Diese Arbeit untersucht, wie ein Sportunterricht den besonderen Umständen von Inklusion gerecht werden kann, welche Möglichkeiten, aber auch Probleme und Grenzen auftreten können und wie damit umzugehen ist. Unter Berücksichtigung der Literatur wird überprüft, ob die Praxis – eine integrierte Gesamtschule – den Ansprüchen einer inklusiven Beschulung gerecht wird.
Die Inklusion ist ein Thema, welches in der Bildungspolitik immer noch sehr aktuell ist. Sowohl in Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte als auch im Rahmen der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern nimmt es eine immer stärkere Bedeutung ein. Das Ziel ist es, auf die inklusive Beschulung vorzubereiten, also das gemeinsame Unterrichten aller, wobei auch behinderte Kinder und Jugendliche inbegriffen sind.
2.2.4 Sozial-emotionale Beeinträchtigung
3.2 Geschichtliche Entwicklung
3.3 Gesetzliche Grundlage in Hessen
4.3 Vorgaben für den Sportunterricht
4.4 Ansprüche an den inklusiven Sportunterricht
4.5 Empfehlungen für einzelne Behinderungen
4.5.1 Übergreifende Richtlinien
4.5.2 Geistige Behinderung
4.5.3 Zerebralparese
4.5.4 ADS
4.5.5 Autismus
4.5.6 Herzerkrankungen
4.5.7 Lernbehinderung
4.5.8 Rollstuhl
5 Zum Forschungsdesign
5.1 Beobachten
5.1.1 Formen der Beobachtung
5.1.1.1 Alltägliche Beobachtung vs. wissenschaftliche Beobachtung
5.1.1.2 Teilnehmende Beobachtung vs. nicht-teilnehmende Beobachtung
5.1.1.3 Strukturierte Beobachtung vs. unstrukturierte Beobachtung
5.1.1.4 Natürliche Beobachtung vs. künstliche Beobachtung
5.1.1.5 Fremdbeobachtung vs. Selbstbeobachtung
5.1.2 Problematik des Beobachtens
5.2 Ausgewählte Erhebungs- und Auswertungsverfahren
5.2.1 Ethnografie
5.2.1.1 Überblick
5.2.1.2 Ethnografie in der Sozialwissenschaft
5.2.1.3 Fragestellung und Forschungsdesign
5.2.1.4 Gütekriterien
5.2.1.5 Ethnografische Datenerhebung
5.2.1.5.1 Beobachtungsprotokolle
5.2.1.5.2 Weitere
5.2.1.7 Ethnografische Datenauswertung
5.2.2 Objektive Hermeneutik
5.2.2.1 Überblick
5.2.2.2 Prinzipien
5.2.2.3 Hermeneutischer Dreischritt
5.3 Zur Untersuchung
5.3.1 Forschungsmethodisches Vorgehen
6 Ergebnisse
6.1 Darstellung ausgewählter Beobachtungsprotokolle
6.1.1 Stunde 1: Partielle Trisomie & Lernstörung/Herzfehler
6.1.2 Stunde 2: Zerebralparese & geistige Behinderung/Rollstuhl
6.1.3 Stunde 3: Autismus
6.1.4 Stunde 4: Geistige Behinderung & geistige Behinderung
6.1.5 Stunde 5: Rollstuhl
6.1.6 Stunde 6: Trisomie 21
6.1.7 Stunde 7: Deformation der Hand & Verhaltensauffälligkeit
6.1.8 Bonusstunde: Exklusionssport
6.2 Analyse und Beurteilung ausgewählter Beobachtungsprotokolle
6.2.1 Stunde 1
6.2.2 Stunde 2
6.2.3 Stunde 3
6.2.4 Stunde 4
6.2.5 Stunde 5
6.2.6 Stunde 6
6.2.7 Stunde 7
6.2.8 Bonusstunde
6.3 Synthetische Auswertung
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Sonderpädagogische Kategorien
Abbildung 2: SuS an Förderschulen nach Förderschwerpunkten und Geschlecht, Schuljahr 2014/15
Abbildung 3: SuS mit sonderpädagogischer Förderung in Förderschulen und Regelschulen, 2005 bis 2014
Abbildung 4: Inklusion in Abgrenzung zur Exklusion, Separation und Integration
Abbildung 5: Von der Exklusion zur Inklusion, aus der Perspektive des Bildungswesens
Abbildung 7: Förderquoten nach Bundesländern, Schuljahr 2014/15
Abbildung 8: SuS mit sonderpädagogischer Förderung in Förderschulen und Regelschulen, 2005 bis 2014
Abbildung 10: SuS mit sonderpädagogischer Förderung nach Schulform, Schuljahr 2014/15
Abbildung 11: Schulabschluss von Menschen im Alter von 20 bis 64 Jahren
Abbildung 12: Häufigkeit sportlicher Aktivitäten
Abbildung 13: Besuch von Sportveranstaltungen
Abbildung 14: Schritte im Tages- und Wochenverlauf
Abbildung 15: Auswertung der Antworten zur Frage: "Warum machst du nicht mehr Sport?"
Abbildung 16: Auswertung der Antworten zur Frage: "Warum macht ihr Kind nicht mehr Sport?"
Abbildung 17: Leitideen und Inhaltsfelder des Sportunterrichts
Abbildung 18: Möglichkeiten der Differenzierung
Abbildung 19: Ebenen der Entwicklung inklusiven Sportunterrichts
Abkürzungsverzeichnis
AkteurInnen Akteure und Akteurinnen
BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales
DIFU Deutsches Institut für Urbanistik
E-Kurs Erweiterungskurs
FIBS Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport
FörderschullehrerInnen Förderschullehrer und Förderschullehrerinnen
G-Kurs Grundkurs
HKM Hessisches Kultusministerium
IGS Integrierte Gesamtschule
Kita Kindertagesstätte
KlassenkameradInnen Klassenkameraden und Klassenkameradinnen
KlassenlehrerInnen Klassenlehrer und Klassenlehrerinnen
LehrerInnen Lehrer und Lehrerinnen
MitschülerInnen Mitschüler und Mitschülerinnen
o. A. ohne Angabe
Sek1 Sekundarstufe 1
SOL Selbstorganisiertes Lernen
SonderschülerInnen Sonderschüler und Sonderschülerinnen
SportlehrerInnen Sportlehrer und Sportlehrerinnen
SuS Schüler und Schülerinnen
TeilhabeassistentIn Teilhabeassistent und Teilhabeassistentin
TeilhabeassistentInnen Teilhabeassistenten und Teilhabeassistentinnen
TrainerInnen Trainer und Trainerinnen
UN United Nations
UNO United Nations Organization
VAE Verein Arbeits- und Erziehungshilfe e.V.
WHO World Health Organization
1 Einleitung
Die Inklusion ist ein Thema, welches in der Bildungspolitik immer noch sehr aktuell ist. Sowohl in Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte, als auch im Rahmen der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, nimmt es eine immer stärkere Bedeutung ein. Das Ziel ist es auf die inklusive Beschulung vorzubereiten, also das gemeinsame Unterrichten aller, wobei auch behinderte Kinder und Jugendliche inbegriffen sind. Da Sport ein Teil von Schule ist, soll folglich auch im Sportunterricht Inklusion berücksichtigt werden. Es verdeutlicht sich die Relevanz des Themas für angehende und bereits ausgebildete Sportlehrkräfte, die, früher oder später, mit Inklusion in Berührung kommen werden und darauf vorbereitet sein müssen. Aber ist Inklusion auch immer das richtige Mittel? Kritiker beschreiben die Praxis als „Gemeinsam allein im Sportunterricht“, bei der Inklusion im schulischen Kontext eher einer Koexistenz anstatt einem Miteinander gleicht.[1] Befürworter hingegen betonen, dass Inklusion im Unterricht einen langfristigen Beitrag zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft leisten soll.[2]
Wie ein Sportunterricht den besonderen Umständen einer Inklusion gerecht werden kann, welche Möglichkeiten, aber auch Probleme und Grenzen auftreten können und wie damit umzugehen ist, soll in dieser wissenschaftlichen Arbeit sowohl theoretisch, als auch praktisch untersucht werden. Dabei soll unter Berücksichtigung der Literatur überprüft werden, ob die Praxis den Ansprüchen einer inklusiven Beschulung gerecht wird. Wie gehen die LehrerInnen mit der Heterogenität in der Sporthalle um? Werden Empfehlungen berücksichtigt und bringen sie den gewünschten Erfolg? Außerdem soll die Frage geklärt werden, ob alle behinderten Kinder dieselbe Chance auf Inklusion haben bzw. ob es Behinderungen gibt, unter denen eine Inklusion besser gelingt.
Zur Klärung des Forschungsgegenstandes, werden zunächst grundlegende theoretische Aspekte beleuchtet, bevor die Praxis anhand einer hessischen Integrierten Gesamtschule untersucht wird. Die Forschung wird im Rahmen einer einwöchigen Hospitation durchgeführt, bei der Sportunterricht der Sekundarstufe 1 untersucht wird. Es sollen Beobachtungsprotokolle nach ethnografischen Richtlinien erstellt und anschließend beurteilt werden, wobei auch die Methoden der objektiven Hermeneutik Gebrauch finden.
Die Arbeit umfasst insgesamt sieben Kapitel und gliedert sich inhaltlich in zwei Teile: einen theoretischen- und einen praktischen Teil. Der theoretische Teil der Arbeit beginnt im zweiten Kapitel. Bevor die Inklusion thematisiert wird, müssen Aspekte zum Begriff der Behinderung erläutert werden. Neben einer Definition, werden auch verschiedene Ausprägungen thematisiert, die durch statistische Angaben auf den Schulkontext übertragen werden sollen. Im dritten Kapitel wird dann die Inklusion näher beleuchtet. Ergänzend zur Definition des Begriffs, soll dessen Entstehung und geschichtliche Entwicklung skizziert werden. Gesetzliche Vorgaben des Bundeslandes Hessen bilden ebenfalls einen wichtigen Bereich dieses Kapitels und formen einen Teil der Grundlage für die Inklusion an hessischen Schulen. Zum Abschluss wird auch das Thema der Inklusion, unter Zuhilfenahme statistischer Angaben und der Ergebnisse von Studien, auf den allgemeinen Schulkontext bezogen. Das anschließende Kapitel befasst sich näher mit dem Sport in der Schule. Nach der Darstellung der Rolle des Sports und der Betrachtung statistischer Angaben zum Sporttreiben von (behinderten) Menschen und Kindern, wird eine Überleitung zum Sportunterricht hergestellt. Neben allgemeinen Vorgaben für den Sportunterricht hessischer Schulen, werden Ansprüche an den inklusiven Sportunterricht vorgestellt, die durch Empfehlungen für einzelne Arten von Behinderungen ergänzt werden. Zusammen wird dadurch das Fundament für die Beurteilung und Auswertung der Beobachtungsprotokolle geschaffen. Mit dem fünften Kapitel beginnt der praktische Teil der Arbeit. Als Grundlage der Vorstellung des Forschungsdesigns, werden wichtige Aspekte des Beobachtens und ausgewählte Erhebungs- und Auswertungsverfahren der empirischen Sozialforschung thematisiert. Im vorletzten, dem sechsten, Kapitel, kommt es zur Ergebnisdarstellung. Ausgewählte Beobachtungsprotokolle werden vorgestellt und anhand des theoretischen Teils der Arbeit beurteilt. Abgeschlossen wird das Kapitel durch eine Zusammenfassung, die als Auswertung der Forschung dienen soll. Im Fazit der Arbeit erfolgt eine Darstellung der wichtigsten Erkenntnisse und eine persönliche Schlussfolgerung der Arbeit.
2 Behinderung
Nach einem Definitionsversuch des Begriffs der Behinderung, werden verschiedene Ausprägungen, in Form sonderpädagogischer Kategorien, vorgestellt. Durch statistische Daten wird eine Überleitung zur Schule hergestellt.
2.1 Definition
Dass Behinderung keine allgemeingültig festgelegte Definition hat, wird bereits aus dem World Report on Disability der World Health Organisation deutlich: „Disability is complex, dynamic, multidimensional, and contested“ [3]. Trotzdem haben sich einige Personen und Institutionen an einen Definitionsversuch rangetraut. So versteht bspw. die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) „functioning and disability as a dynamic interaction between health conditions and contextual factors, both personal and environmental.“[4] Eine Ursache für die Definitionsproblematik ist, dass der Begriff der Behinderung in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen (bspw. Naturwissenschaften, Humanwissenschaften und Philosophie) zum Tragen kommt[5]. Dennoch haben alle Definitionen einen gemeinsamen Nenner: eine Behinderung ist eine, aufgrund von Abweichung der typischen menschlichen Entwicklung, hervorgerufene Beeinträchtigung, die soziale Handlungsfähigkeit, also die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, erschwert.[6]
Dabei ist die Wahl des Wortes Behinderung nicht unumstritten. Barber geht auf die Problematik der Stereotype ein, die häufig mit dem Gebrauch in Verbindung gebracht werden. Viele verknüpfen damit, dass betroffene Personen über kaum Fähigkeiten oder Begabungen verfügen, was nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.[7]
2.2 Verschiedene Ausprägungen
Nach dem Definitionsversuch soll nun auf verschiedene Ausprägungen von Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen eingegangen werden. Biewer stellt folgende sonderpädagogische Kategorien, inkl. der dazugehörigen Förderschwerpunkte, vor:
Abbildung 1: Sonderpädagogische Kategorien[8]
Das Abdecken aller Kategorien würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Deswegen werden die Arten sonderpädagogischen Förderbedarfs vorgestellt, die während der Hospitation beobachten werden konnten[9]. Außerdem werden zunächst nur die Definitionen der verschiedenen Erscheinungsformen von Behinderungen angeschnitten; auf die verschiedenen Krankheiten und dazugehörigen Sportempfehlungen[10] wird später eingegangen.
2.2.1 Geistige Behinderung
Die Definitionsprobleme der Behinderung übertragen sich auch auf die Definition der geistigen Behinderung. Trotzdem haben auch diese eine zentrale Sache gemeinsam: sie beschreiben eine Entwicklungsverzögerung mit vermindertem Intelligenzquotienten.[11] Leidner versteht unter einer geistigen Behinderung die Beeinträchtigung des Aufnahme-, Denk- und Lernvermögens, sowie eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten, die sich oft negativ auf die Sprache, die Wahrnehmung und das Verhalten im sozialen Miteinander auswirken.[12] Dies führt häufig dazu, dass Menschen mit geistiger Behinderung eine mangelnde Fähigkeit besitzen Situationen vorherzusehen und aus Erfahrungen zu lernen, wodurch ein selbstständiges Leben stark erschwert wird.[13] Die Ausprägung einer geistigen Behinderung kann auf Grundlage des Intelligenzquotienten ausgemacht werden, wobei zwischen leichter (IQ 50-69), mittelgradiger (IQ 35-49), schwerer (IQ 20-34) und schwerster (IQ <20) Intelligenzminderung unterschieden wird.[14] Als wohl bekanntestes Beispiel lässt sich die Trisomie 21[15] benennen, welche aufgrund einer Genommutation des 21. Chromosoms auftritt. Aber auch traumatische Hirnschädigungen, das Auftreten von Infektionen und Belastungen vor bzw. während der Geburt, können eine geistige Behinderung zu Folge haben.[16]
2.2.2 Entwicklungsstörung
Eine Entwicklungsstörung ist, wie der Name bereits andeutet, eine Differenz vom typischen Entwicklungsverlauf eines Menschen, welche sowohl die psychische als auch die physische Entwicklung betreffen kann. Sowohl eine genetische Prädisposition, als auch Umweltfaktoren, können eine Entwicklungsstörung verursachen, die von der Geburt an oder im Lebensverlauf auftreten kann. Physische Entwicklungsstörungen äußern sich häufig durch eine Fehlbildung von Körperteilen, während als häufigste und bekannteste psychische Entwicklungsstörungen die Autismus-Spektrum-Störungen genannt werden können. Entwicklungsstörungen können zudem auch beide Bereiche befallen, wie es bei einer infantilen Zerebralparese häufig der Fall ist. Eines haben alle gemeinsam: sie können zu zahlreichen Schwierigkeiten im Alltag führen.[17]
2.2.3 Körperliche Behinderung
Körperliche Behinderung beschreibt, laut Leidner, eine „unterschiedlich stark ausgeprägte Schädigung des Stütz- und Bewegungsapparates[18] oder eine dauerhafte Krankheit“[19], welche die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt. Das Spektrum an körperlichen Behinderungen ist sehr breit, wobei meistens die Mobilität des Betroffenen stark eingeschränkt ist und oft nur durch bestimmte Hilfsmittel oder andere Personen gewährleistet wird. Dabei wird nach Form, Dauer und dem Zeitpunkt des Eintreffens unterschieden. Die häufigsten Ausprägungen körperlicher Behinderung sind zerebrale Bewegungsstörungen und Querschnittslähmungen.[20]
2.2.4 Sozial-emotionale Beeinträchtigung
Der Begriff der sozial-emotionalen Beeinträchtigung umfasst eine Vielzahl von Erscheinungsformen, die durch ein negatives soziales und/oder emotionales Verhalten gekennzeichnet sind. Ableitner et al.[21] unterscheiden dabei zwischen aggressiven Persönlichkeitsstörungen, emotionalen Kontaktstörungen, Angststörungen, Kommunikations- und Interaktionsstörungen. Genauso vielfältig wie die Ausprägungen, sind die damit einhergehenden Beeinträchtigungen. Diese reichen von aggressivem/gewalttätigem Verhalten mit niedriger Frustrationstoleranz, über geringe Konzentrations- und Wahrnehmungsfähigkeiten, bis hin zu einem labilen und negativen Selbstbild. Auch die Ursachen einer sozial-emotionalen Beeinträchtigung sind unterschiedlich und können genetisch- bzw. krankheitsbedingt auftreten, aber auch durch die unmittelbare Umwelt verursacht werden. Als wohl bekanntestes Beispiel für diese Art von Beeinträchtigung ist ADS zu nennen. Sie beschreibt ein dauerhaft überaktives Verhalten, welches mit Unaufmerksamkeit, motorischer Unruhe und Impulskontrollstörungen verbunden ist. Dabei ist die Ursache genetisch auf eine Ungleichheit von Neurotransmittern zurückzuführen.[22]
2.2.5 Lernbehinderung
Als Lernbehinderung oder Lernstörung wird eine deutliche altersbezogene Entwicklungsverzögerung im Lesen, Schreiben, Rechnen und allen Bereichen des Denkens bezeichnet. Aus einer sportlichen Perspektive wirkt sich eine Lernbehinderung auch auf die Wahrnehmung, Koordination und soziale Kompetenz der Betroffenen aus.[23] Wichtig dabei ist, dass die Lernstörungen nicht auf Umweltbedingungen, wie ein gestörtes Familienverhältnis, schlechten Unterricht oder längere Krankheit zurückzuführen sind. Ebenfalls darf die Lernstörung nicht aufgrund von Störungen des Gehirns, des Sehens, des Hörens und Kommunizierens bzw. durch eine geminderte Intelligenz (IQ unter 70) auftreten. Man unterscheidet bei einer Lernbehinderung, ob diese in einzelnen Bereichen oder fächerübergreifend vorkommt bzw. ob sie nur vorübergehend auftritt oder dauerhaft gegeben ist. [24]
2.3 Statistische Angaben
Nach der Darstellung und teilweisen Ausführung der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte, soll nun die Häufigkeit des Auftretens und die Präsenz in Förder- und Regelschulen betrachtet werden[25]. Auffällig ist hierbei, dass in beiden Bereichen große Unterschiede zwischen den Förderschwerpunkten existieren.
Bspw. sind Störungen des Sehens und Hörens, welche zusammen weniger als 5% des Gesamtanteils behinderter SuS ausmachen, mit 40% in Regelschulen relativ präsent. Dagegen wird unter den geistig unterentwickelten Kindern, deren Förderschwerpunkt etwa 22% der Gesamtheit umfasst, weniger als eines von zehn in einer Regelschule unterrichtet.
Abbildung 2: SuS an Förderschulen nach Förderschwerpunkten und Geschlecht, Schuljahr 2014/15[26]
Abbildung 3: SuS mit sonderpädagogischer Förderung in Förderschulen und Regelschulen, 2005 bis 2014[27]
3 Zum Begriff der Inklusion
Nach der Definition von Inklusion, wird die geschichtliche Entwicklung des Begriffs näher beleuchtet. Durch Vorgaben des Bundeslandes Hessen, statistischen Angaben und Studienergebnissen, soll Inklusion auf den Schulkontext übertragen werden.
3.1 Definition
„Inklusion bedeutet das selbstverständliche Zusammensein und -lernen ganz verschiedener Menschen und die Wertschätzung von Heterogenität. […] Inklusion bedeutet: ALLE gehören dazu.“[28]
Jetzt könnte die berechtigte Frage aufkommen: Erklärt dieses Zitat nicht die Integration? Um den Begriff der Inklusion besser zu verstehen, bietet es sich an diesen in Abgrenzung zu den Begriffen der Exklusion, Separation, Kooperation und Integration zu betrachten.
3.1.1 Exklusion
Die Anerkennung und Unterstützung behinderter Menschen ist keine lange Tradition. So wurden die Betroffenen vor etwa 200 Jahren als Menschen geringerer Klasse angesehen, welche systematisch aus gesellschaftlichen Einrichtungen, wie die des Bildungswesens, ausgegrenzt wurden und lediglich die Gemeinschaft ihrer eigenen Familie bzw. anderer Behinderter genießen konnten.[29]
3.1.2 Separation
Mit der Zeit verbreitete sich jedoch die Einstellung, dass auch behinderte Menschen grundsätzlich gleichwertig und bildungsfähig sind, weswegen das Bestreben nach einer allgemeinen Schulpflicht bzw. Ausbildungsmöglichkeit für alle entstand. Dies war die Geburtsstunde der, vom allgemeinen Schulwesen abgetrennten, Förderschulen.[30]
3.1.3 Kooperation
Im Rahmen einer gesellschaftskritischen Bewegung der 60er Jahre, rückte u. a. die schulische Separation immer mehr in den Fokus der Kritik. Als Reaktion wurde eine vermehrte Kooperation zwischen Sonderschulen und allgemeinen Schulen versprochen. Dabei beschränkte sich diese jedoch hauptsächlich auf den sozialen Kontakt, wie bspw. gemeinsame Ausflüge und AGs, und weniger auf den gemeinsamen Unterricht, weswegen dieser Ansatz für Separationsminderung von den meisten Regionen Deutschlands relativ schnell vergessen wurde.[31]
3.1.4 Integration
Als Reaktion auf Kritiker der Kooperation, einem vermehrten Fordern nach Gleichberechtigung und einem steigenden Zweifel an der Effizienz von Sonderschulen, wurde das Stadium der Integration ins Leben gerufen. Diese forderte die Eingliederung und Teilhabe behinderter Menschen in alle gesellschaftlichen Bereiche. Hierbei wird häufig kritisiert, dass sich SuS an das bestehende System der Schule anpassen müssen.[32]
3.1.5 Inklusion
Wie bereits angedeutet, werden die Begriffe der Integration und Inklusion oft synonym verwendet, meinen jedoch nicht dasselbe. Während Integration im Bildungskontext bedeutet, dass Kinder mit Förderbedarf zunächst aussortiert werden, um dann wieder in das bestehende System integriert werden zu müssen, erfordert Inklusion die Akzeptanz von Unterschieden, sodass es gar nicht erst zu einer Separation kommt. Hierfür bedarf es jedoch einer Anpassung des Schulsystems, welches auf Aussonderung verzichtet und die dadurch gewonnene Vielfalt als Bereicherung betrachtet.[33]
Eberwein und Maud fassen den Unterschied ganz gut zusammen:
„‚Integration‘ wird mit individuumzentrierten Ansätzen verbunden, mit der defizitorientierten Verteilung von Ressourcen, mit der Ausweitung von Sonderpädagogik in Regelschulen. Der Begriff ‚Inklusion‘ soll dagegen für Institutionen stehen, in denen Menschen mit Behinderungen nicht in ein bestehendes System eingepasst werden, sondern bestehende Systeme so ausgerichtet sind, dass alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gefördert werden.“[34]
Indlekofer verdeutlicht den Sacherhalt durch folgende Abbildung:
Abbildung 4: Inklusion in Abgrenzung zur Exklusion, Separation und Integration[35]
Konkret auf das Bildungswesen bezogen, kann der Übergang von der Exklusion bis hin zur Inklusion folgendermaßen dargestellt werden:
Abbildung 5: Von der Exklusion zur Inklusion, aus der Perspektive des Bildungswesens[36]
Mit der Ablösung des Begriffs der Integration durch Inklusion, versteht man „nicht nur ein Etikettenwechsel, sondern eine Ausweitung und Akzentverlagerung von der Einfügung in zu einer Veränderung des sozialen Ganzen selbst.“[37] Das Besondere am Konzept der Inklusion ist, dass Menschen nicht kategorisiert werden in normal und beeinträchtigt, sondern die Individualität eines jeden anerkannt und als selbstverständlich betrachtet wird, worunter nicht nur behinderte Kinder, sondern auch diese mit Hochbegabung, Armut, ADHS etc. fallen. Unter dieser Betrachtung wird Inklusion in vielen Bereichen der Gesellschaft bereits praktiziert, und soll im Rahmen der Inklusionsbewegung lediglich auf behinderte Kinder und Jugendliche ausgeweitet werden.[38]
3.2 Geschichtliche Entwicklung
Obwohl der Begriff der Inklusion geklärt bzw. dessen Herkunft bereits dargestellt worden ist, soll nun die konkrete geschichtliche Entwicklung noch genauer beleuchtet werden. Erstmals tauchte der Begriff in den 70er Jahren im Rahmen einer Behindertenbewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika auf. Im Jahr 1994 wurde, während der UNESCO-Weltkonferenz, die sogenannte „Salamanca Erklärung“ beschlossen.[39] Die teilnehmenden Delegierten aus 92 Regierungen haben sich auf das „Menschenrecht auf Bildung“ der UNO (1984) gestützt, wobei eine stärkere gesetzliche Verankerung der Gleichstellung behinderter Menschen gefordert wurde.[40] In der Erklärung heißt es, dass in der Unterschiedlichkeit der Menschen die Normalität liege und deswegen alle Kinder eine gemeinsame Bildung, in der auf die individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse eingegangen wird, genießen dürfen. Die Verantwortung für die Erfüllung der Forderung „Bildung für Alle“ tragen die Schulen und leisten dadurch einen großen Beitrag beim Aufbau einer integrierenden Gesellschaft.[41]
Die Salamanca-Erklärung hatte bekannterweise zunächst keine Auswirkungen auf das deutsche Bildungssystem. Laut Begemann[42] sei der Grund dafür, dass knapp zwei Monate vor Beschließung der Erklärung, in Deutschland von der Kultusministerkonferenz „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ verabschiedet wurden, dessen Vorstellungen sich nicht mit denen aus Salamanca überschnitten. Es kam somit zu einer weiteren Verankerung des Sonderschulsystems, welche heute noch spürbar ist:
„Die verschiedenen Sonderschulen wurden nicht nur gefordert und durchgesetzt, […] sie wurden auch durch spezielle Sonderschullehrer-Ausbildungen gestützt, durch Lehre und Theorien gerechtfertigt wie durch die entsprechende Forschung oft bestätigt, seltener in Frage gestellt und sind deshalb nur schwer zu verändern.“[43]
Über ein Jahrzehnt später, im Jahr 2008, wurde erst der nächste wichtige Schritt in Richtung Inklusion getan, als es, im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention, als Menschenrecht erklärt wurde. Durch das Unterzeichnen haben sich die Vertragsstaaten dazu verpflichtet gesellschaftliche Umstände so zu ändern, dass auch behinderte Menschen gleichberechtigt berücksichtigt werden.[44] Für das Bildungswesen bedeutete dies: die UN-Behindertenrechtskonvention „soll sicherstellen, dass alle Kinder bzw. alle Schüler/innen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, individuellen Förderbedürfnissen sowie sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen, Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung haben und dazu in allen Fächern und Bildungsbereichen gemeinsam in der Kita bzw. Regelschule gefördert bzw. unterrichtet werden.“[45] In Deutschland wurden mit Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde – was auf Grundlage des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ zwischen den Ländern Österreich, Schweiz, Lichtenstein und Deutschland“ geschah – die Urteile der Konvention (und des Zusatzprotokolls) am 26. März 2009 rechtskräftig. [46]
3.3 Gesetzliche Grundlage in Hessen
Obwohl die gesetzliche Grundlage durch die Ratifizierungsurkunde bereits festgelegt wurde, ist Bildung in Deutschland Ländersache, weswegen es sich lohnt die hessische Rechtsgrundlage zur Inklusion zu betrachten.
Inklusive Beschulung an allgemeinen Schulen ist fest im hessischen Schulgesetz verankert. Dabei besteht die Möglichkeit die Teilnahme[47] auch durch sonderpädagogische Förderzentren und Förderschullehrkräfte zu unterstützen.[48] Im Rahmen des im Jahr 2012 entworfenen „Hessischen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ werden zehn Grundsatzziele für die Inklusion zusammengefasst[49], dessen Umsetzung im Herbst 2016 vom Hessischen Kultusministerium überprüft worden ist[50]:
Ziel 1: Mehr SuS sollen sonderpädagogische Förderung erhalten; bei gleichzeitigem Rückgang der Förderschulbesuchsquote von 4,31% auf 4%.
ð Die Anzahl der SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist tatsächlich gestiegen, jedoch ist die Förderschulbesuchsquote lediglich um 0,03% auf 4,28% abgesunken.
Ziel 2: Die Förderung behinderter SuS soll im Hessischen Referenzrahmen für Schulqualität berücksichtigt werden.
ð Wurde als zentraler Bestandteil aufgenommen.
Ziel 3: Es werden zwei Schulträgerbereiche als „Modellregionen Inklusive Bildung“ eingerichtet, welche angemessene Angebote für jeden Förderschwerpunkt bieten.
ð Mittlerweile sind neun der elf Schulträger als „Modellregionen Inklusive Bildung“ ausgewiesen.
Ziel 4: Eltern sollen in ihrer Region Ansprechpartner haben, die über die inklusive Beschulung beraten können.
ð Neben Beratungs- und Förderzentren, können sich Eltern auch direkt in den staatlichen Schulämtern beraten lassen.
Ziel 5: Lehrerressourcen für die sonderpädagogische Förderung sollen von der Förderschule auf allgemeine Schulen verlagert und dort optimal genutzt werden.
ð Die Zahl an – für die sonderpädagogische Unterstützung – verfügbarer Lehrerstellen ist von ca. 1500 auf über 2100 angestiegen.
Ziel 6: Auch Angebote der Förderschulen, wie bspw. Kooperationsklassen oder ambulante Therapien, sollen auf Regelschulen übertragen werden.
ð Stationäre Förderschulen werden nach und nach abgebaut. Mit Unterstützung von Beratungs- und Förderzentren werden Ressourcen in Form von Ausstattung an allgemeinen Schulen zur Verfügung gestellt.
Ziel 7: Beeinträchtigte SuS sollen den für sie bestmöglichen Schulabschluss erreichen.
ð Durch hochwertigen inklusiven Unterricht und unter Verwendung zusätzlicher und vorbeugender Fördermaßnahmen, wird jedem die Chance dazu gewährleistet.
Ziel 8: Während der Schullaufbahn sollen auch behinderte Kinder und Jugendliche zur Berufs- und Arbeitswelt hingeführt werden, wobei die Befähigung zur selbstständigen Lebensgestaltung angestrebt wird.
ð Auf allgemeinen Schulen besteht die Möglichkeit einen berufsorientierten Abschluss zu erlagen.
Ziel 9: Im Schulprogramm sollen gezielt Interessen der SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf festgehalten werden.
ð Der Stand inklusiver Schulentwicklung wird regelmäßig anhand einer selbstevaluierten Checkliste überprüft.
Ziel 10: Das Thema der Inklusion soll nicht nur fester Bestandteil in der Ausbildung sein, sondern auch in Fortbildungsmöglichkeiten behandelt werden.
ð Das Lehramtsstudium wurde um das Modul „Diversität in Lehr- und Lernprozessen nutzen“ erweitert. Zusätzlich besitzen Förderschullehrkräfte im Vorbereitungsdienst die Möglichkeit, ihre Ausbildung an einer inklusiven Regelschule zu absolvieren.
3.4 Statistische Angaben
Da nun die gesetzlichen Vorgaben der Inklusion für Deutschland und Hessen bekannt sind, kann die tatsächliche Situation betrachtet und bewertet werden. Hierzu werden die Angaben des, vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichten „Zweiten Teilhabeberichts der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen“ aus dem Jahr 2016, und die der Bertelsmann-Stiftung dargestellte Situation zur „Inklusion in Deutschland – Daten und Fakten“ aus dem Jahr 2015, verwendet.
Trotz einer insgesamt eher sinkenden Gesamtschülerzahl in Deutschland, ist der relative Anteil von SuS mit Anspruch auf sonderpädagogischer Förderung gestiegen. Die genauen Zahlen liefert die nachfolgende Abbildung.
Abbildung 6: SuS mit sonderpädagogischer Förderung (Anzahl in Tausend) und Förderquote (Anteil an allen SuS in %)[51]
Wenn man sich die Förderquoten, also den prozentualen Anteil von SuS mit erhöhtem Förderbedarf, der einzelnen Bundesländer anschaut, sieht man, dass teilweise drastische Unterschiede bestehen. Als Grund kann der Aspekt genannt werden, dass Bildung Ländersache ist, wodurch unterschiedliche Pläne zu unterschiedlich schnellen Ausprägungen der Inklusionsquote führen.[52] Hessen gehört, nach Stand 2015, zum Schlusslicht Deutschlands.[53]
Abbildung 7: Förderquoten nach Bundesländern, Schuljahr 2014/15[54]
Bei Betrachtung der folgenden Abbildung, in der die Anteile von SuS mit sonderpädagogischer Förderung an Förder- und Regelschulen dargestellt werden, ist ein langsamer, aber stetiger Trend in Richtung Inklusion deutlich sichtbar.
Abbildung 8: SuS mit sonderpädagogischer Förderung in Förderschulen und Regelschulen, 2005 bis 2014[55]
Wie in der nachfolgenden Grafik zu sehen, ist Hessen – mit 21,5% der behinderten SuS in Förderschulen und 78,5% in Regelschulen – wieder eher als Negativbeispiel zu benennen, dessen Inklusionsanteile im nationalen Vergleich deutlich hinterherhinken. Führendes Bundesland – mit 68,5% der behinderten Schülerinnen und Schüler in Förderschulen und 31,5% in Regelschulen – ist Bremen.[56]
Abbildung 9: Inklusionsanteile in Deutschland und Bundesländern der Jahre 2000/01, 2008/09 und 2013/14[57]
Die von behinderten Kindern und Jugendlichen am häufigsten besuchten[58] Schulformen sind die der Haupt- und (integrierten) Gesamtschule.[59]
Abbildung 10: SuS mit sonderpädagogischer Förderung nach Schulform, Schuljahr 2014/15[60]
Aufgrund dessen ist es auch nicht verwunderlich, dass weniger als 20% der SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf die (Fach-)Hochschulreife erreichen, während über die Hälfte mit (noch) keinem oder nur dem Hauptschulabschluss von der Schule abgehen. Die genauen Werte zeigt Abbildung 11.
Abbildung 11: Schulabschluss von Menschen im Alter von 20 bis 64 Jahren[61]
3.5 Studienergebnisse
In den Statistischen Angaben[62] konnte gezeigt werden, dass sich Deutschland stetig in Richtung Inklusion weiterentwickelt. Hierbei kann die Frage aufkommen, ob dies überhaupt erstrebenswert ist, oder Inklusion nur um ihrer selbst willen – und auf Kosten der Kinder – erreicht werden soll. Dafür werden im folgenden Unterkapitel die häufigsten Annahmen[63], unter Zuhilfenahme empirischer Studien, bewertet.
3.5.1 Annahme 1
„In Sonderschulen herrschen bessere Lernvoraussetzungen für behinderte SuS.“
Studien bestätigen, dass das gemeinsame Unterrichten mit Gleichaltrigen an einer inklusiven Regelschule, im Gegensatz zum Unterricht im Sonderschulwesen, zu mindestens gleichartiger Leistungsförderung und persönlicher Entwicklung führt.[64] Untersuchungen von SuS mit dem Förderschwerpunkt Lernbehinderung haben sogar gezeigt, dass beeinträchtigte Kinder in Regelschulen bessere Schulleistungen erzielen konnten als SonderschülerInnen.[65] Der Grund dafür, dass behinderte Kinder in Regelschulen mehr lernen ist: Lernimpulse werden nicht nur von den LehrerInnen, sondern genauso von ihren MitschülerInnen gegeben.[66] Trotzdem wird ein geringer Prozentsatz von behinderten Kindern hervorgehoben, welche im Fach Sport nicht am Regelunterricht teilnehmen können. Dies ist von Faktoren wie der Behinderungsart oder dem Behinderungsgrad abhängig.[67]
3.5.2 Annahme 2
„SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden im sozialen Raum der Klasse/Halle von MitschülerInnen nicht akzeptiert.“
Inklusiver Sportunterricht soll laut Studien zu keiner signifikant gesteigerten sozialen Interaktion behinderter und nicht-behinderter Kinder im außerschulischen Bereich führen.[68] Gasteiger-Klicpera & Klicpera[69] verdeutlichen, dass Inklusion nicht gleich soziale Integration bedeutet. Das gemeinsame Unterrichten führt nicht automatisch zu Interaktionen und Freundschaften zwischen beeinträchtigten Kindern und ihren KlassenkameradInnen. So zeigt eine ihrer durchgeführten Studien[70], dass SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen sozial schlechter integriert sind, tendenziell öfter eine Außenseiterrolle einnehmen und sich eher als Opfer von Viktimisierung und Gewalt wiederfinden. Soziale Inklusion bedarf den Einsatz besonderer und durchgängiger Unterrichtskonzepte und Ideen, wie regelmäßiger kooperativer Lernformen, eingeschränkter Wettbewerbsorientierung und der Gleichbehandlung aller, um langfristige soziale Beziehungen zwischen allen SuS ermöglichen.[71]
3.5.3 Annahme 3
„Die Leistungsentwicklung nicht-behinderter SuS leidet in einem inklusiven Setting.“
Bereits empirische Studien aus den 90er Jahren zeigen, dass beeinträchtigte SuS in den Sportunterricht an Regelschulen eingegliedert werden können, ohne negative Auswirkungen auf ihre nichtbehinderten MitschülerInnen zu haben.[72] Bei einem Vergleich zwischen Inklusionsklassen und ihren normalen Parallelklassen, der die Schulerfolge nichtbehinderter SuS betrachtete, konnten nicht nur keine negativen, sondern partiell auch positive Effekte zugunsten der Inklusionsklasse erfasst werden, die sogar besonders begabte MitschülerInnen betrafen.[73]
3.5.4 Annahme 4
„Inklusion wird von den Lehrenden oft abgelehnt, da es weder Teil der Lehrerausbildung ist, noch in Fortbildungsmaßnahmen thematisiert wird.“
Meier und Ruin[74] haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern sich die Einstellung und Haltung von Lehrkräften gegenüber Inklusion auf dessen Gelingen im Schulkontext auswirkt. Sie konnten per Lehrerbefragung feststellen, dass LehrerInnen, die im beruflichen oder privaten Bereich kaum Erfahrungen mit behinderten Menschen gemacht haben, zu pauschalisierten und eingeschränkten Sichtweisen neigen, die sich eher an den offensichtlichen Defiziten der Kinder orientieren, anstatt nach versteckten Talenten zu suchen.[75] Damit einhergehend ist häufig eine eher funktionale Sicht auf Körper und Leistung, die weniger funktionierende Körper ausschließt. Kommt noch ein normiertes und auf Vergleiche ausgerichtetes Leistungsverständnis hinzu, ist ein inklusiver Sportunterricht unmöglich durchführbar. Zwischen den Sichtweisen zum Körper, der Leistung und der Inklusion, kann ein direkter Zusammenhang beobachtet werden. Um dem entgegenzuwirken und Lehrkräfte mit weitem Inklusionsverständnis auszustatten, sind meist gezielte Reflexionsprozesse in der Ausbildung nötig, welche mit der Praxis verknüpft werden müssen.[76]
Eine Befragung von Lehramtsstudierenden im Fach Sport hat ergeben, dass die Relevanz des Themas der Inklusion für den zukünftigen Lehrberuf durchaus verstanden wird. Nach eigenen Einschätzungen sei jedoch das Fachwissen in diesem Bereich signifikant größer, als das Wissen über die konkrete didaktisch-methodische Umsetzung. In derselben Untersuchung wurde die Einstellung der Studierenden zu bestimmten Arten von Behinderungen erfasst. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Förderschwerpunkte „geistige Entwicklung“ und „körperlich-motorische Entwicklung“ von den Studierenden als besser für die Ausbildung eines sozialen Miteinander eingeschätzt werden, als der Förderschwerpunkt „Verhaltensauffälligkeiten“.[77]
3.5.5 Zusammenfassung
Hauptgründe für das Scheitern der Integration sind Schwierigkeiten im Übergangs- und Integrationsprozess, schulorganisatorische Mängel, defizitärer Unterricht und Kooperationsprobleme zwischen Lehrkräften und Eltern.[78]
Zum Übergangs- und Integrationsprozess konnte festgestellt werden, dass die soziale Integration von Kindern mit Förderbedarf i. d. R. mit der Zeit immer mehr verstärkt wird. Diese geht vor allem dann über den schulischen Rahmen hinaus, wenn die Kinder aus derselben Gegend stammen. In der Frage nach der Unterrichtsform und Didaktik wird der Aspekt der Variation hervorgehoben. Sowohl eine Mischung aus gemeinsamen und differenzierten Aufgaben, als auch eine Mischung der angewandten Sozialformen ist vorteilhaft. Was ebenfalls gewährleistet ist und mit Dauer des Schulbesuchs ansteigt, ist das Maß an Akzeptanz von Eltern behinderter und nichtbehinderter Kinder bzgl. gemeinsamer Beschulung, wodurch Kooperationsproblemen entgegengewirkt werden kann. Zusammen führen diese Aspekte zu einem positiven Klassenklima mit der herrschenden Meinung der MitschülerInnen, dass behinderte Kinder auch nur normale Kinder sind, dessen Einschränkungen als Besonderheiten betrachtet werden sollten. [79]
„Zusammenfassend kann die nahe liegende Vermutung, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Grund von Diskriminierung, Leistungsdruck und wahrgenommener Diskrepanz zu leistungsstarken Schülern in integrativen Schulen leiden und deshalb ungern zur Schule gehen, zurückgewiesen werden.“[80]
4 Sport in der Schule
In diesem Kapitel wird zunächst die Rolle des Sports und dessen Präsenz in der Gesellschaft, besonders im Hinblick auf behinderte Kinder und Jugendliche, anhand statistischer Angaben festgemacht. Anschließend werden Vorgaben für den Sportunterricht hessischer Schulen gegeben, die, unter Zuhilfenahme von Literatur, auf die Ansprüche des inklusiven Sportunterrichts erweitert werden. Neben allgemeinen Richtlinien, werden Empfehlungen für bestimmte Arten von Behinderungen gegeben.
4.1 Die Rolle des Sports
Der Sport nimmt eine zentrale Rolle in einer Gesellschaft ein. Er erfüllt vielfältige Funktionen; darunter auch Beiträge zur Gesundheit, Integration und Sozialisation. Empirische Ergebnisse zur Integrationsfunktion von Sport wurden bereits dargestellt.[81] Nun sollen auch noch die Sozialisations- und vor allem die Gesundheitsfunktion betrachtet werden.
Durch Grundtätigkeiten wie dem Laufen, Springen, Klettern, Hängen, Schwingen, Balancieren etc. erschließen sich Kinder mit all ihren Sinnen die Umwelt.[82] Der Grundgedanke, dass Kinder maßgeblich von Bewegung profitieren würden, ist empirisch bestätigt und in unserer Gesellschaft stark verankert. Er ist ein fester Teil vieler Einrichtungen, Institutionen und auch Familien. Neben der Erfüllung, die man durch das Sporttreiben erlangt, steuert er gleichzeitig auch einen wichtigen Beitrag zur Entwicklungsförderung bei. Mangelndes Ausleben der Spiel- und Bewegungsbedürfnisse von Kindern kann neben Defiziten im Bewegungsverhalten auch zu Einschränkungen in der körperlichen-, kognitiven- und emotionalen Entwicklung führen.[83]
Zudem sei Lernen, laut Forschungen, nicht bloß auf den Kopf beschränkt. Die Aneignung von Wissen und Kenntnissen benötige einen gesunden und sowohl physisch als auch psychisch befriedigten Körper als Voraussetzung.[84] Außerdem sollen die in der sportlichen Entwicklung gewonnenen Kompetenzen mit kognitiven und sozialen Kompetenzen in Verbindung stehen. Dies ist hauptsächlich dann der Fall, wenn die Bewegungsaufgabe Denken bzw. Handeln mit anderen Menschen voraussetzt, also kognitive und soziale Prozesse begünstigt.[85]
Der Sozialisationsbeitrag wird hauptsächlich durch die im Sport vermittelten Werte und Kompetenzen geleistet. Bei Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf kommt noch hinzu, dass die mit der Behinderung meist einhergehenden Bewegungsbeeinträchtigungen, gekoppelt mit den daraus resultierenden Folgen, die Selbstbestimmung der Betroffenen erheblich einschränken können, weswegen Bewegungsförderung im Sportunterricht ein wichtiges Prinzip einnimmt, um dem entgegenzuwirken und eine selbständige Lebensgestaltung zu ermöglichen.[86]
4.2 Statistische Angaben
Nachdem die Wichtigkeit des Sports herausgearbeitet wurde, stellt sich die Frage, wie präsent Sport in der Gesellschaft – besonders mit Hinblick auf Menschen mit Behinderungen – ist. Eine Antwort auf die Frage liefert wieder der Teilhabebericht des BMAS. Bei der Frage nach der Häufigkeit sportlicher Aktivitäten[87], zeigt sich eine erschreckende Inaktivität. Und trotz der niedrigen Messlatte, die von Menschen ohne Beeinträchtigungen gesetzt wird, schneiden Menschen mit Behinderungen, unter denen fast die Hälfte nie Sport treibt, nochmal deutlich schlechter ab.
Abbildung 12: Häufigkeit sportlicher Aktivitäten[88]
Auch bei der Betrachtung von Sportveranstaltungsbesuchen wird deutlich, wie gering das Interesse für Sport in der Gesellschaft ist. Wie in der nachfolgenden Abbildung zu sehen ist, besucht etwa die Hälfte der nicht-behinderten Menschen nie Sportveranstaltungen; bei den Beeinträchtigten geht nur etwa jeder Dritte überhaupt mal zu einer Veranstaltung.
Abbildung 13: Besuch von Sportveranstaltungen[89]
Züll, Rütschi und Tillmann bemängeln das Fehlen von Daten zur körperlichen Aktivität beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher in Deutschland. Das Projekt AktiveKIDS des FIBS schließt diese Lücke. Im Rahmen dieser „Ermittlung der körperlich-sportlichen Aktivität und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und deren Bedeutung für die Inklusion dieser Zielgruppe“ wurde zwischen 2013 und 2017 die Aktivität von 434 beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern erhoben.[90] Dazu dienten spezielle Armbänder, die pro Kind eine Woche lang getragen wurden und die Aktivität gemessen haben. Ergänzend zu den Messungen wurden Fragebögen entworfen, die weitere Aspekte, wie die Teilnahme an Freizeitsport und das soziale Teilhabegefühl, in Erfahrung bringen sollten.[91]
Die Ergebnisse, welche in der folgenden Grafik dargestellt sind, zeigen, dass beeinträchtigte Jungen sich mehr bewegen als beeinträchtigte Mädchen, wobei bei beiden die Jüngeren sportlich aktiver sind als die Älteren.
Abbildung 14: Schritte im Tages- und Wochenverlauf[92]
Doch welche Erkenntnisse erlangt man durch die Schrittmessungen? Wie schneiden die Kinder ab? Die WHO empfiehlt für Kinder und Jugendliche[93] eine moderate bis intensive körperliche Aktivität von mindestens einer Stunde täglich.[94] Pfeifer et al. hingegen empfehlen eher eine Bewegungszeit von 90 Minuten[95], wobei 60 Minuten davon durch Alltagsaktivitäten, wie dem Gehen, absolviert werden können. Bei der Umrechnung kommen sie zu einer Empfehlung von täglich mindestens 12.000 Schritten.[96] Verglichen mit diesen Bewegungsempfehlungen, liegen Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren sogar Werktags, wo sie am aktivsten sind und im Schnitt etwa 10.000 Schritte gehen, darunter.
Nach Angaben der Eltern sind ihre Kinder weniger in Sportvereinen aktiv, obwohl diese, den Fragebögen nach zu urteilen, viele[97] gerne mehr Sport machen würden. Bei der Frage „Warum machst du nicht mehr Sport?“ kommt folgendes Ergebnis zustande:
Abbildung 15: Auswertung der Antworten zur Frage: "Warum machst du nicht mehr Sport?"[98]
Es wird deutlich, dass, neben Zeitgründen, die Unwissenheit über vorhandene und passende Sportangebote bzw. deren Erreichbarkeit als Hindernis für privates Sporttreiben genannt wird. Aber auch Aspekte wie mangelndes Vertrauen der Eltern oder finanzielle Schwierigkeiten betreffen einige Kinder.
Auf die nahezu selbe Frage – warum das Kind nicht in einem Sportverein ist – antworten die Eltern folgendermaßen:
Abbildung 16: Auswertung der Antworten zur Frage: "Warum macht ihr Kind nicht mehr Sport?"[99]
Die Antworten widersprechen sich teilweise mit denen der eigenen Kinder. So meinen viele Eltern den eigenen Kindern würde der Schulsport reichen und sie hätten kein Interesse an zusätzlichen Angeboten. Die mangelnde Kenntnis über Sportvereine in der Nähe kann man Kindern noch verzeihen; dies sollte jedoch bei den Eltern nicht als triftiger Grund für mangelnde Bewegung ihrer Kinder akzeptiert werden.
Im Vergleich sind behinderte Kinder und Jugendliche[100] in Sportvereinen weniger aktiv als gleichaltrige Kinder ohne Beeinträchtigungen[101]. Die Daten bestätigen zudem, dass sich eine erhöhte körperliche Aktivität, gekoppelt mit der Teilhabe an Sport in Vereinen, positiv auf das Ausführen sozialer und körperlicher Freizeitaktivitäten auswirkt.[102]
4.3 Vorgaben für den Sportunterricht
Wie in den statistischen Angaben zum Sporttreiben[103] zu sehen ist, stellt der Sportunterricht für viele Kinder und Jugendliche die einzige wöchentliche sportliche Betätigung dar. Deswegen liegt es an diesem, für jedes Kind das Beste aus den 90 Minuten herauszuholen und über diesen Weg zu außerschulischem Sport zu motivieren.
Das aktuelle neue Kerncurriculum für Hessen bildet den Rahmen der Unterrichtsgestaltung. Es ist kompetenzorientiert, wobei Kompetenzen als Verknüpfung von Wissen und Können verstanden werden. Zu allen Jahrgangsstufen werden konkrete und zeitlich bestimmte Kompetenzerwartungen formuliert, die es zu erreichen gilt.[104]
Da sowohl fachliche-[105] als auch überfachliche[106] Kompetenzen gebildet werden sollen, lässt sich der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Faches als doppelter Erziehungsauftrag zusammenfassen, wobei eine Erziehung zum Sport[107], als auch eine Erziehung durch Sport[108] angestrebt wird.[109]
Inhaltlich lässt sich der Sportunterricht in sechs Leitideen[110] und acht Inhaltsfelder[111] unterteilen. Dabei ermöglichen es diese, einen mehrperspektivischen Unterricht zu konzipieren. Die Idee dahinter ist es der Heterogenität damit gerecht zu werden, indem verschiedene Zugänge zum Sporttreiben angeboten werden, damit alle SuS eine für sie ansprechende Sinndimension entdecken können.[112]
Abbildung 17: Leitideen und Inhaltsfelder des Sportunterrichts[113]
Schoo hält 4 grundlegende Zielsetzungen des Sportunterrichts fest[114]:
· Schaffung und Erhaltung von Freude beim Sporttreiben.
· Förderung von motorischen Fähigkeiten und Mobilität.
· Übertragung auf das Privatleben in Form sinnvoller Freizeitgestaltung und gesundheitsorientierter Lebensführung.
· Beihilfe zur gesellschaftlichen Teilhabe.
Die drei ersten Ziele werden vom hessischen Kerncurriculum abgedeckt. Das Ziel der Beihilfe zur gesellschaftlichen Teilhabe wird, bezogen auf alle SuS, durch die Förderung überfachlicher Kompetenzen unterstützt. Behinderte SuS oder sonderpädagogische Fördermaßnahmen werden im hessischen Kerncurriculum Sport, welches die Grundlage von Schule und Unterricht darstellt, jedoch mit keinem Wort erwähnt. Zum Vergleich heißt es im Bildungsplan einer vergleichbaren Schulform aus Bremen[115], in der ebenfalls Standards zu erwartenden Lernergebnissen formuliert sind, folgendermaßen:
„Für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind bei zieldifferenter inklusiver Unterrichtung die entsprechenden curricularen Vorgaben heranzuziehen. […] Im Bereich unterstützender inklusiver Praxis wird Sportunterricht als bewegungspädagogische Aufgabe verstanden, die vor allem die soziale und emotionale Ebene des gemeinsamen Lernens in den Blick nimmt. […] Die heterogene Zusammensetzung von Lerngruppen stellt, insbesondere angesichts der Herausforderung der Inklusion, hinsichtlich der sportspezifischen Voraussetzungen, sozialen Kompetenzen, der Geschlechter und Ethnien besondere Anforderungen an den Unterricht.“[116]
Nichtsdestotrotz wird auch in Hessens Schulen das beherzigt, worauf es bei der Inklusion behinderter SuS hauptsächlich ankommt: Differenzierung. Die Schülerinnen und Schüler einer jeden Klasse sind verschieden. Sie haben unterschiedliche Interessen, Stärken und Schwächen, Lernstile und -geschwindigkeiten, Bedürfnisse u. v. m., was das Unterrichten nach einer standardisierten und von der Gleichheit der SuS ausgehenden Art und Weise ausschließt.[117] Bei der Planung des Bewegungsangebots muss die Lehrkraft stets von den Möglichkeiten der SuS ausgehen, indem sich am Entwicklungsstand und den vorhandenen motorischen Fähigkeiten orientiert wird.[118]
„Im Sportunterricht treffen sportbegeisterte und eher antriebslose, Expertinnen und Experten in bestimmten Sportarten, vielseitig interessierte, wettkampforientierte, Geselligkeit bevorzugende, extrovertierte und eher introvertierte, zurückhaltende, leicht reizbare, aggressive, körperlich oder emotional schwache Schülerinnen und Schüler aufeinander.“[119]
All diese Aspekte verdeutlichen die Notwendigkeit von Differenzierung, die von Becker wie folgt dargestellt wird:
Abbildung 18: Möglichkeiten der Differenzierung[120]
Unter der äußeren Differenzierung versteht Lutz[121] die Aufteilung des Sportunterrichts nach dem Interesse (in Form von Wahlpflichtkursen) oder nach dem Geschlecht (durch Phasen geschlechtergetrennter Unterrichtseinheiten). Die innere Differenzierung, oder auch Binnendifferenzierung, beschreibt er als das Unterrichten im regulären Klassenkontext, wobei dieselben Ziele verfolgt, jedoch unterschiedliche Zugänge und somit verschiedene Lernwege für dessen Erreichung ermöglicht werden. Differenzierende Maßnahmen bedeuten meist einen Mehraufwand für die Lehrkraft. Ein mögliches Problem sind die erschwerten Anforderungen der Aufsichtspflicht. Eine große Klasse, in der unterschiedliche Ziele anhand unterschiedlicher Aufgaben und unter Verwendung unterschiedlicher Geräte und Materialien verfolgt werden, ist schwerer zu betreuen als eine Klasse, in der alle nahezu dasselbe machen.[122] Dabei ist zu bedenken, dass differenzierende Maßnahmen, neben dem Mehraufwand, zu einem Aufsichtsproblem führen können.
Abschließend geht Rouse[123] auf Basiskomponenten ein, die es bei einer Differenzierung des Sportunterrichts zu beachten gilt:
· Gruppenbildung: Variation bei der Bildung von Gruppen ist sehr wichtig. Bei der Förderung von motorischen Fähigkeiten ist die Wahl homogener Gruppen oft besser, während beim Fokus auf kooperative und soziale Prozesse eine heterogene Gruppenzusammensetzung vorzuziehen ist. Zudem sollten auch vielfältige Sozialformen, wie die der Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit, zum Einsatz kommen.
· Aufgaben und Ergebnis: Der Unterricht soll den Lernern ermöglichen an Aufgaben zu unterschiedlichen Aspekten und Schwierigkeitsniveaus zu arbeiten, wodurch alle entsprechend ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse gefördert werden können. Das Ergebnis sollte so oft wie möglich offen gestalten werden, um der Individualität und Kreativität aller SuS gerecht werden zu können.
· Material: Die Materialverwendung soll im Vorhinein gründlich bedacht werden. Der Einsatz vielfältiger Materialien bzw. Geräte hilft bei der differenzierten Aufgabenerstellung und kann dazu beitragen, dass alle entsprechend ihrer Leistungen und Erfahrungen am Sportunterricht teilhaben können.
· Beurteilung: Rouse empfiehlt, dass alle „nach ihrem Leistungsstand bei einer Fertigkeit, nach ihrem Wissensstand, ihrer Fähigkeit zum Problemlösen und nach ihren Regelkenntnissen beurteilt werden“[124], was anhand verschiedener Leistungsniveaus angepasst und in spielähnlichen Situationen überprüft werden sollte. Die Beurteilung sollte stets transparent geschehen, wobei, vor allem bei leistungsschwächeren SuS, auf die positive individuelle Entwicklung hingewiesen werden sollte.
· Unterrichtssteuerung: Trotz gesteigerter Selbstständigkeit der Lerner in einem differenzierten Setting, ist die Rolle der Lehrkraft wichtig. Neben der Bereitstellung der Aufgaben muss sie beobachten, unterstützen, anweisen, schlichten, überwachen, vorzeigen etc.
4.4 Ansprüche an den inklusiven Sportunterricht
Neben allgemeinen Besonderheiten und Richtlinien, werden in diesem Unterkapitel auch konkrete Anpassungsmöglichkeiten eines inklusiven Sportunterrichts dargestellt.
4.4.1 Besonderheiten
Nachdem die aktuelle Bildungslage Hessens und dessen Vorgabe für den Sportunterricht betrachtet wurde, sollen nun die Besonderheiten eines inklusiven Sportunterrichts ausführlich dargestellt werden.
Neben dem doppelten Erziehungsauftrag[125] kann, in Anlehnung zu Kuhlmann & Teetz, auch vom doppelten Inklusionsauftrag[126] gesprochen werden. Inklusion in Sport soll durch die Teilhabe aller SuS am Sportunterricht geschehen, während sich Inklusion durch Sport auf das Anstoßen einer – über den Sport hinausgehenden – positiven persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Einstellung zur Inklusion bezieht.[127]
Wie bereits erwähnt, ist Heterogenität schon immer ein großer Teil von Schule – und besonders von Sportunterricht – gewesen.[128] Auch unter SuS, die keine Beeinträchtigungen haben, ist ein breites Spektrum von Interessen, Fähigkeiten und Potentialen zu finden.[129] Diese Art von Vielfalt wird jedoch nicht als Beeinträchtigung, sondern als Möglichkeit des Voneinander-Lernens betrachtet.[130] Durch behinderte SuS wird bloß die Sichtbarkeit der Unterschiede und Notwendigkeit von Differenzierung noch deutlicher.[131] Um sie im Regelunterricht zu unterrichten, benötigt es lediglich einer stärkeren Bemühung in dem, was ohnehin schon gemacht werden sollte. Ein angemessenes Maß an Differenzierung im Unterricht ermöglicht die Inklusion behinderter SuS, ohne dass ihre MitschülerInnen dabei Einbußen in der Qualität zu spüren bekommen.[132] Heterogenität führt somit zwangsläufig dazu, dass vielfältiger und abwechslungsreicher Sportunterricht konzipiert und durchgeführt werden muss.[133] Durch die Abkehr von einer One-size-fits-all-Pädagogik profitieren dabei nicht nur Kinder mit Förderbedarf.[134]
Vor dem aktuellen Kerncurriculum bemängelten Kritiker, dass mit veralteten Methoden der Sportdidaktik und -methodik, die auf Bewegungsperfektion, Leistungssteigerung und Wettkampf abzielen, lediglich eine Erziehung durch Sport möglich ist, worunter eine Eingliederung behinderter SuS nicht zu erreichen sei.[135] Erst mit dem Übergang von einem leistungsorientierten Sportartenkonzept hin zu einem auf dem Kerncurriculum basierenden, erziehenden und mehrperspektivischen Sportunterricht, wurden die Voraussetzungen einer inklusiven Beschulung günstiger.[136] Im Hinblick auf die sechs pädagogischen Perspektiven[137], sollten diese – unter inklusiven Umständen – zu Gunsten der Perspektiven ausfallen, die soziale Interaktion begünstigen.[138] Diese Anpassungen bedeuten jedoch nicht, dass es keiner speziellen inklusiven Sportdidaktik bedarf. Im Rahmen der Inklusionsdebatte wurde der Aspekt der Behinderung als weitere Dimension von Vielfalt einbezogen, welcher durchaus komplex ist und deswegen die Formulierung von Leitlinien, Strategien und Modellen benötigt.[139]
4.4.2 Richtlinien
Wie im vorherigen Kapitel herausgearbeitet, erhebt der inklusive Sportunterricht einen Anspruch auf Strukturierungshilfen. Da es in der Literatur mittlerweile viele verschiedene Leitlinien, Empfehlungen und Ratschläge gibt, muss sich dieses Kapitel mit vermehrter Aufzählung zufriedengeben. Hierbei sollte beachtet werden, dass die Richtlinien allgemein gefasst sind und später noch etwas genauer auf die verschiedenen Arten von Behinderungen spezifiziert werden.[140]
Barber[141] liefert einen groben Überblick, indem er drei Säulen des Sportunterrichts vorstellt, die eine Inklusion ermöglichen, aber auch verwehren können. An diesen wird sich im Folgenden orientiert. Die Einstellung gegenüber Unterschiedlichkeiten von Menschen ist die erste der drei Säulen. Wenn Menschen mit Behinderung negativ gegenübergestanden wird, kann eine Inklusion auf Dauer nicht funktionieren. Die bauliche Voraussetzung ist die zweite Säule und besagt, dass, trotz Gewährleistung der anderen beiden Aspekte, eine mangelnde Barrierefreiheit, bei der das Kind nicht in die Sporthalle kommen kann, jeden Inklusionsversuch zunichtemacht. Die dritte Säule wird von der angemessenen Planung von Unterricht eingenommen. Eine positive Einstellung führt bei fehlender Qualifikation des Personals und mangelnder Ausrüstung trotzdem zu keiner angemessenen Teilhabe.
4.4.2.1 Säule 1
Auch von Saldern hebt die Wichtigkeit der annehmenden Haltung von Lehrkräften gegenüber der Inklusion hervor und beschreibt diese, neben der Kooperationsfähigkeit von Lehrkräften und der binnendifferenzierten Ausrichtung des Unterrichts, als eine zentrale Gelingensbedingung für Inklusion.[142] Lehrkräfte müssen davon ausgehen, dass alle SuS lernwillig und auch lernfähig sind. Trotz verschiedener Ausgangslagen, Lernweisen und -geschwindigkeiten, können sich alle Kinder motorisch weiterentwickeln und Freude beim Sporttreiben erleben.[143] Krenz hebt bei der Frage nach einer inklusiven Pädagogik ebenfalls die Bedeutung einer Wertvorstellung hervor, die Aspekte wie Freiheit und Gleichheit umfasst und für das gemeinsame Zusammenleben aller grundlegend ist. Diese Haltung muss zunächst in den Köpfen der LehrerInnen verankert sein, bevor mit deren Hilfe dieselben Werte auch an die SuS vermittelt werden können.[144]
Deshalb muss stets darauf geachtet werden inklusive Haltungen auch im Schulsport einzuhalten, um der Vorbildfunktion der Lehrkraft gerecht zu werden. Eine wichtige Rolle bei der Vermeidung von Diskriminierung, spielt der Gebrauch von Sprache. Angefangen beim Spiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“, bis hin zu Aussagen wie: „Jungs sind besser im Fußball, dafür tanzen Mädchen aber besser“.[145] Rouse berichtet, dass sich die Einstellung der Lehrkraft zur Inklusion meist auch auf die SuS auswirkt. Ist die Lehrkraft spürbar aufgeschlossen, dann zieht auch die Schülerschaft am selben Strang. Tritt Sie aber eher verschlossen und ablehnend auf, zeigt sich dies negativ im Verhalten der SuS. Somit ist eine positive Haltung nicht nur wichtig, sondern für den Erfolg oder aber das Scheitern von Inklusion verantwortlich.[146] Häufig hilft bereits, dass man die Klasse auf die Aufnahme eines beeinträchtigten Kindes vorbereitet. Neben Informationen zur Einschränkung des Kindes und mit welchem Verhalten die SuS es am besten unterstützen und eingliedern können, sollen trotzdem die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen des Kindes hervorgehoben werden.[147]
4.2.2.2 Säule 2
Um Inklusion zu ermöglichen, müssen grundlegende institutionelle Voraussetzungen gegeben sein. Im Rahmen eines inklusiven Schulsportrahmenkonzepts betont Jansen äußere Bedingungen wie eine Barrierefreiheit durch bauliche Maßnahmen oder den Index für Inklusion, welcher fordert, dass sowohl die Heterogenität der SuS, als auch vorhandene inner- und außerschulische Ressourcen konstruktiv genutzt werden.[148]
4.2.2.3 Säule 3
Bevor auf die fachbezogenen Leitlinien eingegangen wird, betont Lütgeharm die Wichtigkeit von Fachkompetenz:
„Je mehr die Sportlehrkraft von ‚Motorik, Bewegung, Spiel und Sport‘ versteht, je größer ihre Fachkompetenz ist, desto eher werden ihr kreative Inhalte und Lösungsvorschläge einfallen um dem leistungsschwächeren, dem motorisch nicht so erfahrenen oder dem behinderten Schüler durch alternative und variantenreiche Aufgaben die aktive Teilhabe am Sportunterricht zu ermöglichen und zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen. […] Von den Lehrern wird erwartet, dass sie den persönlichen Entwicklungsstand und das Lernverhalten ihrer Schüler nicht nur umfassend feststellen/beobachten und bewerten, sondern auch maßgeschneiderte Lernangebote dafür entwickeln.“[149]
Grundlage für die Planung und Durchführung von Sportunterricht, soll das „Drei-Ebenen-Modell der inklusiven Unterrichtsentwicklung“ bilden.
Abbildung 19: Ebenen der Entwicklung inklusiven Sportunterrichts[150]
Der Prozess der systematischen Unterrichtsentwicklung wird dabei in folgende drei Ebenen aufgeteilt.[151]
Ebene 1: Ziel-Ebene. Umfasst Überlegungen, die sich am Kerncurriculum und dessen Vorgaben – in Form von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen – orientieren. Aber auch die Bestimmungen der Behindertenrechtskonvention und deren Ansprüche für einen inklusiven Sportunterricht, sind hier zu berücksichtigen.
Ebene 2: Konstrukt-Ebene. Unter Berücksichtigung der Ziel-Ebene, wird der Sportunterricht unter didaktisch-methodischen Gestaltungsprinzipien geplant, wobei Planungskonzepte zur Verfügung stehen (Inclusion Spectrum etc.).
Ebene 3: Unterrichts-Ebene. Mithilfe der Ebenen 1 und 2, soll nun eine konkrete Unterrichtsplanung für die Lerngruppe entworfen werden. Hierbei müssen, unter der Berücksichtigung schüler- und unterrichtsspezifischer Aspekte, Anpassungen getroffen werden, die Heterogenität miteinbeziehen.
Reich[152] geht auf 13 fachdidaktische Leitlinien ein, die als Orientierung für den inklusiven Sportunterricht dienen sollen:
1. Der Sportunterricht soll jedem Kind einen Lernzuwachs ermöglichen, der sich nachhaltig auf zukünftige Lernprozesse auswirkt.
2. Der Sportunterricht soll mehrperspektivisch gestaltet werden, sodass ein vielfältiges Angebot an Lernzugängen zur Verfügung steht.
3. Der Sportunterricht soll offen gestaltet werden, damit unterschiedliche Handlungsentwürfe allein oder in Kooperation mit anderen gefunden werden können.
4. Der Sportunterricht soll alle verfügbaren Ressourcen zur Vorbereitung nutzen. Dies kann unter Einbeziehung von Fachpersonal oder der Lernenden geschehen.
5. Der Sportunterricht soll nicht von einem scheinbaren Interessens- und Leistungsdurchschnitt der SuS ausgehen, sondern jede Lerngruppe individuell betrachten.
6. Der Sportunterricht soll darauf achten, dass Instruktionen stets barrierefrei bzw. verständlich für alle Lernenden sind.
7. Der Sportunterricht soll durch sinnvolle und differenzierte Aufgabenstellungen problemlösendes Lernen aller fördern.
8. Der Sportunterricht soll ein höchstmögliches Maß an Beteiligung aller SuS ermöglichen, auch wenn dies kurzzeitige methodische Differenzierung in Form separater individueller Förderung bedeutet.
9. Der Sportunterricht soll sich, neben kurzfristigen Lernergebnissen, die unter stark heterogenen Umständen besonders unterschiedlich ausfallen können, auf die langfristigen Leistungserfolge konzentrieren.
10. Der Sportunterricht soll nicht in richtige und falsche Lösungswege differenzieren. Vielmehr sollte versucht werden die Vielfalt an verschiedenen Lösungen zu verstehen und anzuerkennen.
11. Der Sportunterricht soll sich in der Planung des zeitlichen Rahmens einzelner Phasen an den Bedürfnissen der Lernenden ausrichten.
12. Der Sportunterricht soll den SuS helfen ihre Lernprozesse, mithilfe von Dokumentation und Reflexion, zu organisieren.
13. Der Sportunterricht soll lehrerzentrierte und schülerzentrierte Lernformen adäquat mischen, indem Lernprozesse durch direkte Instruktion, aber auch auf eigenständige oder kooperative Weise, eröffnet werden.
Neben den genannten Leitlinien, bietet Barber[153] weitere Grundsätze für das Gestalten eines sportlichen Umfelds, welches den besonderen Bedürfnissen von beeinträchtigten Kindern gerecht werden soll:
· Bewahrung der persönlichen Würde: Vermeidung von Situationen, in denen ein Scheitern vorprogrammiert ist, die Kinder überfordert werden, die Situation keine Erfolgschancen hat oder es zu Vorführung bzw. Demütigung kommt.
· Gestaltung einer Akzeptanzkultur: Die Unterschiede zwischen SuS sollen akzeptiert und einbezogen werden, wobei die Lehrkraft mit gutem Beispiel vorangehen muss.
· Entgegenkommendes Sportumfeld: Anpassung äußerer Umstände[154], die eine angemessene Teilhabe ermöglichen.
· Modifizierung: Anpassung von Übungsinhalten[155], die zu adäquater Förderung der SuS führt.
· Skizzierung der Erwartungen: Erwartungen sollten stets transparent sein und in klarer, verständlicher Sprache vermittelt werden.
· Hilfestellung durch Gleichaltrige: MitschülerInnen können den Betroffenen bei Bedarf die Übung erneut erklären bzw. sie begleitend unterstützen.
· Routine: Der Unterricht sollte möglichst routiniert stattfinden, damit sich die Kinder darauf einstellen können.
· Visuelle Signale: Sind besonders bei hörgeschädigten SuS anzuwenden.
· Festlegung einer Zeitachse: Bei Kindern, die nur schwer über längere und undefinierte Zeit ruhig zuhören können, kann das Angeben von Zeitangaben behilflich sein.
· Übergänge im Lehrplan: Entwicklungen im Unterrichtsverlauf bzw. der Übergang zwischen Aktivitäten sollte mit behinderten Kindern im Vorhinein stets kommuniziert werden.
· Einbeziehung des Verfahrens der sparsamen Aufforderung: Der Einsatz von Hilfsmitteln ist beim Unterrichten beeinträchtigter SuS wichtig und notwendig. Dieser sollte sich jedoch auf das Nötigste begrenzen, um die Kinder angemessen zu fordern.
4.4.3 Anpassungen
Im Zuge der dargestellten Richtlinien[156], nehmen Anpassungen eine besondere Rolle ein, welche es nun näher zu betrachten gilt. Besonders Sportspiele bedürfen Anpassungen, um den Bedingungen eines inklusiven Sportunterrichts gerecht zu werden. Das Ausweichen auf psychomotorische Bewegungsaufgaben kann nicht als dauerhafter Ersatz gesehen werden, da dadurch der Sinn des Sportunterrichts verloren gehen würde.[157] Ein Sportunterricht kann zwar sportartenunspezifische Bewegungsangebote anbieten, jedoch nicht auf diese beschränkt werden. Die Vermittlung fachspezifischer Fähigkeiten ist einer der Legitimationsgründe des Faches, welchen es zu erhalten gilt.[158]
Die Vielfalt der Schülerschaft muss bei der Planung, Durchführung und Reflexion des Unterrichts miteinbezogen werden, sodass alle SuS im Zentrum des Lernens stehen können.[159] Um dem gerecht zu werden, entwarf Tiemann das „6+1 Modell eines adaptiven Sportunterrichts“[160], dessen Ziel es ist Bewegungsangebote an die Bedürfnisse aller SuS anzupassen. Das „+1“ aus dem Namen des Modells bleibt der Rolle der Lehrkraft überlassen, die häufig zunächst ihre Einstellung anpassen muss.[161]
Abbildung 20: 6+1 Modell eines adaptiven Sportunterrichts[162]
Im Folgenden sollen u. a. diese 6 Punkte näher ausgeführt werden. Eine Sache die es ungeachtet der Empfehlungen zu beachten gilt, ist die Einbeziehung der gesamten Klasse in den Prozess der Unterrichtsplanung, da die geballte Kreativität zur Entstehung neuer Möglichkeiten der Realisierung eines inklusiven Sportunterrichts beiträgt.[163]
4.4.3.1 Materialien
Die Anpassung und Verwendung vielfacher – auch unkonventioneller – Materialien ist eine effektive Methode um beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am Sportunterricht zu ermöglichen. Beispiele sind die Nutzung einer Poolnudel für Kinder im Rollstuhl beim Fangen oder der Austausch eines Softballes mit einem Luftballon. Ziel ist es dadurch das Spielgeschehen für die Betroffenen zu vereinfachen.[164]
4.4.3.2 Lernumfeld
Bei Anpassungen des Lernumfelds wird das Ziel einer reizarmen, barrierefreien und angemessen großen Lernumgebung verfolgt. Diese sind für eine Lehrkraft alleine nicht einfach mal so getan. Vielmehr muss die Schule für angemessene Bedingungen in der Sporthalle, wie bspw. Lichtverhältnisse und Akustik, sorgen.[165] Neben Materialien, kann auch der Unterricht SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf, vor allem im emotionalen und sozialen Bereich, reizen, weswegen die Lernumgebung durch einen ruhigen und transparenten Stundenverlauf strukturiert werden sollte.[166]
4.4.3.3 Regeln
Die Gründe für Regelanpassungen sind verschieden. „Ziele sind z. B. Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit, gleichmäßige Verteilung der Spielanteile, Integration aller Mitspieler, Erschwerung der Aufgabe für bestimmte SuS → um alle im Rahmen ihrer Fähigkeiten zu fördern“.[167] Auch Schneider betont die Wichtigkeit der Regel- und Schwierigkeitsanpassung, um die Teilhabe aller zu gewährleisten, wobei er die Notwendigkeit einer gelegentlichen Trennung nach Leistung anmerkt.[168] Hinsichtlich Regeländerungen sollte jedoch Vorsicht gewaltet werden, um Diskriminierungen und weitere Stigmatisierungen zu vermeiden. Regeln wie „der Ball muss erst zum Kind XY gespielt werden, bevor ein Punkt erzielt werden darf“ oder „das Kind XY soll während des Spiels von MitschülerInnen an der Hand geführt werden“, sollten kritisch reflektiert werden, wobei die Klasse mitwirken sollte.[169]
Außerdem muss man bei der Anpassung von Regeln darauf achten, dass sie zu keinen großen Einbußen im kompetitiven Sportcharakter führen, da sie sich dadurch negativ auf die Akzeptanz der MitschülerInnen gegenüber angepasster inklusiver Bewegungsaktivitäten auswirken können.[170] Idealerweise wird die Attraktivität der Spiele erhalten und die Teilhabe ermöglicht, sodass alle Spaß haben. Dadurch wird zusätzlich der Aufbau eines Verständnisses entwickelt, dass Regeln etwas Veränderbares sind und sich nicht zwangsläufig negativ auf das Spiel oder die Sportart auswirken müssen.[171]
4.4.3.4 Aufgabenstellungen
Aufgabenstellungen sollen durch Differenzierung so angepasst werden, dass unterschiedliche Lösungswege ermöglicht werden. Dass von einer Differenzierung und Methodenvielfalt alle SuS, und nicht nur beeinträchtigte Kinder und Jugendliche, profitieren, wurde schon ausführlich dargestellt.[172] Bereits diese Schaffung vielfältiger schülerzentrierter Sportaktivitäten, trägt einen großen Teil zur Befriedigung der Bedürfnisse aller Lernenden bei.[173] Eine Möglichkeit um diesem Anspruch in der Sporthalle gerecht zu werden, ist das Anbieten einer Lerntheke, die Aufgaben aus verschiedenen Bereichen zu unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen anbietet. Dadurch wird einerseits Urteils- und Entscheidungskompetenz gebildet, aber auch das selbstorganisierte Lernen gefördert.
Wenn sowohl die Teilnahme an der normalen Spielform, als auch an alternativen modifizierten Übungen, für behinderte SuS nicht möglich ist[174], kann man sie durch die Zuweisung besonderer Funktionen[175] trotzdem einbinden.[176] Eine weitere geläufige Praxis ist es behinderte SuS aus dem Sportunterricht auszuschließen, damit diese getrennt von der Klasse Rehabilitationsmaßnahmen, wie eine Krankengymnastik, absolvieren können. Stattdessen sollte lieber versucht werden, die notwendige therapeutische Maßnahme, so oft es geht, in den Regelunterricht zu verlagern.[177]
4.4.3.5 Sozialform
Ein weiterer Parameter, der im Zuge der Inklusion eine wichtige Rolle einnimmt, ist die Sozialform. Im Unterricht muss man, ausgehend von der Anerkennung der Vielfalt, eine geeignete Balance zwischen individuellen und gemeinsamen Lernsituationen finden, um sowohl die soziale Interaktion, als auch die Förderung jedes einzelnen zu erreichen.[178] Besonders kooperative Unterrichtsformen sollten in einem inklusiven Setting zum Einsatz kommen, da dadurch gemeinsames Bewegungshandeln ermöglicht wird; dabei muss auf die Gewährleistung der Prinzipien kooperativen Lernens, wie der positiven Interdependenz und individuellen Verantwortlichkeit, geachtet werden.[179] Neben kooperativen- müssen auch differenzierende Unterrichtsphasen eingebaut werden, in welchen die SuS koexistent an für sie passenden Übungen arbeiten. Im Rahmen eines inklusiven Sportunterrichts sollte stets ein ausgewogenes Verhältnis von Bewegungsbeziehungen erreicht werden.[180] Durch die Mischung von koexistenten und kooperativen Aufgaben, werden den SuS sowohl individualisierte Lernmöglichkeiten gegeben, als auch der Aufbau sozialer Kompetenzen gefördert.[181] Das Wichtigste ist es als Lehrkraft flexibel zu sein und zu versuchen durch den Unterricht, Gruppenprozesse und -konstellationen so zu lenken, dass es zu keiner Ausgrenzung von SuS mit Beeinträchtigungen kommt.[182]
Weichert stellt die möglichen Bewegungsbeziehungen folgendermaßen dar:
Abbildung 21: Fünf Arten von Bewegungsbeziehungen[183]
4.4.3.6 Kommunikation
Ein weiterer Aspekt, den es beim Umgang mit behinderten Schülerinnen und Schülern zu beachten gilt, ist die Kommunikation. Neben der naheliegendsten Anpassung in Form von leicht verständlicher Instruktionen und Demonstrationen, gilt es auch die Lautstärke[184] und die Positionierung bei Anweisungen – besonders bei Demonstrationen – zu beachten.[185]
4.4.3.7 Weitere
Neben den von Tiemann vorgegebenen Bereichen, wird nun auf zwei weitere wichtige Aspekte eingegangen, die im inklusiven Unterricht Besonderheiten mit sich bringen.
4.4.3.7.1 Leistungsbewertung
Zensuren haben oft negative Auswirkungen auf das Lernverhalten. Sowohl SuS, die regelmäßig gute Noten erhalten, als auch SuS, die hauptsächlich schlechte Zensuren bekommen, werden nur schwer zum Lernen motiviert.[186] Gegner der derzeitigen Leistungsbewertung nach objektiven Noten fordern, dass die Arbeitsprodukte der Kinder und Jugendlichen unter der Berücksichtigung ihrer Möglichkeiten, also differenziert und entwicklungsorientiert, bewertet werden.[187]
Aspekte wie die Leistungsbewertung, dürfen sich nicht an den außerschulischen Sport orientieren. Die Leistung darf nicht an konkreten universalen Skalen fest gemacht werden, sondern sollte möglichst prozessorientiert und mithilfe flexibler Formen ermittelt werden.[188] Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Standpunkte darstellen, die sich im Aspekt der Zielsetzung unterscheiden. Wird im inklusiven Unterricht nicht zieldifferenziert, haben Kinder mit Förderbedarf einen Anspruch auf den sogenannten Nachteilsausgleich, welcher ihnen ermöglicht Prüfungsleistungen unter veränderten Rahmenbedingungen zu erbringen. Diese können eine Anpassung auf „die Form, den Umfang oder die Zeitdauer der Leistungsfeststellung“ bewirken. Bei zieldifferentem Unterricht hingegen, werden Kinder mit Förderbedarf anhand eines Rahmenplans ihres Förderschwerpunktes und individuellen Lernzielen unterrichtet, was auch im Zeugnis kenntlich gemacht wird.[189] Auch Reich fordert, dass SuS anhand individueller Ziele und Wege der Leistungsüberprüfung bewertet werden, wodurch indirekt bereits ein Nachteilsausgleich geschaffen wird.[190] Dies ist auch der überwiegende Standpunkt in der Literatur, da die SuS hierbei eine differenzierte Rückmeldung erhalten, die ihre individuellen Lernvoraussetzungen berücksichtigt und dazu führt, dass Fortschritt an den eigenen Lernzielen und Lernerfolgen ausgemacht wird.[191]
4.4.3.7.2 Personal
Eine weitere Besonderheit ist die personelle Anpassung. Besonders im inklusiven Unterricht ist es als Lehrkraft wichtig, Unterstützung zu bekommen, da Kinder mit Beeinträchtigungen meist eine besondere Zuwendung benötigen.[192] Dies führt dazu, dass man sich die Sporthalle mit einem/mehreren weiteren Erwachsenen teilen muss, die meist in Form von SonderpädagogInnen bzw. TeilhabeassistentInnen der behinderten Kinder auftreten.
Vorteile des Zwei-Pädagogen-Prinzips sind besonders unter stark heterogenen Bedingungen bemerkbar. Ein hohes Maß an Differenzierung kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, wodurch eine einzelne Person oft überfordert wird. Sowohl in der Planung, als auch in der Umsetzung und Reflexion können sich zwei PädagogInnen gegenseitig unterstützen und individueller auf die Schülerschaft eingehen. Außerdem gilt das altbekannte Sprichwort: vier Augen sehen mehr als zwei, indem das Unterrichtsgeschehen besser wahrgenommen und beurteilt werden kann.[193]
Becker fasst die Vorzüge folgendermaßen zusammen:
„Die Sportlehrerinnen und Sportlehrer können ihre Fach- und Methodenkompetenz für das Unterrichtsfach Sport einbringen, während die Förderschullehrerinnen und Förderschullehrer den Blick auf individuelle Potentiale aller Lernenden und notwendigen Differenzierungen schärfen können“.[194]
4.5 Empfehlungen für einzelne Behinderungen
Im folgenden Unterkapitel werden Empfehlungen für die Inklusion behinderter Kinder in den Sportunterricht gegeben. Dabei werden zunächst übergreifende Richtlinien skizziert, bevor auf konkrete Empfehlungen für bestimmte Behinderungen eingegangen wird.
4.5.1 Übergreifende Richtlinien
Grundsätzlich sind Empfehlungen als positiv zu betrachten, da sie eine erste Orientierung für den Umgang mit behinderten SuS ermöglichen. Vor allem Kenntnisse über mögliche Einschränkungen sind wichtig, um eine Kontraindikation, bei der bestimmte Übungen eine negative Auswirkung auf das Bewegungsverhalten des Kindes haben, zu vermeiden.[195] Belastungen, die in irgendeiner Weise schädlich für das Kind oder dessen Entwicklung sein könnten, müssen unbedingt vermieden werden.[196] Trotz der Vorteile von Empfehlungen, dürfen diese nicht verallgemeinert werden. Man darf die beeinträchtigten SuS nicht in übergeordnete Kategorien einordnen, da trotz derselben Diagnose auch behinderte Menschen keine homogene Personengruppe darstellen. Vielmehr muss jedes Kind individuell nach seinen Bedürfnissen betrachtet werden, was spezifische pädagogische Handlungsweisen erfordert.[197]
- Citar trabajo
- Ivan Mihaljević (Autor), 2019, Inklusion im Sportunterricht. Möglichkeiten und Grenzen untersucht am Beispiel einer integrierten Gesamtschule, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1264499
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