Die Bachelorarbeit beschäftigt sich aufgrund der Relevanz und fortwährenden Aktualität der Thematik mit der leitenden Fragestellung: Inwiefern können mögliche negative Auswirkungen für Kinder eines inhaftierten Elternteils mittels alternativer Vollzugsformen beziehungsweise alternativer Ausgestaltungen des geschlossenen Vollzugs begrenzt werden?
Da inhaftierte Männer im geschlossenen Vollzug bundesweit deutlich überrepräsentiert sind, liegt der Fokus dieser Arbeit auf ihnen in ihrer potentiellen Rolle als Väter betroffener Kinder. Zunächst werden die Besonderheiten der Trennung durch die Inhaftierungssituation herausgestellt. Darauf folgt die Erörterung möglicher kindbezogener Folgen beziehungsweise Belastungen sowie exemplarischer Formen kindlicher Reaktionen.
Als Erklärungszusammenhang zwischen eventuellen Reaktionen und notwendiger Unterstützung der Kinder wird das Konzept der Lebensbewältigung erläutert. Der forschungsbasierten Untermauerung der Signifikanz alternativer Vollzugsformen dienen die Ergebnisse des Projekts COPING. Darauf folgt die Darstellung der Kennzeichen des geschlossenen Vollzugs. Auf erfolgreich umgesetzten Realisationen wie jenen innerhalb der sächsischen Justizvollzugsanstalten sowie dem dänischen Familienhaus Engelsborg basierend, werden mögliche zukunftsweisende Alternativen aufgezeigt.
Kinder eines inhaftierten Elternteils sind stets unmittelbar betroffen. Die haftbedingten negativen Konsequenzen führen dazu, dass Kinder indirekte Bestrafungen für etwas erfahren, das sie nicht verschuldet haben. Sie verantworten weder das zur Inhaftierung führende delinquente Verhalten ihres Elternteils noch die Ausgestaltung ihres Lebens nach dessen Inhaftierung. Gleichzeitig sind sie es, die stark, wenn nicht am stärksten, von den Sanktionierungen getroffen werden.
Jener paradox anmutenden Ungerechtigkeit folgernd könnte von einer ausgeprägten und langfristig angelegten Forschungslandschaft ausgegangen werden, welche sich auf die kindlichen Lebenssituationen sowie Belastungen bezieht. Eine daraus resultierende Erschließung flächendeckender Entlastungsmöglichkeiten für betroffene Kinder wirkt evident.
2 Trennung durch Inhaftierung eines Elternteils
2.1 Folgen der besonderen Trennungssituation für Kinder
2.1.2 Verletzung der Kinderrechte
2.1.3 Stigmatisierung und Mobbing
3 Lebensbewältigung
4 Forschungsprojekt COPING
5 Geschlossener Vollzug als totale Institution
6 Alternative Vollzugsformen
6.1 Familienhaus Engelsborg
7 Fazit und Ausblick
8 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Not my crime,
still my sentence.“ (COPE 2020 o.S., Hervorh. v. Verf.)
Dieser prägnante Titel der jährlichen Unterstützungskampagne des Netzwerks Children of Prisoners Europe pointiert die unmittelbare Betroffenheit von Kindern eines inhaftierten Elternteils (vgl. ebd.). Die haftbedingten negativen Konsequenzen führen dazu, dass Kinder indirekte Bestrafungen für etwas erfahren, das sie nicht verschuldet haben (vgl. Molbech 2014, 11). Sie verantworten weder das zur Inhaftierung führende delinquente Verhalten ihres Elternteils noch die Ausgestaltung ihres Lebens nach dessen Inhaftierung. Gleichzeitig sind sie es, die stark, wenn nicht am stärksten, von den Sanktionierungen getroffen werden (vgl. Roggenthin/Wick/Metje 2014, 7). Jener paradox anmutenden Ungerechtigkeit folgernd könnte von einer ausgeprägten und langfristig angelegten Forschungslandschaft ausgegangen werden, welche sich auf die kindlichen Lebenssituationen sowie Belastungen bezieht. Eine daraus resultierende Erschließung flächendeckender Entlastungsmöglichkeiten für betroffene Kinder wirkt evident. Besonders naheliegend erscheint eine damit einhergehende Beurteilung des elterlichen Strafmaßes, welche die kindliche Perspektive umfassend mit einbezieht. Nicht zuletzt die Sozialen Dienste der Vollzugsanstalten und die Straffälligenhilfe könnten daran ein begründetes Interesse sowie entsprechende Zugriffsmöglichkeiten haben (vgl. Halbhuber-Gassner/Kappenberg/Krell 2017, 11). Fakt ist, dass diesbezügliche Überlegungen und Forschungsbestrebungen erst in verhältnismäßig junger Vergangenheit vermehrt anliefen. Erste kindorientierte Angebote sowie Projekte existieren zwar mittlerweile, allerdings bundesweit überwiegend diffus gestreut (vgl. Kugler 2020, 35; Borchert 2018, 10-13). Es lässt sich daher konstatieren: „Eine neuere Tendenz Sozialer Arbeit, im Kontext der Angehörigenarbeit v.a. die Kinder Inhaftierter in den Fokus zu nehmen fügt sich in eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung ein, die man die Entdeckung der Bedeutung von Kindern nennen könnte.“ (Kawamura-Reindl 2017, 23, Hervorh. v. Verf.)
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich aufgrund der Relevanz und fortwährenden Aktualität der Thematik mit der leitenden Fragestellung: Inwiefern können mögliche negative Auswirkungen für Kinder eines inhaftierten Elternteils mittels alternativer Vollzugsformen bzw. alternativer Ausgestaltungen des geschlossenen Vollzugs begrenzt werden? Da inhaftierte Männer im geschlossenen Vollzug bundesweit deutlich überrepräsentiert sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2022, o.S.), liegt der Fokus dieser Arbeit auf ihnen in ihrer potentiellen Rolle als Väter betroffener Kinder. Zunächst werden die Besonderheiten der Trennung durch die Inhaftierungssituation herausgestellt. Darauf folgt die Erörterung möglicher kindbezogener Folgen bzw. Belastungen sowie exemplarischer Formen kindlicher Reaktionen. Als Erklärungszusammenhang zwischen eventuellen Reaktionen und notwendiger Unterstützung der Kinder wird das Konzept der Lebensbewältigung erläutert. Der forschungsbasierten Untermauerung der Signifikanz alternativer Vollzugsformen dienen die Ergebnisse des Projekts COPING. Darauf folgt die Darstellung der Kennzeichen des geschlossenen Vollzugs. Auf erfolgreich umgesetzten Realisationen wie jenen innerhalb der sächsischen Justizvollzugsanstalten sowie dem dänischen Familienhaus Engelsborg basierend, werden mögliche zukunftsweisende Alternativen aufgezeigt.
2 Trennung durch Inhaftierung eines Elternteils
Die Trennung von Elternpaaren und die damit einhergehende Veränderung der Familienkonstellation stellt bereits seit geraumer Zeit kein seltenes Ereignis mehr dar (vgl. Schmidt-Denter 2000, 203). Kinder spüren je nach Rahmenbedingungen, Entwicklungsstand und weiterer Einflussfaktoren oftmals die innerfamiliären Spannungen bereits einige Zeit vor der eigentlichen Trennung. Mitunter bleiben die unterschwelligen Konflikte über einen langen Zeitraum hinweg bestehen, unausgesprochen und somit aus kindlicher Sicht unerklärbar (vgl. Wallerstein/Lewis/Blakeslee 2002, 75; Hantel-Quitmann 2013, 195-198). Eine besondere Form der Trennung geht mit der Inhaftierung eines Elternteils einher. Zumeist handelt es sich bei den sanktionierten Elternteilen um die Väter der Kinder. Zwar existieren aufgrund der mangelhaften Datenlage keine verlässlichen Angaben zu der Anzahl inhaftierter Väter in Deutschland. Somit können auch keine exakten Aussagen zu der Anzahl betroffener Kinder getätigt werden. Der stark überwiegende Anteil inhaftierter Männer legt jedoch nahe, dass sich unter ihnen häufig Väter befinden (vgl. Kawamura-Reindl 2017, 14). Fest steht überdies, dass es sich bei den Kindern keineswegs um Einzelfälle handelt: „Schätzungen zur Folge sind in Deutschland jährlich von der Inhaftierung eines Elternteils oder beider etwa 100.000 Kinder unter 18 Jahren betroffen.“ (Halbhuber-Gassner/Kappenberg/Krell, 2017, 10) Die durch eine Inhaftierung hervorgerufene Trennungssituation unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen Formen der Trennung. Der augenscheinlichste Unterschied besteht in der diesbezüglich fehlenden Entscheidungsfreiheit aller Familienmitglieder (vgl. de Oliveira Käppler/Ueberbach 2020, 13). Nicht selten handelt es sich davon abgesehen um ein vor allem für Kinder äußerst plötzliches Geschehen. Je nach rechtlicher Lage bzw. justizieller Beurteilung der Gesamtsituation werden jeweilige Väter in ihrer gewohnten, häuslichen Umgebung direkt mit dem Urteil konfrontiert und verhaftet. Das Vorgehen und die Kommunikationsart der Beamt*innen[1] ist hierbei vorrangig von Härte und Nüchternheit gekennzeichnet. Zeit, Raum und Gespür für kindgerechte Worte, geschweige denn einer angemesseneren Form der Verabschiedung, bleiben kaum. Individuelle, einvernehmliche Umgangsregelungen im klassischen Sinne scheinen im Falle einer Inhaftierung in der Regel weder vorgesehen noch möglich (vgl. Kugler 2018, 68; Bieganski/Starke/Urban 2013, 17, 19). Vielmehr ist der Mindestzeitrahmen der Besuche äußerst knapp und im Sinne der Beziehungsförderung unzureichend bemessen (vgl. Pfalzer/Walkenhorst/Schroven 2020, 7). Das LJVollzG[2] Rheinland-Pfalz sieht beispielsweise in § 33 Abs. 1 S. 1,2 RPLJVollzG vor, dass die Inhaftierten besucht werden können. Auch eine, jedoch sehr weit gefasste, Regelmäßigkeit der Besuche wird gewährt: „Die Gesamtdauer beträgt im Vollzug der Freiheitsstrafe und der Untersuchungshaft mindestens zwei, im Vollzug der Jugendstrafe und der Untersuchungshaft an jungen Untersuchungsgefangenen mindestens vier Stunden im Monat.“ (Beck StVollzG 2022, 616) Zwar wird minderjährigen Kindern mehr Besuchszeit zugestanden, dies allerdings in äußerst dürftigem Umfang. Aus dem genannten Paragraphen ergibt sich: „Kontakte der Gefangenen zu ihren Kindern unter 18 Jahren werden besonders gefördert. Deren Besuche werden im Umfang von bis zu zwei Stunden nicht auf die Regelbesuchszeiten angerechnet.“ (ebd.) Der Rahmen des Vollzugs erlaubt darüber hinaus weder die Beibehaltung möglicher familiärer Alltagsroutinen noch das Erleben gemeinschaftlicher, spontaner Ausflüge oder geplanter Urlaube. Selbst banal anmutende, allerdings potentiell beziehungsförderliche und positiv konnotierbare Familienaktivitäten schließt die klassische Inhaftierungsform im geschlossenen Vollzug naturgemäß aus. So ist der familiäre Besuch eines Spielplatzes ebenso undenkbar wie eine gemeinsame Zubereitung oder das gemeinsame Einnehmen von Mahlzeiten. Auch die Teilnahme der Väter an wichtigen Lebensereignissen der Kinder wird i.d.R. nicht ermöglicht (vgl. Starke 2016, 25, 28; Bieganski/Starke/Urban 2013, 19).
2.1 Folgen der besonderen Trennungssituation für Kinder
Bereits solche Trennungssituationen, welche nicht durch die Inhaftierung eines Elternteils provoziert wurden, können mit einer Vielzahl an belastenden Begleitumständen und Folgen für betroffene Kinder einhergehen (vgl. Schneewind 2010, 168-170). Prinzipiell stellen Trennungen tiefwirkende Veränderungen im Familiensystem dar und lassen sich somit als „kritische Lebensereignisse“ (Filipp 1990, 4) begreifen. Als kritisch werden in diesem Kontext solche Geschehnisse bezeichnet, die stark von den gewohnten Alltagserfahrungen abweichen. Sie erfordern daher andere, ungewohnte Reaktionen und Verhaltensweisen. Da sich die Erschließung alternativer Handlungen und die Adaption an die veränderte Situation meist herausfordernd darstellen, können diese eine große Belastung darstellen (vgl. ebd., 23-24). Potentiell wirken sich die elterlichen Trennungen darüber hinaus als „traumatische Erlebnisse“ (Otto/Thiersch 2011, 325) auf betroffene Kinder ein. Die Wahrscheinlichkeit negativer Auswirkungen der Trennung korreliert mit dem Vorliegen wechselwirkend aufeinander bezogener Aspekte. Zudem können die Art und das Ausmaß der Folgen variieren. Einer der in dem Kontext zentralen Aspekte ist das Alter und somit auch der „kognitiv[e] und sozio-emotional[e]“ (Schneewind 2010, 169) Entwicklungsstand der Kinder beim Eintreten der Trennung. So können ältere Kinder und Adoleszente die elterliche Trennung im Laufe der Zeit tendenziell eher nachvollziehen und diese allmählich in einen für sie sinnhafteren Zusammenhang einordnen als in früheren Lebensphasen (vgl. ebd., 170; Sander 2002, 276-280). Kinder unter drei Jahren hingegen können diese Leistung naturgemäß noch nicht vollbringen. Diese zeigen nach der Trennung „häufig Zeichen von Bindungsangst“ (Schneewind 2010, 169), beispielsweise aufgrund einer ggf. wahrgenommenen negativen Veränderung der elterlichen Fürsorge. Kinder, die sich in der darauffolgenden kindlichen Entwicklungsphase befinden, zeigen andersartige Reaktionen. Sie nehmen die Abwesenheit eines Elternteils ebenso wie deren vermeintliche Ursache deutlich wahr. Da sie die Kausalitäten alterstypisch noch nicht ausreichend erfassen und sich wenig in andere Menschen und deren Beziehungen hineinversetzen können, interpretieren sie ihr eigenes Verhalten als Auslöser für die Trennung (vgl. ebd.). Dementsprechend überzeugt sind sie, „dass sie – wenn sie nur ein >>guter Junge<< oder ein >>gutes Mädchen<< sind – den verlorenen Vater oder die verlorene Mutter zurückholen können.“ (ebd., Hervorh. v. Verf.) Kinder im frühen Grundschulalter sind eher in der Lage, die Positionen der Eltern und die vorherrschende Situation nachvollziehen zu können. Im Verlauf der späten Kindheit bildet sich zumeist ein differenzierteres Verstehen der Gesamtsituation heraus. Kinder können dann auch ihre eigene Rolle besser einordnen und suchen die Verantwortung für die Trennung weniger bei sich. Möglich ist allerdings das Auftreten immenser zwiespältiger oder widersprüchlicher Empfindungen bezüglich der Eltern (vgl. ebd.). Bedeutsamen, teils pragmatisch gelagerten, Einfluss auf die kindliche Trennungsbewältigung hat in der entsprechenden Trennungskonstellation „der Bildungsstand der Mutter, der in Beziehung steht mit dem sozio-ökonomischen Status der Mutter-Kind-Familie“ (ebd., 282, Hervorh. v. Verf.). Kindgerechte Erklärungen der Situation und tröstende, von elterlichem Feingefühl getragene Gespräche stellen außerdem wichtige Weichen für die Form der kindlichen Verarbeitung des Geschehens. Auch eine für die Kinder zufriedenstellende Umgangsregelung sowie adäquate Ausgestaltung der Besuchskontakte sind ihr zuträglich. Maßgeblichen Einfluss auf die Bewältigung der Trennungssituation hat des Weiteren das Verhalten der Eltern zueinander und die Form, in der die jeweiligen Elternteile übereinander mit den Kindern kommunizieren (vgl. Wallerstein/Lewis/Blakeslee 2002, 75; Hantel-Quitmann 2013, 195-198). Der möglichst kontinuierlich weitergeführte Umgang mit dem anderen Elternteil ist ebenfalls von hoher Bedeutung. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die Beziehung zum selbigen bislang positiv von den Kindern erlebt wurde (vgl. Jungbauer 2009, 118). In einer Langzeitstudie konnten Wallerstein/Lewis/Blakeslee (2022, 32) zudem verschiedene langfristige Auswirkungen der elterlichen Trennung erschließen. Zwar stellten sie fest, dass Kinder dem Geschehnis und möglichen Folgen nicht zwingend ausgesetzt sind. Von bestimmten Folgen jedoch ist eine große Anzahl an Kindern betroffen. So können sich mögliche eskalative, bedrohlich wirkende Konflikte zwischen den Eltern ungünstig auf das kindliche und spätere Konfliktverhalten auswirken (vgl. ebd., 86). Auch das Ausmaß des kindlichen Einbezugs führt zu Konsequenzen. Wird beispielsweise die Beteiligung der Kinder bei Entscheidungen, die sie betreffen, unterbunden, „kann eine Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit entstehen […], die sich langfristig auf die Initiative der Kinder in ihrem späteren Leben auswirkt.“ (ebd., 79) Zudem kann sich das elterliche Missglücken grundlegend einprägen. Es kann sowohl die, im späteren Lebensverlauf relevant werdende, innerlich verankerte Vorstellung von Liebesbeziehungen formen als auch auf deren Dynamiken einwirken (vgl. ebd., 66).
Diese grundlegenden Auswirkungen sind auch im Rahmen der besonderen Trennungssituation, welche auf eine Inhaftierung folgt, naheliegend. Einen systemischen Erklärungsansatz für das Vorhandensein möglicher Folgen bietet die ökologische Systemtheorie. Diese Perspektive „betrachtet die Person als ein sich in einem komplexen System von Beziehungen entwickelndes Wesen, wobei diese Beziehungen von der Entwicklungsumgebung auf verschiedenen Schichten beeinflusst werden.“ (Berk 2020, 31) Zur innersten Schicht, dem „Mikrosystem“ (Bronfenbrenner 1981, 38) gehören alle Personen und Handlungsroutinen, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem jeweiligen Menschen bzw. den betroffenen Kindern stehen. Dazu zählt demzufolge in signifikantem Maße die Familie (vgl. ebd.). Unter einer weiteren Schicht, dem „Mesosystem“ (ebd., 41), sind alle „Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist“ (ebd.) zu verstehen. Zu den Faktoren, die die Beschaffenheit der Wechselwirkungen – beispielsweise zwischen der Familie und der Schule – beeinflussen können, zählen „Eltern mit psychischen Problemen, Trennung oder Scheidung der Eltern, alleinerziehende Eltern mit wenig oder keinen unterstützenden Beziehungen.“ (Berk 2020, 33) Das Familiensystem kann sich zwar nach einer, wie auch immer gearteten, Form der Trennung, bis zu einem gewissen Belastungsgrad adaptieren und selbst unterstützen. Aufgrunddessen „brechen Familiensysteme unter dem Druck dieser Veränderungen meist nicht auseinander, sondern passen sich an und wandeln sich. Im Kontext der Familiensystemtheorie wird diese Anpassungsfähigkeit als Fähigkeit zur Selbstorganisation beschrieben.“ (Jungbauer 2009, 15) Familien, in denen ein Elternteil inhaftiert wurde, unterliegen allerdings u. U. gleich mehreren potentiell nachhaltig negativ wirksamen Faktoren und damit Belastungen, die eine gelingende Anpassung erschweren. Einer dieser Gesichtspunkte lässt sich im „Exosystem“ (Bronfenbrenner 1981, 42) finden. Zu diesem zählt die Vollzugsanstalt, in dem sich der inhaftierte Elternteil eines Kindes befindet. Das System steht nicht unmittelbar mit den nicht-inhaftierten Familienmitgliedern in Kontakt. Es schließt sie vielmehr aus, wirkt sich indirekt aber dennoch und gerade deshalb auf ihre Lebensrealität aus. In der äußeren Schicht des „Makrosystems“ (ebd.) vereinen sich die gesamtsystemischen Bedingungen und Merkmale, die ihrerseits indirekt Einfluss auf die restlichen Systeme nehmen (vgl. ebd.). Dazu zählen beispielsweise die gesetzlichen Grundlagen, welche den Kontakt zwischen Kindern und ihren inhaftierten Vätern regeln. Vom Makrosystem gehen auch Unterstützungsleistungen aus, die die betroffenen Familien im Allgemeinen und Kinder im Speziellen in ihrer besonderen Lebenssituation erhalten können. Der Umfang der Unterstützung und die damit einhergehende Form der fürsorglichen Beachtung der Kinder beeinflusst ihre Lebensbedingungen bis in alle anderen genannten Schichten hinein (vgl. Berk 2020, 34). Die verschiedenen Systeme sind nicht als unveränderbar oder statisch zu betrachten. Im Gegenteil: Sie können sich, vor allem durch „ökologische Übergänge“ (Bronfenbrenner 1981, 43) konstituiert wandeln. Zu diesen Übergängen lässt sich die Inhaftierung eines Elternteils und damit die Trennung von ihm zählen. Ebenso dazu zählen eine daraus resultierende finanziell angespannte Lage, ein möglicher Umzug und eventueller Schulwechsel der Kinder. All diese Ereignisse sind als Konsequenz von Umbrüchen und gleichzeitig als Auslöser für Veränderungen, sowohl für das Familiensystem als solches, als für die einzelnen Kinder, zu verstehen (vgl. ebd.). Im Folgenden werden einzelne dieser möglichen Veränderungen und sich daraus ergebende weitere Auswirkungen auf betroffene Kinder erörtert.
2.1.1 Vaterentbehrung
Die Familie lässt sich als „das entscheidende System der primären Sozialisation“ (Ritscher 2016, 57) sowie „als ein besonders wichtiges soziales System mit nur für sie geltenden Merkmalen“ (ebd., 75) kennzeichnen. Der Familienbegriff kann aus verschiedensten Blickwinkeln und Zeitepochen betrachtet werden. Eine pauschalisierbare Definition existiert angesichts der seit jeher vorhandenen, sich immer weiter entwickelnden, menschlichen Lebensweisen und Beziehungsvarianten nicht. Auch die sich verändernden gesellschaftlichen Maßstäbe nehmen Einfluss darauf, wie der Begriff verstanden wird (vgl. Walper/Langmeyer/Wendt 2015, 365). Die für die vorliegenden Zusammenhänge am geeignetsten erscheinende Begriffsbestimmung lautet: „Familien sind biologisch, sozial oder rechtlich miteinander verbundene Einheiten von Personen, die – in welcher Zusammensetzung auch immer – mindestens zwei Generationen umfassen und bestimmte Zwecke verfolgen. Familien qualifizieren sich dabei als Produzenten gemeinsamer, u.a. auch gesellschaftlich relevanter Güter (wie z.B. die Entscheidung für Kinder und deren Pflege, Erziehung und Bildung) sowie als Produzenten privater Güter, die auf die Befriedigung individueller und gemeinschaftlicher Bedürfnisse (wie z.B. Geborgenheit und Intimität) abzielen. Als Einheiten, die mehrere Personen und mehrere Generationen umfassen, bestehen Familien in der zeitlichen Abfolge von jeweils zwei Generationen aus Paar-, Eltern-Kind- und gegebenenfalls Geschwister-Konstellationen, die sich aus leiblichen, Adoptiv-, Pflege- oder Stiefeltern (Parentalgeneration) sowie leiblichen, Adoptiv-, Pflege- oder Stiefkindern (Filialgeneration) zusammensetzen können.“ (Schneewind 2010, 35, Hervorh. v. Verf.) Ein so verstandener Familien- und damit auch Vaterbegriff ist daher, über die derzeit gegebene rechtliche Auslegung nach § 1592 BGB[3] hinausgehend, sehr weit gefasst. Er akzentuiert vielmehr insbesondere die positiv attribuierte, fürsorgende Beziehung und das Aufeinanderbezogensein (vgl. ebd.; Nomos Gesetze 2019, 676).
Über einen langen Zeitraum hinweg wurde die umfassende Bedeutung der Väter für ihre Kinder zugunsten der mütterlichen Signifikanz außer Acht gelassen bzw. unterschätzt (vgl. Fthenakis 1988, 17-18; Schon 2006, 21). Väter fungierten in mehreren Epochen vorrangig als „Beschützer, Versorger und Disziplinierungsperson“ (Fthenakis 1999, 22). Sie hatten die – an den Strafvollzug erinnernd – rationalisierende, maßregelnde Funktion des „obersten Normvollstreckers“ (Matzner 2004, 143) inne. Im Laufe der letzten Jahrzehnte trat allerdings immer deutlicher hervor, dass prinzipiell beide Elternteile einen hohen, zugleich unterschiedlich ausgerichteten, Stellenwert für ihre Kinder und deren ganzheitliche Entwicklung einnehmen. Die Qualität oder Intensität der Mutter-Kind-Bindung kann nicht per se gegen die der Vater-Kind-Bindung aufgewogen werden (vgl. Matzner 2010, 122). Die Relevanz der unmittelbaren Anwesenheit von Vätern lässt sich somit nicht leugnen (vgl. Fthenakis 1988, 17). Ebenso wenig lässt sich ihre generelle Signifikanz, unter verschiedensten Bedingungen, dementieren. Diese ist demnach unabhängig von ihrer An- oder Abwesenheit gegeben, denn „Väter werden, auch bei mangelnder Präsenz, für ihre Kinder in den vielfältigsten Begegnungen und Lebenszusammenhängen erfahrbar und von ihnen als gute oder böse Vaterbilder, je nachdem, verinnerlicht. Durch die Summe der gemeinsamen Erfahrungen bilden sie sowohl äußere als auch innere Repräsentanten der Vaterwelt, wirken auf die seelische Entwicklung ihrer Kinder ein und bleiben damit für deren Schicksal verantwortlich.“ (Petri 2009, 13). In dem Zusammenhang der inneren Repräsentationen wird aus psychoanalytischer Sicht zum einen die Bildung einer „Triade“ (Schon 2006, 20) beschrieben. Im Verlauf der ersten Lebensjahre lösen Kinder sich allmählich aus der als Säugling lebensnotwendigerweise engen Bindung, der „Mutter-Kind-Dyade“ (Metzger 2006, 30). Dem Vater kommt in diesem Vorgang eine besondere Rolle zu. Seine Anwesenheit kann den schrittweisen Prozess der adäquaten Distanzierung entlasten und vereinfachen (vgl. Petri 2009, 26). Aufgrund seiner Anwesenheit entstehen „interpsychische Beziehungen und Beziehungsmuster zwischen Mutter, Vater und Kind“ (Schon 1995, 78). Diese bilden die Grundlage für den prozesshaften Vorgang der „Triangulierung“ (Petri 2009, 26), im Zuge derer Kinder die erlebten Beziehungsgeflechte in sich stabilisiert verinnerlichen (vgl. ebd., 25-27). Interessanterweise reicht die Wirkung des Vaters darüber hinaus: „Entscheidend kommt hinzu, dass das Kind in der Dreieckskonstellation zwei voneinander getrennte Liebesobjekte zur Verfügung hat, die Mutter und den Vater. Sie bieten zwei verschiedene Identifizierungsmöglichkeiten an, eine weibliche und eine männliche. Dadurch wird der Reifungsprozess des Kindes entscheidend vorangetrieben. Erst durch die Integration beider Anteile kann es ein ganzheitliches, weiblich-männliches Selbstbild aufbauen.“ (ebd., 26). Väter regen zudem eher die Erforschung der kindlichen Umwelt, Neugier und spielerische Aneignung an. In den unterschiedlichen Entwicklungsphasen fungieren Väter potentiell immer wieder als Kompensator, Projektionsfläche und Herausforderer bezüglich der Mutter-Kind-Beziehung sowie der kindlichen Entwicklung (vgl. ebd., 29, 41). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die hohe Bedeutung „väterlicher Spielfeinfühligkeit“ (Grossmann et al. 2006, 54). Diese bezieht sich einerseits auf die Art, wie Väter während des gemeinsamen Spiels verbal und nonverbal auf die Kinder reagieren und mit ihnen kommunizieren bzw. spielrelevante Absprachen treffen. Andererseits wird anhand der Spielsituationen deutlich, ob und wie adäquat Väter während des Spiels auf ihre Kinder eingehen, sie zu realisierbaren Spielhandlungen ermutigen oder sie tatkräftig darin unterstützen. Hieran lässt sich auch die Beschaffenheit der Vater-Kind-Beziehung ablesen (vgl. ebd., 53-57). Der Grad der Spielfeinfühligkeit übt einen großen Einfluss auf die Struktur zentraler Aspekte wie des späteren Empfindens, der kognitiven Leistungen und des Agierens aus (vgl. ebd., 54). Er wirkt sich damit einhergehend im hohen Maße auf „das Vertrauen des Kindes in sich und andere, wenn es sich belastet fühlt, d.h. auf die Bindungssicherheit des Kindes“ (ebd.) aus. Ebenso wirkt es sich „auf sein Selbstvertrauen in neuen Situationen, d.h. auf seine Sicherheit beim Explorieren“ (ebd.) und sogar auf die „Vorstellungen von Freundschaft und späterer Partnerschaft“ (ebd.) aus. Essentiell ist außerdem die väterliche Rolle als männliche Identifikations- und Vorbildfigur (vgl. Petri 2009, 39). Davon können Söhne ebenso wie Töchter profitieren. Aufgrund der Gleichgeschlechtlichkeit ist eine Identifizierung der Söhne mit ihren Vätern wahrscheinlicher. Es kann überdies zu einer „wechselseitigen Identifikation“ (Matzner 2010, 126) kommen, welche durch die beidseitige Hervorhebung vorhandener Gemeinsamkeiten definiert wird (vgl. ebd.). Töchter erleben die verschiedenen Unterschiede zu ihren Vätern tendenziell als bereichernd und komplementierend. Ihre „Identität“ (ebd.) kann sich ebenso wie die der Söhne durch die Abgleichung mit und Abgrenzung vom Vater prozesshaft weiterentwickeln bzw. stabilisieren. Väter können somit in allen Lebensphasen ihrer Kinder vielfältige, Halt und Perspektiven anbietende Unterstützung leisten (vgl. ebd., 127).
Fehlen nun Familienväter aufgrund ihrer Inhaftierung über viele Jahre oder Jahrzehnte hinweg, kommt dies einer so wahrgenommenen „permanenten Vaterabwesenheit“ (Fthenakis 1988, 328) nahe. Betroffene Kinder müssen, je nach Alter bei der Inhaftierung und weiterer Faktoren, die erwähnten Entwicklungs- und Reifungsprozesse potentiell unter erschwerten Bedingungen bewältigen (vgl. Dzienko 2020, 8). Die Auswirkungen der väterlichen Abwesenheit „sind vielfältig und betreffen den kognitiven, den moralischen und den psychosozialen Bereich sowie die Geschlechtsrollenentwicklung.“ (Fthenakis 1988, 332) Im Gegensatz zu einem vollständigen Verlust der Väter kann ihre langandauernde Abwesenheit Kinder zudem in einen gefühlsmäßig quälenden Schwebezustand versetzen. Die häufig nicht abseh- und einschätzbare Dauer der Abwesenheit kann Kinder zutiefst verunsichern und zugleich wesentliche Verarbeitungsdynamiken erschweren (vgl. Petri 2009, 66, 72). Dieser Zustand kann auch als eine Variante „des uneindeutigen Verlustes“ (Boss 2000, 21) interpretiert werden (vgl. Roggenthin 2015, 4). Aufgrund der inneren Verankerung und der emotionalen Beziehung zu den Vätern sind sie für die Kinder weiterhin innerlich erinner- und erlebbar, obwohl sie realiter stark überwiegend körperlich abwesend sind. Anders als bei einem eindeutigen Verlust handelt es sich daher um kein trennscharf konturiertes, abschließend betrauerbares Ereignis (vgl. Boss 2000, 21-22). Es kommt vielmehr zu einer „erstarrten Trauer“ (ebd., 24). Darüber hinaus neigen Kinder überwiegend abwesender Väter dazu, diese zu verklären und somit ein undifferenziertes, scheinbar perfektes Bild von ihnen in sich aufzunehmen und sich mit diesem abzugleichen (vgl. Schon 2006, 25). Insbesondere im Falle der inhaftierten Väter kann dies gravierende Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben. Die Idealisierung kann der Entstehung des scheinbar erstrebenswerten Verhaltens zuträglich sein. Seltener tritt das andere Extrem der Verklärung auf, in welchem der Vater alle als schlecht bewerteten Eigenschaften verkörpert (vgl. ebd., 25-26). „In jedem Fall besteht die Gefahr einer Spaltung der Elternbilder in eine „nur gute“ Mutter und einen „nur bösen“ Vater oder umgekehrt. Reife und ambivalente Objektbeziehungen können nur verspätet oder gar nicht ausgebildet werden.“ (ebd., 26-27, Hervorh. v. Verf.) Diese Spaltung kann sich in der Konsequenz negativ auf das Selbstbild sowie auf spätere Beziehungen und die eigene Elternschaft der erwachsenen Kinder auswirken, sofern diese keine entgegengesetzten Erfahrungen oder Reflexionen erleben (vgl. Schon 1995, 74). Darüber hinaus kann die Beziehung zur Mutter darunter leiden, wenn Kinder die berechtigten, jedoch zurückgedrängten negativen Emotionen dem Vater gegenüber auf die Mutter projizieren (vgl. ebd., 26). Nach der Inhaftierung der Väter werden Mütter zudem mit der Lebensrealität konfrontiert, die meisten Aufgaben weitestgehend eigenständig bewältigen zu müssen. Sie sind gezwungen, die Erziehung der Kinder, den Lebensunterhalt und weitere Herausforderungen ohne die möglicherweise zuvor bestandene partnerschaftliche Unterstützung zu bewerkstelligen (vgl. Macion/Trombik/Zaun 2017, 150-151). Darüber hinaus sind sie mit der eigenen tieferen Verarbeitung der ungewohnten und anspruchsvollen Situation befasst. Aus diesen erschwerten Umständen kann eine starke Überlastung resultieren (vgl. Petri 2009, 84). Ähnlich wie bei anderen Formen der Trennung oder Scheidung kann dies den Boden für eine „Parentifizierung“ (Graf/Frank, 2001, 315) der Kinder bereiten (vgl. Bodenmann 2016, 213). Die Gründe für das Zustandekommen können unter anderem in der vorherrschenden bzw. möglicherweise neu organisierten Strukturierung des Familiensystems liegen. Dies gilt insbesondere für die Beschaffenheit der innerfamiliären „Grenzen“ (Jungbauer 2009, 12). Sind diese innerhalb der Familie nicht deutlich erkennbar oder leicht übertretbar, können Rollen und Verantwortlichkeiten verschoben werden. Dies geht mit den entsprechenden ungünstigen Konsequenzen, potentiell für die gesamte Familie, einher (vgl. ebd.). Parentifizierten Kindern werden elterliche Aufgaben und Funktionen auf direkte oder subtile Weise übertragen. Diese unangemessene Form der Verantwortungsübernahme führt dazu, dass sich die Belastungen verschieben und die jeweiligen Elternteile entlastet werden. Der Zuwachs an Anforderungen überschreitet die kindlichen psychischen und emotionalen Kapazitäten, Kompetenzen und vorgesehenen Aufgaben weit. Häufig geschieht der Vorgang auf Kosten der kindlichen Unbedarftheit, Entwicklung und weiterer grundlegender kindlicher Bedürfnisse. Die Konsequenzen sind umso evidenter, je jünger Kinder in diese Rolle gedrängt werden (vgl. Graf/Frank 2001, 318, 329, 335). Im Falle des inhaftierten Elternteils kann eine Parentifizierung deshalb so gravierend sein, weil die Kinder mehrfach belastende Lebensereignisse zugleich verarbeiten müssen. Bei weitestgehender Abwesenheit eines Elternteils bedürften sie einer greifbaren, verlässlichen und eigenverantwortlich agierenden Bezugsperson. Zusätzlich zu der ohnehin potentiell sehr schwierigen und zeitbedürftigen Einordnung und Verarbeitung der eigenen Gefühle werden die Kinder bewusst oder unbewusst genötigt, auch die ihrer Bezugsperson oder -personen zu übernehmen (vgl. Roggenthin 2015, 7). Im Zuge dessen „verlieren besonders Jungen ihr männliches Identifikationsobjekt und neigen schnell dazu, die Rollenfunktion des abwesenden Vaters zu übernehmen“ (Starke 2016, 11, Hervorh. v. Verf.). Aufgrund längerer oder langen Zeiten der Kontaktlosigkeit zu inhaftierten Vätern kann sich darüber hinaus eine „Entfremdung“ (Brendle/Wölfel 2017, 158) zu ihnen entwickeln (vgl. ebd.).
Diese Erkenntnisse verdeutlichen unter anderem das Risiko einer von außen zugetragenen Glorifizierung oder pauschalisierten Bagatellisierung der alleinigen Kindererziehung (vgl. Petri 2009, 84). Zugespitzt und streitbar formuliert lässt sich konstatieren: „Besonders die zur Ideologie geratene Auffassung, die Mutter könne allein den Ausfall des Vaters kompensieren, entstammt einem illusionären Wunschdenken im Rahmen einer missverstandenen Emanzipation. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der „allein erziehenden“ Mutter ein Euphemismus. Mit der Erziehung ist es nicht getan. Entscheidend für die psychische Entwicklung des Kindes sind seine Beziehungen. Erst von ihrer Qualität hängt der Erfolg jeder Erziehung ab. Im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeit benötigt das Kind dazu das komplementäre Bindungs- und Beziehungsgefüge zur Mutter und zum Vater.“ (ebd., Hervorh. v. Verf.) Bei möglichen Konflikten zwischen den Eltern ist dahingehend essentiell, dass Mütter den Vater-Kind-Kontakt weiterhin zulassen und fördern. Dies gilt unabhängig von dem Verhältnis der Eltern zueinander und findet sich auch in den gesetzlichen Bestimmungen wieder. Nach § 1684 Abs. 2 BGB sind beide Elternteile dazu angehalten, den Kontakt und die Beziehung der Kinder zum jeweils anderen Elternteil zu fördern. Mindestens zu einem Verzicht auf eine absichtsvolle Behinderung sind diese verpflichtet (vgl. Nomos Gesetze 2019, 691).
2.1.2 Verletzung der Kinderrechte
Kinder haben grundsätzlich verschiedene Rechte. Diese dienen u.a. der Stützung und dem Schutz bedeutsamer kindlicher Bedürfnisse. Sie sind demzufolge auch dem Erhalt der für sie relevanten, familiären Beziehungen zuträglich (vgl. Nomos Gesetze 2019, 691, 1044). Kinderrechte, die im Kontext von Trennungssituationen maßgebend sind, spiegeln sich sowohl im Grundgesetz[4] und dem Bürgerlichen Gesetzbuch als auch in der UN-Kinderrechtskonvention[5] wider. Sie werden je nach Gesetzesbuch unterschiedlich gewichtet und ausgelegt, weisen jedoch jeweils in eine ähnliche Richtung. Geregelt ist beispielsweise in § 1684 Abs. 1 BGB das Recht des Kindes „auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt.“ (ebd., 691). Somit wird also auch ein inhaftierter Elternteil zunächst einmal mit einbezogen. Ohnehin steht die Familie nach Artikel 6 des GG „unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ (ebd., 1044). In Artikel 9 UN-KRK wird das kindliche Recht nach einer elterlichen Trennung noch einmal deutlicher umrissen: „Die Vertragsstaaten achten auf das Recht des Kindes, das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht.“ (BMFSFJ 2018, 14) Betont wird auch in Artikel 3 UN-KRK: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (ebd., 12) So ist eine höhere Verfügbarkeit der Väter nicht pauschalisierbar mit positiven Folgen für Kinder verknüpft. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass ihre Inhaftierung für die betroffenen Kinder eine Entlastung bedeutet und somit kindeswohlförderlich ist. Die Wahrscheinlichkeit dafür steigt in den schwerwiegenden Fällen, in denen sie selbst Opfer der väterlichen Straftaten wurden. Auch in Zusammenhängen, in denen sich Väter anderweitig über einen langen Zeitraum hinweg kindeswohlgefährdend verhalten haben, besteht die Option, dass die betroffenen Kinder den Kontakt zu ihnen nicht wünschen bzw. durch ihre Abwesenheit entlastet werden (vgl. Roggenthin/Wick/Metje 2014, 7). Da das Kindeswohl einen so hohen Stellenwert einnimmt, ist es folglich allerdings auch dann vorrangig zu berücksichtigen, wenn der Kontakt von den Kindern gewünscht wird. Daran anknüpfend ist in Artikel 8 UN-KRK festgeschrieben, „das Recht des Kindes zu achten, seine Identität, einschließlich seiner Staatsangehörigkeit, seines Namens und seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen, ohne rechtswidrige Eingriffe zu behalten.“ (BMFSFJ 2018, 13) Auch Auszüge der „Mindestgrundsätze für Gefangene“ (Vereinte Nationen 1977, 2) stützen diese Rechte. Sie beziehen sich auf die inhaftierten Elternteile und wirken sich in ihrer Zielformulierung gleichzeitig auf deren Kinder aus. So sieht Artikel 37 vor, ihnen „zu gestatten, unter der notwendigen Aufsicht in regelmäßigen Abständen mit ihrer Familie und vertrauenswürdigen Freunden zu verkehren, sowohl durch Schriftverkehr als auch durch Empfang von Besuchen.“ (ebd., 8) Unter anderem zu dem Zwecke der Förderung familiärer Bindungen wird gefordert: „Mit jeder Anstalt sollen Sozialarbeiter[*innen] in Verbindung stehen, die mit der Aufgabe betraut sind, alle wünschenswerten Beziehungen der Gefangenen zu ihren Familien und zu den für sie nützlichen Sozialhilfeorganisationen aufrechtzuerhalten und zu verbessern.“ (ebd., 13) Es bestehen somit hinreichende Rechtsgrundlagen, welche eine Fokussierung auf die Förderung adäquater familiärer Bindungen theoretisch legitimieren und einfordern. Insbesondere der kindliche Anspruch auf einen kontinuierlichen und weitgehend bedingungslosen Umgang mit beiden Elternteilen ist rechtlich untermauert (vgl. BMFSFJ 2018, 14). Ein Strafvollzug, der die Kinder mitsamt ihren Rechten weitestmöglich mit einbezieht, erscheint daher als eine folgerichtige Konsequenz. Die Lebensrealität vieler Kinder inhaftierter Elternteile allerdings gestaltet sich überwiegend abweichend von dieser Idealvorstellung. In diesem Zusammenhang werden die Rechte Kinder inhaftierter Männer, welche, wie angeführt, den überwiegenden Teil der inhaftierten Menschen darstellen, zusätzlich benachteiligt. Der Mutter-Kind-Zusammengehörigkeit wird offensichtlich auch im Kontext des Strafvollzugs eine prioritäre Bedeutung beigemessen (vgl. Starke 2016, 20). So besteht nach § 80 Abs. 1 StVollzG ein prinzipieller, zu prüfender Anspruch für Kinder, mit ihren Müttern zusammen im Regelvollzug aufgenommen zu werden. Die Regelung gilt für Kinder, welche „noch nicht schulpflichtig“ (Nomos Gesetze 2019, 2466) sind. Zusätzlich dazu existiert eine gesetzliche Grundlage für den Einsatz von speziellen Errichtungen innerhalb des Frauenvollzugs, in denen Mütter mit ihren Kindern leben können. Ähnliche Möglichkeiten für Väter werden in diesem Kontext nicht erwähnt (vgl. ebd., 2477). Somit lassen sich kindgerecht ausgestaltete Mutter-Kind-Einrichtungen einerseits tendenziell befürworten, andererseits jedoch als „privilegierte Sondervollzugsformen für spezielle Klassen von Gefangenen“ (Feest 2011, 14) einordnen. Legitimiert werden könnten die unzureichenden Gegebenheiten innerhalb des Strafvollzugs mit der geringen Anzahl inhaftierter Straffälliger und deren Kindern. Wie erwähnt handelt es sich allerdings keineswegs um Einzelfälle. „Aber die Haftanstalten in Deutschland und den meisten anderen Staaten sind darauf in keiner Weise vorbereitet. Im Gegenteil: Das Gefängnis ist der Inbegriff einer kinderfeindlichen Institution.“ (Roggenthin 2015, 5) Dies wird im Hinblick auf die gängigen Rahmenbedingungen der Besuche im geschlossenen Vollzug deutlich. Die mit den Besuchskontakten verbundenen Vorgehensweisen laufen so technokratisch, formell und kontrollorientiert ab, dass sie eine für Kinder eher abschreckende, unwohlseinsfördernde Wirkung haben. Kindliche Besitztümer wie ein Teddy dürfen nicht in die Besuchsräume mitgenommen werden. Die Räume selbst sind meist einfallslos und zweckmäßig gestaltet. Dort können Väter bzw. Familien und Kinder nicht etwa ungestört spielen oder die wenigen gemeinsamen Stunde/n anderweitig wertvoll nutzen. Vielmehr sind die Räumlichkeiten eher beengt und werden darüber hinaus von mehren Besucher*innen geteilt. Auch die zusätzliche Anwesenheit von Beamt*innen ist möglich. Somit wird Kindern gleich mehrfach die Möglichkeit vorenthalten, sich geschützt und zumindest temporär willkommen zu fühlen. Nicht immer können Kinder ihre inhaftierten Eltern überhaupt besuchen, da die Besuchszeiten möglicherweise mit den Arbeitszeiten des sie begleitenden Elternteils oder beispielsweise den Zeiten ihres Kindertagesstätten- oder Schulbesuchs konfligieren. Daran ändert auch die während der letzten 16 Jahren stattgefundene, vereinzelte Ausweitung der Besuchszeiten wenig. Weiterhin sind die Zeiten auf die Abläufe in der Institution und das gesetzlich verankerte Recht der Inhaftierten ausgelegt. Dementsprechend folgen die distanzierten, unflexiblen Rahmenbedingungen der Besuche einer betriebswirtschaftlichen Logik (vgl. ebd., 5-6). „Der personelle Aufwand für die Organisation der Besuche ist durch die Zuführung der Gefangenen aus ihren Zellen, der Kontrolle der Besucher, der Überwachung der Besuche und ggf. der nachträglichen Durchsuchung der Gefangenen ohnehin sehr hoch. Kinder werden vor diesem Hintergrund eher als Störung im Betriebsablauf denn als pädagogische Herausforderung gesehen.“ (ebd., 6) Die Bedingungen und Vorgehensweisen zeichnen ein Bild, in welchem die Kinder mitsamt ihrer Rechte nicht die Anerkennung erhalten, welche ihnen zusteht. Ihre intramurale Anwesenheit scheint vielmehr als unerwünschtes Beiwerk hingenommen zu werden (vgl. ebd., 5-6). Die fehlende Orientierung an den Kinderrechten sowie Miteinbeziehung der kindlichen Perspektiven kann gravierende Folgen haben. Das beschriebene Vorgehen kann letztlich die gefühlsmäßige und gedankliche Integration der mit der väterlichen Inhaftierung verbundenen Erlebnisse erschweren. Die Verfahrensweise der Beamt*innen und Mitarbeiter*innen im Strafvollzug zementiert, dass das Hauptaugenmerk bezüglich der Besuchskontakte ausschließlich auf der inhaftierten Person liegt. Eine damit einhergehende Instrumentalisierung der Besuchsermöglichung zum alleinigen Erreichen des Langzeitziels der „Resozialisierung“ (ebd., 7) verschiebt den Fokus weiter weg von den Kindern (vgl. ebd.). Aufgrund der vielschichtigen Ignoranz ihrer Rechte kann auch das Vertrauen der Kinder in die entsprechenden Behörden und Beamt*innen erheblich geschwächt werden. Betroffene Kinder können behördenfeindliche Einstellungen entwickeln, welche sich nachhaltig negativ auf den Kontakt mit ebendiesen auswirken. Diese sich entwickelnde feindselige Einstellung kann sich langfristig unter Umständen im späteren Verstoß gegen die von behördlicher bzw. justizieller Seite vorgegebenen Gesetze äußern (vgl. Starke 2016, 25, 28). Kinder inhaftierter Straffälliger, die von der Nicht-Beachtung ihrer Rechte betroffen sind, befinden sich häufig in einer ohnehin prekären Lebenssituation. Ihnen werden selten das Wissen um ihre Rechte sowie die Ressourcen und die Handlungsfähigkeit vermittelt, sich diese zu erschließen. Daher wirkt sich eine diesbezüglich fehlende Sensibilität umso eklatanter aus (vgl. Liebel 2013, 17-18).
2.1.3 Stigmatisierung und Mobbing
Auf die elterliche Inhaftierung folgt häufig eine intra- und extrafamiliäre Leugnung oder fehlende Thematisierung des Geschehens. Diese dadurch verursachte „Blockade lebendiger Kommunikationsprozesse“ (Perner 2008, 108-109) kann weitreichende Auswirkungen auf Familien haben. Sie wirkt sich auf das vorherrschende Kommunikationsgeschehen aus und kann die Beziehungen zueinander unterschwellig massiv belasten (vgl. ebd.). Ein gewichtiger Grund für das Verschweigen gegenüber Freunden oder anderen relevanten Kontakten kann in der Tatsache begründet liegen, dass es sich bei der Inhaftierung um einen auch gesellschaftlich stark missbilligten und verdrängten Themenkomplex handelt (vgl. Bieganski/Starke/Urban 2013, 35). Aus dem Wissen darum resultieren „Scham und Angst vor Stigmatisierung sowie sozialer Isolation“ (Halbhuber-Gassner/Kappenberg/Krell 2017, 9). Die sowohl auf fehlgeschlagene Versuche der Geheimhaltung sowie auf eine mögliche Offenlegung der familiären Situation folgenden Stigmatisierungen beziehen sich nicht nur auf die inhaftierten Väter. Sie können sich gegen deren gesamte Familie und somit auch die Kinder richten (vgl. ebd.). Ein weiterer wesentlicher Faktor, welcher zur Entstehung von Stigmatisierung der Kinder inhaftierter Elternteile beitragen kann, ist die aus der Inhaftierung resultierende verschlechterte wirtschaftliche Lage der Familie. Zusätzlich zu möglicherweise bereits bestehendem Geldmangel entstehen ggf. hohe Kosten, welche mit dem Gerichtsverfahren im Zusammenhang stehen. Der dadurch verstärkte Mangel kann die Teilnahme an Schulausflügen oder weiteren Unternehmungen verhindern. Der damit einhergehende Ausschluss aus gemeinschaftlichen Aktivitäten kann zum sozialen Ausschluss aus der Klassengemeinschaft führen. Auch familiäre Umzüge können aufgrund der nicht mehr zu bewältigenden Mietkosten erforderlich werden. Daraus wiederum kann resultieren, dass Kinder bereits geknüpfte freundschaftliche Beziehungen verlieren. Aufgrund ihrer belastenden und veränderten Lebenssituation können sie Schwierigkeiten haben, neue Freundschaften zu entwickeln und sich neu einzugewöhnen (vgl. Starke 2016, 11). „Zusätzlich zur formellen Strafe des Elternteils fühlen Kinder oftmals eine Art „informelle Bestrafung“: Ausgrenzung in der Schule, Mobbing, Stigmatisierung und die Tatsache, von Lehrern als problematisch und nicht vertrauenswürdig wahrgenommen zu werden. Abfällige Kommentare auch über die Familie des Kindes können von Mitschülern und sogar von Seiten des Schulpersonals kommen. Andererseits werden betroffene Kinder oft bemitleidet, nicht zu herausfordernden schulischen Aktivitäten ermuntert oder aus manchen sogar ausgeschlossen. Ihnen wird dabei entweder kein Erfolg zugetraut oder es besteht die Sorge, sie könnten dabei zu Schaden kommen.“ (Šupljika 2017, 16, Hervorh. v. Verf.) Aus dieser unangemessenen Form der Bemitleidung und Schonung vonseiten der Fachkräfte lässt sich einerseits eine (unbewusst) missachtende Einstellung ablesen. Diese stellt das Gegenteil eines achtungsvollen Ausdrucks gegenüber den potentiell belastenden Lebensumständen und damit einhergehenden kindlichen Bewältigungsstrategien dar. Sie kann vielmehr zu einer weiteren, vermeidbaren Belastung führen (vgl. ebd.). Honneth (1990, 1050) beschreibt in diesem Kontext verschiedene Ausmaße der Missachtung. Eine Erscheinungsweise besteht ihmzufolge darin, Menschen die für sie essentiellen Formen der „sozialen Wertschätzung“ (ebd.) vorzuenthalten. Darüber hinausgehend erfahren diese eine direkte oder indirekte Abwertung ihrer prekären Lebenssituation, deren Herausforderungen sie ausgesetzt sind. Dadurch zu Tage tretende Ressourcen und Stärken werden nicht von außen positiv verstärkt, sondern ignoriert. In der Folge können für die jeweiligen Menschen bzw. Kinder Erfahrungen äußerster Frustration und Entmutigung entstehen (vgl. ebd.). Von fachlicher Seite wird zum anderen eine offensichtlich nicht minder tiefsitzende Verunsicherung und Unkenntnis im Umgang mit betroffenen Kindern erkennbar. Mit der dargestellten Haltung kann eine vollumfängliche Berücksichtigung und Förderung der vorhandenen Stärken schwerlich erfolgen. Darüber hinaus werden den jeweiligen Kindern essentielle Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten vorenthalten. Diese fühlen sich in der Folge möglicherweise übersehen, unterfordert und resignieren (vgl. Starke 2016, 16-18). Die dargelegten Verhaltensweisen widersprechen auch den ethischen Leitlinien, nach denen u.a. Schulsozialarbeiter*innen ihr Handeln ausrichten sollten. Die sozialarbeiterische Ethik verpflichtet Fachkräfte in jedem beruflichen Kontext zur „Achtung der Autonomie“ (Leinenbach/Stark-Angermeier 2014, 5), zur Förderung von „Gerechtigkeit“ (ebd.) sowie zu „Solidarität“ (ebd.) bezüglich der Menschen, die sie unterstützt. Sie zielt somit per Definition auf Entstigmatisierung ab (vgl. ebd.).
Generell konstitutiv für die Entwicklung von Stigmatisierungsvorgängen sind starke Irritationen von Erwartungshaltungen oder Ideen bezüglich der „soziale[n] Identität“ (Goffman 1975, 10) eines Menschen. Diese Annahmen sind subjektiver Natur und müssen daher keinesfalls mit dem tatsächlichen Wesen des jeweiligen Menschen übereinstimmen. Somit wird sozusagen nur dessen „virtuale soziale Identität“ (ebd., Hervorh. v. Verf.) konstruiert. Werden die getroffenen Annahmen also durch bestimmte abweichende Kennzeichen der Person verletzt, kann ein „Stigma“ (ebd., 11) entstehen. Die stigmatisierende Person legt die als negativ wahrgenommenen oder bezeichneten Anteile des stigmatisierten Menschen auf dichotome Weise aus. Der Fokus liegt hierbei ausschließlich auf dessen vermeintlichen Schwachstellen und der damit einhergehenden pathologisierten bzw. denunzierten Persönlichkeit (vgl. ebd., 10-11). Im Falle der inhaftierten Väter richten sich die Annahmen möglicherweise gegen deren „individuelle Charakterfehler, wahrgenommen als Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche Leidenschaften, tückische und starre Meinungen und Unehrenhaftigkeit“ (ebd., 12-13). Entsprechende Vorgänge lassen sich als Gegensatz zu einer differenzierten Einstellung charakterisieren. Die entstandenen Stigmatisierungen können demzufolge weitreichende Auswirkungen haben. So können sie nicht zuletzt zum weitgehenden sozialen Ausschluss bzw. zur Exklusion der jeweiligen Personen – bzw. der hier gemeinten Kinder – führen. Darüber hinaus werden diese im Kern ihrer Persönlichkeit angegriffen, was zu weiteren Schädigungen führen und die Entwicklung gefährden kann (vgl. Brusten/Hohmeier 1975, 2; Goffman 1975, 14). Bedeutsam in diesem Kontext ist die Verursachung von „Scham“ (Goffman 1975, 16), die die Betroffenen aufgrund der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen ihrem Wesen und dem geforderten Soll-Zustand spüren (sollen). Vermittelt werden können Empfindungen von Scham nicht nur durch die direkte, offensichtliche Konfrontation mit vorhandenen Unterschieden. Auch in Form von doppelsinnigen Botschaften oder getarnt in übertriebener Rücksichtnahme lassen sich Stigmatisierungsvorgänge erkennen. Die durch die abstrakte Vorgehensweise entstehenden Schamgefühle werden so mit einer potentiell noch größeren Verunsicherung gekoppelt (vgl. ebd., 22-25). Unter gewissen Umständen und in gewisser Hinsicht kann darüber hinaus eine unbewusste Stigmatisierung der Kinder vonseiten ihrer Mütter erfolgen. Insbesondere die Söhne können hiervon betroffen sein. Auf diese projizieren die jeweiligen Mütter die tendenziell abgelehnten Anteile der Kindsväter. Betroffene Kinder wiederum integrieren diese zuschreibenden Übertragungen in ihr Selbstbild und entwickeln sich selbst gegenüber negative Gefühle. Denkbar ist auch, dass sie sich als Konsequenz zumindestens in Teilen selbst abwerten und ablehnen (vgl. Petri 2009, 85). Neben den dargestellten Stigmatisierungsformen kann die genannte unzureichende institutionelle bzw. staatliche Erfüllung der Kinderrechte als eine „strukturelle Diskriminierung“ (Rüsch/Heland-Graef/Berg-Peer 2021, 43) gewertet werden (vgl. Neimann, 2009, 9). Insofern sind betroffene Kinder tendenziell mehrfachen Stigmatisierungsformen auf unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt. Ein potentiell mit Stigmatisierungen einhergehendes oder darauf folgendes Phänomen kann das erwähnte Mobbing darstellen. Prinzipiell wird zwischen „direkten Formen“ (Alsaker 2006, 38), „verbalen Formen“ (ebd.) und „indireken Formen“ (ebd., 39, Hervorh. v. Verf.) diskreditierender Handlungen und Äußerungen unterschieden. Die direkten Formen werden unter Kindern in offensichtlicher Weise über „physische Handlungen, die als aggressive Akte unverkennbar sind, aber häufiger noch Formen wie Festhalten, Beschmutzen, Bespritzen, Einsperren und bedrohende Annäherungen“ (ebd., 38) ausgedrückt. Die verbale Form erfolgt über „das Nachrufen von groben, gemeinen oder obszönen Namen, Auslachen und Bloßstellen etc.“ (ebd.). Indirektes Mobbing zeichnet sich durch unterschwelligere und unauffälligere Taten aus. Dazu zählen „nonverbale Akte, paraverbale Akte, Gerüchte, Ausgrenzungen und sogar Ingorieren. Weiter sind Drohungen und Erpressungen üblich.“ (ebd., 39) Diese sind unter anderem dadurch charakterisiert, dass sie bewusst und über einen längeren Zeitraum hinweg mehrfach vollzogen werden. Kennzeichnend ist außerdem die häufig auftretende Schwierigkeit, Mobbing als solches klar zu identifizieren. Dies trifft insbesondere auf die indirekten Mobbingformen sowie die ausschließliche Betrachtung isolierter Situationen zu. Isoliert beurteilt wirkt das Geschehen häufig banal, vielleicht sogar als typisch kindliches Verhalten. Dementsprechend wird es oft verharmlost (vgl. ebd., 40). Auch betroffene Kinder selbst tendieren in den uneindeutigen Mobbingsituationen dazu, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Diese Zweifel können durch die angewandten Verleugnungstaktiken der Mobber*innen zusätzlich befeuert werden (vgl. ebd., 38-40). Im Zuge der mehr oder weniger subtil angewandten Gewalt wird die vermeintliche oder partiell tatsächlich vorhandene Überlegenheit der Mobbing ausübenden Kinder hervorgehoben und eine klare Hierarchisierung zu ihren Gunsten geschaffen. Diese Wirkungen werden ferner aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung verstärkt. So speisen sich die genannten Taten bzw. Situationen zum Teil daraus, dass die Mobbing ausübenden Personen in der Regel nicht ohne Begleitung auftreten (vgl. Gebauer 2007, 32-33; Politi 2020, 2-4). In nächster Nähe zu den Mobber*innen bzw. entsprechenden Formationen befinden sich neben „Mitläufer[*innen]“ (Gebauer 2007, 34) entsprechende „Zuschauer[*innen]“ (ebd.), die das Geschehen aufgrund ihrer anspornenden, anerkennenden oder duldenden Reaktionen vorantreiben (vgl. ebd.). Das verunglimpfende Verhalten kann, vor allem bezogen auf Kinder, unter anderem aus deren kindlichen „Größenfantasien“ (ebd., 33) entspringen. Eine verhältnismäßig neue, weitere Form der Diffamierung besteht im „Cybermobbing“ (Katz 2014, 3). Die Facetten dieser im digitalen Raum stattfindenden, unpersönlichen Art des Mobbings weicht teilweisen von den dargestellten Ausprägungen ab. Eine dieser Abweichungen zeigt sich in der potentiellen Omnipräsenz digitaler und sozialer Medien. Das Zuhause der betroffenen Kinder gewährt daher keinen Schutzraum vor den Anfeindungen. Da ein zunehmend großer Teil der freundschaftlichen Kontakte in den sozialen Medien ausgelebt wird oder sich darauf bezieht, gestaltet sich auch ein Austritt aus entsprechenden Formaten schwierig (vgl. klicksafe/KonfliktKULTUR 2021, 43, Hervorh. v. Verf.). Der Entstehung und Aufrechterhaltung von Mobbingdynamiken verschiedenster Ausprägungen zuträglich können gewisse Faktoren sein, die in vorherigen Erfahrungen oder erworbenen Merkmalen der betroffenen Kinder begründet liegen. So können das kindliche Selbsterleben, das „Selbstbild“ (Mehl 2020, 115) und der „Selbstwert“ (ebd.) entscheidenden Einfluss auf Mobbingerfahrungen haben. Diese wiederum wirken wechselwirkend auf die das Selbst betreffenden Einstellungen zurück (vgl. ebd.). Eine bestehende niedrige Selbstachtung kann den Grundstein für die von außen erfahrenen Abwertungen legen. Ebenso kann eine erhöhte und sich im Verlauf der Mobbingerlebnisse ausweitende psycho-emotionale Verwundbarkeit diesbezügliche Prozesse in einem entsprechenden Umfeld begünstigen (vgl. ebd.; Riebel 2011, 184-185). Die Würde der von Mobbing betroffenen Kinder wird durch die Geschehnisse massiv untergraben. Bei betroffenen Kindern können psychosomatische oder weitere Folgen wie beispielsweise „Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Unwohlsein, Antriebslosigkeit, Schulverweigerung“ (Gebauer 2007, 46) resultieren. Allerdings können die Folgen noch weiter reichen: „Neben [möglichen] körperlichen Verletzungen erleiden Opfer soziale Ausgrenzung und tiefe Verletzungen ihres Selbstwerts, was sich wiederum negativ auf soziale Beziehungen, schulische Leistungen und die psychische Gesundheit auswirken kann. In manchen Fällen entwickeln sich ausgeprägte psychische Störungen, wie soziale bzw. generalisierte Angststörungen, psychosomatische Beschwerden und depressive Störungen.“ (Mehl 2020, 126) Es handelt sich bei den Folgen für die betroffenen Kinder somit eher um nach innen gerichtete oder vermeidende Auswirkungen (vgl. ebd.). Diese können so weitgehend akkumulieren, dass sich daraus sogar ein erhöhtes Risiko für suizidale Absichten und Handlungen ergibt (vgl. Reed/Nugent/Coopr 2015, 135-136). In anderen Fällen können die erfahrenen Demütigungen Kinder dazu verleiten, selbst Gewalt anzuwenden. Dadurch imitieren sie die Erlebnisse, allerdings nun in der Rolle der Überlegenen. Mittels selbst angewandter, repetitiver gewalttätiger Handlungen rufen sie die ihnen bekannten, meist negativen oder ambivalenten Reaktionen, hervor (vgl. Gebauer 2007, 42-48). Das gewalttätige Verhalten lässt sich bei starkem Ausmaß als delinquent bezeichnen und unter dem Begriff des abweichenden Verhaltens subsumieren (vgl. Lamnek 2013, 14). Dieses lässt sich wie folgt definieren: „Mit abweichendem Verhalten (auch: Devianz) werden Verhaltensweisen bezeichnet, die gegen die in einer Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden sozialen Normen verstoßen und im Falle der Entdeckung soziale Reaktionen hervorrufen, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern. Abweichendes Verhalten in der einen oder anderen Form findet man überall, denn wo es Regeln gibt, da gibt es auch Abweichungen von diesen Regeln […]. Was im Kontext einer einzelnen sozialen Gruppe als abweichend gilt, kann für die Gesamtgesellschaft oder andere Gruppen durchaus akzeptabel sein, während umgekehrt ein von der Mehrheit der Gesellschaft missbilligtes Verhalten in spezifischen Gruppen gebilligt oder sogar gefordert werden kann[6].“ (Peuckert 2008, 108, Hervorh. v. Verf.) Als deviant werden daher Kinder bezeichnet, deren Verhalten und Handeln den in einer bestimmten Gesellschaft geltenden Normen und Werten zuwider laufen (vgl. ebd.). Darüber hinaus handelt es sich im Rahmen der Delinquenz um „Normverstöße, die strafrechtlich sanktioniert werden können […].“ (Wittenberg/Wallner 2016, 27) Unter kindliche Delinquenz fallen alle strafrechtlich relevanten, normwidrigen Taten, die Kinder vor ihrem 14. Lebensjahr ausüben. In dieser Altersspanne sind die Handlungen i.d.R. noch nicht strafbar (vgl. Kluge/von Randow 1979, 1). Für die Entwicklung des delinquenten Verhaltens können unterschiedliche Einwirkungen eine Rolle spielen. Einige davon werden im Rahmen der „familiären Risikofaktoren für eine positive bio-psycho-soziale Entwicklung der Kinder“ (Deegener/Körner 2011, 173) aufgegriffen. Darunter fallen ein „[n]iedriger sozioökonomischer Status“ (ebd., 175) und „Trennungen/Verluste von Elternteilen“ (ebd.). Darüber hinaus wirkt sich „Kriminalität in der Familie“ (ebd.) begünstigend auf die Entstehung delinquenten Verhaltens aus. Zu diesem Schluss kommt auch Smith (vgl. 2013, 37) im Zuge seiner Analyse verschiedener Studien. Demnach besteht bei Kindern inhaftierter Elternteile eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das zukünftige Auftreten von Delinquenz. Darüber hinaus kann eine ggf. auf die Inhaftierung folgende „soziale Isolierung der Familie“ (Deegener/Körner 2011, 173) die Entstehung des abweichenden Verhaltens begünstigen. Die wechselwirkende Kumulation der Faktoren kann in der Konsequenz zu „geringe[n] Selbstwirksamkeitsüberzeugungen“ (ebd., 175), „Entwicklungsstörungen im kognitiven, sozialen, emotionalen und körperlichen Bereich“ (ebd.) und „Gewalt legitimierende[n] Männlichkeitsnormen“ (ebd., 176) führen. Wie vorangehend dargestellt, sind Kinder inhaftierter Elternteile somit potentiell mehrfachen Risikofaktoren ausgesetzt. Eine mögliche, häufig von den Söhnen ausgehende, Reaktion auf die elterliche Delinquenz kann mithin auch in der tendenziellen Nachahmung der inhaftierten Väter bestehen. Dies kann als eine indirekte Verbündung mit ebendiesem gedeutet werden. Unabhängig davon orientieren sich Kinder meist an den direkt und indirekt vorgelebten Werten, Normen und Verhaltensweisen ihrer Eltern. Diese können ihnen zunächst als erstrebens- und imitationswürdige Maßstäbe dienen (vgl. ebd., 171-176; Heinemann 2008, 12).
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- Felicita Fuchs (Autor), 2022, Kinder inhaftierter Straffälliger. Folgen für die Kinder und Relevanz einer Perspektiverweiterung im Strafvollzug, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1264233
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