Wien gilt seit Jahrzehnten als sicherer Zufluchtsort für viele Menschen, die aus verschiedensten Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Dadurch ist die Stadt zu einem Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen geworden und zu einem Ort, an dem ständig neue Akkulturationsprozesse stattfinden. Doch was bedeutet Akkulturation überhaupt und wie äußert sich dieses Phänomen?
Thomas Rieger untersucht in seiner Studie, wie geflüchtete Menschen sich in ihrer neuen Umgebung einleben. Da es sich um ein überaus komplexes Thema handelt, fokussiert er sich auf das Verhalten von Asylwerber:innen bei ihrem Umgang mit Lebensmitteln. Dabei beantwortet er Fragen wie: Zeigen sich bei den befragten Flüchtlingen Unterschiede beim Konsum verschiedener Lebensmittelgruppen? Wie äußert sich ihr Genderverständnis beim Kauf von Lebensmitteln und der Zubereitung von Speisen? Und gibt es Änderungen in der sozialen Interaktion beim Lebensmittelkonsum, wenn sich die Asylwerber:innen bereits länger im Zielland aufhalten?
Rieger zieht aus seinen Beobachtungen nützliche Rückschlüsse über das Ausmaß der Akkulturation von Geflüchteten in Wien. Mit seiner spezifischen Perspektive auf alltägliche Fragen klärt er unter anderem, inwieweit Asylwerber:innen bereit sind, sich in ihrem neuen Umfeld zu integrieren und welche Rolle die Aufenthaltsdauer und das Geschlecht dabei spielen. Seine Studie richtet sich insbesondere an Politiker:innen, Journalist:innen, Lehrer:innen, Psycholog:innen, Wirtschaftstreibende und Vertreter:innen einer NGO.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Forschungsfragen
1.3 Methode
1.4 Aufbau der Arbeit
2 Flüchtlinge bzw. AsylwerberInnen
2.1 Begriffsbestimmungen
2.2 Die Genfer Flüchtlingskonvention
2.3 Der UNHCR
2.4 Die Situation in Wien
2.5 Trägerorganisationen
2.5.1 Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock
2.5.2 Verein Projekt Integrationshaus
3 Akkulturation
3.1 Definition
3.2 Akkulturationsformen nach John W. Berry
3.3 Psychologische vs. soziokulturelle Akkulturation nach Amado Padilla, William Perez und David L. Sam
3.4 Akkulturations-Bezugsrahmen nach Judit Arends-Tóth und Fons van de Vijver
3.5 „Akkulturation als Ressource“ nach Floyd W. Rudmin
3.6 Der kognitive Aspekt der Akkulturation nach Valery Chirkov
3.7 Objektive vs. subjektive Dimension der Akkulturation nach Andreas Zick
3.8 Der psychologische Aspekt der Akkulturation und die „Frankfurter Akkulturationsskala“ nach Stephan Bongard
3.9 Weitere Aspekte aus dem wissenschaftlichen Diskurs zur Akkulturation
3.10 Akkulturation und Wirtschaftspsychologie
3.10.1 Kaufentscheidung
3.10.2 Werbung
3.10.3 Konsum- bzw. KonsumentInnenverhalten
3.10.4 Ernährungsgewohnheiten und Essverhalten
4 Darstellung des empirischen Teils
4.1 Beschreibung des Vorhabens
4.2 Beschreibung der Methode
4.3 Der Fragebogen
5 Ergebnisse der Umfrage
5.1 Soziodemografische Daten
5.2 Ergebnisse „Grundsätzliche Fragen“
5.3 Ergebnisse aus dem Fragenkomplex „Konsumverhalten anhand verschiedener Lebensmittelgruppen“
5.4 Ergebnisse „Allgemeine Fragen“
5.5 Ergebnisse „Abschließende Fragen“
6 Zusammenfassung und Interpretation
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
9 Anhang: Der Fragebogen
Abstract
Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen ihren Heimatstaat verlassen (müssen) und in einem anderen Land um Asyl werben, sehen sich im Rahmen der schwerwiegenden persönlichen Probleme psychischer, sprachlicher und materieller Natur in den meisten Fällen auch einem buchstäblich täglich wahrgenommenen Phänomen gegenüberstehen – nämlich dem der sogenannten „Akkulturation“. Diese umfasst, ganz allgemein, sowohl den Veränderungsprozess per se als auch dessen Ergebnisse, die aufgrund eines länger andauernden direkten Kulturkontakts entstehen. In Wien, das seit Langem als sicherer Zufluchtsort für vertriebene Menschen gilt, leben (alleine in der sogenannten „Grundversorgung“, also durch öffentliche Mittel unterstützt) derzeit mehr als 16.000 AsylwerberInnen – Tendenz, nicht zuletzt aufgrund des Krieges in der Ukraine, steigend.
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie sich Akkulturationsprozesse anhand des Verhaltens von in Wien wohnhaften Flüchtlingen bzw. AsylwerberInnen in ihrem Umgang mit Lebensmitteln zeigen. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, wurde als Methode eine quantitative Erhebung gewählt, in deren Rahmen achtzig AsylwerberInnen in den beiden Trägerorganisationen „Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock“ und „Verein Projekt Integrationshaus“ mittels eines strukturierten Fragebogens persönlich interviewt und ihre Meinungen zum Thema „Verhalten im Umgang mit Lebensmitteln“ erhoben wurden.
Die detaillierte Darstellung der ausgewerteten Ermittlungsergebnisse zeigt ein aufschlussreiches Stimmungsbild, das unzweifelhaft erkennen lässt, dass selbst bei alltäglich trivialen Geschehnissen wie dem Umgang mit Lebensmitteln prozessuale, einerseits vom Streben nach Integration und andererseits vom Festhalten an den eigenen Traditionen geprägte Akkulturationsentwicklungen deutlich feststellbar sind.
Stichworte: Akkulturation, AsylwerberInnen, Flüchtlinge, Lebensmittel, Wien.
Vorwort
Oft sind es ja die kleinen Begebenheiten, die groß in Erinnerung bleiben. In diesem Fall ist es auch so: Im Rahmen meiner Tätigkeit als Deutschlehrer im Bildungszentrum des „Flüchtlingsprojekts Ute Bock“ fragte ich eines Tages eine Gruppe von KursteilnehmerInnen nach ihren Lieblingsspeisen und ob sie eher die gewohnten Gerichte aus ihrer Heimat essen oder ab und zu auch etwas typisch Österreichisches. Schnitzel zum Beispiel. Zu meiner Überraschung stellte sich heraus, dass sich die meisten von ihnen, unabhängig von der Art der zubereiteten Speisen, durchaus „bewusst“, wie man sagt, ernähren – mit frischem Gemüse, vielfältig, zuckerreduziert usw. Eine aufrichtig solide Ausnahme hieß Rosa, war Mitte Fünfzig und kam aus Tschetschenien. Als sie an der Reihe war, antwortete sie auf die Frage nach ihrem liebsten Essen mit zwei einfachen Worten: Fettes Fleisch.
Bei den Überlegungen zur vorliegenden Arbeit fiel mir diese Anekdote wieder ein, und sie machte mir einmal mehr deutlich, wie sehr die kulturelle Umgebung unser Verhalten, unsere Meinungen, ja unsere Vorlieben prägt. Fettes Fleisch. Warum nicht? Müsliriegel hätte mich vermutlich noch mehr überrascht. Jedenfalls verdanke ich Rosa und ihrer ehrlichen Antwort die initiale Idee für das Thema meiner Arbeit.
Apropos: Bedanken möchte ich mich zunächst bei jenen zwei Personen, die der gesichtslosen Anonymität des Online-Studiums so wohltuende Menschlichkeit eingehaucht haben – bei Frau Birgit Rüscher, die den Lehrgang so sympathisch wie umsichtig leitet, und bei Herrn Hubert Lobnig, dem Betreuer dieser Arbeit, der mir viele wertvolle Tipps und stets die nötige Unterstützung gegeben hat.
Ein liebevolles Danke möchte ich aber auch meiner großen Familie sagen; sie ist es, die mich stolz macht, mich mit Freude nährt und mir sicheren Halt gibt. Meine Töchter Lisa, Anna und Sassi, meine Stiefkinder Stefano und Chiara, meine Enkeltöchter Lilly, Mila und Mona, und meine Schwiegersöhne Tino, Marko und Philipp – ihr seid alle großartig, jede und jeder Einzelne von euch!
Der größte Dank gebührt jedoch meiner Frau Cristina. Ihre nimmermüde Aufmerksamkeit, ihr kreatives Denken und ihr hilfsbereites Engagement wirken derart ansteckend auf mich, dass ich gar nicht anders kann, als auch ständig was zu tun. Gut so. Ich dank dir sehr dafür, Cristina!
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1.1: Aufbau der Arbeit
Abb. 2.1: Prozentueller Anteil der Wiener Bevölkerung mit ausländischer Herkunft
Abb. 2.2: Asylanträge in Österreich
Abb. 3.1: Akkulturationsmodell von John W. Berry
Abb. 3.2: Die vier Arten der Kaufentscheidung
Abb. 5.1: Aufteilung nach dem Geschlecht
Abb. 5.2: Aufteilung nach der Altersgruppe
Abb. 5.3: Aufteilung nach dem Familienstand
Abb. 5.4: Aufteilung nach der Aufenthaltsdauer in Wien
Abb. 5.5: Abnehmende Zustimmung zur Behauptung, Frauen seien für den Einkauf der Lebensmittel zuständig
Abb. 5.6: Wachsende Zustimmung zur Behauptung, sowohl Frauen als auch Männer seien für das Kochen zuständig
Abb. 5.7: Wachsende Zustimmung zur Behauptung, gemeinsam mit Freunden anderer Kulturen zu essen
Abb. 5.8: Wachsende Zustimmung zur Behauptung, auswärts zu essen
Abb. 5.9: Wachsende Zustimmung zur Behauptung, Essen online zu bestellen
Tabellenverzeichnis
Tab. 5.1: Aufteilung nach Herkunftsländern
Tab. 5.2: Gesamtergebnis zu „Kaufen Sie Ihre Lebensmittel selbst ein?“
Tab. 5.3: Detailergebnis zu „Kaufen Sie Ihre Lebensmittel selbst ein?“
Tab. 5.4: Gesamtergebnis zu „Entscheiden Sie, welche Lebensmittel eingekauft werden?“
Tab. 5.5: Detailergebnis zu „Entscheiden Sie, welche Lebensmittel eingekauft werden?“
Tab. 5.6: Gesamtergebnis zu „Wer ist Ihrer Meinung nach für das ‚Einkaufen‘ zuständig?“
Tab. 5.7: Detailergebnis zu „Wer ist Ihrer Meinung nach für das ‚Einkaufen‘ zuständig?“
Tab. 5.8: Gesamtergebnis zu „Wer ist Ihrer Meinung nach für das ‚Kochen‘ zuständig?“
Tab. 5.9: Detailergebnis zu „Wer ist Ihrer Meinung nach für das ‚Kochen‘ zuständig?“
Tab. 5.10: Ergebnis zu „Wo kaufen Sie Ihre Lebensmittel ein?“
Tab. 5.11: Ergebnis zu „Welche Speisen bereiten Sie daraus zu?“
Tab. 5.12: Ergebnis zu „Traditionelle Speisen aus dem Herkunftsland“
Tab. 5.13: Ergebnis zu „Österreichische Gerichte“
Tab. 5.14: Ergebnis zu „Hat sich in Ihrer Kaufentscheidung und in Ihrem Essverhalten etwas zu früher verändert?“
Tab. 5.15: Ergebnis zu „Was ist der Grund für Ihr Verhalten?“
Tab. 5.16: Ergebnis zu „Kaufen Sie Alkohol ein?“
Tab. 5.17: Ergebnis zu „Essen Sie meistens ... mit Freunden Ihrer eigenen Kultur / einer anderen Kultur“
Tab. 5.18: Ergebnis zu „Beeinflusst das gemeinsame Essen mit Freunden Ihr Kaufverhalten?“
Tab. 5.19: Ergebnis zu „Gehen Sie mitunter auch essen bzw. bestellen Sie online Essen?“
Tab. 5.20: Ergebnis zu „Beeinflusst das auswärtige Essen Ihr Kaufverhalten?“
Tab. 5.21: Gesamtergebnis zu „Was bewegt Sie emotional in Ihrem Kaufverhalten?“
Tab. 5.22: Detailergebnis zu „Was bewegt Sie emotional in Ihrem Kaufverhalten?“, Teil 1
Tab. 5.23: Detailergebnis zu „Was bewegt Sie emotional in Ihrem Kaufverhalten?“, Teil 2
Tab. 5.24: Gesamtergebnis zu „Sind Sie mit der gegenwärtigen Situation zufrieden?“
Tab. 5.25: Detailergebnis zu „Sind Sie mit der gegenwärtigen Situation zufrieden?“
Abkürzungsverzeichnis
BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl
BMI Bundesministerium für Inneres
GFK Genfer Flüchtlingskonvention
OHCR Office of the United Nations High Commissioner for Refugees
UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees
UNICEF United Nations International Children’s Emergency Fund
UNO United Nations Organization
WFP World Food Programme
WHO World Health Organization
1 Einleitung
– Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
– Das ist nicht unrichtig. Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?
– Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.
– Sehr richtig! Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder?
– Nein. Er ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat und dann ist ihm nichts mehr fremd. (Valentin, 1940, S. 158)
Dieser (nur scheinbar umständliche) Dialog zwischen dem bekannten deutschen Komiker Karl Valentin und seiner Partnerin Liesl Karlstadt stammt aus dem Jahre 1940 – und doch hat er bis heute, mehr als achtzig Jahre später, nicht das Geringste an seiner Gültigkeit verloren. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit ebendiesem Thema des „Fremdseins“ und beleuchtet hierin genau jenen Aspekt, den Valentin auf so hintergründig humorvolle Weise darlegt, nämlich den Prozess der sogenannten Akkulturation – im konkreten Fall von geflüchteten Menschen in Wien.
1.1 Problemstellung
Tiefgreifende politische Entwicklungen haben Wien, der Hauptstadt des neutralen Österreich, in den vergangenen Jahrzehnten eine in hohem Maße dynamische Bevölkerungsentwicklung beschert. Sei es in den Sechziger- und Siebzigerjahren die sogenannte „Gastarbeiterbewegung“, in den Achtzigerjahren die Öffnung des Eisernen Vorhangs, in den Neunzigern der Jugoslawienkrieg, in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, in den Zehnerjahren die Flüchtlingswelle aus Afghanistan und Syrien oder der gegenwärtige Zustrom aus der kriegsgebeutelten Ukraine – Wien gilt seit Langem als sicherer Zufluchtsort für viele Menschen, die aufgrund der unterschiedlich wahrgenommenen bedrohlichen Situation ihre Heimat verlassen müssen.
Mit all diesen Ereignissen gehen zwei Tatsachen einher; erstens: Die Bevölkerungsstruktur Wiens veränderte sich deutlich von einer einst stagnierenden überalterten Stadt zu einer stark wachsenden jungen Metropole, und zweitens: Wien kann gewissermaßen als Ort von sich unentwegt entwickelnden, hundert- und tausendfach vorkommenden Akkulturationsprozessen seiner jeweils neuen BewohnerInnen bezeichnet werden.
Diese evidenzbasierten Fakten einerseits und das persönliche Interesse (und die über mehrere Jahre hindurch mit Freude gesammelten Erfahrungen im Umgang mit Flüchtlingen bzw. AsylwerberInnen) andererseits bilden jene Basis, die zur Entscheidung, das gegenständliche Thema für die vorliegende Arbeit zu wählen, geführt haben.
Angesichts der Tatsache, dass das Phänomen „Akkulturation“ und die damit verbundenen individuellen, aber auch kollektiven Prozesse jedoch als überaus komplexes Thema, welches auf vielfältige Weise erforscht wurde, anzusehen ist, versucht die konkrete Abhandlung, Akkulturationsentwicklungen aus einer ganz bestimmten Perspektive zu betrachten und anhand eines buchstäblich elementaren Themas zu verorten – nämlich am Beispiel des Verhaltens im Umgang mit Lebensmitteln.
Ein einleitender „Literaturteil“ (Kapitel 2 und 3) und ein anschließender „empirischer Teil“, der die Ergebnisse einer entsprechenden Befragung einer definierten Zielgruppe zum oben erwähnten Thema aufzeigt und in der Folge diskutiert (Kapitel 4 bis 7), umfassen den Inhalt der vorliegenden Arbeit.
1.2 Forschungsfragen
Das Thema der vorliegenden Arbeit beinhaltet zugleich die zentrale Forschungsfrage – und diese lautet:
- Wie zeigt sich Akkulturation von Flüchtlingen bzw. AsylwerberInnen in Wien am Beispiel ihres Verhaltens im Umgang mit Lebensmitteln?
Folgende Unterfragen sollen in diesem Zusammenhang ebenfalls beantwortet werden:
- Wie äußert sich das Genderverständnis im Zusammenhang mit dem Kauf von Lebensmitteln und der Zubereitung von Speisen?
- Zeigen sich Unterschiede beim Konsum verschiedener Lebensmittelgruppen hinsichtlich des Akkulturationsprozesses?
- Welche Motivationen sind für das Lebensmittel-Konsumverhalten ausschlaggebend?
- Wie stellt sich die soziale Interaktion beim Lebensmittelkonsum im Akkulturationsprozess dar?
- Welche emotionalen Wirkfaktoren sind im Lebensmittel-Konsumverhalten im Rahmen des Akkulturationsprozesses von entscheidender Bedeutung?
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zur empirischen Erkenntnisvielfalt zu leisten und ein auf erhobenen Umfragedaten (siehe Punkt 1.3) basierendes Stimmungsbild zu generieren. Die Veranschaulichung der erzielten Ergebnisse soll entsprechend Raum zur Diskussion und Anlass für weiterführende Studien geben.
Zur korrekten Abgrenzung sei darauf hingewiesen, dass die Arbeit keinesfalls eine Verallgemeinerung des Themas „Akkulturation“ und das Ziehen falscher Schlüsse auf andere Aspekte verfolgt. Ebenso soll aufgrund der vergleichsweise kleinen Stichprobe (siehe ebenfalls Punkt 1.3) kein Anspruch auf statistische Repräsentanz bzw. Signifikanz erhoben werden – dies umso weniger, als sich im Clustering nach soziodemografischen Daten meist nur sehr kleine Zahlenwerte ergeben, welche ausschließlich das Formen eines Stimmungsbilds, aber keinerlei seriöse Hochrechnung erlauben. Darüber hinaus verfolgt die vorliegende Arbeit kein liebäugelnd verstecktes Werben für entsprechende Toleranz gegenüber Flüchtlingen bzw. AsylwerberInnen; vielmehr sollen wertfreie und einstellungsunabhängige Feststellungen getroffen werden.
1.3 Methode
Um die Forschungsfragen beantworten zu können, wurde im Rahmen des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit eine quantitative Erhebung unter AsylwerberInnen in den beiden (in Punkt 2.5 noch näher beschriebenen) Trägerorganisationen „Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock“ in 1100 Wien und „Verein Projekt Integrationshaus“ in 1020 Wien durchgeführt. Im Zeitraum zwischen 28. März 2022 und 14. April 2022 wurden in einer Stichprobe von 80 (achtzig) AsylwerberInnen in persönlich geführten Interviews vor Ort anhand eines strukturierten Fragebogens mit geschlossenen Fragen und einer abschließenden teilweise offenen Frage in einfacher Sprache die einzelnen Meinungen zum Thema „Verhalten im Umgang mit Lebensmitteln“ erhoben. Gelegentlich aufgetretene Sprachbarrieren konnten aufgrund der persönlichen Interviewform auf empathisch individuelle Weise ausnahmslos gut überwunden werden.
Da die Befragungen ausschließlich in anonymer Form stattfanden, wurden keinerlei Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen verletzt, erfasst wurden lediglich die soziodemografischen Daten zu Geschlecht, Alter (geclustert nach dekadischen Altersgruppen), Familienstand, Herkunftsland sowie der bisherigen Aufenthaltsdauer in Österreich.
1.4 Aufbau der Arbeit
In der gegenständlichen Arbeit werden zunächst, im Rahmen des Literaturteils, die beiden Themenfelder „Flüchtlinge bzw. AsylwerberInnen“ und „Akkulturation“ ausführlich behandelt.
In Erstgenanntem wird nach einer einleitenden Begriffsbestimmung in weiterer Folge auf die Genfer Flüchtlingskonvention, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), die entsprechende Situation in Wien und die betreffenden Trägerorganisationen näher eingegangen. Bei Zweitgenanntem liegt der Fokus in der Darstellung verschiedener wissenschaftlicher Zugänge zum Phänomen „Akkulturation“, relevante Modelle und Beiträge zum akademischen Diskurs werden erörtert, ehe abschließend die wichtigsten wirtschaftspsychologischen Aspekte der Akkulturation beleuchtet werden.
Grundlage des empirischen Teils ist die in Punkt 1.3 beschriebene Erhebung. Die detaillierte Abbildung der ausgewerteten Ergebnisse, eine Zusammenfassung und Interpretation sowie letztlich das Fazit bilden die inhaltlichen Elemente dieses Abschnitts der vorliegenden Arbeit.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1.1: Aufbau der Arbeit
(Quelle: eigene Darstellung)
2 Flüchtlinge bzw. AsylwerberInnen
Um das Thema der gegenständlichen Arbeit entsprechend eingrenzen zu können, sollen zunächst die Begriffe „Flüchtlinge“ und „AsylwerberInnen“ definiert werden.
In weiterer Folge wird auf
- die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK),
- das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen „United Nations High Commissioner for Refugees“ (UNHCR),
- die Situation in Wien und
- die sogenannten „Trägerorganisationen“, welche für den empirischen Teil dieser Arbeit ausgewählt wurden,
näher eingegangen werden.
2.1 Begriffsbestimmungen
Basis der rechtlichen Definition des Terminus „Flüchtling“ ist die GFK (siehe Punkt 2.2). Nach ebendieser wird eine Person als Flüchtling anerkannt, wenn sie ihren bisherigen Aufenthaltsort temporär oder dauerhaft verlässt, weil sie „wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ (GFK, o.J.) verfolgt wird.
Im gegenwärtigen Sprachgebrauch findet als Alternative zum mancherorts als negativ konnotiert empfundener Begriff „Flüchtling“ immer häufiger der Ausdruck „Geflüchtete/r“ oder auch die englische Übersetzung „Refugee“ Anwendung. In Wortzusammensetzungen wie etwa „Flüchtlingskrise“ oder „Flüchtlingshilfe“ besteht der Begriff jedoch nach wie vor alternativlos; nicht zuletzt aus diesem Grund wird für die vorliegende Arbeit der Terminus „Flüchtling“ wertfrei verwendet.
Der Begriff „AsylwerberIn“ bezeichnet laut dem für österreichische Angelegenheiten zuständigen Bundesministerium für Inneres (BMI) Menschen, die sich außerhalb ihres Heimatstaates aufhalten „und um Asyl – also um Aufnahme und Schutz vor Verfolgung – ansuchen und deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist“. (BMI, o.J.) Wird das Asylverfahren positiv beschieden, so lautet der Rechtsstatus der betreffenden Personen danach „Asylberechtigte“; als solche sind sie rechtlich anerkannte Flüchtlinge und österreichischen StaatsbürgerInnen „weitgehend gleichgestellt“. (ebd)
Deutlich von den Begriffen „Flüchtling“ und „AsylwerberIn“ abzugrenzen ist die Bezeichnung „MigrantIn“. Auch wenn laut den Vereinten Nationen keine völkerrechtlich und international anerkannte Definition für den Terminus existiert (vgl. Internationale Organisation für Migration, 2022), so sind im Allgemeinen unter „MigrantInnen“ Menschen zu verstehen, welche ihre Heimat aus freien Stücken, sprich eigenem Antrieb, verlassen. (vgl. ebd) MigrantInnen stehen demnach nicht im Fokus dieser Studie und haben in der gegenständlichen Arbeit daher keine Relevanz.
2.2 Die Genfer Flüchtlingskonvention
Die Geschichte der GFK steht mit den dunklen Jahren des Zweiten Weltkrieges in enger Verbindung. Sie weckt Erinnerungen an jene Zeit, als Millionen aus ihrer Heimat vertriebener Menschen durch das vom Krieg zerstörte Europa irrten – auf der Suche nach einem sicheren Ort. Um diesen ungezählten Flüchtenden entsprechend Schutz zu gewähren, wurde von der internationalen Staatengemeinschaft die GFK verabschiedet, welche erstmals definierte, wer als Flüchtling gilt und darüber hinaus auch Rechte und Pflichten der Flüchtlinge festschrieb. Bis heute ist die GFK das zentrale Dokument für den internationalen Flüchtlingsschutz und bildet die anerkannte Basis für Asylgesetze und -bestimmungen auf der ganzen Welt.
Die GFK, deren Originaltitel „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ lautet, wurde am 28. Juli 1951 in Genf, dem europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen, verabschiedet, und trat am 22. April 1954 in Kraft. (vgl. GFK, o.J.)
Die wichtigsten Rechte von Flüchtlingen laut GFK lauten:
- Recht auf Diskriminierungsschutz,
- Recht auf freie Religionsausübung,
- Recht auf Gerichtszugang sowie das
- Recht auf Ausweisungsschutz („Non-Refoulement-Prinzip“). (vgl. ebd)
Die GFK führt jedoch neben den Rechten auch zwei wichtige Pflichten der Flüchtlinge an – und zwar die
- Pflicht zur Befolgung der gesetzlichen Bestimmungen des Asyllandes und die
- Pflicht zum Nachweis der begründeten Angst vor Verfolgung.
(vgl. ebd)
Laut Artikel 35 der GFK ist der UN-Flüchtlingshochkommissar (UNHCR), auf den in der Folge näher eingegangen wird, dafür verantwortlich, die Umsetzung der GFK zu überwachen. (vgl. ebd)
2.3 Der UNHCR
Im internationalen Sprachgebrauch hat sich das Akronym „UNHCR“ gleichsam als eigenständiger Ausdruck etabliert, mit dem im Allgemeinen das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bezeichnet wird. Um jedoch eine exakte Begriffsabgrenzung durchzuführen, sei darauf hingewiesen, dass es sich beim UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), also dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, um ein persönliches Amt der UNO (United Nations Organization), welches seit 2016 von Filippo Grandi aus Italien bekleidet wird, handelt. (vgl. UNHCR, 2022) Dieser leitet das Hochkommissariat, das „OHCR“ (Office of the United Nations High Commissioner for Refugees), das häufig auch kurz „The UN Refugee Agency“ genannt wird.
Am 14. Dezember 1950 gegründet, beschäftigt die Organisation zurzeit etwa 18.000 MitarbeiterInnen in mehr als 130 Ländern. (vgl. ebd) Die Hauptziele der UNHCR sind klar definiert – diese sind
- der Schutz des Wohlergehens und der Rechte aller Menschen, die sich auf der Flucht befinden,
- das Eintreten für das Recht auf Asyl und einen gesicherten Zufluchtsort sowie
- das Streben nach dauerhaften Lösungen (vgl. ebd); diese können sein:
- Die freiwillige Rückkehr (bei friedlich stabilen Verhältnissen im Herkunftsland),
- die Integration und Einbürgerung im sogenannten „Erstaufnahmeland“ oder
- die Umsiedlung („Resettlement“) in einen anderen Staat.
(vgl. ebd)
Das Flüchtlingskommissariat, das auch mit anderen Organisationen der Vereinten Nationen wie beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Welternährungsprogramm (WFP) oder dem Kinderhilfswerk (UNICEF) kooperiert (vgl. Gusella, 2016, S. 18), betreibt, um für die drängenden Anliegen die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzeugen, global wirkende Öffentlichkeitsarbeit in erheblichem Ausmaß. Diese zeigt sich unter anderem an der Gründung des Weltflüchtlingstags („World Refugee Day“), der seit 2001 jährlich am 20. Juni begangen wird (vgl. UNO-Flüchtlingshilfe, 2022), an der Ernennung international bekannter Persönlichkeiten als SonderbotschafterInnen (wie etwa die US-amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie) (vgl. ebd) und nicht zuletzt an einem Logo, dessen einprägsames Aussehen von programmatischer Fülle und grafischer Reduziertheit zeugt.
Im Dezember 2018 veröffentlichte der UNHCR den sogenannten „Global Compact on Refugees“ – eine Intention, die eine gerechtere Aufteilung der Verantwortung in der Lösung von Flüchtlingsproblemen verfolgt. Als Hauptziele darin werden
- die Verminderung schwieriger Umstände in den Aufnahmeländern,
- die Verbesserung der Selbständigkeit von Flüchtlingen,
- die Erweiterung des Zugangs zu Drittstaaten-Lösungen und
- die Unterstützung der Herkunftsländer für eine sichere Rückkehr
- genannt. (vgl. UNHCR, 2022)
2.4 Die Situation in Wien
Wien gilt, wie bereits in Punkt 1.1 erwähnt, seit vielen Jahrzehnten als sicherer Zufluchtsort für Menschen, die aus ihren Herkunftsländern vertrieben werden bzw. flüchten müssen. Dieser Umstand bewirkte in der Vergangenheit eine erhebliche Veränderung der städtischen Bevölkerungsstruktur; drei bestimmende Faktoren verdeutlichen dies:
- Die Einwohnerzahl steigt,
- der Altersdurchschnitt sinkt und
- die Pluralisierung der Gesellschaft wächst.
(vgl. Stadt Wien, 2022)
Wie groß der Anteil der Wiener Bevölkerung mit ausländischer Herkunft – Stichwort Pluralisierung der Gesellschaft – bereits ist, zeigt die untenstehende Abbildung. Auf alle 23 Bezirke verteilt ergibt sich ein stadtweiter Durchschnitt von etwa 42 Prozent, die Bezirke 10 (Favoriten), 15 (Rudolfsheim-Fünfhaus) und 20 (Brigittenau) mit jeweils mehr als 50 Prozent weisen hierbei den größten Anteil auf. (vgl. ebd)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2.1: Prozentueller Anteil der Wiener Bevölkerung mit ausländischer Herkunft
(Quelle: Stadt Wien, 2022)
Jene Personengruppe, die in der gegenständlichen Arbeit thematisiert wird, also Flüchtlinge und AsylwerberInnen, zählt zum erwähnten Bevölkerungssegment mit ausländischer Herkunft, obgleich ihr zahlenmäßiger Anteil vergleichsweise gering ist.
Die aktuelle Situation stellt sich wie folgt dar: Derzeit leben in der Bundeshauptstadt Wien etwas mehr als 16.000 Menschen in der sogenannten „Grundversorgung“ (vgl. Fonds Soziales Wien, 2022), wobei der diesbezügliche Trend aufgrund der gegenwärtigen Situation mit dem starken Zustrom aus der Ukraine steil nach oben zeigt. Unter „Grundversorgung“ wird die Unterstützung von hilfs- und schutzbedürftigen Fremden verstanden – diese beinhaltet neben der Zurverfügungstellung einer Unterkunft und entsprechender medizinischer Versorgung auch Hilfe bei der Deckung von Grundbedürfnissen wie Verpflegung, Kleidung und eventuell Schulbedarf. (vgl. BMI, 2022)
In den vergangenen Jahren zeigte sich ein deutliches Bild, dass die meisten AsylwerberInnen aus muslimischen Herkunftsländern, zuletzt vornehmlich aus Syrien und Afghanistan, einwanderten. (vgl. Statista, 2022) Auch hier darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass aufgrund des aktuellen Krieges in der Ukraine die diesbezüglichen Gesamt- und Vergleichszahlen einer permanenten Veränderung unterliegen.
Wie groß die österreichweite Gesamtanzahl gestellter Asylanträge von 2012 bis Ende Jänner 2022 ist, veranschaulicht die untenstehende Abbildung, wobei die Hochrechnung auf das gesamte Jahr 2022 einen Wert von über 40.000 und somit eine abermalige Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren ergibt. (vgl. ebd)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2.2: Asylanträge in Österreich
(Quelle: Statista, 2022)
Die verantwortliche Zuständigkeit der operativen Abwicklung der (erstinstanzlichen) Asyl- und Fremdenrechtsverfahren ist dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) übertragen. Die Organisationseinheiten dieser dem BMI unmittelbar nachgeordneten Behörde bilden
- die Zentrale in Wien,
- die Bundesland-Regionaldirektionen und deren Außenstellen sowie
- die drei Erstaufnahmestellen am Flughafen Schwechat, in Traiskirchen (Erstaufnahmestelle Ost) und in Thalham (Erstaufnahmestelle West).
(vgl. BFA, o.J.)
2.5 Trägerorganisationen
Bei der Zurverfügungstellung einer geeigneten Unterkunft für AsylwerberInnen im Rahmen der in Punkt 2.4 bereits erwähnten „Grundversorgung“ ist zwischen
- „individuellem Wohnen“ (Gewährung eines Mietzuschusses) und
- „organisiertem Wohnen“ in einer sogenannten „Trägerorganisation“ (wie z.B. Caritas oder Diakonie)
zu unterscheiden. (vgl. Fonds Soziales Wien, 2022)
Für den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wurden zwei dieser in Wien tätigen Trägerorganisationen ausgewählt, auf die in der Folge kurz eingegangen werden soll. Diese sind
- der „Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock“ in 1100 Wien und
- der „Verein Projekt Integrationshaus“ in 1020 Wien.
2.5.1 Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock
Der „Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock“, seit 2002 „die führende private und unabhängige Hilfsorganisation für Geflüchtete in Österreich“ (Verein Flüchtlingsprojekt Ute Bock, 2022), geht auf das jahrelange persönliche Engagement der im Jänner 2018 verstorbenen Vereinsgründerin Ute Bock zurück.
Die Organisation ist an zwei Standorten, nur wenige Gassen voneinander entfernt, im zehnten Wiener Gemeindebezirk tätig: Im „Ute Bock Haus“ (und in einigen externen Wohnungen) werden mehr als 300 Flüchtlingen adäquate Unterkünfte geboten, und im „Ute Bock Bildungszentrum“ finden neben Beratungsgesprächen vor allem kostenlose Deutsch-, aber auch andere Kurse sowie eine fürsorgliche Lernbetreuung für Kinder statt. Eine unkomplizierte Soforthilfe mit Dingen des täglichen Bedarfs rundet das Wirken dieser Hilfsorganisation ab. (vgl. ebd)
2.5.2 Verein Projekt Integrationshaus
Der „Verein Projekt Integrationshaus“ bietet seit 1995 in seiner Zentrale im zweiten Wiener Gemeindebezirk einen „Schutzort für traumatisierte geflüchtete Menschen“. (Verein Projekt Integrationshaus, o.J.) Ganz ähnlich wie der zuvor beschriebene Verein „Ute Bock“ basiert auch diese Organisation auf den vier Säulen Unterkunft, Beratung, Bildung und Betreuung.
Die Leitidee der Einrichtung, die auf eine Initiative des bekannten, im April 2022 tödlich verunglückten Musikers Willi Resetarits zurückgeht und in der mehr als 150 MitarbeiterInnen tätig sind, die gemeinsam über 40 verschiedene Sprachen sprechen (vgl. Verein Projekt Integrationshaus, 2021, S. 6), ist, allen BewohnerInnen einen eigenen Rückzugsort, einen Raum inklusive Kochgelegenheit, zu bieten – getragen von der Überzeugung, dass selbst zu kochen und gemeinsam zu essen einen erheblichen Beitrag leistet, „nach der Flucht wieder Halt im Alltag [...] zu finden“. (Verein Projekt Integrationshaus, o.J.)
3 Akkulturation
Geflüchtete Menschen bzw. AsylwerberInnen erreichen ihr „Ziel-Land“ meist mit schwerem emotionalen Gepäck, sie haben viel erlebt, oftmals erlitten. Das Verlassen naher Angehöriger und der eigenen Heimat, der gewohnten Umgebung und vertrauten Kultur, die Erinnerung an dramatische Lebensumstände wie Vertreibung, Armut und Hunger, Bedrohung oder direkte Gewalt – all diese Erlebnisse tragen diese Menschen in sich und bilden deren persönliche Geschichte, die nicht einfach abgelegt und vergessen werden kann. Im Gegenteil: Sie bringen ihre eigene Geschichte mit in ein für sie fremdes Land. Dass sie damit gleichzeitig einen Beitrag zur kulturellen Diversität eines Landes leisten, erscheint auf den ersten Blick ein wenig wie eine euphemistische Verharmlosung – und dennoch entspricht es auch den Tatsachen.
Unter dem Begriff der „kulturellen Diversität“, der mit Beginn der Neunzigerjahre zunächst hauptsächlich im wissenschaftlichen Diskurs bzw. im Kontext von Organisationen seine Anwendung fand (vgl. Lederle, 2008, S. 14), sind die Unterschiede zwischen Einzelpersonen oder Gruppen bezüglich konkreter Kriterien wie Werte, Normen und grundsätzliche Sichtweisen zu verstehen. (vgl. Podsiadlowski, 2002, S. 16) Maßgebliche Rolle spielen dabei die Parameter Nationalität, Kulturraum und ethnische Zugehörigkeit, aber auch Geschlecht und Alter. (vgl. ebd) Moosmüller und Möller-Kiero geben zu bedenken, dass der komplementäre Terminus zur zumeist positiv assoziierten „kulturellen Diversität“, die sogenannte „Interkulturalität“, vorwiegend negativ konnotiert ist und die problematischen Seiten der kulturellen Heterogenität beinhaltet. (vgl. Moosmüller & Möller-Kiero, 2014, S. 15) Denn während so zukunftsträchtige Aspekte wie Potenziale, Ressourcen und Chancen dem Bereich der kulturellen Diversität zugeordnet werden, verbergen sich hinter der Interkulturalität häufig Gedanken der Irritation und des Reibungsverlusts. (vgl. ebd) Insgesamt bestehe die Gefahr, so der Befund der AutorInnen, das Thema schön zu reden, zu verdrängen oder ganz zu ignorieren, wobei die Probleme nicht den entsprechenden kulturellen Differenzen per se, sondern vielmehr persönlichen oder systemrelevanten Defiziten zuzuschreiben sind. (vgl. ebd) Vor einer Folge dieser Ignoranz warnte bereits der deutsche Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner und sprach von einer „Monopolisierung des Menschseins in einem Kulturkreis“ (Plessner, 1979, S. 319), die zu Provinzialismus oder gar Chauvinismus führe.
Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen oder auch persönlichen Gründen ihren Heimatstaat verlassen (müssen) und in einem anderen Land um Asyl werben, sehen sich im Rahmen der äußerst schwerwiegenden psychischen, sprachlichen und materiellen Probleme in den allermeisten Fällen einem buchstäblich täglich wahrgenommenen Phänomen gegenüberstehen – nämlich dem der sogenannten „Akkulturation“.
3.1 Definition
Akkulturation umfasst, ganz allgemein, sowohl den Veränderungsprozess per se als auch dessen Ergebnisse, die aufgrund eines länger andauernden direkten Kulturkontakts entstehen. (vgl. Berry, 2005, S. 698) Eine 1936 veröffentlichte Studie von Redfield, Linton und Herskovits beinhaltete die erste Definition des Begriffs „Akkulturation“; sie bezeichneten sie als Summe jener Phänomene, die entstehen, wenn Menschen unterschiedlicher Kulturen in stetem direkten Kontakt mit nachfolgenden Veränderungen der Herkunftskultur einer oder beider Gruppen kommen. (vgl. Redfield et al., 1936, S. 149)
In den vergangenen Jahrzehnten befassten sich zahlreiche Studien in unterschiedlichster Weise mit dem Thema; auf einige, die den wissenschaftlichen Diskurs um entscheidende Facetten bereichert haben, soll in der Folge eingegangen werden.
3.2 Akkulturationsformen nach John W. Berry
Mit seinen sogenannten „Akkulturationsstrategien“ schuf der kanadische Psychologe John W. Berry 1970 ein Modell, das bis heute wesentlichen Einfluss auf die Forschung hat. Er unterscheidet darin, je nach Wirkung der beteiligten Kulturen, vier verschiedene Formen der Akkulturation (vgl. Berry, 1970, S. 239ff) – siehe auch Abbildung 3.1:
- Integration: Bewahrung der Ursprungskultur, aber auch Streben nach Partizipation an der dominierenden Kultur,
- Assimilation: Aufgabe der Herkunftskultur und engagierter Kontakt zur Majoritätskultur,
- Separation: Beibehaltung der eigenen Kultur und Ablehnung der Mehrheitskultur,
- Marginalisierung: Weder Interesse an der Bewahrung der Eigenkultur noch am Kontaktaufbau zur Fremdkultur.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3.1: Akkulturationsmodell von John W. Berry
(Quelle: Berry, 2006, S. 262)
Dieses Modell wurde von Berry in den darauffolgenden Jahren weiterentwickelt und um zwei zusätzliche Akkulturationsformen ergänzt – und zwar um die
- Alternation: Verhalten kann nach dem persönlichen sozialen Kontext variieren, und um die
- Fusion: Verschmelzung beider Kulturen und somit Entstehung einer neuen Kultur. (vgl. Berry, 2008, o.S.)
Mit dieser Überarbeitung nimmt Berry Bezug auf die Erkenntnisse des AutorInnen-Kollektivs rund um Teresa LaFromboise (vgl. LaFromboise et al., 1993, S. 395ff) und von Hermans und Kempen, die in ihrer Studie „Moving Cultures“ die Theorie der „fusion models“ entwickelten, wonach aus einer Kombination von Herkunfts- und Aufnahmekultur eine neue, „integrierte Kultur“ entstehen kann, die atypische Elemente beider Kulturen beinhaltet und über eine vollkommen eigenständige Qualität verfügt. (vgl. Hermans & Kempen, 1998, S. 1111ff)
3.3 Psychologische vs. soziokulturelle Akkulturation nach Amado Padilla, William Perez und David L. Sam
Auf der Grundlage der erwähnten Akkulturationsstrategien nach Berry wurde in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von unterschiedlichen Modellen und Perspektiven zum Thema Akkulturation entwickelt; auf die wichtigsten soll nun näher eingegangen werden.
Eine Abgrenzung der psychologischen Dimension der Akkulturation von jener der soziokulturellen geht auf eine Studie der beiden Psychologen Amado Padilla (Stanford University) und William Perez (Loyola Marymount University) zurück. Sie definieren Akkulturation als „[...] the internal processes of change that immigrants experience when they come into direct contact with members of the host culture.“ (Padilla & Perez, 2003, S. 35) Grundlage ihrer Forschungen ist die Untersuchung der internalen kognitiven und affektiven Prozesse von Betroffenen. Padilla und Perez kommen zum Schluss, dass sich der Akkulturationsprozess für jene Menschen, welche sich durch ihre Andersartigkeit aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Hautfarbe oder Sprache stigmatisiert fühlen, entsprechend schwieriger gestaltet als für jene, die diesen psychologischen Belastungen mit höherer Resilienz begegnen. (vgl. ebd, S. 44ff)
David L. Sam, der davon ausgeht, dass Akkulturation als Folge von Kommunikation im weiteren Sinn zu verstehen ist, erweiterte die vorgenannte Studie um die Dimension des soziokulturellen Faktors und vertritt die Meinung, dass der Kontakt zu Angehörigen der Aufnahmekultur langfristig zu dauerhaften Veränderungen bei Menschen der Herkunftskultur und zu einer Anpassung, sowohl auf psychologischer als auch auf soziokultureller Ebene, führt. (vgl. Sam, 2006, S. 14)
3.4 Akkulturations-Bezugsrahmen nach Judit Arends-Tóth und Fons van de Vijver
Um die vielschichtige Komplexität des Akkulturationsprozesses anschaulich zu machen, entwickelten Judit Arends-Tóth und Fons van de Vijver den sogenannten „Akkulturations-Bezugsrahmen“; dieser lässt sich gemäß deren Studie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Im Fokus stehen dabei drei Aspekte, und zwar
- die basalen Bedingungen der Akkulturation,
- die konkrete Orientierung und
- die daraus resultierenden Folgen.
(vgl. Arends-Tóth & van de Vijver, 2006, S. 33ff)
Bei den Akkulturationsbedingungen stehen die spezifischen Eigenschaften sowohl der Aufnahme- als auch der Herkunftskultur im Blickpunkt; darüber hinaus haben individuelle Merkmale wie etwa Alter und Resilienz sowie Intergruppen-Relationen (Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen) entsprechende Relevanz. (vgl. ebd) Die konkrete Orientierung beschreibt laut Arends-Tóth und van de Vijver (in Anlehnung an Berrys Akkulturationsstrategien; siehe Punkt 3.2) die persönliche Einstellung der betroffenen Personen, also die Bereitschaft, die Kultur der Aufnahmegesellschaft anzunehmen oder aber die Überzeugung, die eigene (Herkunfts-)Kultur beizubehalten. (vgl. ebd)
Bei den Akkulturationsfolgen unterscheiden die AutorInnen die Ebene der wahrgenommenen Befindlichkeit („feeling well“) von jener der soziokulturellen Kompetenzen sowohl in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmekultur – wie beispielsweise das Festhalten an der Muttersprache vs. die Aneignung der neuen Sprache („doing well“). (vgl. ebd)
Auf den Erkenntnissen von Arends-Tóth und van de Vijver aufbauend entwickelte Floyd W. Rudmin die internationale Forschung zur Akkulturation um eine maßgebliche Facette weiter – nämlich jene, Akkulturation als Ressource zu betrachten.
3.5 „Akkulturation als Ressource“ nach Floyd W. Rudmin
Dass Akkulturation nicht ausschließlich einen negativen Stressansatz implizieren muss, sondern auch von der Perspektive des Lernansatzes aus betrachtet werden kann, geht auf Studien des Sozialpsychologen Floyd W. Rudmin von der Universität Tromsø (Norwegen) zurück. Er definiert Akkulturation als Prozess, der zum Erwerb einer zweiten Kultur führt. (vgl. Rudmin, 2009, S. 110) Vor dem Hintergrund dieser „second culture acquisition“ (vgl. ebd) betrachtet Rudmin Akkulturation als Ressource und mannigfaltigen Lernprozess, der persönliche Entfaltungen und individuelle Erfahrungen ermöglicht und die Entwicklung von herkunftskulturell geprägten tradierten Rollenbildern und stereotypen Vorstellungen maßgeblich fördert. Laut Rudmin kann dieser Lernprozess in vier Phasen eingeteilt werden:
- In Phase 1, der akkulturativen Motivation, haben Aspekte wie die eigene Identität, Überzeugungen und Sichtweisen sowie die Qualität des situativen Erlebens Relevanz.
- Phase 2 stellt das akkulturative Lernen dar. Dieser Prozessabschnitt ist neben dem Sammeln von unterschiedlichsten Informationen über die Mehrheitskultur auch vom Beginn des Nachahmens von Verhaltensmerkmalen von VertreterInnen ebendieser Mehrheitskultur gekennzeichnet.
- In Phase 3 treten, als unmittelbare Folge von Phase 2, erste Veränderungen bezüglich des individuellen Verhaltens ein. Basale Themen wie Werte, Überzeugungen und Loyalitäten werden „überdacht“ und erfahren neue Gewichtungen.
- Am Ende des Lernprozesses, in Phase 4, können sich erste Erfolge in der anfänglich fremden, allmählich vertrauter gewordenen Kultur zeigen; Veränderungen im sozialen Familiengefüge und im gesellschaftlichen, oftmals auch politischen Denken werden bemerkbar.
(vgl. ebd, S. 117)
Um diese Theorie innerhalb der Akkulturationsforschung zu verorten, sei betont, dass Rudmin im Gegensatz zu anderen Ansätzen demnach nicht von einem negativen Stress („Distress“), sondern von einem positiven Stress („Eustress“) ausgeht. Nicht die Gefahr von negativen Konsequenzen, etwa durch Ausgrenzung, stehen bei Rudmin im Fokus, sondern vielmehr die Möglichkeit für positive Folgen – wie beispielsweise die Chance, die eigenen Lebensumstände durch entsprechendes akkulturatives Verhalten zu verbessern.
3.6 Der kognitive Aspekt der Akkulturation nach Valery Chirkov
Der russische Kulturpsychologe Valery Chirkov erarbeitet in seinen Studien vornehmlich den kognitiven Aspekt der Akkulturation und vertritt die Ansicht, dass der diesbezügliche Prozess zu großen Teilen von Kontinuität geprägt ist und aus einer Abfolge von Fort- und Rückschritten, die sich kaum vorhersagen lässt, besteht. (vgl. Chirkov, 2009a, S. 94ff)
Tritt ein Individuum in eine neue Kulturgemeinschaft, die sich von jener der ursprünglichen Sozialisierung unterscheidet, ein, so beginnt laut Chirkovs Definition der Akkulturationsprozess – und diesen bezeichnet der Autor als bewussten kognitiven Vorgang, der von Reflexion und Vergleich charakterisiert ist. (vgl. ebd) Ziel dabei ist das Verstehen von Bedeutungen, welche in der Aufnahmekultur wahrgenommen werden, um sie mit der eigenen Herkunftskultur und vor allem mit sich selbst in Bezug zu bringen. (vgl. ebd)
Chirkov, der eine überwiegend kritische Position zur internationalen Akkulturationsforschung einnimmt, fordert, dass das Ziel ebendieser nicht nur das Beschreiben und Interpretieren der Erfahrungen der betreffenden Menschen sein sollte, sondern letztlich das „Verstehen“. (vgl. Chirkov, 2009b, S. 179)
3.7 Objektive vs. subjektive Dimension der Akkulturation nach Andreas Zick
Ein weiterer perspektivischer Zugang zum Thema Akkulturation ist die Erforschung der objektiven und der subjektiven Dimension. Nach Auffassung des deutschen Sozialpsychologen Andreas Zick sind jene Indikatoren, anhand derer die Annäherung an die neue Kultur erfolgt, objektiv zu identifizieren, während die Wahrnehmung ebendieser auf ausschließlich subjektiver Ebene erfolgt. (vgl. Zick, 2010, S. 50)
[...]
- Arbeit zitieren
- Thomas Rieger (Autor:in), 2022, Akkulturation von Asylwerber*innen in Wien. Eine Untersuchung ihres Verhaltens im Umgang mit Lebensmitteln, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1264606
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