Die vorliegende Magisterarbeit befasst sich mit einem Thema, das bis heute nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat. Gelingt es einem Regisseur oder einer Regisseurin, der oder die einen Roman verfilmt hat, die Essenz der literarischen Vorlage zu erfassen? Eine Frage, die sich jeder Kinobesucher stellt, nachdem er seinen Lieblingsroman auf der Leinwand gesehen hat. Entspricht die Figur der lasziven Lola aus Heinrich Manns "Professor Unrat" der schillernden Lola in Josef von Sternbergs "Blauem Engel"? Lässt sich die Sehnsucht des alternden Schriftstellers Gustav von Aschenbach nachvollziehen, wenn man den jungen polnischen Aristokraten Tadzio am Lido entlang flanieren sieht? Mit welchen literarischen bzw. filmischen Mitteln werden das Kunstwerk Buch und das Kunstwerk Film dem Lesenden oder eben dem Betrachtenden nähergebracht? Um die Beantwortung dieser Fragen geht es in dieser Magisterarbeit ebenso wie um die Frage, wie sich Filmschaffende von literarischen Werken inspirieren oder eben auch verführen lassen. Über die Grundprobleme der Literaturverfilmung hinaus geht es aber auch um den Vergleich der beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann und der Frage, wie diese beiden Schriftsteller mit dem universellen Topos der "Verführung" auf ganz unterschiedliche - oder eben auch auf ähnlicher Weise, umgehen - und wie die beiden Regisseure Josef von Sternberg und Luchino Visconti selbst von den Figuren Lola und Tadzio dazu verführt werden, kongeniale Filmkunstwerke zu erschaffen.
In diese Magisterarbeit wird kein "besser" oder "schlechter" zu finden sein, sondern mein Anspruch war es stets, die künstlerische Kraft beider Kunstformen zu betonen und als Bereicherung für den Lesenden ebenso wie für den Kinobesucher anzuerkennen. Oder wie es Thomas Mann schon 1955 ausdrückte "Ich glaube nicht, dass ein guter Roman durch eine Verfilmung (...) verdorben werden muss. Dazu ist das Wesen des Films demjenigen der Erzählung zu verwandt. (...) Er ist geschaute Erzählung - ein Genre, (...) in dessen Zukunft man schöne Hoffnungen setzen kann." Die Sehnsucht der Menschen nach Geschichten ist ungebrochen, Netflix und Co. leben von dieser unstillbaren Neugier auf Geschichten, und Romane werden auch auf digitalen Medien weiter gelesen. Film und Buch erzählen Geschichten, die uns lebendig fühlen lassen. Das sollte auch der Anspruch eines jeden Roman und einer jeden Verfilmung sein.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Aspekte zur Literaturverfilmung
2.1 Lessings „Laokoon“ - Über die Transformation vom Wort zum Bild
3. „Der Tod in Venedig“ und „Professor Unrat“ - Gemeinsamkeiten
3.1 Repräsentanz und Isolation - Parallelen in der Figurenkonzeption Professor Unrats und Gustav von Aschenbachs
3.2 Parallelen in der Liebeskonzeption
3.3 Die Rolle Rosas als Verführerin - Funktion und Bedeutung
3.4 Tadzio als Figur des indirekten Verführers - Funktion und Bedeutung
3.5 Funktion und Bedeutung der Handlungsräume in „Professor Unrat“
3.6 Funktion und Bedeutung der Handlungsräume in „Der Tod in Venedig“
4. „Tod in Venedig“ und„Der blaue Engel“ - Die filmischen Transformationen
4.1 Die filmischen Transformation von Professor Unrat und Gustav von Aschenbach
4.2 Die filmische Transformation der Liebeskonzeption
4.3 Die Filmfigur Lola - Merkmale und Besonderheiten
4.4 Die Filmfigur Tadzio - Merkmale und Besonderheiten
4.5 Funktion und Bedeutung der Handlungsräume in „Tod in Venedig“
4.6 Funktion und Bedeutung der Handlungsräume in „Der blaue Engel“
5. Schlußwort
Literaturliste
Natürlich ist es mir lieb, daß das Buch neben dem Film fortbesteht. Aber ich glaube nicht daran, daß ein guter Roman durch die Verfilmung notwendig in Grund und Boden verdorben werden muß. Dazu ist das Wesen des Films demjenigen der Erzählung zu verwandt. [...] Er ist geschaute Erzählung. - ein Genre, das man sich nicht nur gefallen lassen, sondern in dessen Zukunft man schöne Hoffnungen setzen kann.1 Thomas Mann (1955)
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit den literarischen Werken „Der Tod in Venedig“2 3 (1912) von Thomas Mann und „Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen[0] (1905) von Heinrich Mann sowie mit ihren filmischen Transformationen „Tod in Venedig“4 5 (1971) von Luchino Visconti und „Der Blaue Engel[445] (1930) von Josef von Sternberg.
Die Schwerpunkte der literarischen und filmischen Untersuchung liegen hierbei auf den Besonderheiten der Figurenkonzeptionen von Gustav von Aschenbach und Professor Unrat, auf der Darstellung der jeweiligen Liebessituation und der damit einhergehenden Betrachtung der Figuren Rosa Fröhlich bzw. Lola und Tadzio. Darüber hinaus werden Funktion und Bedeutung der literarischen und filmischen Handlungsräume näher analysiert.
Die vergleichende Untersuchung von literarischem Werk und filmischer Inszenierung wird im Verlauf der Arbeit stets davon ausgehen, „daß Literaturverfilmungen immer nur als In- terpretation von Literatur (in Buchform) sinnvoll gedacht werden können.“6 Das wesentliche Merkmal dieser Voraussetzung besteht darin, die Autonomie der beiden Medien anzuerkennen und ihre künstlerische Leistung vor dem Hintergrund der medienspezifischen Ausdrucksmöglichkeiten zu betrachten. Daraus ergibt sich bei der Beibehaltung des Themas eine grundsätzliche Änderung der Form, „denn die mediale Transposition, die unterschiedliche Mitteilungsstruktur von literarischem Text und Film bedingt zwangsläufig Änderungen, Erweiterungen, Verkürzungen gegenüber der Vorlage.“7
Die Auseinandersetzung mit zwei literarischen Vorlagen und ihrer jeweiligen filmischen Umsetzung stellt eine kritische medienkomparatistische Vorgehensweise dar, sie bedarf jedoch auf Grund der hier getroffen Werkauswahl einer Erklärung. So werden Novelle und Roman nicht unabhängig voneinander mit den Filmen verglichen, sondern sie werden nach ihren thematischen Gemeinsamkeiten und Differenzen in Beziehung zueinander gesetzt. Entscheidend hierbei ist die Parallelität der-Handlungsstruktur im „Tod in Venedig“ und im „Professor Unrat“ oder wie es Walter H. Sokel formuliert, der sich ausführlich mit den besonderen Gemeinsamkeiten der Werke beschäftigt hat: „Trotz der offensichtlich enormen Verschiedenheit von Ton und Rang gibt es erstaunliche Strukturparallelen zwischen den beiden Erzählwerken“.8 Der ähnlich verlaufende Lebensweg der Helden Aschenbach und Unrat und ihr persönlicher Untergang, ausgelöst durch eine ihrer Lebenshaltung entgegengesetzten Kraft, die sich in den von ihnen geliebten Idolen Rosa und Tadzio manifestiert, reizt zum detaillierten Vergleich. Darüber hinaus führen beide Erzählwerke schon in ihrem Titel den Hinweis auf Tod und Untergang - eine signifikante Unterstützung der Verfallsproblematik, die durch die sprechenden Namen Aschenbach und Unrat ihre metaphorische Erweiterung erfährt.
Dem literarischen Motiv der Verführung mit all seinen Voraussetzungen und Konsequenzen die filmischen Transformationen gegenüberzustellen, präsentiert sich auf Grund der unterschiedlichen Darstellung, hier das abstrakte wortsprachliche Erzählen, dort die Ausdrucksstärke des visuellen Bildes, als besonders effektvolles Beispiel für eine medienkomparatisti- sche Arbeit.
Es handelt sich in der vorligenden Arbeit also um einen doppelten Vergleich, zum einen auf der Ebene der medienspezifischen Analyse, zum anderen auf der Ebene einer Auseinandersetzung, die auf der unterschiedlichen Verarbeitung eines ähnlichen Stoffes basiert.
Der in den ersten beiden Kapiteln der Literatur- und Filmanalyse gezogene direkte Vergleich zwischen Aschenbach und Unrat sowie der Liebessituation ergibt sich aus der unmittelbaren Nähe der Stoffe; die Funktion und Bedeutung der Figuren Tadzio und Rosa/Lola sowie die Darstellung der Handlungsräume werden hingegen in getrennten Kapiteln behandelt, innerhalb derer allerdings auch auf entsprechende Gemeinsamkeiten hingewiesen wird.
Bedeutung und Aussage einer Adaptation sind direkt oder indirekt, je nach Art und Weise der gestalterischen Umsetzung, von der Bedeutung und Aussage der literarischen Vorlage abhängig. Die literarische Struktur, der Handlungsverlauf sowie die Figurenkonzeption zwingen den Bearbeiter eines Romans oder einer Novelle, sich mit dem Wesen des jeweiligen Werkes vertraut zu machen, um eine anschließende Auswahl dessen zu treffen, was der Film aus der literarischen Vorlage zu übernehmen hat.
Ein Vergleich zwischen den Filmen „Tod in Venedig“ und „Der blaue Engel“ scheint uns in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse zu sein, da sie zum einen große Teile der jeweiligen literarischen Vorlage übernehmen, zum anderen verändern sie bestimmte Elemente der Handlungsstruktur. Im Fall des „Blauen Engels“ besteht die augenfälligste Veränderung in dem völlig neu konzipierten zweiten Teil des Films. Im „Tod in Venedig“ stellen im besonderen die Rückblenden eine unabhängige Erweiterung der Novelle dar.
Abgesehen von den strukturellen Veränderungen durch den Transformationsprozeß, ergeben sich auch auf der inhaltlichen Ebene gewisse Schwerpunkte. Beide Filme stellen die Liebessituation in den Mittelpunkt, woraus sich für den Handlungsverlauf und seine Darstellung drei wesentliche Kriterien formulieren lassen:
1. Wie wird das Leben Aschenbachs/Unrats dargestellt, bevor sie Tadzio/Lola kennenlemen?
2. Welche Merkmale bestehen in der Darstellung ihrer Begegnung?
3. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Begegnung und in welcher Art und Weise findet ein Veränderungsprozeß statt bzw. mit welchen filmspezifischen Mitteln gelingt es, diesen darzustellen.
Im Hinblick auf die filmische Analyse werden diese Aspekte auch in der Auseinandersetzung mit den literarischen Vorlagen als Strukturhilfe dienen.
Den beiden Filmen „Der blaue Engel“ und „Tod in Venedig“ wird eine Eigenständigkeit zugesprochen, die in Anbetracht der Komplexität der literarischen Vorlage auf eine besondere künstlerische Leistung verweist. So attestiert Alfred Estermann dem „Blauen Engel“ auf Grund seiner explizit filmischen Gestaltung jene Selbstständigkeit, indem er feststellt:
[...] hier wurde ein künstlerisches Werk geschaffen, das nicht einem literarischen Vorbild, sondern seinen eigenen Kunstgesetzen verpflichtet ist. [...] Jedenfalls liegt mit dem Film Der blaue Engel ein gangbarer Weg der Adaption von Literatur vor: anknüpfend an Vorhandenes wird künstlerisch eigenartig Neues produziert, das gleichrangig neben dem Literaturwerk steht.9
Jean Améry beurteilt den Film „Tod in Venedig“ ebenfalls hinsichtlich seiner unabhängigen Stellung gegenüber der literarischen Vorlage:
Die beiden Werke zweier Meister werden denn in Hinkunft in unserem Bewußtsein gleichberechtigt nebeneinander stehen, werden sich verschränken, da zur Kongruenz gekommen, dort in grellem Widerspruch zueinander stehen. [...] Visconti, als Interpret Thomas Manns und zugleich Schöpfer eines neuen „Tod in Venedig“, war treu und untreu zugleich. Treu, indem er kaum eine Szene ablaufen ließ, die aller möglichen Wahrscheinlichkeit nach der Dichter nicht würde gebilligt haben; untreu, indem er unternahm, was seine mit Bravour gelöste Aufgabe war.10
Die Untersuchung der filmspezifischen Mittel, durch die dieser Transformationsprozeß erreicht wird, und die Betrachtung der Konsequenzen, die sich durch die Veränderung der literarischen Vorlage für die Filme ergeben, wird Aufgabe und Ziel der vorliegenden Arbeit sein.
Der besondere Reiz, zwei so unterschiedliche Werke nach ihren medienspezifischen Ausdrucksmöglichkeiten hin zu untersuchen, besteht im besonderen in der stringenten Darstellung des Verfalls repräsentativer, einer rationalen Lebensführung verhafteter ,Bürger’ durch sinnliche Verführung. Die sich aus dieser Konfliktsituation ergebenden Oppositionen zu analysieren, wie sie in den literarischen Vorlagen mit erzählerischen Mitteln dargestellt sind, stellt sich als ebenso interessante Herausforderung dar wie die Betrachtung der jeweiligen Umsetzung in das Medium Film.
Die wissenschaftliche Vorgehensweise wird sich hierbei stets um eine werkimmanente Betrachtungsweise bemühen. Gesellschaftshistorische oder biographische Hintergründe der Autoren Heinrich und Thomas Mann oder der Regisseure Josef von Sternberg und Luchino Visconti werden nur an den Stellen angesprochen, wo sie relevant sind für Aussage und Bedeutung der jeweiligen Werke bzw. für die Veränderungen durch den filmischen Transformationsprozeß. Die Beziehungszusammenhänge einer außertextuellen Wirklichkeit, z.B. im Werk Heinrich und Thomas Manns, die im besonderen in den Konzeptionen der Liebessituation autobiographische Motive und psychologische Dispositionen verarbeiten, werden somit bewußt außer acht gelassen.11.
Bevor wir mit der Untersuchung der literarischen Werke beginnen, die sich in ihrer Ausführlichkeit als Voraussetzung für eine fruchtbare Betrachtung der filmischen Transformationen versteht, soll es Aufgabe des folgenden Kapitels sein, vor dem gesellschaftshistorischen Hintergrund, prinzipielle Besonderheiten der Literaturverfilmung vorzustellen. Anschließend wird der Versuch unternommen, die formalen und die damit einhergehenden inhaltlichen Differenzen zwischen geschriebenem Wort und visualisiertem Bild anhand der Laokoon-Thematik darzustellen.
2. Aspekte zur Literaturverfilmung
„Grundprobleme der Literaturverfilmung“ stellt sich als ein Thema dar, das seit der Erfindung der Kinematographie mit einer Vehemenz diskutiert wird, die der Bedeutung der Problematik mehr oder weniger nahe gekommen ist. Die unterschiedlichen Standpunkte der Gegner und Befürworter der Literaturverfilmung demonstrieren eine Auseinandersetzung, in der sich die medialen Wechselwirkungen des 20Jahrhunderts, ausgehend vom frühen 19. Jahrhundert mit der Erfindung der Photographie, widerspiegeln. Daß die Verbreitung der neuen visuellen Medien (Photographie: ab 1824; Film: ab 1895; Fernsehen: ab 1945) die etablierten Künste bzw. ihre jeweiligen Vertreter verunsicherte, seien es nun die Kräfte, die im Film eine Gefahr fur das Theater sahen oder jene, die die filmischen Verarbeitung literarischer Stoffe als eine Degradierung des „Originals“ empfanden, ist zwar verständlich, verstellt jedoch den Blick auf die Möglichkeit gegenseitiger Erweiterung.
Um der Adaptationsproblematik gerecht zu werden, sollte daher zunächst darauf hingewiesen werden, daß die „Entwicklung der Beziehungen zwischen der Literatur und den neuen Medien [...] charakterisiert“ ist „durch Koexistenz, Interdependenz und Konkurrenz“ ,[12] Diese Feststellung formuliert eine grundsätzliche Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Literaturverfilmung. Nicht von wertenden Hierarchien darf ausgegangen werden, sondern „von einem aus der historischen Entwicklung erklärbaren Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und Film, in dem der Film die historisch spätere, aber nicht hierarchisch niedere Stufe einnimmt.“13
Betrachtet man die Entwicklung der verschiedenen Kunstgattungen vor ihrem historischen Hintergrund, präsentieren sich auf dem Gebiet inhaltlicher sowie formaler Transformationen ähnlich vielschichtige Wechselwirkungen. Ob es sich dabei um Themen der griechischen Mythologie oder um Motive aus der christlichen Vorstellungswelt handelt, ob der Stoff eine Veränderung durch eine neue Kunstform erfährt oder sich nur abgewandelt in derselbigen wiederfindet, die Frage bleibt die gleiche: Welche Motive veranlassen einen Künstler, ein schon vorhandenes künstlerisches Werk neu zu bearbeiten und mit welchen Mitteln versucht er, entweder die Intention des Werkes zu bewahren oder ihm eine neue Bedeutung zu verleihen?
Ausgehend von dem Problem der Bearbeitung, wie es Irmela Schneider im Zusammenhang mit Lessings Kunstkritik und der Laokoon-Thematik präsentiert, wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit der Versuch unternommen, die Unterscheidung zwischen bildender Kunst und Literatur um das Phänomen Film zu erweitern.
Das erste Kapitel soll zunächst die besondere historische und gesellschaftliche Stellung der Kinematographie und insbesondere der Literaturverfilmung hervorheben:
Zum ersten Mal in geschichtlicher Zeit entsteht eine ganz neue Kunstform, und wir können sagen, wir seien dabei gewesen. Alle anderen Künste sind so alt wie die Menschheit, und ihr Ursprung ist so dunkel wie unsrer. Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Pyramiden und Wolkenkratzern, zwischen Urwaldtrommeln und einem modernen Orchester. Der Film aber ist etwas gänzlich Neues. Photographie und Mikrophon sind Kinder unserer Zeit.14
Rudolf Arnheim schrieb diese Zeilen 1931 hinsichtlich der Debatte, ob Film überhaupt Kunst sei. Die abenteuerlichen Vergleiche richten sich als Provokation an eine herrschende Meinung, die in der Erfindung des Films nichts anderes sah, als den „Anbruch des Gutenberg-Zeitalters für die bildende und darstellende Kunst“.15 Darüber hinaus spricht Arnheim hiermit jedoch ein Problem des traditionellen Bildungsbürgertums an, denn dem Film einen ästhetischen Eigenwert zuzugestehen, verwehrte sich allein schon aus der Tatsache, daß es sich bei ihm um eine Massenkunstform handelt. Die Kritik am Film scheint sich mit der Kritik an der Literaturverfilmung zu verweben. Ohne sich in dieser Kunstdedatte verlieren zu wollen, finden sich in den Äußerungen der Verfechter des Films und von Literaturadaptationen ähnliche Argumentationen. Jean Améry z.B. löst die Ambivalenz zwischen Popularisierung und Kunstanspruch folgendermaßen auf:
Film: Massenkunst. Film: kommerzialisierte Kunst und also Un-Kunst. Jedoch es will damit nicht so recht stimmen. Denn es hat den Anschein, als sei das Cinema die einzige Kunstform, die nicht „elitär“ ist. Es lehrt uns die Geschichte des Films, daß grosso modo die erfolgreichsten und also die Massen ansprechenden Werke öfter, als man sich eingesteht, auch jene sind, die den verwöhnten Kennern, sofern sie nur mit uns und sich selber ehrlich sind, am besten gefallen. Bedingung ist freilich, daß wir, wissend um da und dort ja auch ganz geistvolle theoretische Elaborate, uns die Naivität des Schauens bewahren.16
Ob die Großproduktionen der 80er und 90er Jahre das Urteil bestätigen, daß die erfolgreichsten Filme auch diejenigen sind, die „am besten gefallen“, scheint fraglich. Daß die Filme eines Steven Spielberg oder eines James Cameron auf Grund ihrer technischen Perfektion und durch ihren Rückgriff auf archaische Mythen in gewisser Hinsicht faszinieren, läßt sich hingegen kaum bestreiten. Améry sieht im nicht-elitären Charakter des Films einen Vorteil, doch in dem Moment, wo er die Beibehaltung der „Naivität des Schauens“ fordert, unterschätzt er die Bedeutung und die Konsequenzen seiner Situation als intellektueller Schriftsteller.17 Auch wenn er sich die „Naivität des Schauens“ noch so sehr wünscht, bleibt sein kulturgeschichtliches Hintergrundwissen stets ein wesentlicher Faktor innerhalb seiner filmischen Beurteilung. Abgesehen von diesem Anspruch an die Filmrezeption, formuliert Améry hier eine Erkenntnis, die für die wirkungsästhetischen Konsequenzen des Films von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Denn gerade, daß der Film die Massen anspricht, darin besteht die Voraussetzung für die Komplexität der intermedialen Wechselwirkungen des 2O.Jahrhunderts. So sieht André Bazin in der Literaturverfilmung weniger eine Gefahr für die Literatur, als die Möglichkeit, neue Leser zu gewinnen:
Denn die Adaption, wie groß auch immer ihr Annäherungswert an das Original sein mag, kann diesem in den Augen der Minderheit, die es kennt und schätzt, keinen Schaden zufügen; in Bezug auf diejenigen, die das Original nicht kennen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gefällt ihnen dieser Film, der ebenso gut wie die meisten anderen ist, oder aber sie haben Lust bekommen, das Modell kennenzulemen, und das bedeutet einen Gewinn für die Literatur. [...] Die Kultur im allgemeinen und die Literatur im besonderen haben durch dieses Wagnis wirklich nichts zu verlieren!18
Betrachtet man die kommerzielle Situation aktueller Literaturadaptationen so läßt sich feststellen, daß die literarische Vorlage in die werbestrategischen Funktionen der Film- und Printindustrie voll integriert ist. Besonders auffällige Beispiele für diese Integration stellen „Bram Stokers Dracula“ von Francis Ford Copola (1992) und „Mary Shelleys Frankenstein“ (1994) von Kenneth Branagh dar. Die Nennung der Autoren im Filmtitel, Schriftsteller übrigens, die vorher eher nur Kennern der phantastischen Literatur geläufig waren, suggeriert einen hohen Authentizitätsanspruch, also eine Form der werktreuen Transformation sowie die Absicht, letztendlich die erste „wahre“ Verfilmung darzustellen. Der steigende Absatz neu konzipierter Auflagen wurde hierbei sicher gerne in Kauf genommen.
Bazins Ansicht sieht sich somit nach mehr als 40 Jahren bestätigt. Die Filmindustrie fordert sogar die Popularisierung der literarischen Vorlagen, wenn dies auch nicht gerade aus ästhetischen oder kulurpädagogischen Gründen geschieht, sondern aus kommerziellen Notwendigkeiten, die den Produktionsbedingungen des Films innewohnen.
Betrachtet man also die wirtschaftlichen Gründe für den häufigen Rückgriff des Films auf literarische Vorlagen, so gelangt man nach Franz-Josef Albersmeier zu folgenden Ergebnissen: Zum einen hat der „Film als Massenprodukt [...] ein ständiges Bedürfnis an literarischen Vorlagen, weil die Produktion von Originalszenarii eher die Ausnahme ist (u.a. aus Kosten- und Zeitgründen)“, zum anderen, und dies ist nach Albersmeier von größerer Bedeutung, hat der Film „die Neigung, sich berühmter Werke der Weltliteratur mit dem Hintergedanken eben der literarischen Verbürgtheit sowie der damit einkalkulierten erhöhten Verkaufschancen zu bedienen.“19 Diese recht prosaisch anmutende Erklärung stellt eine marktstrategische Tatsache dar und verweist auf die finanziellen und industriellen Abhängigkeiten des Films.
Bazins Ansatz wird hierdurch nicht beeinflußt; sieht er doch in der Adaptation im wesentlichen die Vorteile für die Rezeption von Literatur. Darüber hinaus thematisiert er die „Entwicklung der Kunst als Ent-Popularisierung“20, womit sich für ihn die Literaturverfilmung weder als „Ersatz“ noch als „Konkurrenz“ zur Literatur darstellt, sondern vielmehr als die „Hinzufügung einer ganz neuen Dimension, die die Künste seit der Renaissance mehr und mehr verloren haben: das Publikum“21.
Für eine weiterführende Auseinandersetzung ist es darüber hinaus notwendig, die inhaltlichen und ästhetischen Voraussetzungen der Adaptation näher zu analysieren. Hierbei trifft man in der Literatur zur Adaptationstheorie häufig auf Kategorien, die den Versuch unternehmen, den Transformationsprozeß von einer literarischen Vorlage zum filmischen Werk qualitativ zu bewerten. Begriffe wie „Werktreue“, „Verrat“ an der literarischen Vorlage oder die „fidélité â l'esprit et â la lettre“ mögen aus literaturwissenschaftlicher Sicht ihre normative Berechtigung haben, durch ihren wertenden Charakter führen sie jedoch zu einer Diskussion, die dem Film in seiner medienspezifischen Ausdruckskraft einen zu geringen selbstständigen Wirkungsraum zugesteht.
Die Einteilung der qualitativen Bewertung einer Adaptation in Kriterien der a) filmischen Erneuerung; b) der filmischen Überhöhung; c) der filmischen Degradierung der Vorlage, wie sie Albersmeier22 formuliert, läßt sich in diesem Zusammenhang auch nur als ein Orientierungsmodell verstehen. Denn ob ein literarisches Werk durch die filmische Transformation „erneuert“, „überhöht“ oder „degradiert“ wird, stellt keine werkimmanente Konstante der Literaturadaptation dar, sondern scheint doch eher beeinflußt zu sein von Produktionsbedingungen, von Dispositionen des Regisseurs und nicht zuletzt von Verpflichtungen gegenüber der jeweiligen gesellschaftshistorischen Situation. - Darüber hinaus ergibt sich die Bewertung einer Literaturadaptation aus Status und Geschichte des jeweils Wertenden.
Daß es sich bei der Bearbeitung „gering“ bewerteter Literatur nicht selten um künstlerisch „wertvolle“ Filme handelt ( der film noir wäre hierfür ein Beispiel), stellt sich ebenso als Phänomen dar, wie der schwierige Umgang mit bedeutenden literarischen Vorlagen, besonders bei großangelegten Romanen. Die wesentliche Leistung eines Regisseurs oder auch eines Drehbuchautors besteht hierbei in der Nutzung seiner Kreativität, denn „gerade die Unterschiede in den ästhetischen Strukturen (von Literatur und Film - B.M.) [...] verlangen sowohl mehr Erfindungen als auch mehr Fantasie von dem Regisseur“, er muß „das Original in seiner Substanz nach Wort und Geist wiederherstellen können.“23
Eine Argumentation, die sich damit zufrieden gäbe, daß triviale Vorlagen anspruchsvolle Filme hervorbringen und umgekehrt, ist natürlich nicht haltbar. Hinter ihr verbirgt sich jedoch die Erfahrung, daß der Film eine erzählte Welt eher umsetzen kann, wenn diese durch Handlung und Dialog geprägt ist, ihr Schwerpunkt also nicht auf der Darstellung von innenperspektivischen Erzählstrukturen wie Reflexion und innerem Monolog basiert.
Es gilt jedoch als künstlerische Herausforderung an den Film, diese „Innenwelt“ mit den ihm zur Verfügung stehenden visuellen und akustischen Mitteln in die äußerlich wahrnehmbare Welt zu übertragen.
Eine chronologische Erzählweise trägt hierbei ebenso zur Verständlichkeit bei, wie eine Begrenzung der Handlungsebenen und des Personals24 Daß sich besonders die Novelle als Vorlage für eine Bearbeitung eignet, da sie „rigoroser, knapper, übersichtlicher“ ist als der Roman und eigentlich schon ein „potentielles Szenario“25 26 darstellt, ist offensichtlich. Für die Adaptation von Romanen stellt sich eine ähnliche Begrenzung als ratsam dar. Der Film sollte versuchen, die Essenz der literarischen Vorlage sichtbar zu machen, um dem Geist der Erzählung und ihrer Handlungsatmosphäre gerecht werden zu können.
Es ist ein Anliegen der vorliegenden Arbeit, deutlich zu machen, mit welchen filmspezifischen Mitteln literarische Erzählstrukturen übertragen werden und welche Konsequenzen sich für den Transformationsprozeß ergeben, der letztendlich eine eigenständige erzählerische Dynamik zu erreichen hat. Abschließend zu diesem Kapitel ist anzumerken, daß hier lediglich gewisse Tendenzen in der Adaptationstheorie vorgestellt werden sollten. Gewisse Vorurteile sollten thematisiert werden, Wirkungsweisen der Literaturverfilmung angesprochen werden, um der Intention der folgenden Arbeit die Weichen zu stellen, die darin besteht, daß eine sachgerechte Diskussion nur anhand einer detaillierten Literatur- und Filmanalyse geführt werden kann.
2.1 Lessings „Laokoon“ - Über die Transformation vom Wort zum Bild
Ausgehend von dem Problem der Bearbeitung wie es Irmela Schneider im Zusammenhang mit Lessings Kunstkritik und der Laokoon-Thematik präsentiert, wird im folgenden der Versuch unternommen, die Unterscheidung zwischen Wort und Bild um das Medium Film zu erweitern. Schneider begreift die kunsttheoretischen Ausführungen Lessings einerseits als einen historischen Ansatz zur Theorie der Bearbeitung*, andererseits sieht sie in ihnen ein hfodell einer Theorie der Bearbeitungfi [6] In Übereinstimmung mit diesen Anforderungen verstehen wir die Beschäftigung mit der Laokoon-Thematik als einen Versuch, die Adaptationsproblematik auf ihre ursprünglichsten Differenzierungsmerkmale hin zu untersuchen. Es handelt sich hierbei um die Auseinandersetzung grundsätzlicher Aspekte, die die Kriterien des Transformationsprozesses zum einen veranschaulichen, zum anderen als Basis für eine erweiternde Filmdiskussion dienen.
Bevor wir uns explizit mit den kunsttheoretischen Feststellungen Lessings beschäftigen, soll kurz der Sachverhalt skizziert werden , der den Laokoon als „corpus delicti“ für eine theoretische Bearbeitung überhaupt erst interessant gemacht hat.
Der mythologische Stoff existiert schon seit dem fünften Jahrhundert v.Chr. und wurde von vielen Dichtem bearbeitet. Virgil (70 v.Chr.-19 v.Chr.), der durch das Epos von Aeneas als der bedeutendste lateinische Dichter gilt, orientierte sich an den Homerischen Epen, wobei sich seine Nachahmung „von den kleinsten bis zu den größten Bausteinen seines Epos“27 erstreckt und „sich nach einer Typologie mannigfaltiger Abstufungen“28 vollzieht. Es kann davon ausgegangen werden, daß den griechischen Bildhauern, die um 100 v.Chr. die sogenannte Laokoon-Gruppe vollendeten, der Stoff von Homer bekannt war.29
Laokoon, Priester des Apollon warnt die Troyaner vor dem Gastgeschenk der Griechen. Sein Rat, das Troyanische Pferd zu verbrennen, findet kein Gehör. Anstatt dessen muß er Neptun mit seinen beiden Söhnen Opfergaben darbringen. Hierbei werden Vater und Söhne von zwei Meeresschlangen umschlungen und getötet. Vergil läßt in seiner Beschreibung des Todeskampfes Laokoon aufschreien, als Skulptur hingegen wird er seufzend dargestellt. Über diesen Unterschied reflektierend, hält Lessing den seufzenden Laokoon aus ästhetischen Gründen fiir gerechtfertigt: „er (der Meister - B.M.) mußte Schreien in Seufzen mildem; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet“.30 Doch abgesehen von der Verpflichtung an das griechische Schönheitsideal erweist sich eine gemäßigte Darstellung der Sterbeszene auch in der Wirkung als die ästhetisch Wertvollere. Denn dem Betrachter der Skulptur eröffnet sich nur ein Ausschnitt des Geschehens, sozusagen eine Momentaufnahme. Falls er die Vorgeschichte und ihre Zusammenhänge nicht kennt, steht ihm für eine Interpretation des Werkes nur die dargestellte Situation zu Verfügung. Für die bildenden Künste bedeutet dies, daß sie in einer einzigen „Einstellung“ Sinn und Aussage des Werkes wiedergeben müssen. Die Konsequenz ist eine Konzentration auf das Wesentliche; sie ist dafür verantwortlich, wie der Betrachter das aus einem bestimmten Blickwinkel konzipierte Kunstwerk rezipiert.
Für Lessing kann nun , jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblicks nicht fruchtbar genug gewählet werden [...]. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt.“31 Im Gegensatz hierzu kann die Dichtung auf dramatische Ereignisse einleitend vorbereiten, zu weiteren Handlungen hinfuhren und erklärend auf Zusammenhänge einwirken.
Lessing erkennt den unterschiedlichen Gebrauch der jeweiligen kunstspezifischen Mittel, indem er feststellt, daß die Malerei „Figuren und Farben in dem Raume“ verwendet, die Poesie jedoch „artikulierte Töne in der Zeit“.32 Die Gegenstände, die in der Dichtung und in der bildenden Kunst dargestellt werden, differenziert Lessing folgendermaßen:
Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei.
Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.33
Gewisse Überschneidungsmöglichkeiten werden hierbei selbstverständlich nicht ausgeschlossen. So kann auch die bildende Kunst „Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper“, und die Poesie kann Körper nachahmen, „aber nur andeutungsweise durch Handlungen.“34 Die Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Künste besteht zwar darin, daß sie beide täuschen und bewegen35 wollen, doch die Bedingungen unter denen sie dieses Ziel erreichen, stellen sich als grundverschieden dar. Die Dichtung schildert Handlungen in einem zeitlichen Nacheinander, die bildenden Künste schaffen Körper in einem räumlichen Nebeneinander; oder wie O.Mann es unter Berücksichtigung der sinnlichen Wahrnehmung formuliert: „der bildende Künstler wendet sich im räumlichen Nebeneinander an das Auge, der Dichter im zeitlichen Nacheinander an das Ohr.“36
Betrachten wir diese Differenzierungsmerkmale im Hinblick auf das Problem der Bearbeitung, so kann man davon ausgehen, daß sich auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene Veränderungen in der Gestaltung des neu geschaffenen Werkes ergeben. Innerhalb dieses Transformationsprozesses müssen die unterschiedlichen Mittel, die den jeweiligen Künsten zu Verfügung stehen, berücksichtigt werden. Eine Beschäftigung mit der Bearbeitungsproblematik hat demnach eine detaillierte Auseinandersetzung mit den medienspezifischen Besonderheiten der jeweiligen Kunstform zur Folge.
Welchen Nutzen haben nun diese Ausführungen über die unterschiedlichen Bedingungen und Möglichkeiten einer bestimmten Kunstform für die Analyse von Literaturverfilmungen oder, anders formuliert, lassen sich Literaturverfilmungen vielleicht als eine Synthese von bildender Kunst und Literatur bezeichnen?
Der Gedanke liegt nahe, stehen dem Film doch beide Medien zur Verfügung: nämlich das Bild, auf dem die Ereignisse in einem räumlichen Nebeneinander präsentiert werden, sowie der Ton, u.a. also auch Sprache, die bestimmte Vorgänge zeitlich sukzessiv vermittelt.
Die Ikonizität des Films und seine wortsprachliche Kapazität lassen sich jedoch nicht nur als Adaptionen schon vorhandener Kunstformen verstehen; darüber hinaus bieten sich dem Film zur Darstellung von Beschreibungs- und Erzählstrukturen besondere technische Mittel, wie z.B. die Montage, die Spezifizität der Kameraführung sowie auch der besondere Einsatz von Licht.
Die zentrale Besonderheit des Films besteht darüber hinaus in der Tatsache, daß er im Gegensatz zum Gemälde oder auch zur Photographie, Geschichten erzählt über das bewegte Bild und über die Inszenierung von Bilderfolgen. Das bewegte Bild übt hierbei eine Erzählfunktion aus, „es ersetzt das Wort der epischen Erzählfunktion“37. Bewegung jedoch impliziert im weitesten Sinne Handlung und diese benötigt der Film zur Sichtbarmachung innerer und äußerer Erlebniswelten. Bezüglich des Handlungsaufbaus bedarf der Film ähnlichen dramaturgischen Strukturen wie das Drama, denn [d]ie Unmittelbarkeit des Dramas als realisierte Handlung’ erfordert einen anderen Handlungsaufbau, vor allem im Blick auf die agierenden Personen, als die mittelbare Handlung der Erzählung [...],38
Das Drama wie der Film verlangen nach der Darstellung eines sichtbaren Konflikts, der innerhalb der Entwicklung einer Geschichte zwischen einem Protagonisten und einer antago- nistischen Kraft besteht. Die filmische Transformation eines epischen Textes muß diese dramaturgische Notwendigkeit berücksichtigen, will er sich der Spannung und der emotionalen Beteiligung des Zuschauers versichern.39 Die epische Nähe des Films durch das bewegte Bild einerseits und seine dramatische Implikation andererseits verleihen ihm eine Plu- rimedialität, die für den „Filmemacher [...] eine positive Erweiterung des Repertoires verfügbarer Codes, Kanäle und Strukturierungsverfahren“40 41 darstellt.
Indem sich der Film nun einer literarischen Vorlage bedient, unterliegen Inhalte und Form durch den Transformationsprozeß medienspezifischen Veränderungen:
Hinsichtlich des auf literarischen Texten basierenden Medienwechsels ist Transformation’ somit zu definieren als eine nach spezifischen medientechnologischen Konditionen vorgenommene Übertragung von deskriptiven, narrativen und argumentativen Elementen eines Zeichensystems (Ausgangstext) in ein anderes Zeichensystem (Zieltext), unter weitestgehender Erhaltung der konstitutiven Bedeutungs- und Informationsstrukturen fi
Dem läßt sich hinzufugen, daß sich der Film als ein universales Medium darstellt. Seine Variabilität partizipiert zwar von allen übrigen Künsten, sie zwingt ihn jedoch, die schon vorhandenen künstlerischen Möglichkeiten neu umzusetzen, um anschließend als eigenständiges Werk bestehen zu können. Dieses Konzept läßt sich auf den Film im allgemeinen beziehen, trifft aber im besonderen auf die filmische Transformation von Literaturvorlagen zu.
3. „Der Tod in Venedig“ und „Professor Unrat“ - Gemeinsamkeiten
3.1 Repräsentanz und Isolation - Parallelen in der Figurenkonzeption Professor Unrats und Gustav von Aschenbachs
Im folgenden werden die wichtigsten literarischen Parallelen zwischen „Professor Unrat“ und dem „Tod in Venedig“, auch im Hinblick auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Aufsatz Walter H. Sokels42, hervorgehoben und analysiert.
Der 1905 erschienene Roman „Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“ von Heinrich Mann und die acht Jahre später publizierte Novelle „Der Tod in Venedig“ des Bruders entstanden beide in der Ära des wilhelminischen Kaiserreiches. Beide Werke zeigen in der Entwicklung ihrer Protagonisten Aschenbach und Unrat „die Konsequenzen einer Einstellung, die auf Erhaltung und Verherrlichung des Bestehenden ausgerichtet, infolge der dadurch nötigen Repression zum Gegenteil von Erhaltung, zu Selbstwiderlegung und Auflösung fuhrt.“43 ^ Kurz, der Verfall und Niedergang einer ganzen Gesellschaftsform spiegelt sich in den Helden der beiden Erzählwerke, wobei sich ihr besonderer Reiz durch die Darstellung äußerst ambivalenter Figurenkonzeptionen ergibt.
Ein wesentliches Charakteristikum der beiden Helden liegt in der sich anscheinend widersprechenden Koexistenz von Repräsentanz und Isolation, also von der gesellschaftlichen Anerkennung wie es bei Aschenbach der Fall ist, bzw. von dem Glauben, die Werte des herrschenden Staates zu repräsentieren wie im Fall Professor Unrats, und einer Art Außenseiterdasein, welches sie von einem normalen Gesellschaftsleben ausschließt und sie in äußerer und innerer Einsamkeit verharren läßt.
Durch die Begegnung mit Tadzio/Rosa beginnen sich in den Protagonisten Aschen- bach/Unrat unterdrückte Sehnsüchte und Triebe einer ehedem rational erfaßten Wirklichkeit zu bemächtigen. Dementsprechend faßt Walter H. Sokel die Parallele der beiden Werke wie folgt zusammen:
Eine repräsentative Gestalt, kultur- und bildungspolitischer Vertreter des wilhelminischen Kaiserreiches, verwandelt sich durch eine unerwartete erotische Begegnung in das scheinbare Gegenteil dessen, was er repräsentiert hat. Aus dem Hüter von Zucht und Würde wird ein sittenloser Verbrecher, bzw. Komplize des Verbrechens, der in Entwürdigung und - äußerer oder innerer - Schmach untergeht.44
Sokel postuliert eine „scheinbare“ Umkehrung im Wesen der beiden Helden. Für ihn „entpuppt sich der Sturz in Unzucht und Verbrechen als Erfüllung der repressiven Tendenzen in diesen Vertretern des Kaiserreiches.“45 Es muß jedoch an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß sich ohne das Eintreten der Liebessituation weder „tatsächlich“ noch „scheinbar“ etwas in Aschenbach/Unrat „verwandelt“ hätte. Tatsächlich spricht die letztendliche Bereitschaft sich zu verlieben für eine schon bestehende Sensibilität, die, gerade weil es galt, sie fast ein Leben lang zu unterdrücken, in einer unbeherrschbaren Leidenschaft ihre Erfüllung findet. Tadzio und Rosa stellen hierbei die auslösenden Kräfte dar, sie entfachen durch ihre außergewöhnliche Erscheinung einen längst erloschen geglaubten Lebenstrieb.
Der Einbruch der sinnlichen, unreglementierten Welt in eine „scheinbar“ geordnete Lebenssituation- mit welchen Konsequenzen und Bedingungen muß für das jeweilige Werk einzeln untersucht werden - deckt eine grundsätzliche menschliche Problematik auf, nämlich den Konflikt zwischen dionysischer Macht und apollinischem Anspruch. Inwieweit sich ein unüberwindliches Spannungsverhältnis aus diesen beiden Kräften ergibt, hängt mit Sicherheit von den Konventionen und Werten eines jeweiligen Gesellschaftssystems sowie von einer bestimmten charakterlichen Disposition ab. Daß in der wilhelminischen Kaiserzeit Dichter derart ambivalente Figuren wie Aschenbach und Unrat geschaffen haben, spricht für die Komplexität der Zeit. So sieht Sokel die Verbindung der beiden Werke, die „ihnen die historische Bedeutung verleiht“, in dem „Begriff der repressiven Repräsentanz“.46
Zur Klärung dieser Formulierung wird zunächst der öffentliche Wirkungskreis der Figuren Aschenbach und Unrat näher untersucht. Betrachtet man ihre berufliche Laufbahn ergeben sich folgende Merkmale: Beide Helden erleben ihre Kamere, sei es die schulische Laufbahn Unrats oder die künstlerische Tätigkeit Aschenbachs, in ungewöhnlicher Ausschließlichkeit als eine Berufung. Ein Leben außerhalb ihrer öffentlichen’ Arbeit findet so gut wie gar nicht statt; so heißt es über Unrat:
Da er sein ganzes Leben in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben. (P.U. 16)
Aschenbachs Leben zeichnet sich ebenfalls durch eine gewisse Einseitigkeit aus:
So, schon als Jüngling von allen Seiten auf die Leistung - und zwar die außerordentliche - verpflichtet, hatte er niemals den Müßiggang, niemals die sorglose Fahrlässigkeit der Jugend gekannt. (T.i.V. 501)
Als „Repräsentanten des preußisch-deutschen Reiches“47 sind sie von einem derartig übersteigerten Pflichtbewußtsein geprägt, daß sie sich so gut wie keinen Raum für private, gesellschaftliche wie auch menschliche Kontakte erlauben. Dementsprechend knapp wird in beiden Werken der familiäre Hintergrund geschildert. Aschenbach und Unrat sind beide verwitwet, wobei Aschenbach vor dem Tod seiner Frau immerhin eine ,,kurze[r] Glücksfrist“ (T.i.V. 507) mit ihr erleben durfte. Unrats Ehe hingegen wurde aus rein rationalen Gründen geschlossen, seine Frau war „Witwe, die ihn einst als Jüngling mit den Mitteln zu fernerem Studium versehen hatte, die er dafür vertragsmäßig, sobald er im Amt war, geheiratet hatte, [...] und nun tot war.“(P.U. 25)48
Ihr Wirkungskreis beschränkt sich auf ihre berufliche Tätigkeit, wobei diese in ihrer gesamten Tragweite erschöpft wird. Die vollständige Identifikation mit der Arbeit fuhrt demnach zu einer weitestgehenden Elimierung des Privatlebens. Der geistige Horizont von Aschenbach und Unrat ist begrenzt und endet mit dem Beginn ihnen fremder Lebensbereiche. Eine besondere Leistung Unrats besteht sogar darin, seine beruflichen Aktivitäten auf die außerschulischen Bereiche zu erweitern, für ihn besteht kein Unterschied mehr zwischen Schülern und Bürgern:
Die Schule endete für ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckt sich über die Häuser ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner. Überall saßen störrische, verworfene Burschen, die „ihrs“ nicht „präpariert“ hatten und den Lehrer befeindeten. (P.U. 17)
Im Falle Aschenbachs besteht die Eingrenzung seiner intellektuellen Kapazitäten zwar auf einer anders gearteten Ebene, doch auch sein Streben zielt ausschließlich auf die Erfüllung seiner Arbeit unter Ausschluß jeglicher Ablenkung:
Zu beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion, der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt zu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung begnügt, die jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu rühren, von der Oberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals auch nur versucht gewesen, Europa zu verlassen. (T.i.V. 497)
Der sachlich wirkende, beiläufig eingeschobene Nebensatz, „ohne sich weit aus seinem Kreise zu rühren“, ist symptomatisch für den Lebenswandel Aschenbachs und läßt sich auch auf den beschränkten Wirkungskreis Unrats anwenden49 Daß dieser einseitige Dienst sich aus der Vorstellung ergibt, das herrschende System zu repräsentieren, findet sich zwar in beiden Helden wieder, jedoch mit unterschiedlichen Folgen.
Der zu erwartende Erfolg des Schriftstellers zeichnet sich schon in jungen Jahren ab: Denn „da sein ganzes Wesen auf Ruhm gestellt war, zeigte er sich, wenn nicht eigentlich frühreif, so doch, dank der Entschiedenheit und persönlichen Prägnanz seines Tonfalls, früh für die Öffentlichkeit reif und geschickt.“ Aschenbach erhält mit zunehmenden Alter die benötigte Bestätigung seiner Arbeit. Anerkannt und hoch geschätzt „lehnte [er] nicht ab, als ein deutscher Fürst, soeben zum Throne gelangt, dem Dichter des „Friedrich“ zu seinem fünfzigsten Geburtstag den persönlichen Adel verlieh“. (T.i.V. 507) Seine Arbeit ist somit gesellschaftlich legitimiert und akzeptiert.
Unrat hingegen stellt zwar in seiner Funktion als Latein- und Griechischlehrer einen Vertreter des klassischen Bildungsbürgertums dar, wird jedoch in seiner Bedeutung vor dem Volk nur gering respektiert und findet kaum Anerkennung:
Er ging unansehnlich, sogar verlacht unter diesem Volk umher - aber er gehörte, seinem Bewußtsein nach, zu den Herrschenden. Kein Bankier und kein Monarch war an der Macht stärker beteiligt, an der Erhaltung des Bestehenden mehr interessiert als Unrat. (P.U. 44-45)
An dieser Stelle wird besonders deutlich, daß Unrat nicht in Einklang mit der gesellschaftlichen Realität lebt. Seine Lebensanschauung und sein Verhalten sind, wie auch im Falle Aschenbachs, geprägt von den Ideologien und Machtansprüchen des wilhelminischen Herrschersystems,50 ohne die Notwendigkeit anzuerkennen, zwischen abstrakten Leitsätzen und konkreter Lebensnähe unterscheiden zu müssen.
Die Tragik eines derartigen Repräsentantentums besteht nun darin, daß die repräsentierten Ideen nicht der historischen Wirklichkeit entsprechen. Walter H.Sokel erinnert sich an den Roman „Königliche Hoheit“ (1908) von Thomas Mann, in dem „das Fortbestehen der Monarchie im zwanzigsten Jahrhundert ein „Affentheater“ genannt wird“51. Der Anachronismus der Monarchie, der dort schon entlarvt wird, wird im „Tod in Venedig“ von Aschenbach wieder zurückgenommen. Seine Nobilitierung „war ihm innerlich gemäß“ (T.i.V. 507), die Identifizierung mit der politischen Herrschaft vollkommen.
Jedoch kommt der Anachronismus, die innerlich schwache und hohle Position des monarchischen Reiches, in Aschenbach ebenso zum Vorschein wie in Unrat, in der im letzten Grunde defensiven und repressiven Haltung, die der Repräsentant dieses Reiches einzunehmen gezwungen ist.52
Sokel will hiermit sagen, daß sich die Schwäche des zu repräsentierenden Systems auf ihre Vertreter überträgt. Auf die sich hieraus ergebende Verletzlichkeit reagiert Unrat mit Aggression, im besonderen dem Schüler Lohmann gegenüber, der durch seinen „modernen Geist“ in der Lage schien, ihn, „den Tyrannen anzuzweifelrt (P.U. 26) und somit zum ärgsten Feind des Lehrers wird. Aschenbach hingegen trifft den „tiefen Entschluß des Meister gewordenen Mannes, das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber hinwegzugehen, [...].“ (T.i.V. 505). Ihm wird seine künstlerische Tätigkeit zum einzigen Lebensinhalt.
Die Problematik ihres repräsentativen Lebens ist eng verknüpft mit ihrer Situation als Außenseiter, wie wir im folgenden zu belegen versuchen. In diesem Zusammenhang ist es not- wendig, die Ausführungen von Elke Emrich in Bezug auf die Darstellung Unrats als einen Repräsentanten näher zu betrachten. Sie stimmt nicht mit Sokel überein, daß Unrat „eine repräsentative Gestalt, kultur- und bildungspolitischer Vertreter des wilhelminischen Kaiserreiches“53 sei. Für Emrich stellt Unrat „allenfalls dessen Satire“54 dar, darüber hinaus steht ihrer Meinung nach Sokels These im Widerspruch zu der ablehnenden Haltung der Gesellschaft Unrat gegenüber. Als Begründung hierfür begreift sie den folgenden Autorenkommentar, daß nämlich Unrat „in der Stadt eine Figur war, die für jeden Komik umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik. “ (P.U. 36)55
Eine Figur, die öffentlich keine Anerkennung widerfahrt, kann - man ist geneigt, sich ihrer Behauptung anzuschließen - kaum als Repräsentant gerade dieser Öffentlichkeit gelten. Emrich verkennt an dieser Stelle jedoch den ambivalenten Charakter Unratschen Strebens, denn „er gehörte, seinem Bewußtsein nach, zu den Herrschenden“ (P.U. 45, Hervorhebung- B.M.)56
Wie schon erwähnt, repräsentiert Aschenbach in weit höherem Maße das wilhelminische Kaiserreich - beide agieren jedoch aus dem gleichen ideologischen Prinzip, aus dem preußischen Gedankengut heraus57. Auch Sokel ist sich über die unterschiedlichen literarischen Ansätze bewußt:
Der gewaltige Unterschied zwischen der karikaturistischen Gestaltungsweise von Heinrich Manns Roman und der mimetisch-tragischen des „Tod in Venedig“ darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß Aschenbach dieselbe Symbiose von klasssisch-humanistischem Bildungsideal und preußischer „Zucht“ darstellt, deren lächerlicher Entartung wir bei Unrat begegnet sind.58
Die ausschließliche Identifizierung Aschenbachs und Unrats mit den Idealen eines antiquierten Staatssystems fuhrt beide in ein lebensfremdes, isoliertes Dasein. In besonders signifikanter Weise kommt dies in ihrem formelartigen Vokabular zum Ausdruck, sei es in dem Lieblingswort „durchhalten“ des Schriftstellers oder in der fanatischen, schon militärisch anmutenden Befehlssprache des Lehrers, der seine Schüler „zu fassen“ versucht.
Die Sprache Unrats und Aschenbachs wird zum Sinnbild ihrer intellektuellen Sonderstellung. Die künstlerischen Konsequenzen, die sich für Aschenbach aus seiner kontinuierlich angestrebten Strenge ergeben, sind zwar für seine Karriere forderlich, da „die Unterrichtsbehörde ausgewählte Seiten von ihm in die vorgeschriebenen Schul-Lesebücher aufhahm“ (T.i.V. 507), doch sein Sprachstil entbehrt mit zunehmendem Alter einer gewissen individuellen, lebendigen Originalität, wobei dieser Verlust höchstwahrscheinlich die Ursache für seinen offiziellen Erfolg darstellt:
Etwas Amtlich-Erzieherisches trat mit der Zeit in Gustav Aschenbachs Vorführungen ein, sein Stil entriet in späteren Jahren der unmittelbaren Kühnheiten, der subtilen und neuen Abschattungen, er wandelte sich ins Mustergültig- Feststehende, Geschliffen-Herkömmliche, Erhaltende, Formelle, selbst Formelhafte, und wie die Überlieferung es von Ludwig XIV. wissen will, so verbannte der Alternde aus seiner Sprachweise jedes gemeine Wort. (T.i.V. 506-507)59
Unrat, der ebenfalls für die „Erhaltung des Bestehenden“ (P.U. 45) eintritt, und der sich folglich als geistiger Verwandter Aschenbachs bezeichnen läßt, verwendet die Sprache der Homerübersetzung, „angefertigt zur Goethezeit im Zeichen ihres Griechenkults“60. Seine Sprache „ist durchwirkt mit „traun für wahr“, „denn also“ und ähnlichen Häufungen alberner Flickworte, Gewohnheiten seiner Homerstunde in Prima“ (P.U. 16), sie steht in auffälligem Kontrast zur Sprache seiner Mitmenschen und ruft in dem entsprechenden Gesprächspartner nicht selten ein Gefühl des Unverständnisses hervor.
Sokel faßt den Konflikt dieser antiquierten, sprachlichen Sonderleistung Unrats, in der er das „unschöpferische Wesen der zur Fassade gewordenen klassischen Bildung und ihre funktionslose Fremdheit im zeitgenössischen Leben des Volkes“61 erkennt, folgendermaßen zusammen:
Diese Fremdheit zwischen der repräsentativen Ideologie des Staates und dem Leben seiner Bevölkerung ist in Unrat zum grotesken Extrem gesteigert. Repräsentant der Staatsautorität lebt Unrat in pathetischer Kontaktlosigkeit zu seiner Umgebung. Dieses Mißverhältnis zeigt sich vor allem in der sprachlichen Diskrepanz zwischen Unrat und seinen Mitbürgern, woraus sich die stärksten komischen Effekte des Romans ergeben.62
Dieses „Mißverhältnis“ Unrats zu seinen Mitbürgern und die formelartige, lebensfremde Sprache Aschenbachs bilden die Grundlage für die gesellschaftliche Außenseiterrolle des Professors und die künstlerische Schaffenskrise des Schriftstellers. Der dramatische Konflikt, der beide in eine rational nicht mehr kontrollierbare Lebensführung treibt, ist somit inhaltlich motiviert und läßt sich als Folge einer einseitigen Lebenshaltung verstehen.
Als weitere Voraussetzung für das Handlungsgeschehen sieht Sokel die Auseinandersetzung Unrats und Aschenbachs mit einer ihrer repräsentativen Vorstellungswelt widersprechenden Kraft. Die Zweifel an ihrer Machterhaltung wirken jedoch in unterschiedlicher Art und Weise auf die beiden Helden ein:
Das Anzweifeln der Macht, das in „Professor Unrat“ von außen, vom widersetzlichen Schüler und rebellischen Untertan kommt, [...], ist im „Tod in Venedig“ verinnerlicht. Der Zweifler ist hier der eigene analytische Verstand und die angezweifelte Macht ist die eigene Schöpferkraft.63
Diese Unterscheidung in eine äußere Bedrohung, explizit verkörpert durch den Schüler Lohmann im Falle Unrats, und eine innere Bedrohung, symbolisiert durch die künstlerische Schaffenskrise im Falle Aschenbachs, verweist auch auf die Liebeskonzeption in den beiden Erzählwerken. So stellt sich die laszive Nachtclubsängerin Rosa, die trotz ihres zweifelhaften Standes von dem Professor zur Frau genommen wird, zum einen als Instrument der Machterhaltung Unrats dar, denn nur durch sie erreicht Unrat die Realisierung seiner, mittlerweile von repräsentativen zu anarchistischen mutierten Wunschvorstellungen.
Darüber hinaus steht Rosa jedoch „als fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt“ (P.U. 59) neben Unrat. Auf die Funktion als „Instrument“, das sie eigentlich nur„hätte sein dürfen“ (P.U. 214), läßt die Bedeutung Rosas sich folglich nicht reduzieren. Nur aus der „Vereinigung des destruktiv-despotischen mit dem verwirrend-verführerischen Geist“64 ergibt sich der angestrebte Sittenverfall der Stadt, der einer Umkehrung des bisherigen Wertesystems entspricht. Somit tritt Unrat zwar der „äußeren Bedrohung“ entgegen, stellt sogar selbst eine „Bedrohung“ dar, wobei die Liebe zu Rosa und der Haß gegenüber Lohmann ihn in einen nicht aufzulösenden Widerspruch treiben, der letztendlich seinen Untergang bedeutet: denn „er war genötigt sie zu lieben und zu leiden unter seiner Liebe, die sich auflehnte gegen den Dienst seines Hasses.“ (P.U. 214) Insofern erhält Rosa nicht nur eine funktionalisierte Bedeutung, darüber hinaus sehen wir in ihrer Figur die auslösende Kraft für die veränderte Handlungsweise Unrats.
Im „Tod in Venedig“ findet zwar die „angezweifelte Macht“ in der künstlerischen Schaffenskrise Aschenbachs ihre Entsprechung, doch letztlich steht die Figur Tadzios, der durch Schönheit, Stand und Haltung das Begehren des Künstlers aufsichzieht, im Zentrum eines lebensverändemden Erkenntnisprozesses. So vernachlässigt der von Sokel postulierte Rückzug Aschenbachs auf eine rein innenperspektivisch motivierte Handlungsleistung nicht nur die Aussagekraft der handlungsbegleitenden „Todesboten“, sondern auch die auslösende Wirkung Tadzios auf die veränderte Lebenshaltung des Künstlers.
Es soll in den Kapiteln der einzelnen Werkanalysen der Versuch unternommen werden, die Selbstständigkeit der Figuren Rosa und Tadzio zu belegen. Das Motiv der Verführung und die Art und Weise, wie sie diese ausüben, wird hierbei ebenso Thema sein, wie die überhaupt möglich gewordene Verführbarkeit der beiden Helden.
Nachdem wir in diesem Kapitel die öffentliche Stellung und die sich daraus ergebende Beziehung zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Figuren Professor Unrat und Gustav von Aschenbach in ihren auffälligsten Grundzügen nachgezeichnet haben, werden im folgenden die Parallelen der Handlungsstruktur bezüglich der jeweiligen Liebeskonzeption in den beiden Erzählwerken dargestellt.
3.2 Parallelen in der Liebeskonzeption
Die Betrachtung der „Liebeskonzeptionen“ in den Iberischen Vorlagen stellt sich im Hinblick auf einen medienspezifischen Vergleich zwischen den Filmen „Tod in Venedig“ und „Der blaue Engel“ als besonders fruchtbar dar. Zum einen wurde der literarische Handlungsablauf des „Professor Unrat“ im Film zugunsten der Liebesgeschichte verkürzt, zum anderen wurde die Beziehung Aschenbachs zu Tadzio, neben der Darstellung der Todesboten und der Stadt Venedig als suggestives Setting, von Visconti filmisch besonders eindringlich verwertet.
Die filmische Übertragung der relativ handlungsarmen Novelle von Thomas Mann, die sich weitgehend durch ihren hohen Abstraktionswert auszeichnet und die „Ideen, Konzepte, Anspielungen, Gedankenreichtum und innere. Handlung in so reichem Maße bietet“,65 stellt diametral eine ebenso große Herausforderung an den Regisseur des „Blauen Engels“, der sich hingegen einer Fülle von literarischen Handlungsepisoden sowie einer Vielzahl von Dialogen gegenüber sieht.
Bevor wir uns im folgenden mit der literarischen Darstellung der Liebeskonzeption in den beiden Erzählwerken beschäftigen können, gilt es vorerst, kurz die wichtigsten inhaltlichen Strukturdifferenzen in der Gestaltung des Ortes und der Handlungsdauer zu benennen. Denn Bedeutung und Funktion von Ort und Zeit sind zum einen für die Entwicklung der Liebessituationen wesentlich, zum anderen verweisen sie auf die Wechselwirkungen der Protagonisten zu ihrer Umwelt.
Wenden wir uns zunächst den entsprechenden inhaltlichen Merkmalen des Romans zu. Eine treffende Zusammenfassung des Geschehens gelingt Frithjof Trapp in seinem ausführlichen Werk , „Kunst“ als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann’:
„Professor Unrat“ schildert eine Begebenheit in einer Kleinstadt des wilhelminischen Deutschlands: Ein Gymnasialprofessor - eine abstoßende Erscheinung, aber immerhin durch sein Amt bürgerlich respektiert, wenn auch gesellschaftlich nicht akzeptiert - bricht überraschenderweise aus der bürgerlichen Ordnung aus, verliebt sich in eine Chanteuse aus einer Hafenkneipe, die „Künstlerin Fröhlich“, wird wegen des Skandals, den dieses Verhältnis entfacht, aus dem Amt entfernt, heiratet sie, beginnt ein aufwendiges, extravagantes Leben, das die Stadt in seinen Bann zieht, ruiniert sich finanziell und wird wegen eines Gelddiebstahls an einem ehemaligen Schüler schließlich mit seiner Frau zusammen verhaftet66
Die zeitliche Dauer dieser Handlung beträgt etwa zweieinhalb Jahre, wie sich an der zweimaligen Sommerreise an die See erkennen läßt. Abgesehen von diesen Aufenthalten der Familie im „nah gelegene [n] Seebad“ (P.U. 184) - Unrat hat nämlich auch das Töchterchen Rosas aufgenommen - verläuft die Handlung in der wilhelminischen Kleinstadt.
Wichtige Orte der Handlung sind die Schule, die Straßen der Kleinstadt, der „Blaue Engel“, der Gerichtssaal und die Villa Unrats. Wir werden in der Einzelanalyse des „Professor Unrat“ auf ihre Bedeutung, hinsichtlich des Films natürlich im besonderen auf die Bedeutung des Nachtlokals, zurückkommen. Im Kontext der vergleichenden Analyse ist der Erzählverlauf der ersten drei Kapitel besonders relevant. Elke Emrich erkennt in diesen Kapiteln die „Exposition“, das dann folgende Romangeschehen kann als Durchführung betrachtet werden.“,67 denn:
Noch bevor Unrat den „Blauen Engel“ und die Künstlerin Fröhlich findet, in den Kapiteln 1-3 [...], stehen das Psychogramm und damit zugleich das „Ende“ des „Tyrannen“ (vgl. den Untertitel des Romans) vor dem geistigen Auge des Lesers. Der Autor erreicht dies durch Vorausdeutungen, Autorenkommentare und eine Selbstdarstellung des Gymnasialprofessors, die sich z.T. in scheinbar auk- torialen Aussagen präsentiert.68
Die Darstellung seiner beruflichen Überspanntheit, in Form des sinnlos gestellten Aufsatz- hemas erkennbar, seine gesellschaftliche Isolation, versinnbildlicht durch die Unkenntnis des gängigen Dialekts und seine menschliche Kommunikationsunfähigkeit - “Mit dem Volk war keine Verständigung möglich: er hatte diese Erfahrung gemacht“ (P.U.32) - sowie der Ausbruch einer „Jagdleidenschaft“ (P.U.39) während der Suche nach der Künstlerin Fröhlich, verweisen auf die kommende Handlung und charakterisieren Unrat als eine exzentrische Figur.
Eine ähnliche themenvorangreifende Erzählstruktur finden wir im ersten Kapitel des „Tod in Venedig“. Auch hier erhält der Leser einen umfassenden Einblick in die psychologische Befindlichkeit des Helden und wird durch eine in den nachfolgenden Kapiteln wiederkehrende Leitmotivik in das Geschehen eingewiesen. Hans W. Nicklas stellt fest, daß im ersten Kapi- tel „fast alle Motive versammelt“ sind, die „später in der Novelle wieder auftreten, variiert und gesteigert werden“:
das atmosphärische Unbehagen, die Schaffenskrise Aschenbachs, das Auseinanderfallen von Schein und Sein in der byzantinischen Architektur, der Tod in Gestalt des Wanderers vor dem Friedhof, das Erscheinen der chaotischen Mächte von Krankheit und Zerstörung in dem Wachtraum, die Dialektik von Fruchtbarkeit und Vernichtung in der Urweltlandschaft, die Zweideutigkeit des Schönen im Symbol der Lotosblume und Aschenbachs Fluchtreaktion auf die Bedrohung.69
Aschenbach betritt auf Grund all dieser Aspekte einen neuen Lebensabschnitt. Sie entfachen einen „Fluchtdrang“ in ihm, eine „Sehnsucht ins Feme und Neue, diese Begierde nach Befreiung, Entbürdung und Vergessen,“ (T.i.V. 498). Die genannten Eindrücke, die in Aschenbach eine Veränderung seines gesamten Gemütszustandes bewirken, gewinnt er im Verlauf eines Tages Anfang Mai, während der Nachmittagsstunden, in denen er „einen weiteren Spaziergang unternommen“ (T.i.V. 493) hat. „E[e]twa zwei Wochen nach jenem Spaziergang in München (T.i.V. 508) reist er zu „einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria“, deren klimatische, landschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse ihn jedoch nicht zufriedenstellen. Er wünscht, „das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen“ (T.i.V. 509), und nach kurzem Aufenthalt eröffnet sich ihm sein eigentliches Ziel, von dem er nur durch das Meer getrennt ist: Venedig. Hier verbringt Aschenbach die letzten Wochen seines Lebens. Die erzählte Zeit im „Tod in Venedig“ erstreckt sich insgesamt also über neun Wochen.70
Für Unrat beginnt sich eine Veränderung in seinem Leben von dem Moment an abzuzeichnen, als er das Gedicht Lohmanns an die Künstlerin Fröhlich entdeckt, welches der Lehrer im Schulheft seines Schülers vorfindet. Unrat kennt die Sängerin zwar noch nicht, doch er weiß hiermit um ihre Existenz. Seine leidenschaftliche Suche nach ihr beginnt und stellt sich ebenso fluchtartig dar wie die Reisewünsche Aschenbachs.
Der Schriftsteller weiß zwar nicht, daß ihn an seinem Reiseziel die jugendliche Schönheit Tadzios erwartet, doch „prüfte er“ während der Schiffsüberfahrt nach Venedig „sein ernstes und müdes Herz, ob eine neue Begeisterung und Verwirrung, ein spätes Abenteuer des Gefühls dem fahrenden Müßiggänger vielleicht noch vorbehalten sein könnte.“ (T.i.V. 513) Die Sehnsucht nach einem Abenteuer verspürt auch Unrat in sich, während er die Stadt nach Orten absucht, an denen sich Rosa befinden könnte: „In enge Nebengassen ließ er sich ein wie in Abenteuer, hielt bei einem Wispern aus einem Fenster unter Herzklopfen den Schritt an.“ (P.U. 49) Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich Aschenbach und Unrat schon bevor sie auf Tadzio bzw. Rosa persönlich treffen, in einem Zustand ungewohnter Erregung befinden, der sie auf das jeweilige Erlebnis vorbereitet, der jedoch auch die Intensität und die damit einhergehenden Konsequenzen bedingt. Beide verlassen ihre vertraute Umgebung und somit eine ihrem Lebenskonzept entsprechend gemäßigte Lebensweise.
Der Ortswechsel, also die Suche Unrats nach Rosa, die ihn durch unbekannte Gassen zu einem fremden Ziel fuhrt, und die Reise Aschenbachs, unter symbolträchtigen Vorzeichen unternommen, sind Signal und Ausdruck ihrer unterdrückten, dionysischen Lebenskraft. Dementsprechend beurteilt Trapp die nächtlichen Nachforschungen Unrats: „Unrats Fortgehen von zu Hause trägt bereits deutlich die Züge eines gewaltsamen Ausbruchs aus der bürgerlichen Sphäre.“71 Dieser „Ausbruch“ wird wohlgemerkt durch die faszinierende Ausstrahlung Rosas provoziert, denn obwohl er ihr noch nicht begegnet war, hatte sie ihn
[...] merkwürdig angeregt, aufgekratzt, aus dem Häuschen gebracht. Zwischen ihr und Unrat, der auf nächtlicher Streife hinter ihr herschlich, war eine Art Verbindung hergestellt. (P.U. 48)
Und als antizipiertes Handlungsgeschehen „streckte sich“ während seiner lauernden Suche „ein rosa bekleideter Arm nach Unrat aus.“ (P.U. 49) Die sich hier scheinbar als gegenseitig darstellende Annäherung zwischen Unrat und Rosa, läßt sich indirekt auch für Aschenbach und Tadzio erahnen.
So sieht Heinrich Mann in dem Werk seines Bruders eine untrennbare Wechselbeziehung zwischen dem Seelenzustand Aschenbachs und der Anziehungskraft Venedigs:
Es liegt [...] so, daß Abenteuer einer Seele auf dem Wege sind, und daß irgendwo das Abenteuer einer Außenwelt ausbricht, wie gerufen von jedem Einzelschicksal, und sich ihm verschränkt. Die Stadt Venedig, von der unheimlichen Krankheit befallen, und ein seltener Mensch an der letzten, gefährlichsten Wendung seines Erlebens, sie rufen einander. Solange er sicher ging, ein großer Arbeiter war, strenggeistig und Bildner der Erkenntnis, was konnte die Courtisane unter den Städten ihm mehr sein, als das gleichgültige Vergnügen seiner Ruhepausen.72 (Hervorhebung - B.M.)
Venedig und Aschenbach, „sie rufen einander“, dieses Sinnbild wird schon durch die auf Umwegen stattfindende Anreise verdeutlicht. Zum zweiten Mal findet es seine Entsprechung in dem erfolglosen Abreiseversuch Aschenbachs. Die klimatischen Verhältnisse Venedigs, die auf sein körperliches Wohlbefinden einen schlechten Einfluß ausüben, zwingen ihn zu der Erkenntnis, „daß er reisen müße.“ (T.i.V.534) Doch schon auf der Überfahrt zum Bahnhof, beginnt er seine Entscheidung zu bereuen. Er leidet unter „einer Seelennot, so bitter, daß sie ihm mehrmals Tränen in die Augen trieb“, verursacht durch den ,,Gedanke[n], daß er Venedig nie wiedersehen solle, daß dies ein Abschied für immer sei“ (T.i.V.537). Erst als Aschenbach auf Grund der falschen Kofferaufgabe in das Hotel zurückkehren darf, wird ihm der wahre Anlaß für seine Trauer bewußt, er „erkannte, daß ihm um Tadzio’s willen der Abschied so schwer geworden war“ (T.i.V. 540). Der Zauber der Stadt tritt somit hinter der Ausstrahlung, die Tadzio auf Aschenbach ausübt, zurück. Die Bedeutung Venedigs beschränkt sich in diesem Zusammenhang auf ihre lokale Hintergrundsfunktion. Daß die „Courtisane unter den Städten“ im Verlauf der Handlung darüber hinaus eine wesentliche und höchst doppeldeutige Funktion übernimmt, wird im Verlauf der Arbeit noch von besonderem Interesse sein.
Betrachtet man nun erste Veränderungen, die sich für Aschenbach und Unrat aus der Begegnung mit Tadzio und Rosa in ihrem Verhalten ergeben, läßt sich folgende Gemeinsamkeit feststellen: Beide erfahren durch diese Bekanntschaft einen Einbruch in ihre gewohnte Lebensordnung. Der Schriftsteller, der ,,höchlich der Zucht“ „bedurfte“, „und Zucht war ja zum Glücke sein eingeborenes Erbteil von väterlicher Seite“ (T.i.V.502), beginnt die mäßigenden Fesseln abzustreifen. Besonders eindringlich veranschaulicht sich diese Veränderung in der beschriebenen Körperhaltung, die er einnimmt, nachdem er die Bedeutung Tadzios für seinen Seelenzustand erkennt, denn anschließend hob er den Kopf und beschrieb mit beiden schlaff über die Lehne des Sessels hinabhängenden Armen eine langsam drehende und hebende Bewegung, die Handflächen vorwärtskehrend, so, als deute er ein Öffnen und Ausbreiten der Arme an. Es war eine bereitwillig willkommen heißende, gelassen aufhehmende Gebärde. (T.i.V.541)73
Hier wird eine Bereitschaft signalisiert, die sich von seiner beherrschten und gezügelten Haltung distanziert und die sich, im wahrsten Sinne des Wortes, den Ereignissen, die da kommen werden,öffnet’.
Ein ähnlicher Widerspruch zu seiner bisherigen Lebensweise wird auch im Empfinden Unrats erkennbar, während er sich zum ersten Mal bei der Künstlerin Fröhlich in der Garderobe aufhält. Die Anwesenheit des Artistenpaars Kiepert und vor allem die Präsenz Rosas bewirken in ihm „etwas anderes als die unlustige Anerkennung des Gewalthabers für geleistete Pflichten“, er fühlt sich an diesem Ort „mit eigentümlicher Wärme angefaßt.“ Mehr noch:
Ihnen verdachte er ihre Respektlosigkeit nicht. Er entschuldigte sie; es fehle ihnen sichtlich jeder Maßstab’; und entschuldigte damit auch die Lust, die er selbst spürte, von der Widersetzlichkeit der Welt einmal abzusehen, in seiner gewöhnlichen Gespanntheit nachzulassen - abzurüsten, sei es nur auf ein Viertelstündchen. (P.U. 62)
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Lockerung der ehedem angespannten Lebensführung für die weitere Entwicklung Aschenbachs und Unrats? Betrachtet man den groben Handlungsverlauf, läßt sich feststellen, daß beide Helden ihr bisheriges Leben zugunsten eines sinnlichen, rational nicht mehr oder kaum noch zu kontrollierenden Lebensstils opfern.
Die Liebe zu Tadzio und Rosa manifestiert sich zu einem erheblichen Teil in einer gesteigerten Form der Idealisierung und Verherrlichung. So wird Tadzio hauptsächlich mit Figuren verglichen, die aus dem mythologischen bzw. philosophisch-literarischen Bereich entstammen:
Er hat „das Haupt des Eros, vom gelblichen Schmelz parischen Marmors (T.i.V. 527), er ist „schön wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer,“ (T.i.V. 531), er ist der „liebliche Psychagog“ (T.i.V. 583) sowie der jugendlich schöne Phaidros, Schüler des Sokrates, mit welchem sich Aschenbach identifiziert. Betrachtet man diesen Vergleich mit jenem, den Unrat an sich und Rosa unternimmt - er versucht sein Verhältnis zu der Sängerin seinem Direktor gegenüber damit zu rechtfertigen, daß „der Athenienser Perikies“ „traun für wahr - die Aspasia zur Geliebten“ hatte (P.U. 152) - ergibt sich ein signifikanter Einblick in die gesellschaftshistorische Weltanschaung der beiden Autoren- Brüder. Der Jüngere greift auf die schöngeistig, philosophische ,Götterwelt’74 zurück, wogegen der kritisch Interessierte Figuren einer politisch-historischen Wirklichkeit verwendet.75
Für Unrat stellt Rosa „etwas Neues“ dar, sie ist „ein verwirrender Geist“, „eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt“ (P.U. 59). Sie ist seiner Ansicht nach „würdiger als alle Oberlehrer, höher als der Direktor“ und steht für ihn „hoch über der Menschheit“ (P.U. 122). Als er ihren Mißerfolg auf der Bühne miterleben muß - sie singt ein Lied, das Lohmann für sie gedichtet hat - erregt er sich über alle Maßen und ist besonders darüber verzweifelt, daß es ihm nicht möglich ist, Einfluß auf den Geschmackssinn des Publikums auszuüben:
Aber er konnte sie nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön war. [...] Unrats despotischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze menschlicher Beugungsfähigkeit ... Er ertrug es kaum. Er schnappte nach Luft, sah sich um nach einem Ausweg aus seiner Ohnmacht, wand sich unter der Begierde, so einen Schädel einmal aufzuschlagen und den Schönheitssinn darin mit krummen Fingern zurechtzurücken. (P.U. 101)
Die Radikalität dieser Aussage signalisiert Unrats Bereitschaft, bis an die äußersten Grenzen zu gehen, um die Bürger der Stadt unter seine Herrschaft zu zwingen. Sein Amt als „Professor am hiesigen Gymnasium“ scheint für diese Zwecke nicht mehr zu genügen und er beginnt nun vollends, die rational faßbare Wirklichkeit gegen eine für ihn plausibel scheinende Realität einzutauschen. So versucht er, seine Beziehung zu Rosa damit zu rechtfertigen, daß er als Lehrer nicht nur die Pflicht habe von der Antike zu erzählen, nein, er will sie den Schülern auch vorleben: „Ich würde mein Leben - immer mal wieder - für nichts erachten, wenn ich den Schülern die klassischen Ideale nur vorerzählte wie müßige Märchen“ (P.U. 152-153). Seine Schlußfolgerung und die Legitimierung seines Handelns resümiert er folgendermaßen: „Der humanistisch Gebildete darf des sittlichen Aberglaubens der niederen Stände billig entraten.“ (P.U. 153). Seinen nicht mehr zu umgehenden Ausschluß aus dem Lehrkörper nimmt er dementsprechend gelassen hin, schließlich hat er für ein höheres Ideal, für die Künstlerin Fröhlich „seine Entlassung auf sich genommen samt der allgemeinen Ächtung“ (P.U. 180) und außerdem „kam jetzt eine schöne Zeit“ (P.U. 179).
[...]
1 Thomas Mann, Film und Roman. In: Reden und Aufsätze 2, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band X. Frankfurt am Main 1974. S. 937.
2 Thomas Mann, Der Tod in Venedig (1913). In: Thomas Mann, Sämtliche Erzählungen in zwei Bänden. Darmstadt 1987. Bd.1. Alle Zitate, die dieser Ausgabe entnommen sind, werden innerhalb des Textes hinter der Abkürzung T.i.V. mit der entsprechenden Seitenzahl in Klammem gesetzt.
3 Heinrich Mann, Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen (1905). Studienausgabe in Einzelbänden. Frankfurt am Main 1989. Alle Zitate, die dieser Ausgabe entnommen sind, werden innerhalb des Textes hinter der Abkürzung P.U. mit der entsprechenden Seitenzahl in Klammem gesetzt.
4 Originaltitel: „Morte a Venezia“, Italien 1970. Produktion: Alfa; Verleih: Warner. Regie: Luchino Visconti; Drehbuch: Luchino Visconti, Nicola Badalucco; Kamera: Pasquale de Santis, Ausstattung: Adriano Scarfiotti; Musik: Gustav Mahler (Teile der Dritten und Fünften Synfonie), Mussorgsky (Das Abschiedslied „Ninna Nanna“); Darsteller: Dirk Bogarde, Björn Andresen, Silvana Mangano, Romolo Valli, Mark Burns. 130 Min. Vgl. Lexikon des Internationalen Films. Hamburg 1991. Darin nicht der Hinweis auf Mussorgsky, dieser in: Gabriele Seitz, Film als Rezeptionsfonn von Literatur. Zum Problem der Verfilmung von Thomas Manns Erzählungen „Tonio Kröger“, „Wälsungenblut“ und „Der Tod in Venedig“. München 1979. S. 551.
5 Derblaue Engel, Deutschland 1930. Produktion: Ufa; Verleih: Atlas. Regie: Josef von Sternberg; Drehbuch: Robert Liebmann, nach dem von Carl Zuckmayer und Carl Vollmoeller frei bearbeiteten Roman „Professor Unrat“ von Heinrich Mann; Kamera: Günther Rittau, Hans Schneeberger; Bauten: Otto Hunte, Emil Hasler; Musik: Friedrich Hollaender; Darsteller: Emil Jannings, Marlene Dietrich, Kurt Gerron, Rosa Valetti, Hans Albers. 107 Min. Lexikon des Internationalen Films a.a.O.
6 Franz-Josef Albersmeier, Einleitung: Von der Literatur zum Film. Zur Geschichte der Adaptationsproblematik. In: Ders./Volker Roloff (Hg.), Literaturverfilmungen. Frankfurt am Main 1989. S. 15.
7 Gabriele Seitz, Film als Rezeptionsform von Literatur. Zum Problem der Verfilmung von Thomas Manns Erzählungen „Tonio Kröger“, „Wälsungenblut“ und „Der Tod in Venedig“. München 1979. S. 551.
8 Walter H. Sokel, Demaskierung und Untergang wilhelminischer Repräsentanz. Zum Parallelismus der Inhaltsstruktur von Professor Unrat und „Tod in Venedig“. In: Gerald Gillespie/Edgar Löhner (Hg.), Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin. Tübingen 1976. S. 388. Sokel ist der einzige Autor, der diesem Thema eine gesamte Studie widmet. Vor ihm weist jedoch auch schon Ulrich Weißstein auf die Ähnlichkeiten zwischen Gustav von Aschenbach und Professor Unrat hin. Vgl. Ulrich Weißstein, Heinrich Mann. Eine historisch-kritische Einführung in sein dichterisches Werk. Tübingen 1962. S. 67-68. Geoffrey Wagner bemerkt ebenfalls die Ähnlichkeiten in der Figurenkonzeption Aschenbachs und Unrats: „The upright, disciplined author of a work on Frederick the Great, whose life is symbolised by a fisted hand and whose favourite motto is Durchhalten, has become altogether too Apollonian, it is plain; together with Heinrich Mann’s Professor Unrat, he has grown over-stiff a persona and fails to recognise his irrational instincts.“ Geoffrey Wagner, Death in Venice. In: Ders.: The Novel and the Cinema. New Jersey 1975. S. 340.
9 Alfred Estermann, Die Verfilmung literarischer Werke. Bonn 1965. S. 293-294.
10 Jean Améry, Venezianische Zaubereien, Luchino Visconti und sein „Tod in Venedig“. In: Merkur, Heft 7, 25. Jahrgang. Stuttgart 1971. S. 808-809.
11 Zur ausführlichen Darstellung biographischer und werkgeschichtlicher Parallelen und Differenzen der Brüder vgl. Andre Banuls, Thomas Mann und sein Bruder Heinrich, eine repräsentative’ Gegensätzlichkeit’. Stuttgartt 1961. Über die Wirkung gleicher literarischer und philosophischer Einflüße siehe auch Herbert Lehnert, Die Künstler-Bürger-Brüder. Doppelorientierung in den frühen Werken Heinrich und Thomas Manns. In: Peter Pütz (Hg.), Thomas Mann und die Tradition. Frankfurt am Main 1971. S. 14-51. Einen aufschlußreichen Einblick in die persönliche Beziehung der beiden Brüder offenbart ihr Briefwechsel: Thomas Mann-Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949. Hans Wysling (Hg.). Erweiterte Ausgabe 1984. Frankfurt am Main 1995.
12 Franz-Josef Albersmeier, Traditioneller Literaturbegriff oder Literatur im Zeitalter der Medien. Zur Einbeziehung der Medien (des Films) in literaturwissenschafiliche Theorie und Praxis. In: Herbert Grabes (Hg.), Literatur in Film und Fernsehen: von Shakespeare bis Beckett. Königstein/Taunus 1980, S. 1-56. S. 2.
13 Irmela Schneider, Der verwandelte Text, Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung, Tübingen 1981. S. 37.
14 Rudolf Arnheim, Zum ersten Mal (1931). In: Ders. Kritiken und Aufsätze zum Film. Frankfurt am Main 1979. S. 19.
15 Ebd. S. 20.
16 Jean Améry, Cinéma. In: Merkur, Heft 349, 31.Jahrgang. Stuttgart 1977. Wiederabgedruckt in: Ders., Arbeiten zum Film. Cinéma. Stuttgart 1994. S. 12-13.
17 Améry versucht hier dem populären Film einen künstlerischen Anspruch zu verleihen. Ob ihm durch die Beibehaltung der „Naivität des Schauens“ eine derartig deziedierte Kritik des Films „Tod in Venedig“ gelungen wäre, scheint fraglich. Vgl. die Rezeption des Visconti -Films „Tod in Venedig“ in „Der bewegte Mann“ (Sönke Wortmann 1994) durch drei „naiv Schauende“.
18 Andre Bazin, Für ein „unreines Kino“ - Plädoyer für die Adaption. In: ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln 1975. S. 45-67. S. 55.
19 Franz-Josef Albersmeier, Traditioneller Literaturbegriff a.a.O. S. 12.
20 Irmela Schneider a.a.O. S. 15.
21 Andre Bazin a.a.O. S. 67.
22 Franz-Josef Albersmeier, Traditioneller Literaturbegriff a.a.O. S. 20.
23 Andre Bazin a.a.O. S. 59.
24 Erfolgreiche Versuche die erzählerische Kontinuität und die damit verbundene Einheit von Zeit, Raum und Handlung zu durchbrechen, wie es z.B. in „Intolerance“ (D.W.Griffith, 1914) durch den extremen Gebrauch der Parallelmontage oder auch in „Pulp Fiction“ (Q.Tarantino, 1994) durch eine achronologische Darstellung synchron verlaufender Handlungsepisoden gelungen ist, wurden nach Originaldrehbüchem inszeniert und stellen in ihrer Gattung leider eine Seltenheit dar (Der müde Tod, Fritz Lang, 1921 sowie Short Cuts, Robert Altman, 1993 ließen sich ebenfalls nennen)
25 Franz- Josef Albersmeier, Traditioneller Literaturbegriff a.a.O. S. 17.
26 Irmela Schneider a.a.O. S. 57.
27 Kindlers Neues Literatur Lexikon, Walter Jens (Hg.), Bd. 17. München 1992. S. 59.
28 Ebd. S. 59.
29 Lessing geht allerdings davon aus, daß die Bilhauer sich an Vergil orientiert haben. Vgl. hierzu Schneider ebd. : „Daß sich Lessing dabei, kunstgeschichtlich gesehen, irrt, ist hinreichend oft dargelegt worden;“ S. 62. Dieser Irrtum erscheint uns im weiteren nicht von Relevanz, da er grundsätzlich nichts an dem Gehalt der Äußerungen Lessings verändert.
30 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. (1766). In: Gesammelte Werke. Band 5. Berlin 1955. S. 7-212. S. 25.
31 Ebd. S. 28. Vergleiche hierzu Hellmuth Karasek, Billy Wilder. Hamburg 1992. S. 165: „Lubitsch ist für ihn (Billy Wilder - B.M.) immer noch unerreicht: das scheinbar leichte, das keine Tiefe vortäuschen muß, weil es sie aufhebt und enthält, das Indirekte, das viel deutlicher, lustiger und schöner das zu sagen vermag, mit dem das Direkte sozusagen mit der Tür ins Haus fallt, während bei Lubitsch bezeichnenderweise das meiste und oft Entscheidendes hinter geschlossenen Türen spielt - Lubitsch wußte es und Wilder weiß es, daß der Film dann am meisten zu zeigen in der Lage ist, wenn er es ganz der Phantasie des Zuschauers überläßt.“ Hier wird ein wichtiger Aspekt inhaltlicher und formaler Filmstrukturen angesprochen, der die Aktualität Lessings dokumentiert.
32 G.E.Lessing a.a.O. S. 115.
33 Ebd. S.115.
34 Ebd. S. 115.
35 Ebd. S. 9.
36 Otto Mann, Einleitung und Kommentar. In: G.E.Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann. Stuttgart 1978. S. 24.
37 Käthe Hamburger, Die Logik der Dichtung. 3. Auflage. Stuttgart! 1977. S. 179.
38 Irmela Schneider a.a.O. S: 89.
39 Vgl. hierzu die Ausführungen Peter Hants über die Verbindungen zwischen Film, Drama und Konflikt. Ders., Das Drehbuch. Praktische Filmdramaturgie. Waldeck 1992. S. 63-68.
40 Manfred Pfister, Das Drama. 5. Auflage. München 1988.
41 Michael Schaudig, Literatur im Medienwechsel. Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten und ihre Adaptionen für Kino, Hörfunk und Fernsehen. Prolegomena zu einer Medienkomparatistik. München 1992. S. 25.
42 Walter H. Sokel a.a.O. S. 387-412.
43 Ebd. S. 411.
44 Ebd. S. 388-389.
45 Ebd. S. 389. Karl Riha beschreibt die Entwicklung Unrats, der nach ihm keinen Veränderungsprozeß erfahrt, ohne auf Funktion und Bedeutung der Figur Rosas hierbei hinzuweisen: „So wird zum Ende des Romans hin deutlich, daß es sich bei der Ablösung der Tyrannei durch die Anarchie, wie sie am Helden vorgeführt wird, um keinen Ausbruch, keine Wandlung, sondern lediglich um die Identifikation dessen, was Unrat repräsentiert, mit sich selbst handelt: [...] der Anarchist Unrat überschreitet nicht die Grenze, die von Tyrannen Unrat gesetzt ist, sondern er entdeckt nur eine andere Art der Form der Herrschaft [...].“ Karl Riha, „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“. Zur Struktur des satirischen Romans bei Heinrich Mann. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Text und kritik. Sonderband Heinrich Mann. München 1971. S. 50.
46 Ebd. S. 389.
47 Walter H. Sokel a.a.O. S. 392.
48 Auch Walter H. Sokel sieht hierin „eine frappierende Analogie“ zwischen Aschenbach und Professor Unrat. Vgl.ebd. S. 407.
49 In seinem Essay über „Friedrich und die große Koalition“(1914), ein geplanter Roman, den er im „Tod in Venedig" an Aschenbach abtritt, schreibt Thomas Mann über das berufliche und menschliche Gleichgewicht folgendes: „Der gesunde und richtige Menschensinn findet und fand auch damals, daß das Leben in Beruf und Leistung nicht aufgeht, daß es seine rein menschlichen Anforderungen und Glückspflichten hat, welche zu verabsäumen eine schwerere Sünde bedeutet, als etwa in Gottes Namen eine gewisse Jovialität gegen sich und andere auf dem Gebiet der Arbeit, und eine harmonische Persönlichkeit, findet der gesunde und richtige Menschensinn, darf jedenfalls nur genannt werden, wer jedem Teile, dem Beruf und der Menschlichkeit, dem Leben und der Leistung das Seine zu geben versteht.“ In:Thomas Mann, Essays, Band 1, Frühlingssturm 1893 - 1918. Frankfurt am Main 1993. S. 223. Das harmonische Gleichgewicht, das Thomas Mann hier postuliert, läßt sich nicht auf Friedrich II. übertragen und findet sich auch weder in Aschenbach noch in Unrat wieder. Die kritische Einschätzung jeglicher Lebensextreme wird an dieser Äußerung deutlich und verweist auch indirekt auf die Folgen einer einseitigen Lebensführung.
50 Walter H. Sokel erweitert den Machtanspruch des Staates auf das repressive Verhalten Unrats gegenüber seinen Schülern. Der Makrokosmos des Staates spiegelt sich im Mikrokosmos des Einzelnen wieder; „In Unrat ist der hohenzollersche Machtstaat internalisiert. Er lebt aus dessen Ideologie heraus. Da die Schule den Staat repräsentiert, kommt die Trägheit der Schüler der Verderblichkeit unnützer Bürger gleich, die als „Abschaum der Menschheit“ es nicht verdienen, im Staat geduldet zu werden und ins Kabuff, jenen von Unrat persönlich erfundenen Vorläufer des KZ gehören.“ Vgl.a.a.O. S. 392-393. Den Vergleich zwischen „Kabuff“ und KZ hat Sokel schon bei U.Weißstein entdeckt. Wir stimmen an dieser Stelle mit Elke Emrich überein, daß „dieser Interpretation [...] entweder eine unzulässige Verharmlosung des KZ oder eine ungerechtfertigte Internalisierung des „Kabuff“ zugrunde [liegt]. Elke Emrich, Macht und Geist im Werk Heinrich Manns. Eine Überwindung Nietzsches aus dem Geist Voltaires. Berlin/New York 1981. S. 173.
51 Walter H. Sokel a.a.O. S. 398.
52 Ebd. S. 398.
53 Walter H. Sokel a.a.O. S. 388-389.
54 Elke Emrich a.a.O. S. 167.
55 Vgl. Elke Emrich a.a.O. S. 165-167.
56 Über den doppelbödigen Machtanspruch Unrats vergleiche Klaus Schröter: “Im Professor Unrat wird die Machtausübung auf kompliziertere Art (als//?; Schlaraffenland, 1900, B.M.) und vermittelt gezeigt. Nur durch Identifikationen mit Mächtigeren vermag sich der ,Professor’ zu ihrem Stellvertreter und damit zu dem zu erheben, der die Funktionen sämtlicher gesellschaftlicher Machtmittel eines imperialistischen Staates in sich zu vereinigen glaubt und in diesem Glauben desto fester handeln kann.“ Klaus Schröter, Zu Heinrich Manns „Professor Unrat“. In: Manfred Brauneck (Hg.), Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert, Bd. I, Analysen und Materialien zur Theorie und Soziologie des Romans. Bamberg 1976. S. 108.
57 Aschenbach entstammt väterlicherseits aus einer preußisch-schlesischen Familie, seine „Vorfahren waren Offiziere, Richter, Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Königs, des Staates ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten.“ (T.i.V. 500) Über Unrat erfahren wir lediglich, daß er in Berlin studiert hat und selbst „in sechsundzwanzig Jahren die Mundart nicht verstehen gelernt“ (P.U. 49). Eine Herkunft aus preußischem Gebiet kann als wahrscheinlich angenommen werden.
58 Walter H. Sokel a.a.O. S. 399.
59 Der Vergleich Aschenbachs mit Ludwig XIV. stellt eine Anspielung auf die Entwicklung des streng geordneten sprachlichen Regelsystems, der „doctrine classique“ im Frankreich des 17. Jahrhunderts dar. Hiermit wird angedeutet, daß übertriebener Idealismus zu Erstarrung und zu einer Künstlichkeit führt, die nur noch sich selbst entspricht und die Gegebenheiten einer gesellschaftshistorischen Wirklichkeit nicht mein- wahmehmen kann.
60 Vgl.ebd. S. 394.
61 Ebd. S. 394. Man ist verfuhrt in diesem Zusammenhang anzumerken, daß die „funktionslose Fremdheit“ zwischen wissenschaftlicher Bildung, sei sie nun klassischer oder poststrukturalistischer Art, und dem „zeitgenössischen Leben“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs aufgehoben scheint. Die Notwendigkeit einer verständlichen und vor allem lebensnahen und menschenfreundlichen Sprache ließe sich als Ziel gesellschaftlicher Kommunikation erklären, auch wenn sich dies im Zeitalter der elektronischen Medien als eine besondere Herausforderung darstellt.
62 Ebd. S. 394.
63 Ebd. S. 402. So charakterisiert Sokel das Konfliktpotential schon an einer anderen Stelle dementsprechend: „Denn Aschenbach ist zur Würde gelangt, indem er die im buchstäblichen Sinne „innere Schwäche“ dessen, was er darstellt, in sich selbst rücksichtslos zu bekämpfen und zu unterdrücken hatte. Das ironisch-zynische In-Frage-Stellen, das Unrat außerhalb seiner selbst, in dem widerspenstigen Intellektuellen Lohmann verfolgt, das mußte Aschenbach in sich selbst überwinden, ehe er der werden konnte, den „die Unterrichtsbehörde [...] in die vorgeschriebenen Schul- und Lesebücher übernahm.“ Ebd. S. 398-399.
64 Elke Emrich a.a.O. S. 203. (Hervorhebung B.M.)
65 Ernest W.B.Hess-Lüttich/Susan A.Liddell, Medien-Variationen. Aschenbach und Tadzio in Thomas Manns „Der Tod in Venedig“, Luchino Viscontis,Morte a Venezia“, Benjamin Brittens „Death in Venice“. In: Ernest W.B.Lüttich/Roland Posner (Hgg.), Code-Wechsel, Texte im Medienvergleich. Opladen 1990. S. 30.
66 Frithjof Trapp, „Kunst“ als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann. Beriin/New York 1975. S. 139.
67 Elke Emrich a.a.O. S. 172.
68 Ebd. S. 172.
69 Hans W. Nicklas, Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“, Analyse des Motivzusammenhangs und der Erzählstruktur. Marburg 1968. S. 145.
70 Vergleiche hierzu die sehr ausführliche Analyse des Zcitgerüsts der Novelle von Hans W. Nicklas a.a.O. S. 131 ff.
71 Frithjof Trapp a.a.O. S. 159.
72 Heinrich Mann: Der Tod in Venedig. Novelle von Thomas Mann. März 1913, In: Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seinerzeit. Dokumente 1891 - 1955. Hamburg 1969. S. 65.
73 Das Zitat schließt inhaltlich unmittelbar an die Charakterisierung Aschenbachs durch einen Bekannten an: „Als er (Aschenbach - B.M.) uni sein funfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner Beobachter über ihn in Gesellschaft:,Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt’ - und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur Faust -;,niemals so’ - und er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen.“ (T.i.V. 501) In dem oben genannten Zitat läßt Aschenbach nicht nur die Hand, sondern beide Arme „schlaff“ hinabhängen. Ein Zeichen dafür, daß nach langjähriger Unterdrückung des womöglich mütterlichen Erbteils dessen Kraft um so intensiver durchbrechen wird.
74 Vgl. zu der Verbindung, die Thomas Mann zwischen Mythologie und Psychololgie herstellt: Andre von Gronicka „Myth plus Psychologie. A style analysis Qi Death in Venice. In: The Germanic Review. Vol. XXXI, Number 3. Columbial956. S. 191-205.
75 Perikies (499-429 v.Chr.) galt als fähigster athenesischer Staatsmann, er ersetzte die aristokratische Regierung durch eine Demokratische. Seine zweite Frau war Aspasia, eine berühmte freigeistige und feingebildete Frau, die auch politisch einflußreich wirkte. Der Vergleich Heinrich Manns ist zwar grotesk, läßt jedoch in seiner Mehrdeutigkeit Raum für etwaige Übertragungsversuche.
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- Beate Schreiner (Author), 1995, Grundprobleme der Literaturverfilmung. Dargestellt anhand von "Professor Unrat" / "Der blaue Engel" und "Der Tod in Venedig", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1264746
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