Die Ausarbeitung beinhaltet eine Analyse der Text-Bild-Collage "Es gab auch stille Sätze" von Herta Müller. Diese ist im Jahr 2019 in Müllers Collagenband "Im Heimweh ist ein blauer Saal" publiziert worden. Der Collagenband beschäftigt sich inhaltlich mit der Umbruchszeit in Herta Müllers Biografie zwischen Rumänien und Deutschland, ist darauf aber nicht festgelegt. So wird auch die Sprache als eigenständiges Thema aufgegriffen. Trotzdem werden die Collagen Müllers auch als „Heimweh-Collagen“ tituliert. Die politische Thematik gepaart mit der Vagheit der Collage erlaubt es allerdings ebenso, die Collage auf heutige Situationen in Ländern mit repressiv-autokratischen Regierungen zu beziehen.
Demzufolge steht im Zentrum der Ausarbeitung die folgende These: Herta Müller bezieht sich in der vorliegenden Text-Bild-Collage Es gab stille Sätze auf die Sprache sowie die Lebensrealität von Menschen in einer diktatorischen, repressiven Gesellschaft. Die Text-Bild-Collage lässt sich somit biografisch, vor allem aber als bewusster Aufruf zur Gesellschaftskritik deuten. Hierbei bedient sich Herta Müller insbesondere der memoria als rhetorischen Arbeitsschritt, welche ebenfalls genauer analysiert werden soll.
Herta Müllers Collage „Es gab stille Sätze“
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Text-Bild-Collage von Herta Müller Es gab stille Sätze ist im Jahr 2019 in Müllers Collagenband Im Heimweh ist ein blauer Saal publiziert worden. Der Collagenband beschäftigt sich inhaltlich mit der Umbruchszeit in Herta Müllers Biografie zwischen Rumänien und Deutschland, ist darauf aber nicht festgelegt. So wird auch die Sprache als eigenständiges Thema aufgegriffen. (vgl. Moser 2020, S. 68) Trotzdem werden die Collagen Müllers auch als „Heimweh-Collagen“ tituliert. (vgl. Erb/ Hamann 2020, S. 95; Pallitsch 2019, o. S.) Die politische Thematik gepaart mit der Vagheit der Collage erlaubt es allerdings ebenso, die Collage auf heutige Situationen in Ländern mit repressiv-autokratischen Regierungen zu beziehen. Demzufolge steht im Zentrum der Ausarbeitung die folgende These:
Herta Müller bezieht sich in der vorliegenden Text-Bild-Collage Es gab stille Sätze auf die Sprache sowie die Lebensrealität von Menschen in einer diktatorischen, repressiven Gesellschaft. Die Text-Bild-Collage lässt sich somit biografisch, vor allem aber als bewusster Aufruf zur Gesellschaftskritik deuten. Hierbei bedient sich Herta Müller insbesondere der memoria als rhetorischen Arbeitsschritt, welche im Folgenden genauer analysiert werden soll.
Zunächst lässt sich laut Erb und Hamann ein wesentliches Merkmal der Collagen Müllers darin ausmachen, dass diese sich auf der einen Seite mit „objektivierbar Vordergründige[m], [...] der verbürgten Oberfläche" und auf der anderen Seite mit den „Gefühlen, Gerüchen, [...] der Sinnlichkeit des subjektiv Erlebten“ auseinandersetzen. Dementsprechend behandelt Herta Müller in ihren Werken immer auch die „historische Realität", während sie simultan traumatisierende und belastende Erlebnisse aufarbeitet (Erb/Hamann 2020, S. 95). Weitergehend bedarf es aufgrund der Komplexität und Schwere der dargestellten traumatischen Erlebnisse oftmals einer Verschiebung von der semantischen in die bildliche Ebene; sodass aus Wörtern schriftbildliche Komplexe entstehen. So verwendet Herta Müller Bilder, um ihre Collagen zu vervollständigen. In ihrer Arbeitsweise geht sie so vor, dass sie „Buchstaben, Wörter, Fotografien, Zeichnungen, Farbflächen, grafisch Abstraktes und anderes mehr aus den Zeitschriften" (ebd. S. 80) herausholt, dieses sammelt und sortiert. Sie bricht die Bestandteile aus der ursprünglichen Anordnung; aus dem ursprünglich intendierten Kontext heraus, um den Bestandteilen in ihren Text-Bild-Collagen neue Kontexte zu geben und neue Perspektiven zu ermöglichen (vgl. ebd. S. 80). Durch dieses Verfahren, Schreiben handwerklich zu arbeiten, setzt Müller den Prozess des kulturellen Erinnerns beziehungsweise der memoria sinnbildlich um. Hierbei wird gesellschaftliches Wissen sowie gesellschaftliche Erfahrungswerte in Bilder (imago) überführt. Aufgrund dessen erscheinen die Text-BildKompositionen einprägsam. Wegen der Materialität und der Beschaffenheit (Zeitschriftenschnipsel) der Collagen Müllers, ist es möglich, Erinnertes in zweifacher Perspektive offenzulegen. So wird zum einen der kulturell erinnerte Kontext der ursprünglichen Zeitschriftenartikel ins Gedächtnis der Rezipienten und Rezipientinnen gerufen und zum anderen wird durch den neu geschaffenen Kontext „produktiv und deutungsgenerierend“ gewirkt (vgl. Kißling S. 45). Dadurch collagiert Müller produktiv neue gesellschaftliche Erinnerungen, woraus wiederum laut Berndt und Tonger-Erk eine „kulturformierende Kraft“ hervorgeht, da für Müller der Prozess des Weglassens als Arbeitsgang des Memorierens offensteht. (Berndt/ Tonger-Erk 2013, S. 133)
Über den rhetorischen Arbeitsschritt der memoria lässt sich sagen, dass die Überführung von Erlebnissen in (Sprach-)Bilder ein produktiver und deutungsgenerierender Vorgang ist, der sich vor allem für Herta Müllers Collagen aufdrängt; Müller arbeitet nicht per Zufall. Ihre Technik zeigt, dass die Repetition der bereits in Zeitungen verwendeten Buchstaben und Wörter kein Abbild derselben ist, sondern eine Sinnverschiebung erzeugt. So wird das, was in Vergessenheit zu geraten droht, durch diesen Prozess in die Sphäre des Erinnerns zurückgeholt (vgl. Kißling i. E. 2022, o. S.).
Auf inhaltlicher Ebene ist die zentrale Aussage dieser Text-Bild-Collage, dass es drei Arten von Sätzen gibt. Das Oxymoron der „stille[n] Sätze mit Pupille“ (Z. 1) kann so interpretiert werden, dass es in der mündigen Bevölkerung des sozialistischen rumänischen Zentralstaats, in welchem Müller aufgewachsen ist, durchaus Regimekritik gab; diese wurde jedoch aufgrund von Angst vor Repressalien nicht geäußert; diese Sätze der unterdrückten Bevölkerung blieben still, obwohl die Menschen weiterhin aufmerksam die unzufriedenstellende Realität beobachteten und analysierten. Anschließend wird die nächste Satzart genannt: „UND MÜDE mit Kaderschmiede“(Z. 2 ff.). Durch die Aussparung des Wortes „Sätze“ im zweiten Teilsatz wird die Müdigkeit und Ohnmacht der Unterdrückten deutlich; die Sätze werden auch hier nicht mitgeteilt. Müller beschreibt ihren Zustand von damals wie folgt: „Ich hatte in der Zeit der übelsten Schikanen das Schlafen verlernt, ich wusste gar nicht mehr, wie es geht. Ich war so chronisch müde, der Wind blies durch mich hindurch, die Füße waren aus Blei und der Kopf eine Glaskugel, durchsichtig.“ (Müller 2018 zitiert nach Erb und Hamann) Das Kompositum „Kaderschmiede“ ist, wenn man dem Duden folgt, ein Ort, an dem Kader ausgebildet werden. Kader meint wiederum eine Führungsmannschaft oder eine Kerntruppe; Herta Müller bezieht sich hiermit auf das zentralistische rumänische Regime, in welchem sie von Geburt an bis ins Erwachsenenalter gelebt hat. Der letzte schriftliche Teil der Collage: „die hölzernen Sätze FINGEN AN mit einem Umgehungsplan.“(Z. 3 ff.) meint Sätze, die von Seiten des Staates zu jener Zeit getroffen wurden. Hier wurden bewusst Inhalte verschwiegen und umgangen. Der Informationsvorenthalt war zentralistisch geplant; folgte dementsprechend einem „Umgehungsplan“ und da die Ausdrucksweise der staatlichen Behörden nicht gerade kunstvoll erschien, benennt Herta Müller diese mit „hölzern“.
Da die Collage im Präteritum bleibt, fragt man sich zwangsläufig, ob oder inwiefern die Sprache der Gegenwart und der Zukunft Differenzen zur beschriebenen Sprache aufweist. Ich deute die Collage hier so, dass Herta Müller repressive zentralistische Regime, welche ihren Machterhalt oftmals durch die Einschränkung von Meinungsfreiheit versuchen zu wahren, kritisiert und gleichzeitig, dies wird aber nur durch Auslassung impliziert, die lauten, aufgeweckten und stilistisch gewandten (=sozial- und gesellschaftskritischen) Sätze innerhalb einer Demokratie nicht nur befürwortet, sondern auch als Zeichen der Freiheit und der Gerechtigkeit versteht.
Diese Collage deutet den Zustand der Sprache, welche immer auch Lebensrealitäten der Menschen beschreibt, innerhalb zentralistischer und diktatorischer Staatsformen. Ein klarer biografischer Bezug ist zwar denkbar, allerdings sagt Herta Müller: „Die Repression ist in Diktaturen immer vergleichbar, sie mag in asiatischen oder osteuropäischen Ländern oder in muslimischen Gottesstaaten wie dem Iran stattfinden. Auch die Angst ist überall gleich. In all diesen Ländern darf nicht der Einzelne entscheiden, alles wird in der Zentrale entschieden, und wenn einer so durchgeknallt ist wie der Staatspräsident Chinas, dieser Xi Jinping, dann wehrt sich keiner, aus Angst vor Gefängnis oder Repressalien. Es sind stets dieselben Mechanismen wie eh und je. Was ich heute über China in der Zeitung lese, kenne ich, ich habe es tausendmal erlebt, und es geht immer weiter. Das ist ein Muster.“ (Eke/ Hamann 2020, S. 17) Nur durch geschickte Auslassung wird der besondere Stellenwert, den Herta Müller sozialund gesellschaftskritischen Werken zuspricht, impliziert. Diese These lässt sich auch an ihrem Vorwort im behandelten Collagenband Im Heimweh ist ein blauer Saal festmachen, wo sie schreibt: „Früher musste ich das Geschriebene heimlich von zu Hause wegtragen und bei unverdächtigen Bekannten verstecken, weil ich Angst vor Hausdurchsuchungen hatte. Dass ich heute zu Hause hunderttausende Wörter besitze, halte ich für ein Glück. Und wenn ich unterwegs bin, wo ich seinerzeit angefangen habe, die Collagen zu machen, denke ich oft daran, dass die Wörter auf mich warten. Dass sie offen herumliegen dürfen, ist für mich ein Ausdruck von Privatheit, von Ungezwungenheit, sogar von persönlicher Freiheit. Denn Wortbesitz im Überfluss ist das Gegenteil von früher, von Zensur.“
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- Arbeit zitieren
- Julian Knoll (Autor:in), 2022, Herta Müllers Collage "Es gab auch stille Sätze". Aufruf zur Selbstbestimmung und Freiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1262684
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