Die Vereinigten Staaten von Amerika sehen sich einer terroristischen Bedrohung ausgesetzt, die das Leben von mehreren tausend Menschen gefährdet. Die Hoffnungen, die unmittelbar bevorstehende Katastrophe abwenden zu können, ruhen auf einem Bundesagenten, der zusammen mit seinen Kollegen einer Anti-Terror-Einheit den Kampf ge-gen die Terroristen aufnimmt. Diesem Schreckensszenario fiebern Woche für Woche Millionen von Menschen entgegen: Die Thrillerserie 24, in der Situationen wie die beschriebene dargestellt werden, gilt seit ihrem Start im US-Fernsehen im November 2001 als großer Publikumserfolg.1 Auch die Kritik lobt das Format und attestiert diesem ein hohes Maß an Dramatik und Spannung. Zudem werden immer wieder die für eine Fernsehserie innovativen Techniken, wie die Erzählweise in Echtzeit oder die Verwendung von Split-Screens, besonders hervorgehoben. Seit einiger Zeit jedoch sehen sich die Verantwortlichen der Serie mit diversen Vorwürfen konfrontiert. So wird bemängelt, dass sich nach bislang sechs ausgestrahlten Staffeln gewisse Abnutzungserscheinungen bemerkbar machten, und die Serie durch ihre Formelhaftigkeit zu vorhersehbar geworden sei.2 Diese Kritikpunkte treffen in ähnlicher Form sicher auf eine Vielzahl von Fernsehserien mit einer langen Laufzeit zu, und letztlich macht es auch einen Teil des Erfolgs einer Serie aus, dem Zuschauer hinsichtlich der Handlung eine gewisse ‚Verlässlichkeit‘ zu bieten. Was die Kritik an 24 so brisant macht, ist der Umstand, dass zu den regelmäßig wiederkehrenden Handlungselementen auch die Anwendung von Folter zählt. Der Serie wird vorgeworfen, solche Folterhandlungen als effektives Mittel zur schnellen Informationsbeschaffung darzustellen und Probleme, die mit diesen Maßnahmen verbunden sind, auszublenden. Im Hinblick auf die momentan stattfindenden Diskussionen zur Legalität bestimmter Verhörmethoden und zur Zulassung der sogenannten ‚Rettungsfolter‘ werden Stimmen laut, die Serie trage dazu bei, die Anwendung von Folter gesellschaftlich zu legitimieren. In dieser Arbeit soll analysiert werden, auf welche Art und Weise die Folterthematik in 24 dargestellt wird. Dabei ist zu prüfen, welche narrativen Funktionen die Folterszenen erfüllen, und wie diese Sequenzen bildlich vermittelt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Folter
2.1 Definition
2.2 Geschichte
2.3 Das Folterverbot im Völkerrecht
2.4 Der aktuelle Diskurs der Folter
2.4.1 Zur Zulassung der ‚Rettungsfolter‘
2.4.1.1 Argumente nach Brugger
2.4.1.2 Argumente nach Greco
3. Mediale Darstellungen von Folter
3.1 Marathon Man
3.2 Dirty Harry
4. Folterdarstellungen in der Serie 24
4.1 Einführung in die Serienthematik
4.2 Kritik an den Folterdarstellungen
4.3 Szenenanalyse
4.3.1 Echtzeitformat und Dilemma-Prinzip
4.3.2 Inhaltliche und formale Vermittlung der Folter
4.3.3 Problematisierung der Folter
5. ‚Torture Porn‘
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Vereinigten Staaten von Amerika sehen sich einer terroristischen Bedrohung ausge- setzt, die das Leben von mehreren tausend Menschen gefährdet. Die Hoffnungen, die unmittelbar bevorstehende Katastrophe abwenden zu können, ruhen auf einem Bundes- agenten, der zusammen mit seinen Kollegen einer Anti-Terror-Einheit den Kampf ge- gen die Terroristen aufnimmt. Diesem Schreckensszenario fiebern Woche für Woche Millionen von Menschen entgegen: Die Thrillerserie 24, in der Situationen wie die be- schriebene dargestellt werden, gilt seit ihrem Start im US-Fernsehen im November 2001 als großer Publikumserfolg.1 Auch die Kritik lobt das Format und attestiert diesem ein hohes Maß an Dramatik und Spannung. Zudem werden immer wieder die für eine Fern- sehserie innovativen Techniken, wie die Erzählweise in Echtzeit oder die Verwendung von Split-Screens, besonders hervorgehoben.
Seit einiger Zeit jedoch sehen sich die Verantwortlichen der Serie mit diversen Vor- würfen konfrontiert. So wird bemängelt, dass sich nach bislang sechs ausgestrahlten Staffeln gewisse Abnutzungserscheinungen bemerkbar machten, und die Serie durch ih- re Formelhaftigkeit zu vorhersehbar geworden sei.2 Diese Kritikpunkte treffen in ähnli- cher Form sicher auf eine Vielzahl von Fernsehserien mit einer langen Laufzeit zu, und letztlich macht es auch einen Teil des Erfolgs einer Serie aus, dem Zuschauer hinsicht- lich der Handlung eine gewisse ‚Verlässlichkeit‘ zu bieten. Was die Kritik an 24 so bri- sant macht, ist der Umstand, dass zu den regelmäßig wiederkehrenden Handlungsele- menten auch die Anwendung von Folter zählt. Der Serie wird vorgeworfen, solche Fol- terhandlungen als effektives Mittel zur schnellen Informationsbeschaffung darzustellen und Probleme, die mit diesen Maßnahmen verbunden sind, auszublenden. Im Hinblick auf die momentan stattfindenden Diskussionen zur Legalität bestimmter Verhörmetho- den und zur Zulassung der sogenannten ‚Rettungsfolter‘ werden Stimmen laut, die Se- rie trage dazu bei, die Anwendung von Folter gesellschaftlich zu legitimieren.
In dieser Arbeit soll analysiert werden, auf welche Art und Weise die Folterthematik in 24 dargestellt wird. Dabei ist zu prüfen, welche narrativen Funktionen die Fol- terszenen erfüllen, und wie diese Sequenzen bildlich vermittelt werden. In Zusammen- hang damit wird untersucht, ob das Bild, das die Serie von der Anwendung der Folter zeichnet, tatsächlich so undifferenziert ist, wie Kritiker es bemängeln.
Zunächst erfolgt eine Definition des Begriffs der ‚Folter‘. Nach einem kurzen Über- blick über die grundlegenden Züge der historischen Entwicklung der Folter wird das völkerrechtlich festgehaltene Folterverbot dargestellt. Der aktuelle politische und gesell- schaftliche Diskurs der Folter wird nachfolgend – unter Bezugnahme auf die Vorgänge in Abu Ghuraib und den Fall des entführten und ermordeten Jakob von Metzler – the- matisiert. Anhand zweier gegensätzlicher Positionen werden dann die Argumente erläu- tert, die bei der umstrittenen Frage nach einer Zulassung der ‚Rettungsfolter‘ geltend gemacht werden.
In einem nachfolgenden Schritt wird dargelegt, warum es in der jüngeren Vergan- genheit offenbar zu einer Zunahme an Folterdarstellungen in den verschiedenen Medi- en gekommen ist. Dabei wird gezeigt, dass zwischen fiktiven und realen Bildern eine Wechselwirkung besteht. Anhand der Filme Marathon Man und Dirty Harry wird ver- anschaulicht, wie das Kino die Folter thematisiert und darstellt.
Nach einer kurzen Einführung in die Thematik des Formats 24 wird die Kritik zu- sammengefasst, die sich bezüglich der in der Serie gezeigten Folterszenen artikuliert hat. Die darauffolgende Analyse der Darstellung der Folter konzentriert sich auf drei Gesichtspunkte: Zunächst wird untersucht, wie sich das Echtzeitformat und das Dilem- ma-Prinzip auf den Gebrauch der Folter in der Serienhandlung auswirken; anschlie- ßend wird geprüft, wie die Anwendung dieser Maßnahmen inhaltlich und formal ver- mittelt wird, wobei ein besonderes Augenmerk auf der bildlichen Darstellung liegt. Au- ßerdem wird analysiert, ob im Zusammenhang mit der Folter auftretende Probleme so- wie negative Konsequenzen für Täter und Opfer von der Serie – wie von der Kritik be- mängelt – tatsächlich vollständig ausgeblendet werden.
Abschließend wird kurz auf die seit einiger Zeit äußerst populären Horrorfilme ein- gegangen, die durch eine explizite Darstellung von Folterszenen auffallen, und für die sich deshalb die Bezeichnung ‚Torture Porn‘ eingebürgert hat. Es wird dargelegt, wie sich diese Filme in ihrer Thematisierung und Darstellung der Folter von 24 unterschei- den.
2. Zur Folter
2.1 Definition
Beim Versuch, den Begriff der ‚Folter‘ umfassend zu definieren, treten Schwierigkeiten auf, die nach Peters durch den Wandel, den die Folter in ihrer Entwicklung und ihrer Betrachtungsweise erfahren hat, bedingt sind. So sei die rein rechtliche Definition der Folter seit dem 17. Jahrhundert nach und nach durch eine moralische ersetzt worden, die ihrerseits seit dem 19. Jahrhundert von einer gefühlsbetonten verdrängt wurde. Der Be- griff der ‚Folter‘ sei deshalb heute ein moralisch-emotionaler, der ein nicht näher spezi- fiziertes Leiden meint, das ein Mensch einem anderen Menschen mit oder ohne Grund zufügt.3 Eine etwas präzisere, wenn auch knappe Formulierung findet sich im Lexikon: Hier ist Folter als Zufügung physischer oder psychischer Schmerzen zur Erzwingung ei- ner Aussage definiert.4
An dieser Stelle soll sich im Hinblick auf die weiteren Ausführungen auf die rechtli- che Dimension der Folter konzentriert werden. Die einzige weltweit geltende Definition findet sich in Art. 1 Abs. 1 des Anti-Folter-Übereinkommens der Vereinten Nationen:5
Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Folter‘ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für ei- ne tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhendem Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht wur- den. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.6
Nach dieser Definition gilt das Zufügen von Schmerzen also nur dann als Folter, wenn es durch eine in amtlicher Eigenschaft handelnde Person bzw. auf deren Veranlas- sung oder mit deren Einverständnis geschieht. Peters spricht in diesem Zusammenhang von einer unausweichlich öffentlichen Dimension der Folter, da sie ein Vorgang sei, dem jemand seitens einer staatlichen Instanz und aus vorgeblich öffentlichem Interesse unterworfen werde.7 Während sich das Anti-Folter-Übereinkommen in Bezug auf den Urheber der Schmerzen also auf amtliche Personen beschränkt, umfasst seine Begriffs- bestimmung hinsichtlich Zweck oder Absicht des Zufügens der Schmerzen eine Viel- zahl unterschiedlicher Formen wie z. B. Geständnisfolter, Aussagefolter, Straffolter oder Vernichtungsfolter.8 Für die weiteren Betrachtungen scheint es sinnvoll, drei Ele- mente festzuhalten, die nach Breuer kennzeichnend für die Folter sind: Neben dem Be- stehen eines räumlichen und physischen Gewaltverhältnisses zwischen dem Folterer und seinem Opfer sind dies das Zufügen von körperlichen Schmerzen oder seelischem Leiden sowie die Verfolgung eines bestimmten Zwecks.9
2.2 Geschichte
Fast die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch ist die Anwendung von Folter als le- gales Mittel anerkannt worden, bis sie im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung in größerem Umfang verboten wurde.10 Dabei lässt sich feststellen, dass die Geschichte nicht geradlinig in Richtung der Abschaffung der Folter verlief, sondern von Fortschrit- ten, Umbrüchen und Rückfällen geprägt ist.11 Grundsätzlich können drei Gründe für die Anwendung von Folter unterschieden werden: als Mittel der Wahrheitsfindung, als Straf- oder Züchtigungsmaßnahme sowie als reine Quälerei aus niederen Motiven.12
Im antiken Griechenland vollzog sich ein Wechsel von einem archaischen zu einem sehr viel komplexeren Rechtssystem, bei dem neben dem Problem des Beweises die Unterscheidung zwischen einem freien Mann und einem Sklaven Bedeutung erlangte. Während die bereitwillige Aussage eines Bürgers als ‚natürlicher‘ Beweis galt, wurde Sklaven ein erzwungener Beweis unter Gewalt abgerungen, um ihre Aussagen so de- Für die Analyse der Thematisierung von Folter in den in dieser Arbeit behandelten Filmen und in 24 kann diese Beschränkung der Folter auf einen Vorgang, der öffentlichen Instanzen vorbehalten ist, allerdings nicht aufrecht erhalten werden. nen der freien Bürger gleichzustellen.13 Nach Aristoteles war basanos, die Folter, eines der ‚äußeren‘ Beweismittel, die bei einem gerichtlichen Prozess verwendet werden konnten. Dabei durften dieser basanos nur Sklaven und – unter bestimmten Vorausset- zungen – Fremde unterworfen werden. Allerdings finden sich keine Belege dafür, dass die Folterung von Sklaven weit verbreitet oder gar gebräuchlich war bzw. dass die Athener eine hohe Meinung von auf solche Weise erlangten Zeugenaussagen hatten.14
Ähnlich wie im griechischen Recht durften auch im römischen Reich zunächst nur Sklaven gefoltert werden, und dies auch nur dann, wenn sie eines Verbrechens ange- klagt waren. Erst später konnten sie – mit starken Einschränkungen – auch als Zeugen einer Folterung unterzogen werden. Waren die freien Bürger zunächst von der Anwen- dung der Folter ausgenommen, konnte sie diese Maßnahme während der Kaiserzeit zu- nächst bei Fällen von Verrat, später jedoch bei immer mehr Vergehen treffen.15 Nach- dem die Christen im ersten Jahrhundert unter die Anhänger verbotener Religionsge- meinschaften fielen, wurden auch sie dem Personenkreis zugerechnet, der einem Folter- verhör und einer nachfolgenden schmachvollen Aburteilung unterworfen werden konn- te.16 Zwischen dem zweiten und vierten Jahrhundert wurde das Privileg, von der Folter ausgenommen zu sein, immer mehr ausgehöhlt, bis die alte Trennungslinie zwischen privilegierten freien Bürgern und Sklaven schließlich verschwunden war, und sich auch erstere bei verschiedensten Delikten mit der Folter bedroht sahen.17 Zwar belegen Quel- len, dass sich Kaiser und Juristen der Problematik des Wahrheitsgehalts der unter Folter gemachten Aussagen durchaus bewusst waren; sie sahen jedoch – wie vor ihnen bereits die Griechen – offenbar keine Veranlassung, sich dieser höchst unzuverlässigen Prakti- ken zu entledigen.18
Gegen Ende der Antike und im frühen Mittelalter trat die Folter in den Hintergrund, bis sie im Hochmittelalter wieder stärker praktiziert und in die Rechtssysteme aufge- nommen wurde.19 So kam es im 12. Jahrhundert in Europa zu einer Revolution der Rechtskultur, die die Strafrechtsordnung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts prägen soll- te. Eine der wichtigsten Neuerungen war, dass das alte Anklageverfahren durch ein In- quisitionsverfahren ersetzt wurde, in dem statt eines bestätigten und überprüften Eides eines freien Bürgers nun das Geständnis als ‚Königin der Beweise‘ die höchste Stelle in der Beweishierarchie einnahm. So erklärt sich das Wiederauftauchen der Folter zu die- ser Zeit weniger aus dem Status des Angeklagten oder der Art des Verbrechens (wie noch im griechischen und römischen Recht) als aus dem Stellenwert, der dem Geständ- nis im Gerichtsverfahren nun zukam.20
Im damaligen Rechtssystem gab es nur zwei Beweise, die allein für eine Verurtei- lung ausreichten: Ein Angeklagter konnte entweder aufgrund der Aussage zweier Au- genzeugen oder auf Grund seines Geständnisses verurteilt werden. Gab es weder ent- sprechende Zeugenaussagen noch ein Geständnis, konnten zwar Indizien als Teilbewei- se herangezogen werden, jedoch reichten diese für einen Urteilsspruch nicht aus. Als einziger Ausweg blieb nach der Rechtslage ein Geständnis, und um dieses zu erhalten, griff man auf die Folter zurück.21 Dabei zielte die Anwendung der Folter nicht auf ein einfaches Schuldbekenntnis, sondern auf eine eindeutige Aussage, die Details zum Tat- hergang enthielt, die, so die Annahme, außer dem Täter niemand wissen konnte. Dabei waren bestimmte Bedingungen an den Einsatz der Folter gebunden: neben dem Vorhan- densein eines Augenzeugen oder eines wahrscheinlichen Grundes, dass der Angeklagte das Verbrechen begangen hatte, musste das Gericht zudem davon überzeugt sein, dass die Folter zu einem Geständnis führen würde. Daneben wurde der Angeklagte beschwo- ren, von sich aus zu gestehen, wobei man ihm häufig die Folterwerkzeuge zeigte, bevor man sie einsetzte.22
Bevor sie Folter anordneten, waren die Richter gehalten, erst jedes andere Mittel zur Aufdeckung der Wahrheit heranzuziehen. Zudem war ein unter Folter abgelegtes Ge- ständnis noch nicht gültig – erst musste es abseits des Folterorts noch einmal abgelegt werden. Widerrief der Angeklagte, konnte die Folter allerdings wiederholt werden, da das erste Geständnis als Indiz gegen ihn gewertet wurde. Für die Foltermaßnahmen selbst gab es eine Vielzahl von Regeln. So durften sie z. B. nicht barbarisch sein (wie auch immer ‚barbarisch‘ definiert wurde) und nicht zum Tode oder dauerhaften Körper- schäden führen.23
In der Mitte des 13. Jahrhunderts wurde die Folter auch zum festen Bestandteil des kirchlichen Inquisitionsverfahrens und gegen Ketzer eingesetzt. Dabei ging es den In- quisitoren nach Peters nicht nur um die ‚Errettung der Seele‘, sondern auch darum, den Gefolterten die Namen anderer Ketzer abzupressen, da es sich bei der Ketzerei in der Regel um eine gemeinschaftlich begangene Straftat handelte. Der Umstand, dass es sich bei den frühen kirchlichen Inquisitoren nicht um Experten des rechtlichen Verfahrens handelte, scheint dazu geführt zu haben, dass der Inquisitionsprozess in außergewöhn- lich drastischer Weise durchgeführt wurde, und die traditionellen, zum Schutz des An- geklagten entworfenen Sicherheitsvorkehrungen oft nicht beachtet wurden.24
Nach Schild waren weder das Mittelalter noch die frühe Neuzeit so unaufgeklärt, wie es heute vielleicht den Anschein hat. Immer habe es Diskussionen um die rechtliche Zulassung der Folter und ihre Vereinbarkeit mit der christlichen Ethik gegeben. Die Ge- fahr, dass jemand unter Schmerzen dazu gebracht werden könnte, die Unwahrheit zu sa- gen, und die Obrigkeit so ihre Pflicht verletzten könnte, keinen Unschuldigen zu töten, lag auf der Hand.25 So wiesen Juristen darauf hin, bei der Anwendung von Folter größte Vorsicht walten zu lassen, um sicherzustellen, dass die Menschen nur die Wahrheit ge- stünden. Man war sich der immer wieder vorkommenden Regelverstöße bei der Durch- führung der Folter also bewusst; Peters stellt jedoch fest, dass die rechtswissenschaftli- che Auseinandersetzung mit der Folter nicht deren Abschaffung, sondern allenfalls eine Beendigung des Missbrauchs anstrebte. Auch seine Verfechter kannten die Mängel des Inquisitionsverfahrens, einen gänzlichen Verzicht darauf konnten sich jedoch weder Verteidiger noch Kritiker des Systems vorstellen.26
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts führte die stärker werdende Kritik an der Fol- ter schließlich zu ihrer Abschaffung in fast allen Ländern. Die europäischen Folterge- setze wurden seit 1750 immer weiter eingeschränkt, bis sie schließlich kaum noch eine Rolle spielten. Die Folter wurde zum Hauptangriffsziel der aufklärerischen Kritik, die sich gegen die Barbarei und Rückständigkeit der frühen europäischen Welt richtete; es entstand eine umfangreiche Literatur, die die Folter aus rechtlichen und moralischen Gründen verurteilte. Nach dem Ende des 18. Jahrhunderts waren mit dem Begriff ‚Fol- ter‘ allgemein negative Assoziationen verbunden, und die Anwendung dieser Maßnah- me galt als Feind einer menschlichen Rechtsprechung.27 Obwohl die Abschaffung der Folter also auch im Zusammenhang mit dem Denken der Aufklärung steht (da dieses darauf drängte, das wachsende Bewusstsein von Würde und Wert eines Menschen müs- se sich auch in der Rechtsprechung manifestieren),28 führt Peters an, dass die humanitä- re Diskussion in Europa kaum Wirkung gezeigt hätte, wenn nicht gleichzeitig das Ge- ständnis und die Notwendigkeit, dieses zu erlangen, im Rechtsverfahren an Bedeutung verloren hätten. Das allmähliche Verschwinden der Folter sei deshalb als Ergebnis des Zusammentreffens verschiedener Veränderungen zu sehen, die sich im 17. und 18. Jahr- hundert unabhängig voneinander vollzogen.29
Im 20. Jahrhundert tauchte die Folter – nach wie vor unvereinbar mit den meisten Strafgesetzen – im Gebrauch politischer und legaler Instanzen wieder auf. Einige Staa- ten begannen, zunächst in politischen, außerrechtlichen Bereichen, dann aber auch in je- nen der routinemäßigen Rechtspflege, die schützende Funktion des Rechts zu ignorie- ren.30 So scheint ab 1917 die russische Geheimpolizei Tscheka in Fällen, die im Ver- dacht standen, mit konterrevolutionären Aktivitäten zusammenzuhängen, Folter regel- mäßig angewandt zu haben.31 Auch im faschistischen Italien setzte die politische Ge- heimpolizei OVRA ab 1929 Folter im Falle von Personen ein, die im Verdacht standen, Feinde des Staates oder des Volkes zu sein.32 In Deutschland führte die nationalsozialis- tische Theorie ab 1933 im Bereich der Justiz zur Erweiterung der Definition des politi- schen Verbrechens und zur Verschärfung der Verhörmethoden und Strafen. Im Juni 1942 gab SS -Reichsführer Himmler einen Erlass heraus, der zum Einsatz des sogenann- ten ‚dritten Grades‘ ermächtigte, womit eindeutig Folter gemeint war. So sollten mit Maßnahmen wie körperlichen Qualen und Schlafentzug Aussagen erzwungen werden, wenn Hinweise vorlagen, dass der Gefangene über nützliche Kenntnisse, z. B. den Wi- derstand betreffend, verfügte.33
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg und trotz der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen kam es in mehreren Staaten zu Fällen von Folterung, so zum Bei- spiel in einigen Ländern, die unter sowjetischen Einfluss gerieten34 sowie verschiede- nen afrikanischen Staaten.35 Die Aufdeckung von Foltervergehen, die die französische Armee Mitte der fünfziger Jahre an algerischen Rebellen verübte,36 vervollständigt nach Peters eine Lektion, die die Welt lernen müsse: dass die Folter nicht mit den gesetzli- chen und rechtlichen Formen der Aufklärung verschwunden sei.37 Die Menschenrechts- organisation Amnesty International geht davon aus, dass derzeit in etwa 150 Ländern der Welt Gefangene gefoltert oder misshandelt werden.38
2.3 Das Folterverbot im Völkerrecht
Mit der Weiterentwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg hat auch der völkerrechtliche Schutz der Rechtsstellung von Indivi- duen an Bedeutung gewonnen. Zu den zentralen Normen dieses Schutzes gehört das Folterverbot.39 Vielfältig in den internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankert, wird die Bedeutung dieses Verbots an seinem Rang deutlich, den es innerhalb der Nor- menhierarchie einnimmt: Es ist allgemein anerkannt, dass ihm der Rang zwingenden Völkerrechts zukommt. In allen allgemeinen Menschenrechtsverträgen, die seit dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, sind weitestgehend ähnliche Vorschriften zu fin- den, die ein absolutes Verbot jeglicher Folter sowie sonstiger grausamer oder un- menschlicher Behandlung aussprechen.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 stellt den Ausgangspunkt der völkervertraglichen Verankerung des Folterverbots dar. Die entspre- chende Formulierung in Art. 5 wurde zum Vorbild entsprechender Bestimmungen sämt- licher nachfolgender Menschenrechtsinstrumente:40 „Niemand darf der Folter oder grau- samer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen wer- den.“41 Da diese Erklärung als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nati- onen keine rechtliche Bindungswirkung besitzt, kann sie jedoch allenfalls als Indiz für bestehendes Völkergewohnheitsrecht angesehen werden. Sämtliche später erarbeiteten Instrumente hingegen sind völkerrechtliche Verträge, die die jeweiligen Mitgliedstaaten völkerrechtlich verpflichten.
Stellvertretend sei hier auf die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. No- vember 1950 verwiesen, in deren Art. 3 ein Folterverbot festgehalten ist.42 Schutzgut dieses Artikels ist die physische und psychische Integrität des Menschen, wobei der Eu- ropäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Auffassung vertritt, dass nur solche Eingriffe in diese Integrität eine Verletzung von Art. 3 darstellen, die eine be- stimmte Intensität erreichen und darüber hinaus eine Missachtung der Person als Mensch erkennen lassen. Um zu bestimmen, ob eine Handlung als Folter oder sonstige dem Verbot unterfallende Behandlung anzusehen ist, hat der EGMR versucht, die unbe- stimmten Rechtsbegriffe der Vorschrift zu klären. So ist eine Handlung dann als Folter anzusehen, wenn eine absichtliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vor- genommen wird und sie gewollt sehr ernste und grausame Leiden bewirkt. Ausschlag- gebend für die Abgrenzung einer Maßnahme, die als Folter eingestuft wird, von einer Maßnahme, die als ‚unmenschliche Behandlung‘ oder ‚erniedrigende Behandlung‘ gilt, sind u. a. die Dauer der Behandlung sowie das Ausmaß der physischen und psychischen Folgen.43
Auf Initiative der Generalversammlung der Vereinten Nationen entstand das spezifi- sche Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedri- gende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 198444, dessen Besonderheit darin liegt, dass es weitreichende Handlungs- und Unterlassungspflichten für die Vertrags- staaten begründet. So müssen diese wirksame Maßnahmen treffen, um Folter zu verhin- dern; außerdem wird festgehalten, dass außergewöhnliche Umstände wie Krieg, Kriegs- gefahr, sonstige öffentliche Notstände oder von einem Vorgesetzten erteilte Weisungen nicht als Rechtfertigung für Foltermaßnahmen geltend gemacht werden dürfen. Ferner sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, Folterhandlungen zu mit angemessenen Strafen verbundenen Straftaten zu machen.45 Neben diesen Pflichten für die Staaten enthält das Übereinkommen auch Paragraphen, die die Rechte der Folteropfer betreffen: Jeder, der behauptet, gefoltert worden zu sein, hat Anspruch auf Prüfung dieses Vorwurfs durch unparteiische Behörden. Außerdem müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass den Opfern von Folterungen Wiedergutmachung und Schadensersatz geleistet wird. Zudem dürfen durch Folter erlangte Aussagen nicht als Beweismittel verwendet werden.46
Erwähnenswert ist, dass die in diesem Übereinkommen enthaltene Definition der Folter klarstellt, dass die gefolterte Person nicht diejenige sein muss, von der ein be- stimmtes Verhalten erpresst werden soll. Werden also beispielsweise Familienmitglie- der oder Freunde einer Person A, die zur Aussage gezwungen werden soll, (in deren Ge- genwart) gefoltert, so gilt diese Maßnahme auch als Folter an Person A. Außerdem liegt nach der Definition des Übereinkommens Folter auch dann vor, wenn bei der betroffe- nen Person ‚nur‘ große seelische Schmerzen wie z. B. starke Angstgefühle hervorgeru- fen werden.47
Das Folterverbot nimmt in der völkerrechtlichen Normenhierarchie einen hohen Rang ein, da es in den genannten Menschenrechtsverträgen immer unbedingt gewährt ist und darüber hinaus auch in Zeiten eines öffentlichen Notstands nicht außer Kraft ge- setzt werden darf, was das Folterverbot von den meisten anderen völkervertraglich ga- rantierten Menschenrechten abhebt.48
2.4 Der aktuelle Diskurs der Folter
In jüngster Vergangenheit sind die Folterthematik und die Frage nach Reichweite und Grenzen des Folterverbots wieder verstärkt ins Blickfeld des öffentlichen Interesses ge- raten und zum Gegenstand politischer Diskussionen geworden. Auslöser hierfür sind nach Kreuzer die Veränderung der weltweiten Politik in Richtung Terrorismusbekämp- fung sowie terroristische Aktionen selbst, wie Anschläge im Nahen Osten oder die At- tentate vom 11. September 2001.49 Für den öffentlichen Diskurs zur Folter spielen vor allem zwei Vorfälle eine Rolle, auf die stets Bezug genommen wird, und die den Dis- kurs so mitprägen. Sie sollen kurz dargestellt werden.
Zum einen sind dies die Berichte und Fotos aus dem von US-Truppen genutzten Ge- fängnis Abu Ghuraib im Irak, die im Mai 2004 erstmals an die Öffentlichkeit gelangten.
Dort stationierte US-Militärpolizisten wurden angeklagt, irakische Gefangene misshan- delt zu haben; ihnen wurde vorgeworfen, vor Verhören den Widerstandswillen von In- haftierten durch Demütigungen gebrochen zu haben. So seien einige Gefangene zu se- xuellen Handlungen gezwungen worden, andere hätten sich auf den Boden legen müs- sen, während ihre Peiniger über ihre Körper hinweg getrampelt seien. Das Foto des ira- kischen Gefangenen, der mit verhülltem Kopf und ausgebreiteten Armen, an denen Ka- bel befestigt sind, auf einer Kiste steht, und dem gedroht wurde, ihm würden Strom- schläge verabreicht, wenn er von der Kiste fiele, oder das Bild, auf dem zu sehen ist, wie eine amerikanische Bewacherin mit erhobenem Daumen vor nackten Gefangenen posiert, wurden zu Symbolbildern dieses Skandals. US-Präsident Bush bezeichnete die Vorgänge als ‚widerwärtig‘, versicherte doch, sie entsprächen nicht dem amerikani- schen Wesen.50
Breuer jedoch merkt an, „dass die amerikanische Regierung bei der Frage der An- wendung des humanitären Völkerrechts – vor allem der Genfer Konvention – bislang unentschlossen agiert hat“51. Schon länger sei eine ambivalente Einstellung der USA gegenüber völkerrechtlichen Vorgaben zu beobachten.52 Unter anderem wurde der US- Regierung vorgeworfen, bestimmte Formen von körperlichen Misshandlungen oder so- gar Foltermethoden bei Verhören mutmaßlicher Terroristen genehmigt zu haben. US- Präsident Bush betonte zwar, Folter widerspreche den Wertvorstellungen des amerikani- schen Volkes53 – ein Gesetz, das den Einsatz der umstrittenen Verhörmethode des ‚Wa- terboardings‘ verbietet, wurde jedoch durch sein Veto gestoppt. Das Gesetz nehme den USA eines der nützlichsten Werkzeuge im Kampf gegen den Terror, erklärte Bush.54
Der andere Vorfall betrifft die Entführung des Bankierssohn Jakob von Metzler; ein Verbrechen, das eine Debatte nach sich zog, die nach Kreuzer zwar um Lösungen für ein Sachproblem bemüht, daneben aber auch von Emotionen und Polemik bestimmt war.55 Im September 2002 wurde der elfjährige Sohn der Frankfurter Bankiersfamilie von Metzler, Jakob von Metzler, auf dem Heimweg von der Schule entführt. Der 28- In diesem Zusammenhang sei auch das US-Militärlager Guantanamo Bay erwähnt, das in der Kritik steht, da hier Terror-Verdächtige ohne Verfahren und ohne Rechtsgrundlage festgehalten werden. (Vgl. Hoyng/von Ilsemann: Privatkrieg auf Staatskosten, S. 134.)
jährige Jurastudent Magnus Gäfgen fesselte sein Opfer, verklebte ihm Nase und Mund und beobachtete das Sterben des Kindes, dessen Leichnam er später an einem Bootssteg versteckte. Am Haus der Eltern hinterlegte Gäfgen einen Erpresserbrief mit der Forde- rung nach einer Million Euro. Als die Familie von Metzler das Lösegeld zahlte, konnte die Polizei Gäfgen bei der Übergabe beobachten und ihn einen Tag später festnehmen.
Beim nachfolgenden Verhör führte Gäfgen die Polizei auf falsche Spuren und nann- te ein falsches Versteck, das angeblich zum Opfer führen sollte. Zu diesem Zeitpunkt wusste die Polizei nicht, ob der entführte Junge noch lebte. Erst, als der Frankfurter Po- lizeivizepräsident Wolfgang Daschner Gäfgen Schmerzen androhen ließ, um den Auf- enthaltsort des Kindes zu erfahren, nannte der Täter das wahre Versteck. Vor Gericht wurden zunächst sämtliche Geständnisse Gäfgens als Beweismittel ausgeschlossen, da sie aufgrund der Androhung von Schmerzen gemacht worden seien. Später jedoch ge- stand Gäfgen die Tat vor Gericht und gab zu, den Tod des Kindes bei der Tat einkalku- liert zu haben.56 Er wurde wegen Mordes und erpresserischen Menschenraubes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Polizeivizepräsident Daschner wurde wegen An- stiftung zu einfacher Nötigung verurteilt mit einer Verwarnung und dem Vorbehalt ei- ner verhältnismäßig geringen Geldstrafe und einer Bewährungszeit.57
2.4.1 Zur Zulassung der ‚Rettungsfolter‘
An die Entführung und den nachfolgenden Prozess schloss sich eine Diskussion an, bei der auch die Frage aufgeworfen wurde, ob das bestehende, völkerrechtlich abgesicherte Folterverbot absolut und ausnahmslos gelte, oder ob gewisse Situationen denkbar seien, die Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen zulassen würden.58 Die wichtigsten Grundzüge dieser Diskussion sollen hier anhand zweier Texte dargelegt werden, die je- weils zu einem unterschiedlichen Fazit kommen, was die Zulassung der ‚Rettungsfol- ter‘59 in bestimmten Ausnahmesituationen betrifft.
Beide Autoren legen ihren Überlegungen das Auftreten einer sogenannten ticking bomb-Konstellation zugrunde. Damit sind fiktive Szenarien gemeint, die in Details von- einander abweichen, aber immer folgende Grundannahmen aufstellen: Die Polizei ver- hört unter Zeitdruck einen Kriminellen, der das Leben anderer Menschen bedroht. Der Gefangene verweigert unter legalen Verhörmethoden die Aussage. Darf die Polizei Fol- ter anwenden, um das Leben der bedrohten, unschuldigen Menschen zu retten?
2.4.1.1 Argumente nach Brugger
Nach Winfried Brugger kann die Absolutheit des Folterverbots in Ausnahmefällen dazu führen, dass der Täterschutz dem Opferschutz vorgeordnet werde und Gerechtigkeits- maßstäbe auf den Kopf gestellt würden. Er entwirft ein ticking bomb-Szenario, in dem ein Terrorist ‚in der Heimatstadt des Lesers‘ eine Zeitbombe versteckt hat, die in fünf Stunden explodieren und alle Bewohner der Stadt und der Umgebung töten wird. Der Erpresser wird von der Polizei festgenommen, gibt das Versteck der Bombe aber auch nach Androhung aller zulässigen Zwangsmittel nicht preis. Der Erpresser stellt diverse Forderungen, nach deren Erfüllung er das Versteck verraten würde. Die Polizei glaubt aus faktischen und rechtlichen Gründen, die Forderungen nicht erfüllen zu können und sieht das nötigenfalls gewaltsame ‚Herausholen‘ des Verstecks als einziges Mittel der Gefahrenbeseitigung.60
Brugger stellt bei der juristischen Beurteilung dieses fiktiven Szenarios fest, dass die in Deutschland geltenden polizei- und verfassungsrechtlichen Vorschriften die Anwen- dung von Folter kategorisch ausschließen. Er fragt jedoch, ob eventuell eine Wertungs- lücke vorliegt: Dies wäre dann der Fall, wenn die Rechtsordnung für einen Sachverhalt zwar eine einschlägige Norm bereitstelle und somit eine rechtliche Beurteilung abgebe, diese Wertung im Lichte anderer Normen, die ebenfalls in der Rechtsordnung enthalten Schon dieser Ausgangspunkt von Bruggers Überlegungen bietet für Bielefeldt Anlass zur Kritik: Die Suggestivkraft des ticking bomb-Szenarios beruhe darauf, dass sich viele Menschen in die Lage eines Polizeibeamten hineinversetzen können, der unter dem Druck der beschriebenen Extremsituation Folter anordnen würde. Brugger jedoch gehe es nicht um die Bewertung individuellen menschlichen Verhaltens in einer Dilemma-Situation, sondern um die Legitimität staatlichen Handelns in Notstandsfällen. (Vgl. Heiner Bielefeldt: Die Absolutheit des Folterverbots. Über die Unabwägbarkeit der Menschenwürde. In: Gerhard Beestermöller/Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht? München 2006, S. 109-114, hier: S. 111.)
sind, jedoch unangemessen und ungerecht erscheine.61 Als Beispiel führt Brugger die im Grundgesetz festgehaltene Achtung der Menschenwürde an, die nicht nur eine unbe- dingte Achtungsverpflichtung gegenüber dem Terroristen darstelle (und ihn so vor der Folter schützen würde), sondern auch eine Schutzverpflichtung gegenüber den von der Bombe bedrohten Bürgern. Hier stünde also körperliche Integrität gegen körperliche In- tegrität und Würde gegen Würde, und in einem solchen Fall, der keinen anderen Aus- weg bietet, dürfe der Staat im Zweifel die Interessen der Opfer denen der Täter überord- nen.62 Einen weiteren Wertungswiderspruch in den gesetzlichen Vorschriften sieht Brugger in der Zulässigkeit des ‚finalen Rettungsschusses‘ bei gleichzeitigem absoluten Folterverbot:
Hält ein Geiselnehmer die Pistole an die Schläfe der Geisel, darf er erschossen werden, wenn dies das einzig erfolgversprechende Mittel zur Rettung des Lebens der Geisel ist. Hat ein Geiselnehmer die tickende Bombe an der Geisel befestigt, und kann diese nur durch Anwendung von Zwang zur Preis- gabe des Codes des Zündmechanismus gegen den Geiselnehmer gerettet werden, schließen die ein- schlägigen Rechtsnormen diese Maßnahme aus. Das ist ein Wertungswiderspruch im Sinne einer nicht einleuchtenden Ungleichbehandlung und eine klare Ungerechtigkeit aus Sicht des Opfers […].63
Brugger kommt zu dem Schluss, dass in der fiktiven Situation die Anwendung von Folter gerechtfertigt wäre. Der Erpresser habe die Grenzen des Rechts überschritten und könne sich einfach und unkompliziert in das Feld der Legalität zurückbewegen, was für die bedrohten Bürger, die der Todesgefahr ausgesetzt sind, nicht gelte. Es stelle die Ge- rechtigkeit auf den Kopf, wenn in einer solchen Situation der Erpresser gegenüber den an sich notwehrberechtigten Bürgern privilegiert würde. Dabei gehe es Brugger zufolge nicht um eine generelle Schwächung der Folterverbote, sondern vielmehr – durch die Herausnahme einer Fallgruppe, in der das Folterverbot zu ungerechten Ergebnissen füh- ren würde – um deren Stärkung.64
Die Kritik an Bruggers Ausführungen macht sich vor allem an dessen Betonung fest, die Anwendung von Folter nur in Grenzfällen zulassen zu wollen. Bielefeldt be- fürchtet, dass die für eine bestimmte Situation ausdrücklich erlaubte Ausnahme im Kon- text staatlichen Handelns keine Ausnahme bleiben, sondern zu einem Präzedenzfall werden würde, der über die konkrete Situation heraus auf andere, ähnlich gelagerte Fäl- le verweist. Die Logik der Argumentation mit solchen Grenzsituationen führe dazu, die Sonderbefugnisse auf immer wieder neue, benachbarte Grenzfälle auszuweiten, so dass aus einem Grenzfall ein ganzer Grenzbereich entstehe. Diese befürchtete Ausbreitung des Sonderrechts gelte nicht nur für die möglichen Fallkonstellationen, sondern auch für die Intensität der Foltermaßnahmen. Der Gedanke, Folter erlauben und gleichzeitig in rechtsstaatlichen Schranken halten zu können, sei in sich widersprüchlich, da man im Falle eines nicht zur Aussage bereiten Gefangenen immer härtere Methoden anwenden müsse, so dass sich schließlich jede moralische und rechtliche Grenzlinie auflöse.65 Ähnlich argumentiert Kreuzer, der bei einer Zulassung von Folter in Ausnahmesituationen einen Dammbruch befürchtet: „Ließe man überhaupt begrenzte polizeiliche Rettungsfolter zu, wäre das Verlangen konsequent, polizeiliche Folterspezialisten auszubilden. Folter wäre damit präsent im Denken, in der Ausbildung, in der Praxis. Das Tabu wäre durchbrochen.“66
[...]
1 24 - Season 1-6, USA 2001-2006.
2 Vgl. Thomas Abeltshauser: Amerikanische Agenten, aschfahl und blutverschmiert. Die sechste Staffel der Thrillerserie „24“ startet. In: Welt Online, 23.06.2008, URL: http://www.welt.de/welt_print/article2134754/ Amerikanische_Agenten_aschfahl_und_blutverschmiert.html (29.07.2008).
3 Vgl. Edward Peters: Folter. Geschichte der Peinlichen Befragung [Torture 1984]. Hamburg 1991, S. 23.
4 Vgl. Folter. In: Der Brockhaus in fünfzehn Bänden. Bd. 4. Leipzig, Mannheim 1997, S. 410.
5 Vgl. Rainer Hofmann: Das völkerrechtliche Folterverbot. In: Heribert Ostendorf (Hrsg.): Folter. Praxis, Verbot, Verantwortlichkeit. Münster 2005, S. 9-34, hier: S. 22.
6 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984, URL: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/ Themen/Menschenrechte/Download/_C3_9CbereinkommenGegenFolter.pdf (31.07.2008).
7 Vgl. Peters: Folter, S. 23.
8 Vgl. Wolfgang Schild: Folter einst und jetzt. In: Peter Nitschke (Hrsg.): Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung. Bochum 2005, S. 69-93, hier: S. 69.
9 Vgl. Clemens Breuer: Das Foltern von Menschen. Die Differenz zwischen dem Anspruch eines weltweiten Verbots und dessen praktischer Missachtung und die Frage nach der möglichen Zulassung der „Rettungsfolter“. In: Gerhard Beestermöller/Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht? München 2006, S. 11-23, hier: S. 13.
10 Vgl. ebd.
11 Vgl. ebd., S. 16. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit kann die Historie der Folter hier nur in ihren grundlegenden Zügen und stellenweise verkürzt dargestellt werden.
12 Vgl. ebd., S. 13.
13 Vgl. Peters: Folter, S. 34-36.
14 Vgl. ebd., S. 37-40.
15 Vgl. ebd., S. 42.
16 Vgl. ebd., S. 49f.
17 Vgl. ebd., S. 59.
18 Vgl. ebd., S. 61.
19 Vgl. Breuer: Das Foltern von Menschen, S. 14.
20 Vgl. Peters: Folter, S. 68f.
21 Vgl. ebd., S. 76.
22 Vgl. ebd., S. 80f.
23 Vgl. ebd., S. 88f.
24 Vgl. ebd., S. 98f.
25 Vgl. Schild: Folter einst und jetzt, S. 73.
26 Vgl. Peters: Folter, S. 104-106.
27 Vgl. ebd., S. 108f.
28 Vgl. ebd., S. 110.
29 Vgl. ebd., S. 115.
30 Vgl. ebd., S. 140-142.
31 Vgl. ebd., S. 169.
32 Vgl. ebd., S. 162.
33 Vgl. ebd., S. 163-165.
34 Vgl. ebd., S. 171.
35 Vgl. Breuer: Das Foltern von Menschen, S. 16.
36 Vgl. Peters: Folter, S. 174.
37 Vgl. ebd., S. 183.
38 Vgl. Amnesty International, URL: http://www.amnesty.de/themenbericht/fuer-eine-welt-ohne-folter (06.08.2008).
39 Vgl. Hofmann: Das völkerrechtliche Folterverbot, S. 10.
40 Vgl. ebd., S. 13.
41 Erklärung der Menschenrechte. Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948, URL: http://www.unric.org/index.php?option=com_content&task=view&id=105&Itemid=146 (31.07.2008).
42 Vgl. Hofmann: Das völkerrechtliche Folterverbot, S. 13f.
Beispiele für andere Menschenrechtsverträge mit regionaler Geltung, die ein Folterverbot enthalten, sind die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969 und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 26. Juni 1981. (Vgl. ebd., S. 14.)
43 Vgl. ebd., S. 25-27.
44 Zum Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 dieses Übereinkommens vgl. Kapitel 2.1 dieser Arbeit.
45 Vgl. Hofmann: Das völkerrechtliche Folterverbot, S. 15.
46 Vgl. ebd., S. 24.
47 Vgl. ebd., S. 22f. In diesem Zusammenhang sei auf die umstrittene Methode des ‚Waterboardings‘, des simulierten Ertrinkens, verwiesen.
48 Vgl. ebd., S. 18.
49 Vgl. Arthur Kreuzer: Zur Not ein bisschen Folter? Diskussion um Ausnahmen vom absoluten Folterverbot anlässlich polizeilicher „Rettungsfolter“. In: Peter Nitschke (Hrsg.): Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung. Bochum 2005, S. 35-49, hier: S. 35.
50 Vgl. Hans Hoyng/Siegesmund von Ilsemann: Privatkrieg auf Staatskosten. In: Der Spiegel 58 (2004), H. 19, S. 132-144, hier: S. 132-134.
51 Breuer: Das Foltern von Menschen, S. 11.
52 Vgl. ebd.
53 Vgl. Rumsfeld genehmigte brutale Verhörmethoden. In: Spiegel Online, 23.06.2004, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,305357,00.html (07.08.2008).
54 Vgl. Waterboarding bleibt in den USA erlaubt – Demokraten gescheitert. In: Spiegel Online, 12.03.2008, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,540956,00.html (07.08.2008).
55 Vgl. Kreuzer: Zur Not ein bisschen Folter?, S. 38.
56 Vgl. Breuer: Das Foltern von Menschen, S. 17.
57 Vgl. Kreuzer: Zur Not ein bisschen Folter?, S. 39f.
58 Vgl. Breuer: Das Foltern von Menschen, S. 17f.
59 Obwohl Schild diesen in der Diskussion meist gebrauchten Begriff ablehnt, da er vom sprachlichen Gehalt her eine positive Bewertung von vornherein aufdränge und er deshalb als ideologisch bezeichnet werden müsse (er spricht stattdessen von ‚Polizeifolter‘), verwende ich diesen Begriff dennoch, da er sich in der Diskussion und der Literatur zum Thema durchgesetzt hat. (Vgl. Schild: Folter einst und jetzt, S. 78.)
60 Vgl. Winfried Brugger: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? In: Juristenzeitung 55 (2000), H. 4, S. 165-173, hier: S. 165f.
61 Vgl. Brugger: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, S. 167.
62 Vgl. ebd., S. 169.
63 Ebd., S. 168.
64 Vgl. ebd., S. 171f.
65 Vgl. Bielefeldt: Die Absolutheit des Folterverbots, S. 111f.
66 Kreuzer: Zur Not ein bisschen Folter?, S. 45
- Arbeit zitieren
- Florian Steinacker (Autor:in), 2008, Die Darstellung von Folter in der TV-Serie 24, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125894
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