Vor dem Hintergrund der Untersuchung zu den geschichts- und erkenntnistheoretischen Intentionen der Berliner Kindheit wurde Benjamins optische Begrifflichkeit bisher kaum berücksichtigt. Diese bildet den konkreten Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Einen literarischen Text hinsichtlich seiner optischen Begrifflichkeiten zu untersuchen, setzt voraus, dass unter Optik nicht nur das rein physiologische Verhältnis des Auges zu Welt verstanden wird, sondern, dass der Begriff der Optik in den der visuellen Wahrnehmung insofern eingeht, als er den Bezug der Seh- und Darstellungsweisen zur Psychologie seiner Zeit mit einschließt. Der Betrachter ist untrennbarer Bestandteil der modernen Sehkultur.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist der kindliche Blick in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (beschränkt auf die beiden Stücke Loggien und Kaiserpanorama). Der Blick ist ein Beispiel, an dem Wahrnehmung sowohl als kulturhistorisches Phänomen als auch als ästhetisches Paradigma untersucht wird. In den zu untersuchenden Texten ist er demnach nicht nur Thema, sondern auch formgebendes Prinzip.
Dass Sinneswahrnehmung literarische Texte nicht nur strukturieren kann, sondern in der Moderne zum Ansatzpunkt einer neuen Ästhetik wird, zeigt Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf; in seinem Essay Der Autor als Produzent hatte er diese These an den neuen literarischen Formensprachen exerziert. Ihm zufolge führt die Veränderung der Wahrnehmung zu einem „gewaltigen Umschmelzungsprozess literarischer Formen“ .
Im Folgenden soll auf den Modus des kindlichen Blicks als Wahrnehmungsmodus in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert eingegangen werde. Zuerst allerdings werde ich zwischen den Begrifflichkeiten Blick und Erinnerung als Wahrnehmungsmodi unterscheiden und diese von einander abgrenzen. Anschließend werde ich anhand der Beispiele Loggien und Kaiserpanorama untersuchen welche Rolle der kindliche Blick in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert spielt. Wieso hat er das Kind an diese Orte geschickt oder den Blick auf Gegenstände richten lassen und nicht den Erwachsenen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Kind und dem sich Erinnernden?
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Blick und Erinnerung als Wahrnehmungsmodi
2.2 Blick
2.3 Erinnerung
3 Analyse des kindlichen Blicks in der Berliner Kindheit anhand von Beispielen
3.1 Loggien
3.2 Kaiserpanorama
4 Schluss
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Vor dem Hintergrund der Untersuchung zu den geschichts- und erkenntnistheoretischen Intentionen der Berliner Kindheit wurde Benjamins optische Begrifflichkeit bisher kaum berücksichtigt.[1] Diese bildet den konkreten Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Einen literarischen Text hinsichtlich seiner optischen Begrifflichkeiten zu untersuchen, setzt voraus, dass unter Optik nicht nur das rein physiologische Verhältnis des Auges zu Welt verstanden wird, sondern, dass der Begriff der Optik in den der visuellen Wahrnehmung insofern eingeht, als er den Bezug der Seh- und Darstellungsweisen zur Psychologie seiner Zeit mit einschließt. Der Betrachter ist untrennbarer Bestandteil der modernen Sehkultur.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist der kindliche Blick in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (beschränkt auf die beiden Stücke Loggien und Kaiserpanorama). Der Blick ist ein Beispiel, an dem Wahrnehmung sowohl als kulturhistorisches Phänomen als auch als ästhetisches Paradigma untersucht wird. In den zu untersuchenden Texten ist er demnach nicht nur Thema, sondern auch formgebendes Prinzip.
Dass Sinneswahrnehmung literarische Texte nicht nur strukturieren kann, sondern in der Moderne zum Ansatzpunkt einer neuen Ästhetik wird, zeigt Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf; in seinem Essay Der Autor als Produzent hatte er diese These an den neuen literarischen Formensprachen exerziert. Ihm zufolge führt die Veränderung der Wahrnehmung zu einem „gewaltigen Umschmelzungsprozess literarischer Formen“[2].
Im Folgenden soll auf den Modus des kindlichen Blicks als Wahrnehmungsmodus in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert eingegangen werde. Zuerst allerdings werde ich zwischen den Begrifflichkeiten Blick und Erinnerung als Wahrnehmungsmodi unterscheiden und diese von einander abgrenzen. Anschließend werde ich anhand der Beispiele Loggien und Kaiserpanorama untersuchen welche Rolle der kindliche Blick in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert spielt. Wieso hat er das Kind an diese Orte geschickt oder den Blick auf Gegenstände richten lassen und nicht den Erwachsenen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Kind und dem sich Erinnernden?
2 Hauptteil
2.1 Blick und Erinnerung als Wahrnehmungsmodi
In der Berliner Kindheit wird die Thematisierung der visuellen Wahrnehmung sinnfällig in den Überschriften der einzelnen Stücke, aus denen sie besteht: Loggien, Kaiserpanorama, Tiergarten, Die Siegessäule, Wintermorgen, Winterabend. Das Kind, von dem der Autor erzählt, sieht aus der Loggia in den Hof oder lässt die Bilder im Kaiserpanorama an sich vorüberziehen. Fast in jedem Stück eröffnet sich ihm eine Position, von der aus er einen visuellen Zugang zu einem Raum erhält, der alle im Blick liegenden Einzeldinge umfasst und dessen Grenzen mit den Grenzen eines optischen Wahrnehmungsvermögens zusammenfallen.
Vom Leser wird erwartet, dass er sich an den Standort des Kindes begibt, um von dort aus dem kindlichen Blick und der sich durch ihn manifestierenden Wahrnehmung der Räume zu folgen. Sich an den Standort des Kindes zu begeben, heißt jedoch auch, in der Zeit zurückzugehen und auf eine Zeit zu treffen, für die Benjamins Gestaltung von Räumen und Sichtweisen zum Zeichen einer umgreifenden Veränderung der Vorstellung vom Sehen wird.
2.2 Blick
Architektur wird laut Benjamin doppelt rezipiert, „durch Gebrauch und durch Wahrnehmung“[3]. Da sich Sehen und Tasten im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Betrachtung trennen, ersetzt der Begriff des Gebrauchs die ursprüngliche Einheit beider Sinne unter der Voraussetzung des Verlustes der subjektiven Beziehung zum wahrgenommenen Raum. Dieser subjektiven Beziehung als Bestandteil einer Theorie der Erfahrung kommt eine Schlüsselposition in Benjamins Werk zu. In der Berliner Kindheit ist sie unablösbar von seinem Wahrnehmungsbegriff.[4] Wenn die „Erfahrung einer Dimension menschlicher Praxis ist, in der Selbst- und Weltverhältnis und umgekehrt das Selbstverhältnis als Weltverhältnis artikulierbar wird“[5], so soll – auch aus etymologischen Gründen[6] - im Folgenden der Begriff des Sehens durch den des Blicks ersetzt werden.
Der Blick selektiert einen Wahrnehmungsgegenstand aus seiner Umwelt, fixiert ihn und kommuniziert mit ihm. Er verknüpft nicht nur den subjektiven Betrachter mit dem Objekt seiner Betrachtung, sondern definiert dieses Verhältnis ständig neu. Der kindliche Blick ist individualgeschichtlich als Ausdruck des Selbstbewusstseins des Kindes interpretierbar[7], geschichtlich als Ausdruck der Struktur einer zunehmenden Beherrschung der Objektwelt. Inszeniert wird dieser Blickwechsel im Berliner Stadtraum der Jahrhundertwende.
2.3 Erinnerung
Benjamins Erinnerungsmodell weist eine große Nähe zum psychoanalytischen Verfahren auf.[8] Freud geht davon aus, dass das Wahrnehmungssystem kein Gedächtnis habe.[9] Ihm zufolge wird erst durch die Umwandlung von Wahrnehmungsreizen, durch ein in zeitlicher Abfolge hinter dem Wahrnehmungsapparat liegendes System die Erregung in Dauerspuren, d.h. Erinnerungsspuren umgesetzt.[10] Innerhalb des psychischen Apparats sind die funktional ausdifferenzierten Systeme aufeinandergeschichtet.[11]
Einen Beleg für Benjamins Freud-Rezeption liefert, neben der zweimaligen Erwähnung von Jenseits des Lustprinzips in seinem Verzeichnis gelesener Schriften, das im Umkreis der Denkbilder angesiedelte Fragment Ausgraben und Erinnern, das sich in geringfügig abgewandelter Form im Textkonvolut der Berliner Chronik, einer Vorstufe der Berliner Kindheit, wiederfindet:
So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muss daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muss, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene anderen vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.[12]
Benjamin analogisiert die Erinnerung mit der archäologischen Ausgrabung. Dabei wird die zeitliche Abfolge in ein räumliches Bild überführt. Bei Freud sind räumliche Relationen Teil eines topischen Modells, das die funktionelle Ausdifferenzierung psychologischer Vorgänge in ein Wahrnehmungs- und Erinnerungssystem veranschaulicht. Bei Benjamin sind räumliche Relationen Darstellungsmittel, um die Erinnerung und damit zeitliche Relationen in Bild zu übertragen. Erst aus dem In-Beziehung-Setzten der Bilder zu ihrem Fundort lässt sich eine Erinnerung rekonstruieren. Es sind vordergründig nicht die aufgezeichneten Erregungsvorgänge im kindlichen Betrachter, die erinnert werden, sondern eine ursprüngliche Besetzung von Räumen und Bildern[13], die durch den kindlichen Blick und vermittelt über seinen Standort veranschaulicht werden. Die Erinnerung besitzt selbst Wahrnehmungscharakter. Benjamin verknüpft sie mit dem Ort und dem primären sinnlichen Eindruck, den dieser im Betrachter hinterlässt. Dem geht voraus, dass Benjamin das Gedächtnis als „Medium für die Erkundung des Vergangenen“[14] bestimmt und ihm somit einen eigenen Ausdruckscharakter abspricht. Auf diese Weise findet eine Überlagerung von Erinnerungs- und Wahrnehmungsvorgang in Benjamins bildlicher Darstellung statt. Wahrnehmung und Erinnerung entstehen nur im Zuge einer Interaktion zwischen Betrachter/ sich Erinnerndem und der ihn umgebenden Welt. Mit dem Ort wird auch der Betrachter/ sich Erinnernde thematisiert.
Darüber hinaus erfüllt die Erinnerung auch eine poetische Funktion. In ihrem Vollzug entsteht die ästhetische Erfahrung. Erst jene schafft die notwendige ästhetische Distanz zum Gegenstand, die für diese konstitutiv ist.[15] Subjekt dieser Erfahrung ist nicht das Kind, sondern der sich erinnernde Erwachsene. Der Blick des Kindes wird dann ästhetisch, wenn seine ursprüngliche Wahrnehmung durch den sich Erinnernden literarisch gerahmt und ins Bild gesetzt ist. Wahrnehmung und Erinnerung stehen in der Berliner Kindheit sowohl inhaltlich als auch formal in einem direkten Wechselverhältnis. Ihre Veränderungen werden an einem neuen Gegenstandsbereich, der Großstadt[16], expliziert und in einer neuen Form gestaltet, die sich als „räumlich, blitzhaft, fragmentarisch und diskontinuierlich“[17] charakterisieren lässt.
[...]
[1] Weigel, S., Passagen und Spuren des „Leib- und Bildraumes“, S. 57.
[2] Benjamin, W., Der Autor als Produzent, GS II, 2, S. 687.
[3] Vgl. Günter, M., Anatomie des Anti-Subjekts, S. 154.
[4] Kleinspehn, T., Der flüchtige Blick, S. 239.
[5] Kleinspehn, T., Der flüchtige Blick, S. 239.
[6] Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 132.
[7] Stoessel, M., Aura. Das vergessene Menschliche, S. 89ff.
[8] Weigel, S., Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, S. 256ff.
[9] Freud, S., Die Traumdeutung, S. 516.
[10] Freud, S., Die Traumdeutung, S. 514.
[11] Freud. S., Brief an Wilhelm Fließ, 1, S. 217.
[12] Benjamin, W., Denkbilder, GS IV, 1, S. 400f.
[13] Lindner, B., Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘, S. 29.
[14] Benjamin, W., Denkbilder, GS IV, 1, S. 400f.
[15] Vgl. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 113f.
[16] Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 231.
[17] Vgl. Lindner, B., Allegorie, S. 83.
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- Olga Hock (Author), 2008, Welche Rolle spielt der kindliche Blick in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126002
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