In seinem Werk „Politik der Würde“ setzt der Jerusalemer Avishai Margalit neue
Maßstäbe, indem er den Versuch unternimmt, das bisherige Idealbild einer
Gesellschaft zu ersetzen. Schien doch lange Zeit die Gerechtigkeit ein
Paradekriterium für eine vorbildliche Gesellschaft zu sein, so betitelt Margalit nun die
ideale Gesellschaft als anständige, die jeden Menschen ausgehend von politischen,
sozialen und rechtlichen Institutionen menschenwürdig behandelt. Diese Behandlung
gründet vor allen Dingen auf einer Nicht-Verletzung der Selbstachtung und einer
daraus resultierenden Nicht-Demütigung eines jeden Menschen.
Im dritten Kapitel dieser Schrift erläutert der Philosoph das Thema „Ehre“. Nachdem
er in den ersten beiden Kapiteln den Begriff „Selbstachtung“ als Gegenbegriff zur
„Demütigung“ entworfen und folglich eine anständige Gesellschaft als eine
nichtdemütigende charakterisiert hat, macht Margalit sich nun Gedanken darüber, ob
die Selbstachtung das einzig mögliche Charakteristikum einer solchen Gesellschaft
sei oder ob dieser Begriff beispielsweise durch den der Ehre nicht erweitert oder gar
ersetzt werden könne. Doch was versteht man überhaupt unter „Selbstachtung“?
Und was ist der Unterschied zum so genannten „Selbstwertgefühl“, einem Ausdruck,
der zumindest umgangssprachlich oft in ähnlichen Kontexten zu finden ist und
dessen Bedeutungsspektrum fälschlicherweise oft dem der „Selbstachtung“
gleichgesetzt wird?
Eben diese Unterscheidung soll nachfolgend - sowohl in Anlehnung an Margalits
philosophische Erörterung, als auch anhand alltäglicher Beispiele - erläutert werden.
Inhaltsverzeichnis
I) Die Texte
Rhetorica ad Herennium, I, 17
De inventione, I, 31-32
II) Visualisierungen
Rhetorica ad Herennium I,17
De inventione I,31-32
III) Textsicherung
Phänomen 1
Phänomen 2
IV) Inhaltliche Interpretation
V) Resümee
Literaturverzeichnis
Textausgaben und Kommentare
Sekundärliteratur
I) Die Texte
Rhetorica ad Herennium, I, 17
17 Causarum divisio in duas partes distributa est: (1) Primum perorata narratione[1] debemus aperire, (a) quid nobis conveniat cum adversariis, si ea, quae utilia nobis erunt, convenient, (b) quid in controversiis relinquatur, hoc modo: ‘(a) Interfectam esse ab Oreste matrem convenit mihi cum adversariis; iurene fecerit et licueritne facere, id est in controversia.’
(b) Item e contrario: ‘Agamemnonem esse a Clytaemestra occisum confitentur; cum id ita sit, me ulcisci parentem negant oportuisse.’ (2) Deinde, cum hoc fecerimus, distributione uti debemus. Ea dividitur in duas partes, (a) enumerationem et (b) expositionem.
(a) Enumeratione utemur, cum dicemus numero, quot de rebus dicturi sumus. Eam plus quam trium partium numero constare non oportet; nam et periculosum est, ne quando plus minusve dicamus, et suspicionem adfert auditori meditationis et artificii, quae res fidem abrogate orationi. (b) Expositio est, cum res, quibus de rebus dicturi sumus, exponimus breviter et absolute.
17 Der Abschnitt «Gliederung des Stoffes»[2] zerfällt (wiederum) in zwei Abschnitte. (1) Als erstes müssen wir nach dem Abschluss des Redeteils «Erzählung (des Hergangs)»[3] darlegen, (a) worin wir mit der Gegenpartei übereinstimmen, vorausgesetzt es besteht Übereinstimmung in für uns vorteilhaften Punkten, und (b) was an strittigen Punkten übrig bleibt[4], wie folgt:
(a) „Dass von Orestes die Mutter getötet worden ist, darin stimme ich mit der Gegenseite überein; ob die Tat rechtens war, beziehungsweise erlaubt, das ist strittig.“ (b) Ebenso von der Gegenseite: „Dass Agamemnon von Klytämestra umgebracht wurde, geben sie zu; trotzdem behaupten sie, dass ich den Vater nicht hätte rächen dürfen.“
(2) Dann, wenn wir dies getan haben, müssen wir von der Aufzählung[5] Gebrauch machen. Diese gliedert sich in zwei Abschnitte, nämlich (a) die Aufzählung und (b) die Darstellung. (a) Von der Aufzählung[6] werden wir Gebrauch machen, wenn wir in Zahlen angeben, wie viele Punkte wir gedenken anzusprechen.
Diese sollte aus nicht mehr als drei Punkten bestehen; denn einerseits besteht die Gefahr, dass wir zu viel oder zu wenig sagen, andererseits entsteht beim Zuhörer der Verdacht, es vorher einstudiert zu haben, und der des Gekünstelten, was der Rede die Glaubwürdigkeit entzieht.
(b) Die Darstellung[7] liegt dann vor, wenn wir die Punkte, über die wir sprechen werden, kurz und bündig darlegen.
De inventione, I, 31-32
31 Recte habita in causa partitio inlustrem et perspicuam totam efficit orationem. Partes eius sunt duae, quarum utraque magno opere ad aperiendam causam et constituendam pertinet controversiam. (1) Una pars est, quae, (a) quid cum adversariis conveniat et (b) quid in controversia relinquatur, ostendit; ex qua certum quiddam destinatur auditori, in quo animum debeat habere occupatum. (2) Altera est, in qua rerum earum, de quibus erimus dicturi, breviter expositio ponitur distributa; ex qua conficitur, ut certas animo res teneat auditor, quibus dictis intellegat fore peroratum.
Nunc utroque genere partitionis quemadmodum conveniat uti, breviter dicendum videtur. (1) Quae partitio, (a) quid conveniat aut quid non conveniat, ostendit, haec debet illud, quod convenit, inclinare ad suae causae commodum, hoc modo: "Interfectam matrem esse a filio convenit mihi cum adversariis". Item contra: "Interfectum esse a Clytaemestra Agamemnonem convenit”. Nam hic uterque et id posuit, quod conveniebat, et tamen suae causae commodo consuluit. (b) Deinde, quid controversiae sit, ponendum est in iudicationis expositione; quae quemadmodum inveniretur, ante dictum est.
32 (2) Quae partitio rerum distributam continet expositionem, haec habere debet: brevitatem, absolutionem, paucitatem.
31 Eine richtig gehandhabte Gliederung[8] macht die ganze Rede klar und übersichtlich.
Sie besteht aus zwei Abschnitten, von denen jeder sehr der Klärung des Falles und der Bestimmung des Streitpunktes dient.
(1) Der eine Abschnitt ist der, welcher aufzeigt, (a) worin man mit der Gegenpartei übereinstimmt bzw. (b) was strittig bleibt[9] ; von ihm (d. h. diesem Abschnitt) aus wird dem Zuhörer ein bestimmter Punkt als Ziel bestimmt, damit er darauf seine Aufmerksamkeit richten sollte. (2) Der zweite (Abschnitt) ist der, in dem kurz eine Aufzählung[10] der Punkte, über die wir zu sprechen gedenken, gegeben wird; als Folge davon kann der Zuhörer bestimmte Punkte im Gedächtnis behalten, so dass ihm nach deren Abarbeitung klar ist, dass die Rede ans Ende gelangt ist.[11]
Jetzt muss, wie ich glaube, kurz darüber gesprochen werden, wie man beide Formen der Gliederung (Stoffeinteilung) passend verwendet.
(1) Die Form der Gliederung, die zeigt, (a) worin Übereinstimmung besteht, beziehungsweise nicht besteht, sollte das, worin Übereinstimmung besteht, zum Vorteil der eigenen Sache wenden, und zwar folgendermaßen:
”Dass die Mutter von ihrem Sohn getötet worden ist, darin stimme ich mit der Gegenseite überein.“ Ebenso die Gegenpartei: ”Dass Agamemnon von Klytämestra getötet wurde, darüber besteht Übereinstimmung.“
Denn einerseits legten hier beide das dar, worin Übereinstimmung bestand, andererseits war trotzdem jeder auf den Vorteil seiner Sache bedacht. (b) Dann muss man in der Darstellung der Beurteilungfrage des Richters[12] darlegen, welchen Streitpunkt es gibt; wie man diesen findet, ist zuvor (bereits) gesagt worden.
32 (2) Die Form der Gliederung, die eine Aufzählung enthält, sollte die folgenden Merkmale aufweisen: Kürze, Vollständigkeit, Beschränkung[13].
[...]
[1] Siehe Textkritik: Phänomen 1.
[2] Vgl. die Übersicht „Das System der antiken Rhetorik“ in: DNP 10, 2001, Sp. 971 ff. unter Nr. 7. Diese Übersicht ist identisch mit der im Kleinen Pauly Bd. 4, 1972, Sp. 1411 ff. und im Lexikon der Alten Welt, 1965, Sp. 2623-4, mit dem feinen Unterschied, dass der Neue Pauly die griechischen Termini nur noch in Umschrift angibt.
[3] DNP (bzw. KlP bzw. LAW) l. c. Nr. 7b.
[4] Josef Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974 (= Handbuch der Altertumswissenschaft II, 3), behandelt dieses Kapitel 17 im ersten Abschnitt (Die inventio), 1. Kapitel (Die gerichtliche Beredsamkeit), III. Die Teile der Gerichtsrede, 4. Die propositio und partitio auf S. 92f.; zu diesem Abschnitt bemerkt er auf S. 93: „Das ist die propositio.“ Ibid. S. 92: „Die propositio hat die Aufgabe, das ζήτημα (i.e. die Hauptfrage bei einem bestimmten Thema) klarzulegen und die Hörer auf den kommenden Beweis aufmerksam zu machen.“ Ibid: „Der Auctor ad Herennium und Cicero erwähnen die propositio überhaupt nicht; die partitio [bzw. divisio ] ist offenbar der übergeordnete Begriff.“ – DNP (bzw. KlP bzw. LAW) l. c. Nr. 7c spricht von ”Präzisierung des Sachverhalts“.
[5] J. Martin l.c. Wort- und Sachregister S. 365 s.v. distributio. Ebenso Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, S. 338, § 671: „Die Aufzählung tritt an zwei Stellen der Rede planmäßig auf: in der partitio, wo sie distributio genannt wird …“
[6] J. Martin l.c. S. 93: „Enumeratio ist die Aufzählung der einzelnen Punkte, über die gesprochen werden soll.“ H. Lausberg l.c. S. 190 § 347: „Die enumeratio (Her. I, 10,17) ist eine einleitungsmäßige Aufzählung von zu behandelnden Punkten.“
[7] J. Martin l. c. S. 93: „Expositio ist die kurze, aber vollständige Darstellung der Punkte, über die gesprochen werden soll.“
[8] Cicero verwendet den Audruck partitio, die Rhetorica ad Herennium den Ausdruck divisio.
[9] J. Martin l. c. S. 93: ”Das ist wieder die propositio.“
[10] Cicero: rerum distributa expositio, Rhetorica ad Herennium: distributio. – H. Lausberg, l.c. S. 338, § 671, 1): die Aufzählung in der partitio: Cic.inv. I, 22,32 quae partitio rerum distributam continet expositionem … Victor. in Cic. Inv. [= G. Fabii Laurentii Victorini explanationum in rhetoricam M. Tulii Ciceronis libri duo, in: C. Halm, Rhetores Latini minores, Lipsiae 1863] I, 22 p. 209, 13 Alia autem partitio, quae distributio nuncupatur … – J. Martin l. c. S. 94: „... die partitio altera, d.h. die eigentliche partitio.“
[11] DNP 9, 2000, Sp. 360 s. v. ‘ Partes orationes’: „Die häufig dreigeteilte (Rhet. Her. I, 17) «Gliederung» (partitio) kündigt die Hauptpunkte der Argumentation an, so dass der Zuhörer später weiß, wann das Ende gekommen ist (Cic. inv. I, 31).“
[12] J. Martin l. c. Wort- und Sachregister S. 368 s. v. iudicatio (b)
[13] Dazu J. Martin l. c. S. 94: ,,Für die partitio altera, das heißt die eigentliche partitio, erklärt Cicero, dass in ihr breviter expositio ponitur distributa. Weiterhin verlangt er dann für sie:
1. brevitas, die fordert, dass kein unnötiges Wort verwendet wird, weil der Hörer nur von der Sache und den Teilen der causa, nicht aber von außerhalb der Sache liegenden Worten und Schmuckmitteln gefesselt werden soll.
2. absolutio, die verlangt, dass alle genera, über die gesprochen werden soll, in der partitio erfasst werden, damit kein nützliches Glied übergangen oder erst nachträglich außerhalb der partitio beigebracht wird.
3. paucitas, die darin besteht, dass nur die genera als Teile der partitio verwendet werden, nicht aber die partes, die den genera untergeordnet sind, dass nicht mehr angekündigt wird, als dazu nötig ist, zu zeigen, dass selbst in einer einfachen Sache eine distributio verwendet wird.”
- Citation du texte
- Katharina Los (Auteur), 2007, De inventione und die Rhetorica ad Herennium, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125611
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