zeit einer sexuellen Begegnung entscheiden zu können und gleichzeitig davor geschützt zu sein, zum Objekt fremdbestimmter sexueller Handlungen herabgewürdigt zu werden (vgl. Bock/Lebro 2021: 1). Doch auch das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet keine absolute Freiheit für jegliche sexuelle Handlungen. Die Ausübung der sexuellen Selbstbestimmung steht demnach immer unter dem Vorbehalt, dass die Grenzen einer anderen Person nicht überschritten oder verletzt werden (vgl. Rohne/Wirths 2018: 90).
Das Sexualstrafrecht diente jedoch nicht immer dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, sondern wurde lange Zeit unter der Überschrift ‚Straftaten gegen die Sittlichkeit‘ geführt und diente dem Schutz gesellschaftlicher Werte und Normen. Die Wende vom Schutz der Moralvorstellungen hin zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung erforderte unzählige Gesetzesänderungen. So war primär das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts (1973) im Rahmen der Großen Strafrechtsreform ausschlaggebend für die Änderung der Bezeichnung des Sexualstrafrechts zu ‚Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung‘ (vgl. Rohne/Wirths 2018: 90ff.). Aber auch nach der Großen Strafrechtsreform folgten weitere Änderungen des Sexualstrafrechts, so wurde mit der Strafgesetzesänderung im Jahr 1997 auch die Vergewaltigung in der Ehe anerkannt. Ebenso wurden im Zuge dessen nicht mehr nur die Penetration, sondern auch andere sexuelle Handlungen unter Strafe gestellt. Die im Reichsstrafgesetzbuch genannte ‚Frauensperson‘ wurde in ‚Person‘ umgeändert, sodass erstmals auch Männer als mögliche Opfer sexualisierter Gewalt einbegriffen wurden (vgl. Sanyal 2016: 16f.). Am 11. Mai 2011 verabschiedete der Europarat die sog. ‚Istanbul-Konvention‘, ein ‚Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt‘, mit dem Ziel Frauen vor allen Formen von Gewalt, vorrangig der sexualisierten Gewalt, zu schützen und unerwünschte sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen. Diese wurde 2017 von Deutschland ratifiziert und trat 2018 in Kraft (vgl. Rohne/Wirths 2018: 95).
Eine weitere einschneidende Änderung des Sexualstrafrechts, stellte 2016 das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung dar, das maßgeblich durch die Nein-heißt-Nein-Bewegung geprägt wurde. Der § 177 StGB galt in seiner vorherigen Fassung als dringend reformbedürftig, da einige Strafbarkeitslücken aufgetreten sind und somit nicht alle strafwürdigen Handlungen, in denen sexuelle Übergriffe die sexuelle Selbstbestimmung verletzen, erfasst wurden. Nach altem Recht mussten die Bedingungen Gewalt, Androhung von Gewalt und die Ausnutzung einer schutzlosen Lage gegeben sein, um strafrechtlich sanktionierbar zu werden. Erst mit der Reform wurde die Äußerung von Ablehnung als hinreichende Bedingung für Strafbarkeit (theoretisch) anerkannt (vgl. Hörnle 2017: 35ff., 46).
Heutzutage sind die Sexualstraftaten im 13. Abschnitt des besonderen Teils des Deutschen Strafgesetzbuches gesetzlich verankert und unter den § 174 bis § 184 StGB aufgeführt (vgl. Metzner 2018: 12; §§ 174-184 StGB). Für die vorliegende Forschungsarbeit sind insbesondere der § 177 StGB (Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) und § 184i StGB (Sexuelle Belästigung) von besonderer Bedeutung. Ein Blick in das deutsche Strafrecht zeigt jedoch, dass die deutschen Gesetzgeber der sexualisierten Gewalt noch lange nicht die erforderliche Schwere und Relevanz zusprechen. So ist Vergewaltigung nicht etwa wie Mord oder Körperverletzung als schweres Gewaltverbrechen geführt, sondern befindet sich zwischen dem 12. Abschnitt, den ‚Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie‘ (z.B. Doppelehe, Verletzung der Unterhaltspflicht) und dem 14. Abschnitt, der ‚Beleidigung‘ (z.B. Üble Nachrede, Verleumdung). Erst ab dem 16. Abschnitt folgen die schweren Gewaltverbrechen (vgl. §§ 169-200 StGB; Mischkowski 2006b: 2). Doch nicht nur die gesetzliche Einordnung des 13. Abschnittes sorgt für Kritik, sondern auch die aktuelle Formulierung des § 177 StGB. So setzt das Gesetz voraus, dass die Tat „gegen den erkennbaren Willen“ (§ 177 Abs. 1 StGB) des Opfers vollzogen wird. Erkennbarer Wille für wen? Die Gesetzesbegründung führt dafür den Blickwinkel eines objektiven Dritten an. Das Tatopfer muss als Tatbestandsvoraussetzung seinen entgegenstehenden Willen entweder verbal oder durch Abwehrbewegungen, Weinen oder Wegdrehen ausdrücklich geäußert haben. Wenn das Opfer also nicht einverstanden ist, dies aber aus Sicht eines objektiven Dritten nicht erkennbar äußert, ist der Tatbestand folglich nicht erfüllt. Das steht allerdings im Widerspruch zu der Aussage, der Wille sei eine hinreichende Bedingung für Strafbarkeit (vgl. Fischer 2017: 57).
Mit der Gesetzesänderung von 2016 ist es dem Gesetzgeber zwar gelungen, die kritisierten Lücken des § 177 StGB zu schließen, allerdings ist dadurch ein Straftatbestand entstanden, der durchaus unübersichtlich ausgestaltet ist und weiterhin Raum für Kritik bietet. Ebenso problematisch ist das Vermischen von Missbrauchs-, Vergewaltigungs- und Nötigungselementen in § 177 StGB (vgl. Bezjak/Bunke 2017: 34). Er wird deutlich, dass die unzähligen Reformen des Sexualstrafrechts den Opfern zwar einerseits zugutekommen, indem neue Tatbestände in das Strafrecht aufgenommen und somit Strafbarkeitslücken nach und nach geschlossen werden können, andererseits aber gleichzeitig auch erschwerend wirken, da sexualisierte Gewalthandlungen von einem objektiven Dritten, zum Beispiel vor Gericht, eben als solche anerkannt werden müssen.
3 Anzeigeverhalten
Strafanzeigen nach sexualisierter Gewalt sind im Verhältnis zu anderen Deliktbereichen sehr selten. Die 2004 durchgeführte Studie des BMFSFJ fand in ihrer repräsentativen Befragung von 10.000 Frauen zu ihren Erfahrungen mit Gewalt heraus, dass bei sexualisierter Gewalt lediglich in 11 % (unbekannter Täter) bzw. 15 % (bekannter Täter) der Fälle eine Anzeige bei der Polizei erstattet wurde (vgl. Schröttle u.a. 2004: 208f.). So nahmen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Jahr 2019 gerade einmal einen Anteil von 1,3 % an der Gesamtkriminalität in Deutschland ein (vgl. BKA 2020: 17). Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnete für das Jahr 2020 einen Anstieg auf 16.216 Fälle gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §§ 177, 178 StGB (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexuelle Übergriffe), wobei die Opfer in 15.061 Fällen weiblich waren (vgl. BKA 2021: 5). Die Zahlen umfassen dabei nur das Hellfeld, also die Straftaten, die bei der Polizei registriert wurden, weshalb von einem erheblich höheren Dunkelfeld auszugehen ist. Unter dem Dunkelfeld wird im Umkehrschluss die Gesamtheit der Delikte verstanden, die der Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden (vgl. Schwind 2016: 26, 41). Der Anstieg, der in der Polizeilichen Kriminalstatistik verzeichneten Straftaten bedeutet nicht gleichzeitig einen tatsächlichen Anstieg der Gewalttaten. Es wäre möglich, dass einige Taten aus dem Dunkelfeld in das Hellfeld gerückt sind oder sich das Anzeigeverhalten verändert hat (vgl. Meltzer 2021: 15). Die pandemieeindämmenden Maßnahmen sollten ebenfalls als verschärfender Faktor für die erhöhten Fallzahlen kritisch betrachtet werden. Der Jahresbericht des Hilfetelefons ‚Gewalt gegen Frauen‘ verzeichnete im Jahr 2020 zum Vorjahr 51.400 Beratungen, das entspricht ca. 15% mehr telefonische Kontaktaufnahmen und stellt somit den höchsten Anstieg seit 2016 dar (vgl. BAFzA 2021: 7). Die Pandemie bzw. die Lockdowns bedeuteten für viele Menschen, vorrangig für Partnerschaften und Familien, eine erhöhte Stressbelastung, sodass das Bundeskriminalamt in der jährlichen kriminalstatistischen Auswertung zum Thema Partnerschaftsgewalt einen Anstieg während des ersten und zweiten Lockdowns verzeichnete. Obgleich die Hellfelddaten nur einen leichten Anstieg verzeichnen, ist bezüglich des Dunkelfeldes davon auszugehen, dass sich die Pandemie negativ auf das Anzeigeverhalten der Opfer und die Entdeckungsmöglichkeiten durch Dritte ausgewirkt hat (vgl. BKA 2021: 18f.).
Das Stellen einer Strafanzeige stellt den ersten Schritt des Strafverfahrens dar. Die angezeigten Sachverhalte bilden den Gegenstand der Strafverfolgung (vgl. Goedelt 2010: 76). Eine Anzeige ist die „Mitteilung des Verdachts einer Straftat und damit die Anregung des Verletzten oder einer anderen Person, dass die Strafverfolgungsbehörden prüfen mögen, ob Anlass zur Strafverfolgung besteht“ (Meyer-Goßner 2007: § 158, Rn. 1). Für Privatpersonen besteht keine Anzeigepflicht für bereits begangene Straftaten, sodass jedes Opfer freiwillig über die Erstattung einer Anzeige entscheiden kann (vgl. Haupt u.a. 2003: 68). Eine Strafanzeige ist jedoch an gesetzliche Antrags- und Verjährungsfristen gebunden. Die Verjährungsfristen richten sich im Strafrecht nach der Schwere des Delikts und beginnen mit der Beendigung der Tat (vgl. UBSKM 2021: o. S.).
Eine Strafanzeige zu stellen, erfordert von den betroffenen Opfern sehr viel Mut und Kraft, da die strafrechtliche Verfolgung der Tat oftmals nicht nur von Scham- und Schuldgefühlen belastet ist, sondern auch retraumatisierend wirken kann. Als besonders entscheidend, wird das Verhalten der ersten Ansprechperson – sei es die Anzeige aufnehmende Person oder eine Person des sozialen Umfeldes – eingeschätzt. Das Anzeigeverhalten der Betroffenen wird nicht nur durch die Reaktion der ersten Ansprechpartner_in bestimmt, sondern auch durch andere innere und äußere Faktoren beeinflusst, die anschließend ausführlich betrachtet werden.
3.1 Gründe für Anzeigen und Dunkelziffer
Das Hellfeld der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst nur einen geringen Teil der tatsächlichen Gewalt gegen Frauen, da sexualisierte Gewalttaten nur selten angezeigt werden. Nur etwa 9,5 % aller von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen melden sich bei der Polizei, um die erlebten Straftaten anzuzeigen (vgl. LKA 2006: 6). Es kann bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung also von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen werden. Eine höhere Anzeigebereitschaft der Opfer könnte effektiv dazu beitragen, die Dunkelziffer von Sexualstraftaten zu erhellen. Um die Anzeigemotivation der Betroffenen steigern zu können, ist es jedoch notwendig zu wissen, welche Faktoren Einfluss auf das Anzeigeverhalten nehmen. Es gibt diverse Gründe, die für eine Anzeigeerstattung sprechen. Dazu zählen insbesondere der Schutz vor weiteren Übergriffen, der Wunsch nach Vergeltung oder Gerechtigkeit, der Wunsch andere zu schützen, die Wiederherstellung der Kontrolle über das eigene Leben, aber auch die Einsicht des Täters zu wecken (vgl. Goedelt 2010: 79). Eine Anzeige hilft betroffenen Frauen aktiv die Opferrolle zu verlassen und zu zeigen, dass sie die Gewalttaten nicht tatenlos akzeptieren. Dementsprechend kann das Strafverfahren einen wichtigen Schritt der Verarbeitung darstellen (vgl. Haupt u.a. 2003: 340).
Zu den am häufigsten genannten Gründen, weshalb keine Anzeige erstattet wird, zählen Schuld- und Schamgefühle, die Angst vor einer gesellschaftlichen Stigmatisierung, die Sorge vor Retraumatisierung, das fehlende Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden, schlechte Vorerfahrungen mit der Polizei, die Furcht vor einer Rache des Täters, aber auch die Angst nicht ernst genommen und als nicht glaubhaft eingeschätzt zu werden (vgl. LKA 2006: 7f.). Das Opfer sieht sich leider oftmals mit Misstrauen und Vorurteilen der Anzeige aufnehmenden Person konfrontiert. So fanden Elsner und Steffen in ihrer Studie zum Thema „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ heraus, dass die befragten Sachbearbeiter_innen davon ausgingen, dass es sich bei 33,4 % der nach § 177 StGB angezeigten Delikte um Falschbeschuldigungen handelt (vgl. Elsner/Steffen 2005: 157). Auch die von Baurmann befragten Polizeibeamt_innen schätzten die Falschanschuldigungen bei Vergewaltigungen auf 25 %, teilweise sogar auf bis zu 90 % ein (vgl. Baurmann 1996: 295). Dass es sich bei diesen Einschätzungen um enorme Fehleinschätzungen handelt, beweisen Kelly, Lovett und Seith in ihrer Studie zum Thema ‚Strafverfolgung von Vergewaltigungen‘. Demnach liegt der Anteil von Falschbeschuldigungen lediglich bei 3 % und trotz dessen sieht sich das Opfer oftmals mit unbegründeten Vorurteilen konfrontiert (vgl. Seith/Kelly/Lovett: 2009: 9). Die Polizei stellt für Betroffene sexualisierter Gewalt, die sich für eine Anzeige entscheiden, oftmals den ersten Ansprechpartner dar und nimmt somit eine entscheidende Rolle im Viktimisierungsprozess ein.
Doch nicht nur Fehleinschätzungen und Vorurteile von Beamt_innen, sondern auch die verstrichene Zeit zwischen Tat und Anzeigeerstattung haben Auswirkungen auf das Ermittlungsverfahren und somit auch auf das Anzeigeverhalten. Demnach gelten ‚Sofortaussagen‘ als ein Indiz für Glaubwürdigkeit (vgl. Elsner/Steffen 2005: 85). Auch wenn eine Sofortaussage keinesfalls das entscheidende Kriterium für Glaubwürdigkeit darstellt, ist festzustellen, dass Anzeigen, die bereits in den ersten 24 Stunden nach der Tat gestellt werden, seltener gemäß § 170 II StPO eingestellt werden (vgl. ebd.: 90). Dabei sei jedoch auch das Motiv für die verspätete Anzeige von entscheidender Rolle. So wurden Anzeigen, die aus Angst vor dem Tatverdächtigen verspätet gestellt wurden, nicht häufiger gemäß § 170 II StPO eingestellt als Sofortanzeigen. Waren die Motive hingegen Schuld- und Schamgefühle oder die Furcht vor einem Strafverfahren, wurden ca. drei Viertel der Verfahren eingestellt (vgl. Elsner/Steffen 2005: 90f.). Viele Opfer leiden nach sexuellen Übergriffen an psychischen und körperlichen Folgen, sodass eine ärztliche und/oder psychologische Behandlung zunächst vorrangig erscheint und eine Anzeige demzufolge in den meisten Fällen erst später erfolgt.
Bei Sexualdelikten besteht des Weiteren das enorme Problem der Beweisbarkeit. Oftmals gibt es keine Sachbeweise, sodass der Tatnachweis allein auf der Aussage und der körperlichen Untersuchung des Opfers beruht. Das ist doppelt belastend für die betroffene Person, da sie nicht ihre Glaubhaftigkeit beweisen möchte, sondern fordert, dass eine höhere Instanz die Tat als Unrecht anerkennt und verurteilt und mit Hilfe des Urteils Wiedergutmachung leistet (vgl. Sanyal 2016: 159). Je später eine medizinische Untersuchung erfolgt, desto unwahrscheinlicher ist es, genetische Rückstände des Täters oder Verletzungen sicherstellen zu können, sodass häufig aufgrund fehlender Beweismittel, lediglich die Aussage des Opfers gegen die des Täters steht (vgl. Metzner 2018: 14; Goedelt 2010: 138). Da im deutschen Strafrecht der Grundsatz der Unschuldsvermutung – im Zweifel für den Angeklagten (in dubio pro reo) – gilt, fällt das Verfahren bei fehlender Beweislast häufig zugunsten des Verdächtigen aus (vgl. EMRK Art. 6 Abs. 2; Haupt u.a. 2003: 128; Goedelt 2010: 227). Um dies verhindern zu können, besteht für Opfer sexueller Gewalt die Möglichkeit sich auch ohne polizeiliche Anzeige einer anonymen Spurensicherung (ASS) zu unterziehen. Damit möglichst viele Spuren gesichert werden können, wird empfohlen sich vor der Untersuchung nicht zu waschen, keine Zähne zu putzen und die zur Tatzeit getragene Kleidung oder Bettwäsche aufzubewahren. Diese Spuren können daraufhin beweissichernd gelagert und zu einem anderen Zeitpunkt, z.B. im Fall späterer Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, als Beweismittel verwendet werden (vgl. Goedelt 2010: 214). Die meisten Opfer sind direkt nach der Tat jedoch nicht in der Verfassung Beweismittel für ein mögliches Verfahren sicherzustellen. Entgegen der polizeilichen Empfehlung haben Betroffene vermehrt den Wunsch sich von der empfundenen ‚Beschmutzung‘ zu säubern und Beweismittel (z.B. die getragene Kleidung, Bettwäsche etc.) zu entsorgen, um so die Tat verdrängen zu können (vgl. Haupt u.a. 2003: 331).
Die geringe Strafverfolgungs- bzw. Verurteilungsquote von Sexualstraftaten hat ebenfalls Auswirkungen auf die Anzeigemotivation Betroffener. So zeigt die Strafverfolgungsstatistik, dass von den 69.881 in der PKS registrierten Fälle gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Jahr 2019, lediglich 11.542 Fälle strafrechtlich verfolgt wurden. Von 8.541 erfassten Vergewaltigungen gemäß § 177 Abs. 6, 7, 8 StGB, wurden gerade einmal 886 Fälle abgeurteilt (vgl. BKA 2019: 17; StVerfStat 2019: 30). Auch wenn es bezüglich der Vergleichbarkeit beider Statistiken Schwierigkeiten gibt, verdeutlichen die Zahlen, dass nur ein sehr geringer Teil der Anzeigen von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung rechtliche Konsequenzen nach sich zieht und Sexualstraftaten Delikte sind, die oftmals straffrei bleiben. Elz untersuchte die Verurteilungsquote und Einstellungsgründe von sexualisierter Gewalt und kam zu dem Ergebnis, dass die Verurteilungsquote von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 177 und § 178 StGB ungefähr 10 % beträgt (vgl. Elz 2017: 121). Das ist natürlich sehr entmutigend für die von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen und wirkt sich dementsprechend negativ auf die Anzeigebereitschaft aus. Weitere Faktoren, die die Entscheidung hinsichtlich einer Strafanzeige beeinflussen, sind unter anderem der Rückhalt im sozialen Nahraum, die Furcht vor einer Gegenanzeige der Täter, Angst vor den Reaktionen des sozialen Umfeldes, aber auch die Persönlichkeitsmerkmale der Opfer (vgl. Haupt u.a. 2003: 71).
All diese genannten Gründe stellen für die Opfer von sexualisierter Gewalt eine sekundäre Viktimisierung dar, die einen maßgeblichen Einfluss auf das Anzeigeverhalten der betroffenen Personen hat. Ein weiterer Faktor, der das Erstellen einer Anzeige erheblich erschwert, ist die Täter-Opfer-Beziehung, die im Anschluss thematisiert wird.
3.2 Einfluss der Täter-Opfer-Beziehungen
Sexualisierte Gewalt wird mehrheitlich durch Menschen aus dem nahen sozialen Umfeld des Opfers ausgeübt. So fanden Studien heraus, dass die meisten Übergriffe durch den ehemaligen Partner oder den aktuellen Partner erfolgen. Der Anteil unbekannter Täter ist hingegen eher gering (vgl. Schröttle u.a 2004: 203; Seith/Kelly/Lovett 2009: 6). Da die Taten überwiegend durch Personen des sozialen Nahraums erfolgen, hat die Täter-Opfer-Beziehung einen maßgeblichen Einfluss auf das Anzeigeverhalten. Vergewaltigungen weisen oftmals eine sehr enge Täter-Opfer-Beziehung auf, so war der Täter in der Untersuchung von Elsner und Steffen in zwei von fünf Fällen der (ehemalige) Partner oder ein intimer Freund, wohingegen bei sexueller Nötigung häufig keine Täter-Opfer-Beziehung oder nur ein Bekanntenverhältnis im Vorfeld bestand (vgl. Elsner/Steffen 2005: 73).
Bei sexualisierter Gewalt in der Partnerschaft handelt es sich häufig um Wiederholungstaten, weshalb das Opfer in der ständigen Angst vor erneuten Übergriffen lebt. Dazu kommen Scham- und Schuldgefühle, da sich die betroffene Person hilflos fühlt und nicht in der Lage ist, die Beziehung zu beenden oder eine Anzeige zu erstatten. Die andauernde Ohnmacht endet in Handlungsunfähigkeit. Durch diese Erfahrungen wird das Beziehungsverhalten und das grundsätzliche Vertrauen in nahestehende Personen erschüttert. Durch den erlebten Machtmissbrauch in Zusammenhang mit physischer und psychischer Gewalt wird das Selbstvertrauen des Opfers so weit untergraben, bis es sich in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis zum Täter befindet und nicht mehr bzw. nur sehr schwer in der Lage ist, sich aus der Beziehung zu befreien (vgl. Gottschalk 2014: 140f.).
Eine Beziehung zum Täter senkt außerdem die Bereitschaft des Opfers eine Strafanzeige bei der Polizei zu stellen. So werden Fremdtäter ungefähr dreimal häufiger angezeigt als Familienangehörige. Es wird davon ausgegangen, dass die Schuldgefühle des Opfers mit zunehmender Nähe zum Täter wachsen und dementsprechend von einer Anzeige abhalten (vgl. LKA 2006: 22). Das Opfer vertritt häufig die Annahme durch das eigene Verhalten die Tat provoziert und somit eine Mitschuld an dem Tatgeschehen zu tragen. Der sexuelle Übergriff innerhalb einer Beziehung, die Halt und Geborgenheit bieten sollte, stellt einen tiefgreifenden Einschnitt in das Sicherheitsgefühl des Opfers dar. Insbesondere in partnerschaftlichen Beziehungen bestehen viele Hemmungen den Täter anzuzeigen, vor allem wenn gemeinsame Kinder involviert sind, oder der Täter verspricht er würde sich ändern (vgl. Haupt u.a. 2003: 338). Aus einer Beziehung heraus den Täter anzuzeigen, hat nicht selten weitreichende soziale und ökonomische Folgen, so etwa den Bruch familiärer oder freundschaftlicher Strukturen, den Verlust materieller und finanzieller Sicherheit, sowie den Verlust der Glaubwürdigkeit usw. (vgl. LKA 2006: 8).
Mit zunehmender Enge der Täter-Opfer-Beziehung, steigt weiterhin die Wahrscheinlichkeit, dass Verfahren eingestellt oder Verdächtige freigesprochen werden (vgl. Goedelt 2010: 16). So fand die 2004 durchgeführte Studie heraus, dass sich das polizeiliche Verhalten stark unterschied, wenn es sich bei dem Täter, um einen (Ex-)Partner handelte. Die Beziehungstaten wurden häufiger als zu geringfügig eingestuft, was zu einer Einstellung der Ermittlungen führte (vgl. Schröttle u.a. 2004: 213ff.). Obwohl es keine wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, die belegen, dass sexualisierte Gewalt durch einen Fremdtäter folgenschwerer ist als durch einen ehemaligen oder aktuellen Sexualpartner, fanden Untersuchungen im Bereich allgemeiner Gewalt heraus, dass Gewalt durch einen Täter aus dem sozialen Umfeld sehr wohl traumatisierender wirkt (vgl. Clemm 2020: 35) So ist in der Istanbul-Konvention ausdrücklich aufgeführt, dass Taten gegen eine ehemalige oder aktuelle Lebenspartnerin als strafschärfend anzusehen seien (vgl. BMFSFJ 2019: 1045, Art. 46) . Dennoch wird der Umstand einer vorangegangenen Intimbeziehung vor Gericht strafmildernd für den Verdächtigen bewertet. Als ebenso minder schwer wird angesehen, wenn zwischen Täter und Opfer zunächst einvernehmliche sexuelle Handlungen vollzogen wurden und der Täter erst im Laufe dessen weitere Handlungen gegen den Willen des Opfers erzwungen hat (vgl. Goedelt 2010: 205). Baurmann kam zu dem Entschluss, dass mit zunehmendem Bekanntschaftsgrad zwischen Täter und Opfer auch die Intensität der sexualisierten Gewalttat steigt (vgl. Baurmann 1996: 22).
Abschließend bleibt festzuhalten, dass sexualisierte Gewalt innerhalb intimer Beziehungen noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema darstellt und häufig als Privatsache abgetan wird, weshalb es Betroffenen oftmals an Aufklärung für mögliche Hilfsangebote fehlt (vgl. Gottschalk 2014: 116). Die Täter-Opfer-Beziehung kann somit sowohl das Anzeigeverhalten Betroffener als auch das Strafverfahren negativ beeinflussen. Auffallend ist, dass vermehrt Verfahren eingestellt werden, wenn zwischen den Beteiligten der Straftat bereits im Vorfeld Kontakt bestand. Das bloße Bestehen einer Beziehung ist dennoch kein ausschlaggebendes Kriterium für den Ausgang eines Verfahrens, es hängt ebenfalls mit der Mitwirkungsbereitschaft des Opfers zusammen, die jedoch mit zunehmender Nähe zum Täter sinkt (vgl. Elz 2021: 30).
- Quote paper
- Lisa Menger (Author), 2022, Sekundäre Viktimisierung von Opfern sexualisierter Gewalt. Folgen, Prävention und Umgang mit Betroffenen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1267607
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.