Child Language Brokering beschreibt das Phänomen, dass Kinder für ihre Eltern oder seltener andere Erwachsene mit Migrationshintergrund bzw. Fluchtgeschichte sprachmitteln. In Deutschland ist dieses Phänomen in Forschung sehr wenig untersucht, ebenfalls ist unbekannt, wie viele Kinder Aufgaben als Dolmetschende übernehmen. Laut dem Statistischen Bundesamt hatten 39,0 % der Kinder und Jugendlichen zwischen fünf und 15 Jahren im Jahr 2020 einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Da der Spracherwerb im Migrationsprozess langwierig sein kann, gehört für viele Kinder und Jugendliche das Sprachmitteln für die Eltern oder andere Verwandte zum Alltag dazu. Der Einsatz von Child Language Brokering wird zunehmend auch in der öffentlichen Meinung sowohl von Verbänden und Organisationen als auch in Zeitschriften und Podcasts höchst kritisch betrachtet. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer versteht Child Language Brokering gemäß der UN-Kinderrechtskonvention als Ausbeutung von Kindern und wirft die Frage nach dem Kindeswohl durch die Belastung als Folge der Dolmetschtätigkeit auf.
Auch in der Sozialen Arbeit übersetzen Kinder notgedrungener Weise immer wieder für ihre Eltern oder andere Erwachsene, da Sprachmittlungen häufig anderweitig nicht verfügbar sind. Hierdurch wird die wissenschaftliche Frage aufgeworfen, welche Anforderungen sich an den Kinderschutz in der Sozialen Arbeit in Hinblick auf den Einsatz von Child Language Brokering ergeben. Dabei ist von entscheidendem Erkenntnisinteresse die Frage, wie sich Child Language Brokering auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirkt, um einzuschätzen, welchen Einfluss das Sprachmitteln auf die kindliche Entwicklung hat. Zusätzlich stellt sich die Frage, worin Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Child Language Brokering in Hinblick auf Kinderschutz in der Sozialen Arbeit liegen. Diese Frage bezieht sich darauf, welchen Umgang Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Praxis in verschiedenen Kontexten und Settings mit Child Language Brokering entwickeln sollen. Im Fokus steht hierbei die Gewährleistung des Kinderschutzes.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Kinderschutz
2.1.1 Der Begriff Kinderschutz im deutschen Recht
2.1.2 Das enge und breite Verständnis von Kinderschutz
2.1.3 Der Begriff Kinderschutz im internationalen Recht
2.1.4 Risiko- und Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung
2.1.5 Destruktive Parentifizierung als Risikofaktor
2.1.6 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Child Language Brokering
2.1.7 Zwischenfazit
2.2 Child Language Brokering
2.2.1 Definition und begriffliche Abgrenzung
2.2.2 Bilingualität und Bikulturalität
2.2.3 Relevanz der kindlichen Entwicklung
2.2.4 Einfluss der Familiendynamik
2.2.5 Parentifizierung
2.2.6 Risiken für die mentale Gesundheit
2.2.7 Strukturelle Ursachen in Deutschland
2.2.8 Zwischenfazit
3 Forschungsmethodisches Vorgehen 31
3.1 Begründung des qualitativen Forschungsparadigmas
3.2 Datenerhebungsinstrument
3.3 Fallauswahl und Fallportrait
3.4 Interviewsituation und Transkription
3.5 Datenanalyse
4 Vorstellung der empirischen Ergebnisse
4.1 Rahmenbedingungen und Übersetzungssituationen
4.1.1 Rahmenbedingungen
4.1.2 Übersetzungssituationen
4.2 Emotionen und psychische Belastungen
4.2.1 Emotionale Reaktionen
4.2.2 Psychische Belastungen
4.3 Familiendynamik
4.4 Folgen von Child Language Brokering
4.5 Professionelle Sicht auf Child Language Brokering
5 Einordnung der empirischen Ergebnisse in den aktuellen Forschungsstand
6 Abschlussdiskussion und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Child Language Brokering beschreibt das Phänomen, dass Kinder für ihre Eltern oder seltener andere Erwachsene mit Migrationshintergrund bzw. Fluchtgeschichte sprachmitteln (vgl. Weisskirch, 2017, S. 7). In Deutschland ist dieses Phänomen in Forschung sehr wenig untersucht, ebenfalls ist unbekannt, wie viele Kinder Aufgaben als Dolmetschendeübernehmen.Lautdem Statistischen Bundesamt hatten39,0 %der Kinder und Jugendlichen zwischen fünf und 15 Jahren im Jahr 2020 einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend (vgl. Destatis, 2022). DaderSpracherwerbim Migrationsprozess langwierig sein kann, gehört für viele Kinder und Jugendliche das Sprachmitteln für die Eltern oder andere Verwandte zum Alltag dazu. Der Einsatz von Child Language Brokering wird zunehmend auch in der öffentlichen Meinung sowohl von Verbänden und Organisationen als auch in Zeitschriften1 und Podcasts2 höchst kritisch betrachtet. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer versteht Child Language Brokering gemäß der UN-Kinderrechtskonvention als Ausbeutung von Kindern und wirft die “Frage nach dem Kindeswohl durch die Belastung als Folge der Dolmetschtätigkeit” auf (vgl. BDUe, 2021).
Auch in der Sozialen Arbeit übersetzen Kinder notgedrungener Weise immer wieder für ihre Eltern oder andere Erwachsene, da Sprachmittlungen häufig anderweitig nicht verfügbar sind. Hierdurch wird die wissenschaftliche Frage aufgeworfen, welche Anforderungen sich an den Kinderschutz in der Sozialen Arbeit in Hinblick auf den Einsatz von Child Language Brokering ergeben. Dabei ist von entscheidendem Erkenntnisinteresse die Frage, wie sich Child Language Brokering auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirkt, um einzuschätzen, welchen Einfluss das Sprachmitteln auf die kindliche Entwicklung hat. Zusätzlich stellt sich die Frage, worin Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Child Language Brokering in Hinblick auf Kinderschutz in der Sozialen Arbeit liegen. Diese Frage bezieht sich darauf, welchen Umgang Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Praxis in verschiedenen Kontexten und Settings mit Child Language Brokering entwickeln sollen. Im Fokus steht hierbei die Gewährleistung des Kinderschutzes.
Die vorliegende empirische Arbeit beginnt mit einem theoretischen Teil, in dem der aktuelle Stand der Literatur zu den Themen Kinderschutz und Child Language Brokering dargestellt werden. Nachfolgend wird das forschungsmethodischeVorgehen erläutert, in welchem ein qualitatives Forschungsparadigma Anwendung findet. Weiterhin werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung dargestellt und anschließend in den aktuellen Forschungsstand eingeordnet. Abschließend folgen die Abschlussdiskussion sowie das Fazit.
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Kinderschutz
2.1.1 Der Begriff Kinderschutz im deutschen Recht
Aus dem Begriff Kinderschutz geht hervor, dass Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung ihres 18. Lebensjahres zu deren Wohl vor Gefährdungen geschützt werden (vgl. Biesel & Urban-Stahl, 2018, S. 18). Dabei ist zu beachten, dass Kinderschutz einen Fachbegriff und keinen Rechtsbegriff darstellt (vgl. Kindler, 2016, S. 17). Im Grundgesetz (GG), im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), im Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) sind dieRechtsgrundlagen für Kinderschutz und für professionelles Handeln in diesem Bereich verankert (vgl. Biesel & Urban-Stahl,2018,
S. 180). Artikel 6 GG regelt das Dreiecksverhältnis zwischen Eltern, Kind und Staat:
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 6
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
Im Elternrecht wird gemäß Art. 6 II GG die elterliche Sorge als “natürliches Recht” bezeichnet und stellt die “zuvörderst ihnen obliegende Pflicht” der Eltern dar. Hierbei wird deutlich, dass das Elternrecht einen Schutz vor staatlichen Eingriffen in die elterliche Sorge beinhaltet, aber gleichzeitig mit einer Pflicht zur verantwortungsbewussten Ausübung dieses Rechts einhergeht(vgl. ebd.,S.184).Laut Bundesverfassungsgericht beruht derVorrang des Elternrechts aufder Annahme,dass “in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt, als irgend einer anderen Person oder Institution” (Schone, 2017, S. 17). Wird das Elternrecht missbraucht, ermöglicht das Grundgesetz dem staatlichen Wächteramt auf Grundlage von weiteren Gesetzen in die elterliche Sorge einzugreifen (vgl. Biesel & Urban-Stahl, 2018, S. 184). Die konkrete Bedeutungvon “PflegeundErziehung” ist im Grundgesetz nicht definiert (vgl. ebd.). Weitergehend sind die rechtlichen Verhältnisse zwischen Eltern und Kinder, aber auch dem Staat im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) konkretisiert (vgl. ebd., S. 185). Besonders relevant erscheinen dabei § 1626 und § 1631 BGB, in denen die elterliche Sorge definiert wird und inhaltliche Grundsätze dargestellt werden, in welcher Art und Weise dieelterliche Sorgeausgeübtwerden soll (vgl. ebd.). § 1631 I BGB stellt zusätzlich die Pflicht zur verantwortungsvollen Erziehung in den Vordergrund und beinhaltet somit “die Aufgabe, sich in der Ausübung der elterlichen Sorge am Entwicklungsstand des Kindes zu orientieren und das Kind seinen wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechend an Entscheidungen über sein Leben zu beteiligen und Einvernehmen über Entscheidungen zu erzielen” (ebd., S. 186). Absatz 2 beschreibt dasRechtaufgewaltfreieErziehung, welches nicht nur körperliche und seelische Unversehrtheit umfasst, sondern auch andere Formen von Gewalt ausschließt (vgl. ebd.).
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
§ 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge
(1) Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
(3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen.
Bislang sind keine eigenständigen Kinderrechte im Grundgesetz verankert (vgl. BMFSFJ, 2021a). Die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ist schon mehrere Jahre lang geplant, jedoch konnte im parlamentarischen Verfahren bisher keine Einigung erzielt werden (vgl. ebd.). Auch im aktuellen Koalitionsvertrag ist die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz vorgesehen (vgl. ebd.).
Die aktuelle Rechtsprechung sieht Kinder bereits als Träger eigener Rechte (vgl. Biesel & Urban-Stahl, 2018, S. 186). Kinder haben somit einen rechtlichen Anspruch aufden Schutz durch das staatliche Wächteramt sowie ein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 1 GG und Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG (vgl. Schone, 2017, S. 20; Schmahl, 2020, S. 63 f.). Die Überwachung und der Eingriff des Staates wird im § 1666 BGB konkretisiert (vgl. Schone, 2017, S. 20).
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
§ 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.
Im BGB kommt der Begriff Kindeswohl an verschiedenen Stellen, vor allem jedoch im Familienrecht, immer wieder vor (vgl. Schone, 2017, S. 17). Dieser bezieht sich sehr allgemein gefasst auf das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen sowie dessen gesunder Entwicklung (vgl. ebd.). Das Kindeswohl soll einen Orientierungsmaßstab für elterliches Handeln darstellen, jedoch ist es im Gesetz nicht genauer definiert (vgl. ebd.). Vielmehr wird die Vorstellung des Kindeswohls durch kulturelle, historisch-zeitspezifische und ethnisch geprägte Menschenbilder der Eltern beeinflusst (vgl. ebd.). Somit kommen sehr unterschiedliche elterliche Vorstellungen vom Begriff Kindeswohl zustande. Der Begriff des Kindeswohls orientiert sich an Rahmenbedingungen, wie der “Gesundheit des Kindes, Möglichkeiten zur störungsfreien Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Abwesenheit von Belastungen, Konflikten, Gewalt und Angst (...)“ (Kotthaus, 2010, S. 94). Da verfassungsrechtlich von der Annahme ausgegangen wird, dass “die Sicherung der Elternautonomie zugleich das Kindeswohl sichert,wird nichtin allen Fällen die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes durch die Eltern gewährleistet werden (können)” (ebd., S. 19). Der rechtliche Begriff Kindeswohl dient stattdessen zum einen als Legitimationsgrundlage für Eingriffe durch das staatliche Wächteramt und zum anderen als sachlicher Maßstab, durch densichdie Notwendigkeit gerichtlicher Maßnahmen festmachen lässt (vgl. ebd., S. 21).
Das staatliche Wächteramt dient nicht nur dem speziellen Eingriff in Fällen von Kindeswohlgefährdung, sondern soll vielmehr Rahmenbedingungen und Unterstützungsangebote für Eltern schaffen, um sie in ihrer elterlichen Kompetenz zu stärken und Gefährdungen für Kinder präventiv zu vermeiden (vgl. Biesel & Urban-Stahl, 2018, S. 192). Hierbei spielen Angebote der Frühen Hilfen, die über das Gesetz über die Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) definiert werden und im Zuge des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) 2012 eingeführt wurden sowie Leistungen der Kinder und Jugendhilfe nach dem SGB VIII eine bedeutende Rolle (vgl. ebd.). Im SGB VIII wird in Absatz 1 das Recht auf Erziehung beschrieben, auf dem der Rechtsanspruch von Kindern und Jugendlichen auf Förderung und Erziehung beruht. In Absatz 2 wiederholt sich das Dreiecksverhältnis zwischen Eltern, Kind und Staat aus Art. 6 II GG.
Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe
§ 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe
(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2. jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können,
3. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
4. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
5. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.
Aus §8a SGB VIII ergibt sich der Schutzauftrag des Jugendamtes sowie der Fachkräfte, die mit derDurchsetzung des staatlichen Wächteramtes beauftragt sind,im Fall von Kindeswohlgefährdung. Nach Absatz 4 gilt dies auch für Fachkräfte der freien Jugendhilfe, insofern dies in Vereinbarungen geregelt ist (vgl. Schone, 2017, S. 21).
2.1.2 Das enge und breite Verständnis von Kinderschutz
In Deutschland hat sich eine enge und eine breite Auslegungsweise des Fachbegriffs Kinderschutz etabliert. Das enge Verständnis ist stark mit der Definition des Rechtsbegriffs der Kindeswohlgefährdung verknüpft und bezieht sich auf die Ermittlung, Überprüfung und Intervention in einer schon bestehenden Situation der Kindeswohlgefährdung (vgl. Biesel & Urban-Stahl, 2018, S. 19). Dementsprechendhat sich Kinderschutz als “Spezialbegriff für die Aufgabe der Abwendung unmittelbarer Gefahr für Kinder und Jugendliche” etabliert (ebd. zit. nach Schone & Struck, 2013, S. 791).
“Kinderschutz soll Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen des Kindeswohls schützen. Unter Kindeswohlgefährdung versteht die Rechtssprechung des BGH eine gegenwärtige und zwar in solchem Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung [...] eine erhebliche Schädigung [...] mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt” (Schone, 2018, S. 34).
Hierbei bezieht sich die Gewährleistung des Kinderschutzes als hoheitliche Aufgabe ausschließlich auf Akteur*innen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Familiengerichte (vgl. ebd., S. 35).
Im breiten Verständnis stellt Kinderschutz stattdessen einen gesellschaftlichen Oberbegriff dafür dar, dass Kindern ein geschütztes und gelingendes Aufwachsen ermöglicht wird (vgl. ebd.).
“Kinderschutz stellt, weit gefasst, die gesellschaftliche Bemühung und Bewegung dar, Kinder vor Verhältnissen und Maßnahmen zu schützen, die dazu führen, dass das Recht der Kinder auf ein menschenwürdiges Leben, freie Entfaltung der Persönlichkeit und wirkliche Förderung beschnitten wird” (Schone, 2018, S. 34).
Damit wird nicht nur der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe umfasst, sondern auch andere Professionen und Handlungsfelder mit einbegriffen, wie z.B. das Gesundheitswesen, die Schule sowie die materielle Sicherung (vgl. ebd., S. 35). Ein wichtiger Bestandteil des breiten Verständnisses sind die Frühen Hilfen, die einen pimärpräventiven Ansatz für den Kinderschutz bieten.
Kindler beschreibt neben dem engen und breiten Verständnis als dritte Auslegungsweise den entgrenzten Kinderschutzbegriff (vgl. Kindler, 2016, S. 16). Die Entgrenzung bezieht sich darauf, dass der Kinderschutz mit allgemeiner Sozialpolitik oder Politik der Gesundheitsförderung verknüpft wird bzw. dass er nicht mehr mit der Fürsorgepflicht der Eltern gekoppelt ist, sondern Gefahren durch Gleichaltrige oder Medien umfasst (vgl. ebd.).
Problematisch ist, dass die Auslegungsweisen des Begriffes Kinderschutz oft durcheinander verwendet werden, da es sprachlich keine Abgrenzung zwischen bspw. dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung im engen Verständnis und den Frühen Hilfen im breiten Verständnis gibt (vgl. Schone, 2018, S. 35). Zusätzlich wurde die begriffliche Unklarheit durch die Gesetzgebung verstärkt, da die Namensgebung beispielsweise für das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) und das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) den Kinderschutzbegriffebenfalls aus seinem engen Verständnis herauslöst (vgl. ebd.).
In der Kinderschutzdebatte wurde daraufhin versucht, auf die Begriffe der Prävention und Intervention auszuweichen, um eine Unterscheidung deutlich zu machen (vgl. ebd.). Prävention beschreibt ein Eingreifen, welches in Bezugnahme auf zukünftige Entwicklungsrisiken vorverlagert wird (vgl. ebd., S. 36). Beispielsweise wird im Bereich der Frühen Hilfen großteils primärpräventiv interveniert, da verschiedene familiäre Belastungen die kindliche Entwicklung beeinträchtigen könnten und die Wahrscheinlichkeit hierfür eine statistische Grundlage für die Intervention bietet (vgl. ebd.). Dagegen wird beim Schutzauftrag im Falle von Kindeswohlgefährdung sekundär- oder tertiärpräventiv interveniert, welches aufgrund konkreter Ereignisseund Anhaltspunkte geschieht (vgl. ebd.). Laut § 1666 soll hierbei eine Gefahr abgewendet und eine drohende Schädigung verhindert werden, was eindeutig eine Prävention darstellt - ein Handeln bevor der Schaden eintritt (vgl. ebd.). Dementsprechendbieten die Begriffe der Prävention und Intervention ebenfalls keine ausreichend gute Trennschärfe zur Differenzierung des Begriffs Kinderschutz (vgl. ebd.).
Stattdessen kann ein großer Unterschied in der rechtlichen Situation der Eltern bzw. Sorgerechtinhaber*innen ausgemacht werden (vgl. Kindler, 2016, S. 25). Während es sich bei den Frühen Hilfen i.d.R. um freiwillige Angebote handelt, die je nach Entscheidung der Sorgerechtsinhaber*innen wahrgenommen werden können oder auch nicht, können sich Eltern im Falle von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung Klärungsprozessen nicht komplett entziehen (vgl. ebd.).
2.1.3 Der Begriff Kinderschutz im internationalen Recht
Eine besondere Bedeutung kommt inBezug auf Kinderschutz im internationalen Recht der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) zu, die 1989 beschlossen und von 196 Vertragsparteien unterzeichnet wurde (vgl. Schmahl, 2020, S. 55). In Deutschland erhielt die UN-KRK 1992 ihre Rechtsverbindlichkeit, mit Ausnahme des Ausländerrechts, das bis 2010 Vorrang hatte (vgl. Biesel & Urban-Stahl, 2018,S. 181). In der UN-KRK ist als formuliertes Ziel festgehalten, dass Kindern der für ihre Entwicklung notwendige Schutz und Beistand geboten werden soll, damit sie auf ihre gesellschaftliche Rolle vorbereitet werden können (vgl. Schmahl, 2020, S. 55). Ein besonderes Augenmerk soll hierbei Kindern zugutekommen, die in schwierigen Verhältnissen leben oder von gesellschaftlicher Benachteiligung betroffen sind (vgl. ebd., S. 59). Als KindistinArt. 1 UN-KRKdefiniert, wersein18.Lebensjahrnochnicht vollendet hat, außer wenn die Volljährigkeit im jeweiligen nationalen Recht früher eintritt (vgl. ebd.). Der Grundgedanke der UN-KRK richtet sich am Kindeswohl aus,im Englischen “best interests of the child” genannt, das nach Art. 3 UN-KRK Maßgabe für alle Belange und Maßnahmen ist, die das Kind betreffen (vgl. ebd.).
UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 3
(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
(2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.
(3) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass die für die Fürsorge für das Kind oder dessen Schutz verantwortlichen Institutionen, Dienste und Einrichtungen den von den zuständigen Behörden festgelegten Normen entsprechen, insbesondere im Bereich der Sicherheit und der Gesundheit sowie hinsichtlich der Zahl und der fachlichen Eignung des Personals und des Bestehens einer ausreichenden Aufsicht.
Das Kindeswohl beinhaltet in diesem Sinn auch die Meinung, den Willen sowie die Individualität des Kindes (vgl. ebd.). Art. 12 UN-KRK geht genauer auf das Mitspracherecht ein und stellt Kinder als eigenständige Rechtssubjekte unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem sozialen Stand dar (vgl. Spatscheck, 2018, S. 23). Das bedeutet, dass Kindern ihre Rechte genauso unveräußerlich wie Erwachsenen zustehen und sie nicht mehr nur als Teil der Familie oder einer sozialen Gruppe wahrgenommen werden (vgl. Schmahl, 2020, S. 59 f.). Das Mitspracherecht soll sich jedoch am Reifegrad des Kindes ausrichten (vgl. ebd., S. 60). Für den Kinderschutz besonders wichtig erscheint zusätzlich Art. 19 UN-KRK, der das Recht auf ein gewaltfreies Aufwachsen ohne körperliche sowie psychische Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung sichern soll (vgl. Spatscheck, 2018, S. 23). Gleichzeitig werden staatliche und andere beteiligte Institutionen in die Pflichtgenommen, dieses Recht zu realisieren (vgl. ebd.). Zusätzliche für den Kinderschutz besonders relevante Rechte finden sich in Art. 32 und 34 UN-KRK, dem Schutz vor Ausbeutung, Art. 35 UN-KRK, dem Schutz vor Kinderhandel, Art. 17 UN-KRK, dem Schutz vor schädlichen Medieninhalten sowie Art. 20, dem Schutz von Kindern, die getrennt von ihrer Familie untergebracht sind (vgl. ebd.).
Auch das Erziehungsrecht bzw. die Erziehungspflicht wird in Art. 3 Abs. 2, Art. 5, Art. 14 Abs. 2 sowie in Art. 18 Abs. 1 UN-KRK aufgegriffen (vgl. Schmahl,2020,S.60). In der Konvention kommt das Spannungsfeld zwischen Elternrecht, Kinderrechten und anderen, teils öffentlichen Interessen zum Ausdruck (vgl. ebd.). Kinder sollen von Beginn an in Entscheidungsprozesse, die sie betreffen, eingebunden werden, auch wenn die letztendliche Entscheidung von den Sorgeberechtigten getroffen wird (vgl. ebd.). Dabei soll altersgemäß der Wille von Jugendlichenstärkerins Gewicht fallen als der Wille von Kleinkindern (vgl. ebd.).
Die Durchsetzungsmechanismen der Konvention sind schwach ausgeprägt. Art. 44 UN-KRK verpflichtet alleinig dazu, dem UN-Kinderrechtsausschuss in regelmäßigen Abständen Bericht zu erstatten, eine völkerrechtliche Ratifikation des Protokolls besteht nicht (vgl. ebd., S.61).
2.1.4 Risiko- und Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung
In der Risikoforschung werden verschiedene Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung unterschieden, die sowohl kurz-alsauchlangfristig dieKindesentwicklung beeinflussen und die Wahrscheinlichkeit steigern können, dass Entwicklungsauffälligkeiten oder psychische Störungen auftreten (vgl. Heilig, 2014, S. 263 f.). Dabei wird zwischen Vulnerabilitäten, d.h. den genetischen und biologischen Merkmalen des Kindes, sowie Stressoren, den psychosozialen Umweltfaktoren, unterschieden (vgl. ebd.). Um die kindliche Risikobelastung einschätzen zu können, kann die Anzahl der Risikofaktoren herangezogen werden (vgl. ebd.). Die Forschung zeigt, dass sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Entwicklungsauffälligkeiten erhöht, wenn kumulierte, lang anhaltende Risikofaktoren vorliegen (vgl. ebd.).
Als Stressoren auf der gesellschaftlichen Ebene gelten besondere Belastungen für Familien, z.B. durch die mit der Kinderzahl steigende Armutsgefährdung sowie die Verringerung von Spielflächen für Kinder, welche dem Ruhebedürfnis der Eltern entgegensteht (vgl. Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW e.V., 2022a; BPB, 2020). Zusätzlich stellt sich die wachsende Individualisierung von Lebenslagen als problematisch dar, da sie die Initiierung sowie Erhaltung sozialer Netzwerke erschwert (vgl. Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW e.V., 2022a). Auch unzureichende finanzielle bzw. materielle Ressourcen, beispielsweise durch Arbeitslosigkeit oder niedrigem Einkommen, und beengte Wohnverhältnisse stellen Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung dar (vgl. ebd.). Auf die soziale Situation bezogen, zählen fehlende familiäre Unterstützungssysteme und eine isolierte Wohnsituation als Stressoren (vgl. ebd.). Als familiäre Risikofaktoren gelten lang anhaltende Konflikte zwischen den Eltern, Trennung oder Scheidung, wechselnde Paarbeziehungen sowie eine alleinige Erziehungsverantwortung (vgl. ebd.). Weiterhin existieren verschiedene Risikofaktoren auf der Elternebene sowie auf der Ebene des Kindes (vgl. ebd.). Wenn Eltern in ihrer eigenen Lebensgeschichte Misshandlung, Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben, einen niedrigen Bildungsstand besitzen, eine Sucht bzw. akute psychische oder somatische Erkrankung haben, stellt dies persönliche Risikofaktoren dar (vgl. ebd.). Vulnerabilitäten aufseiten des Kindes sind beispielsweise Frühgeburt, ein “schwieriges” Temperament, Erkrankungen und Behinderungen (vgl. ebd.).
Für den Einfluss auf die kindliche Entwicklung entscheidend sind Wechselwirkungen und kumulative Verstärkungen bzw. Abschwächungen verschiedener Risiko- und Schutzfaktoren (vgl. Alle, 2020, S. 56 f.). Ein Risikofaktor allein erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Störungen bei Kindern nurminimal (vgl. Heilig, 2014, S. 272). Je mehrRisikofaktoren hoher Intensität hinzukommen bzw.nachfolgen oder unmittelbar vorausgegangensind, desto höher steigt die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsschädigung (vgl. ebd.).Als ausschlaggebend erweisen sich die zeitliche sowie räumliche Dimension derFaktoren, dieAufschluss überdie zeitliche Dauer bzw.die räumliche Nähe geben (vgl. Alle,2020, S. 56 f.). Diese hochkomplexen Kombinationen und Wechselbeziehungen können sich risikoerhöhend oder risikomildernd auswirken (vgl. ebd.).
Manche Kinder entwickeln, obwohl dramatische und kumulierte Stressoren vorliegen, keine psychischen Probleme und/oder Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Heilig, 2014, S. 264). Gründe hierfür können Schutzfaktoren sein, die das Bewältigungspotential der Kinder erhöhen und ihnen eine gewisse psychische Widerstandsfähigkeit, sogenannte Resilienz, verleihen (vgl. ebd.). Schutzfaktoren können zum einen personelle Merkmale, wie z.B. ein kontaktfreudiges Temperament oder kognitive Kompetenzen sein, zum anderen können Ressourcen der Eltern und des sozialen Umfeldes die Resilienz erhöhen (vgl. Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW e.V., 2022b). Hierbei spielen u.a. soziale Unterstützungssysteme eine bedeutende Rolle, welche die Eltern entlasten (vgl. ebd.).
In der Risikoforschung wurde zusätzlich untersucht, inwiefern sich ein Migrationshintergrund auf die kindliche Entwicklung auswirkt. Dabei konnten keine überzeugenden Belege dafür gefunden werden, dass Kindermit Migrationshintergrund ein höheres Entwicklungsrisiko zeigen würden als Kinder, die im Herkunftsland aufwachsen (vgl. Heilig, 2014, S. 271). Familien mit Migrationshintergrund besitzen häufiger einen niedrigeren sozioökonomischen Status als Familien ohne Migrationshintergrund (vgl. ebd.). Unter Berücksichtigung anderer Faktoren wie dem Familieneinkommen, den Sprachkompetenzen oder der sozialen Umgebung des Kindes ist der Migrationshintergrund als Einflussfaktor auf die kindliche Entwicklung allerdings vernachlässigbar (vgl. ebd.).
2.1.5 Destruktive Parentifizierung als Risikofaktor
Das Phänomen der Parentifizierung beschreibt eine Rollenumkehr zwischen den Generationen, d.h. Kinder übernehmen Aufgaben, die normalerweise Erwachsenen zugeschrieben werden (vgl. Tietzmann, 2011, S. 881). Ursprünglich wurde ein signifikant erhöhtes Auftreten von Parentifizierung in Familien festgestellt, in denenein Elternteil bzw. beide Elternteile unter psychischen Krankheiten oder Suchterkrankungen leiden (vgl. ebd.). Aber auch Scheidungskinder sowie Kinder, deren Eltern im Konflikt stehen, sind häufiger von Parentifizierung betroffen (vgl. ebd.). Zusätzlich existieren Studien, die belegen, dass Parentifizierung im Zusammenhang mit Migration häufiger auftritt (vgl. Özkan & Willemsen, 2017, S. 512) In all diesen Beispielen sind Eltern nicht dazu in der Lage, vollständig ihre elterliche Rolle zu erfüllen, sodass Kinder und Jugendliche Verantwortlichkeiten übernehmen, um das Familienleben aufrechtzuerhalten (vgl. Tietzmann, 2011,S. 881). Generationengrenzen verschwimmen, wodurch familiäre Strukturen destabilisiertwerden können,sodass das Bild der “verstrickten Familie” (Plass& Wiegand-Grefe, 2012, S. 28 f.) entsteht. Fürdie familiäre Funktionalität stellen Generationengrenzen jedoch eine wichtige Basis dar, weil durch sie Unterschiede zwischen kindlichen sowie elterlichen Rollen abgegrenzt und Interaktionsregeln zwischen Eltern und Kindern festgehalten werden können (vgl. ebd.).
Parentifizierung kann sich unterschiedlich auf betroffene Kinder auswirken (vgl. ebd., S. 29). Solange die kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten nicht begrenzt werden, kann Parentifizierung als adaptiv (oder auch konstruktiv) eingeschätzt werden (vgl. ebd.). Das heißt, wenn Kinder Anerkennung für die übernommene Tätigkeit erhalten, bei der Durchführung der Aufgaben unterstützt werden und weiterhin ihre kindliche Bedürfnisse berücksichtigt werden, können das Selbstbewusstsein und die Empathiefähigkeit der Kinder gestärkt werden (vgl. ebd., S. 30). Destruktive Parentifizierung wiederum kann entstehen, wenn entwicklungs- und altersunangemessene Aufgaben mit einem Übermaß an Verantwortung und Fürsorge übernommen werden (vgl. ebd.). Speziell, wenn keine Reziprozität des Gebens und Nehmens vorhanden ist, sondern das Kind eigene Bedürfnisse denen der Eltern unterordnen muss, liegt destruktive Parentifizierung vor (vgl. ebd.). Wenn das Kind eigene Bedürfnisse wie Spielen oder Kontakt zu Gleichaltrigen vernachlässigt, um die Bedürfnisse der Eltern zu erfüllen, wird es ineine nicht kindgerechte Rolle gedrängt, in der das Kind zur Befriedigung der elterlichen Bedürfnisse missbraucht wird (vgl. ebd.). Desweiteren wird in der Art der Rollenzuweisung zwischen emotionaler und instrumenteller Parentifizierung unterschieden (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 85). Instrumentelle Parentifizierung beschreibt das Übernehmen von elterlichen Verantwortlichkeiten in der Haushaltsführung, z.B. bei finanziellen Entscheidungen, oder anderen funktionalen Bereichen (vgl. ebd.; Plass & Wiegand-Grefe, 2012, S. 30). Emotionale Parentifizierung wiederum liegt vor, wenn Kinder ihre Eltern in der Regulation ihrer Gefühle unterstützen, sie bspw. trösten, oder in familiären Konflikten verhandeln (vgl. ebd.). Wenn Eltern entwicklungsunangemessene persönliche Aufgaben dem Kind aufbürden oder überschwängliche Liebe oder Zuneigung als Partnerersatz vom Kind eingefordert wird, handelt es sich ebenfalls um emotionale Parentifizierung (vgl. ebd.). Diese Form erweist sich als die schädlichere, da sie inhaltlich belastender ist, und zugleich als weniger greifbar, wodurch sie häufiger nicht gesehen wird (vgl. Plass & Wiegand-Grefe, 2012, S. 31).
Eine destruktive Parentifizierung kann schwerwiegende und langfristigeFolgen für das Kind mit sich bringen (vgl. ebd.). Studien zeigen, dass Parentifizierung mit einem instabilen Selbstwertgefühl und Ablösungs- bzw. Identitätsproblemen einhergehen kann (vgl. ebd.). Weiterhin können sogar starke Depressionen bis hin zu suizidalem Verhalten hervorgerufen werden (vgl. ebd.). Durch den Mangel an elterlicher Fürsorge können ebenfalls die soziale Kompetenz und schulische Leistungen beeinträchtigt werden (vgl. ebd.). Zusätzlich können sich Schuld- und Schamgefühle bei den Kindern manifestieren, welche Selbstzweifel sowie selbstabwertendes Verhalten bis ins Erwachsenenalter verstärken können (vgl. ebd.).
Die Übertragung der Fürsorgefunktion auf die Kinder, um elterliche Bedürfnisse oder eigene kindliche Bedürfnisse selbst zu erfüllen, kann als Ausbeutung und somit als Form emotionaler Misshandlung verstanden werden (vgl. Werkele & Smith, 2019, S. 1). Kindler weist darauf hin, dass parentifizierte Kinder eine besondere Fallgruppe bei psychischer Kindesmisshandlung darstellen (vgl. Kindler, 2006, S. 4-2). Da Parentifizierung im Kontext psychischer Misshandlung beschrieben wird, eine gravierende emotionale Belastung für Kinder darstellt und meist im Zusammenwirken mit anderen Stressoren erhebliche Entwicklungsbeeinträchtigungen entstehen können, muss destruktive Parentifizierung ebenfalls als Risikofaktor für die kindliche Entwicklung betrachtet werden (vgl. ebd, S. 4-3). Das alleinige Vorliegen von Parentifizierung kann aufgrund der resultierenden moderaten Effektstärken nicht als Kindeswohlgefährdung verstanden werden (vgl. ebd.).
2.1.6 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Child Language Brokering
In der deutschen Fachliteratur wird beschrieben, dass der Einsatzvon Verwandten als Sprachmittler*innen im Kinder- und Jugendhilfebereich nicht empfohlen wird und besonders Kinder sowie Jugendliche nicht dolmetschen sollten (vgl. Jagusch, 2012, S. 235 f.). Als Gründe werden hierfür angegeben, dass die Übersetzer*innen durch inhaltliche Details verstört werden könnten und Kinder durch konfliktbehaftete Situationen und das notwendige Vokabular erheblich überfordert werden können (vgl. ebd.). Es wird darauf hingewiesen, dass v.a. Kinder, die in Deutschland sozialisiert wurden, häufig für ihre Eltern in der Kommunikation mit Behörden sprachmitteln (vgl. ebd., S. 236). Weiterhin wird auf Problematiken in Hinblick auf die Vertraulichkeit, möglicher Beeinflussung der Adressat*innen sowie einer mangelnden fachlich adäquaten Übersetzung verwiesen (vgl. ebd., S. 235 f.).
Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration rät im Gesundheitswesen von Child Language Brokering ab und empfiehlt geschulte Sprachmittler*innen, weist jedoch darauf hin, dass Laiendolmetschende und dementsprechend u.a. Kinder im Praxisalltag sehr häufig übersetzen (vgl. Wächter & Vanheiden, 2015, S. 13 f.). Auch das BMFSFJ deutet im neunten Familienbericht darauf hin, dass “Kinder und Jugendliche, [...] - aufgrund ihrer schnelleren Sprachlernkompetenz - wiederholt als Sprachmittler eingesetzt werden und wenig kindgerechte Aufgaben für ihre Eltern übernehmen” (BMFSFJ, 2021b, S. 136).
Für Fachkräfte in der Sozialen Arbeit stehen zusätzlich einige Handlungsleitfäden zur Verfügung, in denen Empfehlungen für den Umgang mit Child Language Brokering in der Praxis dargestellt werden. Häufig finden sich kurze Abschnitte in allgemeinen Leitfäden zur Arbeit mit Sprachmittlungen, in denen generell vom Dolmetschen von Kindern abgeraten wird (vgl. Dhawan, 2019, S. 14; Yakushova, 2020, S. 13; Schnock, 2020, S. 30 f.;BAfF, 2021; Bodenez, 2018, S. 9;Pape, 2021,S. 4).AlsGründehierfür werden nur in knappem Umfang mögliche Rollenumkehrungen, inhaltliche Überforderungen sowie emotionale Belastungen zulasten der Kinder neben weiteren möglichen Beeinträchtigungen für das professionelle Arbeiten genannt (vgl. ebd.).
Dass Kinder sprachmitteln, wird zwar sowohl in der Fachliteratur als auch in Handlungsleitfäden nicht empfohlen, trotzdem kommt Child Language Brokering inder Praxis sehr häufig zur Anwendung. Konkrete Empfehlungen, wie mit sprachmittelnden Kindern in Übersetzungssituationen umgegangen werden soll, existieren fast gar nicht. In deutschen Leitfäden zählt ausschließlich das NZFH Handlungsempfehlungen für den konkreten Umgang mit Laiendolmetschenden auf. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass Kinder lediglich als Sprachmittler*innen in Betracht kommen sollten, “wenn die Dringlichkeit des Dolmetschbedarfs hoch ist, seine Planbarkeit schlecht, die Dauer des Einsatzes kurz und die Komplexität und Tragweite des Gesprächsgegenstandes gering ist” (Schnock, 2020, S. 31). Fachkräfte sollten sich dahingehend vergewissern, dass Laiendolmetschende die deutsche Sprache ausreichend gut beherrschen und in der Rolle der Sprachmittlung von den Adressat*innen akzeptiert werden (vgl. ebd.). Wichtig ist ebenfalls, dass insbesondere Kinder vorher auf ihre bevorstehende Aufgabe und Rolle vorbereitet werden(vgl.ebd.). Dabei empfiehlt es sich, eine wortwörtliche Übersetzung einzufordern, ohne eine inhaltliche Interpretation des Gesagten (vgl. ebd.). Zusätzlich sollte ausdrücklich auf die Schweigepflicht hingewiesen und diese detailliert erklärt werden (vgl. ebd.).
Fürden professionellenUmgangmitChildLanguageBrokeringwerdendifferenziertere Leitfäden benötigt, in denen konkrete Fallvignetten für verschiedene Settings und Kontexte im Umgang mit Child Language Brokering dargestellt werden. Ebenfalls wichtig wäre, auf die Dynamik zwischen Eltern und Kindern einzugehen, fallbezogene Reaktionen von Eltern kritisch zu betrachten und auch hierfür professionelle Handlungsempfehlungen zu geben.
Zusätzlich sollte Soziale Arbeit sich sowohl zum Schutz der Kinder als auch zur Qualitätssicherung für Adressat*innen politisch dafür einsetzen, dass das Dolmetschen von Kindern rechtlich verboten wird (vgl. Pape, 2021, S. 4).
2.1.7 Zwischenfazit
Kinderschutz ist ein Fachbegriff, bei dem zwischen einem engen sowie weiten bzw. entgrenzten Verständnis differenziert werden muss. In dervorliegendenArbeitbeziehe ich mich auf das entgrenzte Verständnis nach Kindler, welches den Kinderschutz mit sozial-, gesundheits- sowie migrationspolitischen Themen verknüpft sieht, um Kindern ihre Rechte auf ein menschenwürdiges Leben, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und eine wirkliche Förderung sicherzustellen (vgl. Kindler, 2016, S. 16).
Die Risikoforschung beschreibt verschiedene Wahrscheinlichkeiten für Faktoren, welche sich auf die kindliche Entwicklung auswirken können. Zu betonen ist hierbei, dass die Forschung den Einfluss eines Migrationshintergrundes auf eine gesunde kindliche Entwicklung als vernachlässigbar betrachtet und andere Faktoren als maßgeblich relevant eingeschätzt werden. Verhaltensauffälligkeiten und/oder psychische Belastungen können verstärkt auftreten, wenn kumulierte, langanhaltende Risikofaktoren sowie ein Mangel an potenziell ausgleichenden Schutzfaktoren vorliegt. Auch das Vorliegen einer destruktiven Parentifizierung stellt einen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar, da schwerwiegende und langanhaltende Folgen für Kinder bis ins Erwachsenenalter einhergehen können. Destruktive Parentifizierung zeichnet sich durch eine entwicklungs- und altersunangemessene Übernahme an Verantwortung und Fürsorge mit fehlender Reziprozität des Gebens und Nehmens aus, wodurch die Generationengrenzen verschwimmen können. Diese geht häufig mit emotionaler Parentifizierung einher, wobei Kinder u.a. dazu gedrängt werden können, ihre eigenen Bedürfnisse denen der Eltern unterzuordnen.
In Handlungsleitfäden zur Arbeit mit Sprachmittlungen für professionelle Fachkräfte wird neben anderen möglichen negativen Folgen für Kinder darauf hingewiesen, dass Kinder einer solchen Rollenumkehr beim Dolmetschen für die Eltern ausgesetzt sein können. Alle Handlungsempfehlungen aus der deutschen Fachliteratur, von Ministerien sowie von Verbänden und Organisationen weisen darauf hin, dass Kinder generell in professionellen Settings nicht als Sprachmittler*innen eingesetzt werden sollten. Trotzdem kommt Child Language Brokering inderPraxis sehr häufig vor. Leitfäden, die die sich konkret auf den professionellen Umgang mit Child Language Brokering beziehen und verschiedene Kontexte differenziert betrachten, existieren in Deutschland noch nicht. Diese werden benötigt, da der Einsatz von Kindern als Dolmetschende bei dringenden Anliegen und Notfällen nahezu unvermeidbar ist. Zusätzlich sollte sich Soziale Arbeit politisch dafür einsetzen, strukturell die Verfügbarkeit von qualifizierten Sprachmittlungen zu verbessern sowie das Dolmetschen von Kindern rechtlich einzuschränken.
2.2 Child Language Brokering
2.2.1 Definition und begriffliche Abgrenzung
Der international verwendete Begriff Child Language Brokering beschreibt das Phänomen, wenn Kinder für ihre Eltern oder andereErwachsene von einer Sprache in eine andere Sprache übersetzen (vgl. Weisskirch, 2017, S. 7). Ein Großteil der Forschung über Child Language Brokering wurde in den USA mit hispanischen Familien durchgeführt (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 88). Zusätzliche Studien existieren u.a. zu Diaspora-Migrant*innen in Deutschland, Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion in Israel und chinesischen Migrant*innen in Kanada (vgl. ebd). Kinder, die mehr als eine Sprache sprechen, beginnen häufig im Kindesalter für Eltern oder andere Angehörige zu dolmetschen und führen diese Tätigkeit bis ins Erwachsenenalter fort (vgl. Weisskirch, 2017, S. 7). Dabei werden diese Kinder, die sogenannten Child Language Broker, aufgrund ihres altersbedingten Entwicklungsstandes und der damit einhergehenden, sich verändernden Beziehung zu den Eltern unterschiedlich durch Sprachmittlungserlebnisse geprägt (vgl. ebd.). Child Language Broker übersetzen nicht nur geschriebene sowie mündliche Sprache, sondern sind zugleich in der Rolle der Familienexpert*in der neuen Kultur (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 75; Guan, 2017, S. 163).
Richtiges Sprachmitteln ist eine komplexe Aufgabe. Zusätzlich zur reinen Wort-für-Wort-Übersetzung spielen Gefühle, Wahrnehmungen und Kontextwissen eine wichtige Rolle, um den Kommunikationsinhalt exakt zu vermitteln (vgl. Nash, 2017, S. 116). All diese Bereiche fließen in das Language Brokering ein, sodass von den Kindern viele Kompetenzen erwartet werden (vgl. ebd.). Im Allgemeinen engagieren sich Mädchen öfter als Child Language Brokerals Jungen (vgl. Rainey et.al., 2017, S. 215).
Child Language Broker übersetzen an vielen verschiedenen Orten, z.B. auf Ämtern und in Behörden, in Arztpraxen sowieSchulen, und invielenverschiedenen Kontexten, bspw. Rechnungen, Formulare und Anträge, Versicherungsdokumente und Mitteilungen der Schule (vgl. Weisskirch, 2017, S. 7). Auch die Situationen, in denen Kinder dolmetschen, können zwischen alltäglichen Übersetzungen beim Einkaufen, Elterngesprächen in der Schule, bis hin zu medizinischen Notfallsituationen stark variieren (vgl. ebd.).
In der deutschen Sprache besteht der Unterschied zwischen Übersetzen und Dolmetschen darin, dass sich das Übersetzen auf meist schriftliche, permanent verfügbare Texte bezieht, die beliebig oft wiederholt und korrigiert werdenkönnen (vgl. Ahamer, 2013, S. 53). Dolmetschen wiederum meint die Translation eines einmalig verfügbaren Textes, der in der Regel mündlich gesprochen wird und durch den Zeitmangel nur bedingt korrigiert werden kann (vgl. ebd.). In dieser Arbeit werde ich beide Begriffe als Synonyme verwenden, da Child Language Brokering sowohl das Dolmetschen als auch das Übersetzen umfasst.
Der Begriff des Sprachmittelns spiegelt die Bedeutung des englischen Language Brokering am besten wider. Sprachmitteln umfasst sowohl die mündliche und schriftliche Translation als auch kulturmittelndes Agieren (vgl. Reimann, 2014, S. 4). Sprach- und Kulturvermittler*innen sind in der Regel Laiendolmetschende, die über keine Qualifizierung verfügen, sondern oft aus dem privaten Umfeld stammen oder sprachkompetente Mitarbeitende bzw. Ehrenamtliche aus den jeweiligen Einrichtungen des Gesundheits-, Sozial- und Schulwesen sind (vgl. Hegemann & Budimlic, 2016, S. 26). Zur Gruppe der Laien- bzw. Ad-hoc-Dolmetschenden gehören zum großen Teil Child Language Broker sowie andere Angehörige oder Bekannte aus der Community.
Hiervon muss der Begriff des Gemeindedolmetschens nach dem internationalen Vorbild des Community Interpretings abgegrenzt werden (vgl. ebd., S. 17). Gemeindedolmetscher*innen verfügen meist über eineneigenen Migrationshintergrund und sindim Gegensatz zu Laiendolmetschenden insozialer Kommunikationqualifiziert, sodass sie gern als Übersetzer*innen im Gesundheits-, Sozial- und Schulwesen hinzugezogen werden (vgl. ebd., S. 18). Neben tieferen Kenntnissen in den jeweiligen Bereichen verfügen sie über ein klares Rollenverständnis sowie eine überparteiliche Haltung und sind mit den psychosozialen Belastungen verschiedener Migrationsgeschichten vertraut (vgl. ebd.). Dies ermöglicht ihnen eine innere Distanz zu den betroffenen Personen und deren Problemen aufrechtzuerhalten (vgl. ebd., S. 26).
2.2.2 Bilingualität und Bikulturalität
Innerhalb des zweiten Lebensjahres lernen Kinder die ersten Worte, die sie bald darauf in kurzen Sätzen sprechen können (vgl. Weisskirch, 2017, S. 10). Mit sechs Jahren kann ein Kind einen Wortschatz von etwa 14.000Wörtern entwickelthaben (vgl. ebd.). Dabei ist der Wortschatz für Kinder, die zweisprachig aufwachsen, genauso groß (vgl. ebd.). Der Spracherwerb ist für bilingual aufwachsende Kinder genauso einfach und mühelos, wie für einsprachig Heranwachsende (vgl. Bialystok et. al., 2009, S. 90). Kinder können sehr leicht eine zweite Sprache oder sogar mehrere erlernen, wenn diese in ihrem Umfeldaktiv genutzt werden (vgl. Weisskirch, 2017,S.10). Dabei lernen Kinder Sprachen viel schneller als Erwachsene (vgl. Abreu & O'Dell, 2017, S. 181). Gerade für Migrant*innen der ersten Generation ist Child Language Brokering ein weit verbreitetes Phänomen (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 88).So zeigteineStudie mit Diaspora-Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland, dass 90 % der Jugendlichen in verschiedener Häufigkeit für ihre Eltern übersetzt haben (vgl. ebd.). Child Language Brokering sollte allerdings nicht nur als Phänomen kultureller Anpassung gesehen werden, sondern sollte aus den beiden Perspektiven der Integration sowie der Familiendynamik betrachtet werden (vgl. ebd. S. 89).
Migration verläuft häufig aus Ländern mit Ursprüngen einer kollektivistischen Wir-Kultur hin zu Ländern mit einer individualistischen Ich-Kultur wie beispielsweise die USA, Kanada, Groß-Britannien, EU-Länder und Israel (vgl. Weisskirch, 2017, S. 9). Diese kulturelle Verschiebung wirkt sich neben anderen Faktoren darauf aus, wie Kinder und Jugendliche Übersetzungssituationen wahrnehmen (vgl. ebd.). Für ihre Familien stellen die Kinder Expert*innen der neuen Ich-Kultur dar (vgl. Nash, 2017, S. 132). In der Gesellschaft wiederum werden die Kinder als Expert*innen der familiären Herkunftskultur gesehen (vgl. ebd.). Language Brokering stellt nicht nur eine einzigartige Anwendung von Bilingualität dar, sondern geht mit einem tiefen Verständnis der unterschiedlichen Kommunikationsweisen und sozialen Verhaltensweisen der beiden verschiedenen Kulturen einher, die ansonsten zu Missverständnissen führen können (vgl. Rainey et. al., 2017, S. 205). Studien zeigen, dass Kinder meist sofort mit dem Sprachmitteln beginnen, sobaldsie dieneue Sprache selbst erlernt haben (vgl. Weisskirch, 2017, S. 10). Im Durchschnitt beginnen Kinder etwa ein bis drei Jahre nach Ankunft zu übersetzen (vgl. Weisskirch, 2017, S. 10). Je weniger die Familie im neuen Land integriert ist, desto häufiger übersetzen Kinder für ihre Eltern (vgl. ebd., S. 12)
In Familien mit Migrationshintergrund erreichen Kinder größtenteils keine volle Bilingualität (vgl. ebd.). Auf welchem Level die zweite Sprache erlernt werden kann, hängt davon ab, in welchem Alter die Kinder damit in Berührung kommen (vgl. ebd.). Wenn Kinder erst im Alter der Vorpubertät oder Pubertät eine neue Sprache lernen, bleibt ihre erste Sprache überwiegend ihre Muttersprache (vgl. ebd.). Jüngere Kinder können stattdessen die Zweitspracheschnellals dominante Sprache übernehmen (vgl. ebd.). Kinder können ein eher akademisches Vokabular der Sprache entwickeln, die in der Schule gesprochen wird, und zusätzlich einenWortschatz über alltägliche Dinge in der anderen Sprache, die sie im Familienleben zu Hause sprechen (vgl. ebd.). Obwohl die Kinder beide Sprachen sprechen, bleibt die Bilingualität meist unvollständig (vgl. ebd.).
In Studien mit Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion wurde gezeigt, dass manche Kinder einen emotionalen Preis dafür zahlen, bilingual aufgewachsen zu sein, da sie im Konflikt zwischen Gesellschaft und Familie stehen (vgl. Oznobishin & Kurman, 2017, S. 112). Wenn sie Russisch sprechen, sind sie von gesellschaftlicher Ablehnung und Diskriminierung betroffen (vgl. ebd.). Wenn sie andererseits die russische Sprache und Kultur aufgeben, können familiäre Konflikte mit Eltern und Angehörigen folgen, gerade wenn diese auf das Übersetzen ihrer Kinder angewiesen sind (vgl. ebd.).
Studien mit arabischen Amerikanerinnen in den USA stellen heraus, dass Kinder beim Übersetzen verschiedene Strategien anwenden (vgl. Nash, 2017, S. 132). Wenn ihre Identitäten oder Rechte durch Diskriminierung angegriffen werden, übersetzen sie entweder nur selektiv, um ihre Familienangehörigen zu schützen, oder kontern schlagfertig, um Rassismus entgegenzutreten und Gleichbehandlung sicherzustellen (vgl. ebd.). Auch die Übersetzungsinhalte unterscheiden sich zwischen privatem und öffentlichem Raum stark (vgl. ebd.). Beim Übersetzen in der Öffentlichkeit bildet die Erklärung von kulturellen Gegenständen und Accessoires, wie z.B. traditionellen Kleidern oder Kopftüchern, einen Schwerpunkt (vgl. ebd.). Im familiären Kontext hingegen werden größtenteils politische Nachrichten übersetzt (vgl. ebd.). Im Allgemeinen benutzen Kinder ihre Übersetzungskompetenzen und -fähigkeiten, um einen sicheren öffentlichen Raum für ihre Familienangehörigen und Akzeptanz zwischen beiden Kulturen zu schaffen (vgl. ebd. S. 133).
Kinder und Jugendliche, die für Eltern und Angehörige übersetzen, nutzen im Zuge der Verbreitung von digitalen Technologien auch vermehrt Informations- und Kommunikationstechnologien, wie u.a. E-Mail, Messenger Apps, Videokonferenzprogramme und soziale Netzwerke, um ihre Angehörigen bei der Integration zu unterstützen und mit der Herkunftskultur verbunden zu bleiben (vgl. Guan, 2017, S. 163 ff.). Dabei helfen Kinder und Jugendlichen ihren Familienangehörigen zusätzlich zum Übersetzen oft als Medienvermittler*innen (engl. “media brokers”) beim Nutzen von neuen Technologien (vgl. ebd., S. 166). Durch die weltweite Vernetzung kann die Übersetzungstätigkeit von Kindern mithilfe digitaler Technologien auch Landesgrenzen überschreiten (vgl. ebd., S. 176).
2.2.3 Relevanz der kindlichen Entwicklung
Im Durchschnitt beginnen Kinder im Alterzwischenachtundzwölf Jahren und etwa ein bis drei Jahre nach Ankunft zu übersetzen, deshalb ist wichtig zu wissen, in welcher Entwicklungsphase sich die Kinder befinden (vgl. Weisskirch, 2017, S. 10). Dazu wird im Folgenden auf die Theorien von Piaget und Erikson zurückgegriffen.
Gemäß der Theorie zur kognitiven Entwicklung von Piaget befinden sich Kinder im Alter zwischen sieben und 11 Jahren auf der Stufe des konkreten operationalen Denkens (vgl. ebd., S. 11). In dieser Entwicklungsphase können Kinder mehrere verschiedene Vorgänge gleichzeitig erfassen und zueinander in Beziehung setzen(vgl. ebd.). Sie können ihr Verhalten reflektieren und vorausdenken (vgl. ebd.). Zusätzlich entfernen sie sich immer weiter vom Egozentrismus, stattdessen lernen sie zunehmend Vorgänge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten (vgl. ebd.). Schwierigkeiten haben sie noch mit dem abstrakten Denken, d.h. ihr Vorstellungsvermögen für Prozesse ist begrenzt und ihr Denken ist an anschaulich erfahrbare Inhalte geknüpft (vgl. ebd.). Auf Übersetzungssituationen bezogen verstehen Kinder zwar beide Sprachen, ihr Vokabular sowie das inhaltliche Verständnis sind jedoch begrenzt (vgl. ebd.). Sie können das Gesagte, in dem Maß, in dem sie es verstehen, mit ihrem eigenen Wortschatz umgestalten (vgl. ebd.). Kindern ist in diesem Alter typischerweise nicht bewusst, wenn sie Gesprochenes nicht korrekt übersetzen und sich daraus inhaltliche Abweichungen ergeben (vgl. ebd., S. 12).
In der psychosozialen Entwicklungstheorie von Erikson sind Kinder zwischen sechs und 12 Jahren auf der Stufe Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl (vgl. ebd.). Diese wird durch den Eintritt in die Schule begleitet und ist dadurch gekennzeichnet, dass Kinder etwas Nützliches tun wollen und durch Leistung Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten bekommen (vgl. ebd.). Sie entwickeln sprachliche und kognitive Kompetenzen, mit denen sie sich in breiteren sozialen Kontexten bewegen können (vgl. ebd.). Wenn Kinder in dieser Phase kein Vertrauen in sich selbst aufbauen oder die Anforderungen ihrer Eltern und der sozialen Umgebung nicht erfüllen, können sie Minderwertigkeitsgefühle entwickeln (vgl. ebd.). Diese können dazu führen, dass sie schneller aufgeben und einen Widerwillen gegen bestimmte Aufgaben entwickeln (vgl. ebd.). Beim Sprachmitteln treffen Kinder auf einen breiteren sozialen Kontext außerhalb des Familienlebens und interagieren mit anderen Menschen (vgl. ebd.). Wenn Kinder erfolgreich übersetzen, können sie im Sinne von Erikson Vertrauen in ihre Kompetenzen ausbilden (vgl. ebd.). Im Gegensatz dazu können Kinder, die einen unzureichenden Wortschatz besitzen oder den Gesprächsinhalt ungenügend verstehen, negatives Feedback bekommen (vgl. ebd.). Hieraus können sich Minderwertigkeitsgefühle entwickeln (vgl. ebd.). Da Child Language Brokering für die Kinder als Brücke zur außerfamiliären Gesellschaft gesehen werden kann, können Einflüsse der sozialen Umgebung direkt auf die kindliche Entwicklung und die Bewältigung der Phase Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl einwirken (vgl. ebd., S. 13).
In der Adoleszenz erreichen Jugendliche gemäß der Theorie von Piaget die Stufe des formalen operationalen Denkens, d.h. sie sind dazu fähig, abstrakte Inhalte und Hypothesen zu verstehen sowie (wissenschaftliche) Prozesse systematisch durchdenken (vgl. ebd, S. 14). Auf das Sprachmitteln bezogen können Jugendliche komplexere Aufgaben lösen und besitzen die Fähigkeit, ihr Denken auf der Metaebene zu reflektieren (vgl. ebd, S. 15). Sie entwickeln in dieser Phase eine geistige Reife, mit der sie ihre Lebenswelt besser verstehen (vgl. ebd.). Folglich können Jugendliche sich dahin bewegen, dass sie in Übersetzungssituationen eigene Entscheidungen für ihre Eltern bzw. ihre Familie treffen (vgl. ebd.). Die wachsenden kognitiven Fähigkeiten können das Bewusstsein über übersetzte Inhalte erweitern, sodass potenzielle Abweichungen bemerkt werden (vgl. ebd.).
Laut der Theorie nach Erikson befinden sich Jugendliche im Stadium Identität vs. Identitätsdiffusion, wobei die Suche nach der eigenen Identität im Vordergrund steht (vgl. ebd., S. 13). Die Identitätsfindung spielt sich dabei in verschiedenen Bereichen gleichzeitig ab, wie u. a. der ethnischen Zugehörigkeit, der sexuellen Orientierung und der religiösen Anschauung (vgl. ebd.). Zusätzlich streben Jugendliche nach größerer Autonomie und der Freiheit von elterlichen und familiären Vorgaben (vgl. ebd.). Stattdessen verbringen sie mehr Zeit mit Gleichaltrigen und werden sich sozialen Konflikten und Anforderungen bewusster (vgl. ebd., S. 13 f.). In dieser Stufe sollen Jugendliche gemäß Erikson Ich-Stärke sowie Ehrlichkeit gegenüber sich selbst entwickeln (vgl. ebd., S. 14). Bezogen auf Child Language Brokering können sich Jugendliche immer stärker mit ihrer Rolle als Sprachmittlung identifizieren und verknüpfen sie zunehmend mit ihrem Selbstbild und ihrer personalen Identität (vgl. ebd.). Eine Komponente stellt die ethnische Identität dar, welche aufgrund der Migrationsgeschichte einen besonderen Stellenwert einnimmt und dadurch gestärkt werden kann, dass die Sprache des Herkunftslandes beibehalten wird (vgl. ebd.). Dadurch kann auch der familiäre Zusammenhalt erhöht werden (vgl. ebd.). Für manche Jugendliche kann es einen Gewinn darstellen, wenn sie eine ethnische Identität als Teil ihrer personalen Identität entwickeln (vgl. ebd.). Andere Jugendliche können ihre ethnische Herkunft als problematisch erleben und wünschen sich, diese nicht öffentlich zeigen zu müssen (vgl. ebd.). Für diese Jugendlichen erweist sich auch das Sprachmitteln als herausfordernd, da sie dabei immer mit ihrer ethnischen Identitätsfindung konfrontiert werden (vgl. ebd.).
Der Verlauf der kindlichen Entwicklung hängt stark von der elterlichen Kompetenz ab, woraus folgt, dass auch die Erfahrungen beim Sprachmitteln stark von den Ansichten und Kompetenzen der Eltern beeinflusst werden (vgl. Oznobishin & Kurman, 2017, S. 111).
2.2.4 Einfluss der Familiendynamik
Child Language Brokering stellt nicht nur ein migrationsbedingtes Phänomen dar, sondern wird ebenfalls von familiären Faktoren geprägt, wie z.B. von der Persönlichkeit von Eltern und Kindern (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 76). Beispielsweise übersetzen Erstgeborene, Mädchen, ältere Kinder sowie Kinder mit einer eher extrovertierten und angenehmen Persönlichkeit öfter für ihre Angehörigen (vgl. ebd.).
Studien mit mexikanischen Jugendlichen in den USA zeigen, dass sie die Übersetzungstätigkeit umso positiver wahrnehmen, je sicherer die Bindung zu ihren Eltern ist (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 76). Problembehaftete Familienbeziehungen korrelierten im Gegensatz dazu mit häufigeren negativen Gefühlen, wie z.B. Scham, Nervosität und Angst (vgl. ebd.). Zusätzlich wurde herausgefunden, dass jugendliche Sprachmittler*innen sich emotional mit ihren Eltern mehr verbunden fühlen als Jugendliche, die nicht für ihre Eltern übersetzen (vgl. ebd.). Belsky konzipierte 1984 ein theoretisches Modell der Elternschaft, welches drei Hauptfaktoren darstellt, die das elterliche Verhalten bedingen: 1) Merkmale der Kinder, 2) Persönlichkeitseigenschaften sowie psychische Ressourcen der Elternteile und 3) Merkmale des sozialen Kontexts, in dem die Eltern-Kind-Beziehung stattfindet (vgl. ebd.; Asisi, 2015, S. 25). Die kindlichen Merkmale beinhalten Geschlecht, Alter, Temperament und Persönlichkeit (vgl. ebd.). Ähnliche Faktoren sind ebenfalls für die Eltern relevant, zusätzlich kommt die elterliche Entwicklungsgeschichte hinzu, welche das Erziehungsverhalten auswirkt (vgl. ebd.). Auch der soziale Kontext kann entweder eine unterstützende Ressource oder eine Stressquelle darstellen und wird von der (ehelichen) Beziehung, dem sozialen Netzwerk sowie der Berufstätigkeit geprägt (vgl. ebd.). Belskys Modell kann zur Erklärung individueller Unterschiede im Child Language Brokering dienen, besonders da die Eltern-Kind-Beziehung einen starken Einfluss auf das Erleben von Übersetzungssituationen hat (vgl. ebd.).
Die Auswirkungen von Child Language Brokering auf die Eltern-Kind-Beziehung ist in der Forschung umstritten (vgl. Oznobishin & Kurman, 2017, S. 98). Auf der einen Seite kann sich die Beziehung zu den Eltern durch die gegenseitige Unterstützung intensivieren (vgl. ebd., S. 99). Auf der anderen Seite können Familienkonflikte entstehen, wenn sich die Eltern von ihren Kindern abhängig fühlen und ihre Kinder durch die Übersetzungstätigkeit eine Autoritätsposition einnehmen, von der sie sich in ihrer eigenen Autorität angegriffen fühlen (vgl. ebd.). Typischerweise haben die Eltern eine besondere Position von (Erziehungs-)Macht und Autorität, die durch das Sprachmitteln herabgestuft werden kann (vgl. Weisskirch, 2017, S. 8). Wie die Rahmenbedingungen für das Sprachmitteln von den Eltern gestaltet werden, hängt u. a. von ihrem Erziehungsstil sowie dem Verhaltensmuster ab, wie sie mit dem eigenen Sprachdefizit umgehen (vgl. ebd.). Problematische Familienbeziehungen und negative elterliche Verhaltensweisen gehen wiederum damit einher, dass Jugendliche das Übersetzen als Belastung wahrnehmen (vgl. Oznobishin & Kurman, 2017, S. 100). Besonders, wenn Eltern eine negative oder stressige Atmosphäre schaffen, können die Kinder das Sprachmitteln als Belastung erleben (vgl. Weisskirch, 2017, S.13). Das familiäre Umfeld kann einen wichtigen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung haben und die Situation somit entweder vereinfachen oder zunehmend anspannen (vgl. Oznobishin & Kurman, 2017, S. 99 f.).
Auch der Familienlebenszyklus hat Einfluss auf die Erfahrungen beim Sprachmitteln, da das Familienleben in manchen Phasen intensiver und enger stattfindet als in anderen, eher nach außen gerichteten Phasen (vgl. Weisskirch, 2017, S. 8). Beispielsweise sind Familien generationenübergreifend eher nach innen gerichtet, wenn Kinder im Säuglings- oder Kleinkindalter sind (vgl. ebd.). Im Jugendalter können die Beziehungen distanzierter sein, da die Aufmerksamkeit der Jugendlichen stärker auf Gleichaltrige gerichtet sind (vgl. ebd.). Eltern können diese Phase nutzen, um Lebensbereiche neu zu bewerten und sich z.B. beruflich neu zu orientieren, Großeltern wiederum könnten sich auf den Ruhestand vorbereiten (vgl. ebd.). In der Phase des Familienlebenszyklus, in der Kinder im Jugendalter sind, könnte das Familiensystem aus dem Gleichgewicht geraten, wenn gerade in dieser Phase Child Language Brokering begonnen wird (vgl. ebd.). Das Familiensystem kann auch durch unvorhergesehene Ereignisse wie z.B. Migration durcheinander gebracht werden (vgl. ebd.). Migration geht häufig mit Gefühlen von Verlust, Trauer und Ärger einher, die mit den Gefühlen vergleichbar sind, wenn Angehörige sterben (vgl. ebd.). Je negativer Elternteile gestimmt sind und sich womöglich fordernd verhalten oder überzogene Erwartungen haben, desto unangenehmer stellt sich das Sprachmitteln für Kinder dar (vgl. ebd.).
Eltern bevorzugen oft, dass ihre Kinder anstatt anderer Verwandter im Erwachsenenalter für sie übersetzen, weil Kinder sie parteiisch unterstützen, ein besseres Verständnis ihrer Situation mit sich bringen und keine komplizierte Terminorganisation notwendig ist (vgl. Abreu & O'Dell, 2017, S. 198). Andere Studien zeigen, dass manche Eltern sich schämen, auf ihre Kinder angewiesen zu sein, oder dem Übersetzen ihrer Kinder gemischte Gefühle entgegenbringen (vgl. ebd.). Manche Eltern empfinden Stolz gegenüber ihren Kindern, da sie in der Lage sind, für sie zu übersetzen (vgl. ebd.). Einige Kinder entscheiden sich aktiv und aus freien Stücken dafür, für ihre Familien zu vermitteln, andere Kinder werden von ihren Eltern dazu gezwungen, für sie zu übersetzen (vgl. ebd.; Oznobishin & Kurman, 2017, S. 109). Für Eltern stellt Child Language Brokering eine wichtige Ressource dar, um in der neuen Gesellschaft und Kultur mithalten zu können (vgl. Abreu & O'Dell, 2017, S. 181).
Das Sprachmitteln für Väter kann als problembehafteter wahrgenommen werden als für Mütter, da Jugendliche seltener für ihre Väter übersetzen und die Situationen sich dadurch weniger vertraut anfühlen (vgl. Hua & Costigan, 2017, S. 153). Zusätzlich können Hierarchievorstellungen und Familienrollen aus dem Gleichgewicht geraten, woraus familiäre Konflikte resultieren können, welche die Jugendlichen psychisch belasten (vgl. ebd., S. 153 f.). Kinder können in ihren Familien oder sogar in der Community ein hohes Niveau von Macht und Autorität erfahren, indem sie ein großes Wissen über Erwachsene, ihre Familie und die Community ansammeln (vgl. Abreu & O'Dell, 2017, S. 197).
2.2.5 Parentifizierung
Child Language Brokering kann als eine integrationsbedingte Subform von Parentifizierung verstanden werden, die sowohl der emotionalen als auch der instrumentellen Parentifizierung zugeordnet werden kann (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 85). Die Kinder und Jugendlichen tragen beim Übersetzen beträchtliche Verantwortung für die gesamte Familie und können mit Informationen in Berührung kommen, die ihre Kompetenzen weit übersteigen, wie z.B. medizinische Diagnosen, Versicherungsdetails und Kontoverträge (vgl. ebd., S. 78). Ob konstruktive oder destruktive Parentifizierung vorliegt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, wie dem Entwicklungsstand des Kindes, der Familienkultur sowie dem familiären Kontext (vgl. Hooper, 2018, S. 2698). Beispielsweise könnte ein Kind im Jugendalter, das vorübergehend Erwachsenenaufgaben übernimmt während sich ein Elternteil von einer körperlichen Erkrankung erholt, konstruktive Parentifizierung erfahren (vgl. ebd.). Auf Child Language Brokering übertragen, könnte temporäres Sprachmitteln von Jugendlichen in alltäglichen Situationen bzw. zur Übersetzung von Briefen ebenfalls konstruktiver Parentifizierung zugeordnet werden, wenn sie instrumentelle Aufgaben übernehmen und von der Eltern Anerkennung erfahren.
Wenn Kinder innerhalb der Familie nicht als Objekte elterlicher Sozialisation gesehen werden, sondern stattdessen eine aktive Rolle im Familienleben einnehmen, kann alltägliches Übersetzen als eine Form von innerfamiliärer Unterstützung und Fürsorge sowie als normale Aufgabe in der Eltern-Kind-Beziehung betrachtet werden (vgl. Titzmann & Michel, 2017, S. 77; Abreu & O'Dell, 2017, S. 198). Jugendliche können ihre Aufgabe des Übersetzens in der Rolle sehen, dass sie bei Verpflichtungen des Familienlebens helfen, vergleichsweise so, wie andere Jugendliche im Haushalt mit dem Spülen von Geschirr helfen oder auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen (vgl.
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1 Rebmann, S. (2020): Wenn Kinder für ihre Eltern dolmetschen müssen. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/warum-kinder-fuer-ihre-eltern-dolmetschen-muess en-16876456.html (letzter Abruf: 15.03.2022)
2 Hamam Talk (2021): Parentifizierung und "ewige" Dankbarkeit. https://hamamtalk.podigee.io/13-parentifizierung(letzter Abruf: 15.03.2022)
- Arbeit zitieren
- Sabine Chromy (Autor:in), 2022, Child Language Brokering und Kinderschutz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1266264
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