Die Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit die zunehmende Verbreitung sogenannter Neobroker zu einer Veränderung des Anlageverhaltens deutscher Privatanleger führt. Hierfür wurden verschiedene Ausprägungen des Anlageverhaltens (Portfoliozusammensetzung, Transaktionsfrequenz, Haltedauer, ...) in Abhängigkeit der Brokerwahl untersucht. Die empirische Datengrundlage für die Untersuchung lieferte eine eigens durchgeführte Online-Umfrage, an der sich 712 deutsche Privatanleger beteiligten. Die gewonnenen Daten wurden mit Hilfe verschiedener Regressionen (Statistikprogramm R) ausgewertet und interpretiert.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Formelverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsdefinitionen
2.1 Privatanleger
2.2 Neobroker
2.3 Klassische Broker
3 Ausprägungen des Anlageverhaltens
3.1 Portfoliozusammensetzung
3.2 Diversifikation
3.3 Transaktionsfrequenz
3.4 Haltedauer
3.5 Häufigkeit der Depotüberprüfung
4 Einflussfaktoren auf das Anlageverhalten
4.1 Alter
4.2 Geschlecht
4.3 Bildungsstand
4.4 Nettovermögen
4.5 Renditeerwartung
4.6 Risikobereitschaft
4.7 Finanzwissen
4.8 Erfahrung mit Aktien
4.9 Brokerwahl
5 Empirische Untersuchung
5.1 Datenbasis
5.1.1 Datenerhebung
5.1.2 Online-Fragebogen
5.1.3 Deskriptive Statistik
5.2 Auswertungsmethode
5.2.1 Logistische Regressionsmodelle
5.2.2 Mathematische Grundlagen
6 Forschungsergebnisse
6.1 Regressionsergebnisse
6.1.1 Investition in Kryptowährungen
6.1.2 Investition in Derivate
6.1.3 Diversifikationsbemühen
6.1.4 Transaktionsfrequenz
6.1.5 Haltedauer
6.1.6 Depotüberprüfungsfrequenz
6.2 Sonstige Umfrageergebnisse
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
Anhang
Fragebogen
Deskriptive Statistik
Sonstige Umfrageergebnisse
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Entwicklung des Suchinteresses an Neobrokern in Deutschland von Oktober 2019 bis Februar 2022 (Suchmaschine Google)
Abb. 2: Anteil der Aktiensparer in verschiedenen Altersgruppen in Deutschland 2019 bis 2021
Abb. 3: Vergleich der Altersstruktur zwischen Deutschland und der Untersuchungsgruppe
Abb. 4: Vergleich der Nettoeinkommensstruktur zwischen Deutschland und der Untersuchungsgruppe
Abb. 5: Altersstruktur nach Brokerwahl
Abb. 6: Einfluss der Renditeerwartung auf die Investitionswahrscheinlichkeit in Kryptowährungen
Abb. 7: Receiver Operating Characteristic (ROC-Kurve) für das Modell BLR (I)
Abb. 8: Derivateinvestitionen in Abhängigkeit der Brokerwahl
Abb. 9: Einfluss der Brokerwahl auf die Transaktionsfrequenz
Abb. 10: Einfluss des Geschlechts auf die Depotüberprüfungsfrequenz
Abb. 11: Kriterien bei der Brokerwahl
Abb. 12: Brokerstruktur der Smartphone-Orders
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Gegenstand und Funktion der einzelnen Fragen
Tab. 2: Überblick über die verwendeten Regressionsmodelle
Tab. 3: Auszug aus dem Regressionsoutput OLR (IV): Transaktionsfrequenz
Tab. 4: Regressionsoutput (I): Investition in Kryptowährungen
Tab. 5: Regressionsoutput (III.a): Diversifikationsbemühen (regional)
Tab. 6: Regressionsoutput (III.b): Diversifikationsbemühen (branchenbezogen)
Tab. 7: Regressionsoutput (IV): Transaktionsfrequenz
Tab. 8: Regressionsoutput (V.a): Haltedauer (Einzelaktien)
Tab. 9: Regressionsoutput (VI): Depotüberprüfungsfrequenz
Tab. 10: Gegenüberstellung der Ordergebühren ausgewählter Broker
Tab. 11: Deskriptive Statistik (regressionsrelevante Merkmale)
Tab. 12: Sonstige Umfrageergebnisse (nicht regressionsrelevante Merkmale)
Formelverzeichnis
Formel 1: Berechnung des Variance Inflation Factors (VIF)
Formel 2: Kumulierte Wahrscheinlichkeiten
Formel 3: Proportional Odds Model nach McCullagh (1980)
Formel 4: Nullhypothese des Brant-Tests nach Brant (1990)
Formel 5: Alternativhypothese des Brant-Tests nach Brant (1990)
Formel 6: Basisfunktion logistischer Regressionsmodelle
Formel 7: Berechnung der geschätzten Wahrscheinlichkeiten im binären logistischen Regressionsmodell
Formel 8:Berechnung der geschätzten kumulierten Wahrscheinlichkeiten im ordinalen logistischen Regressionsmodell
Formel 9: Berechnung der Odds
Formel 10: Berechnung der Odds Ratio
Formel 11: Berechnung des Pseudo-R[2] nach McFadden (1974)
1 Einleitung
Die Zahl der Aktiensparer1 ist in Deutschland so hoch wie seit vielen Jahren nicht mehr. Im Jahr 2021 partizipierten hierzulande 12,1 Mio. Menschen „direkt mit Aktien oder indirekt mit Fonds oder Exchange Traded Fonds (ETFs) an der Entwicklung des Aktienmarktes.“ (Deutsches Aktieninstitut 2022, S. 29) Dies entsprach einem Anteil von 17,1 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren. Ein derart hohes Engagement am Aktienmarkt zeigten die Deutschen zuletzt 2020 und im Zeitraum von 2000 bis 20032 (Vgl. Deutsches Aktieninstitut 2022, S. 18 f.). Offenbar sahen viele Menschen die starken Kurseinbrüche im Zuge der Corona-Pandemie als eine gute Möglichkeit, um mit dem Investieren in Aktien zu beginnen. Hinzu kommt, dass im gegenwärtigen Umfeld anhaltend niedriger und bisweilen sogar negativer Nominalzinsen der Umstieg auf renditestärkere Anlageformen beinahe alternativlos erscheint (Vgl. Kuhn 2021, S. 219). Aktien(-fonds)/ETFs spielen insbesondere mit Blick auf die Altersvorsorge eine immer wichtigere Rolle. So hat die Bundesregierung die Einführung einer teilweisen Kapitaldeckung zur Absicherung des Rentenniveaus beschlossen (Vgl. Bundesregierung 2021, S. 73). Und auch immer mehr Privatanleger nutzen die Anlageklasse Aktien zur Vermögensmehrung und Altersabsicherung. Einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zu dieser Entwicklung haben dabei die sogenannten Neobroker geleistet. Diese neuartigen und mitunter als revolutionär bezeichneten Broker konnten mit ihrer mobilen Zugänglichkeit und ihren außerordentlich niedrigen Gebühren vor allem die junge Generation von einem Engagement an der Börse überzeugen (Vgl. GIM 2021, S. 8).
In der Öffentlichkeit werden die Auswirkungen der Neobroker auf die Brokerlandschaft und das Privatanlegerverhalten indes hitzig diskutiert. Befürworter betrachten Neobroker als Instrument, mit dem erstmals auch unerfahrene und weniger wohlhabende Menschen einen Zugang zum Kapitalmarkt erhalten. Neobroker würden auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Altersvorsorge in Deutschland leisten (Vgl. Kritikos et al. 2022, S. 35). Auf der anderen Seite befürchten Kritiker, dass die Kombination aus verschwindend geringen Ordergebühren und hoher Benutzerfreundlichkeit Privatanleger zu exzessivem Trading verlocken könnte3. Immerhin beschreiben sich Neobroker wie Trade Republic selbst als Anbieter einer Applikation, welche das Abschließen einer Order „mit nur drei Taps“ (Trade Republic 2020) ermöglicht. Während demnach kein Konsens darüber besteht, ob der Einfluss der Neobroker nun als positiv oder negativ zu bewerten ist, sind sich die Befürworter und Kritiker dennoch in einem Punkt einig: Neobroker besitzen schon jetzt eine hohe praktische Relevanz für die Zukunft des Privatanlegerverhaltens. Die aktuellen politischen und ökonomischen Entwicklungen spiegeln diese Tatsache wider. So beschäftigt sich die EU-Kommission mit einer Reform der Europäischen Finanzmarktverordnung (MiFIR), welche unter anderem die Einschränkung der Geschäftspraktiken der Neobroker zum Gegenstand hat. Und auch auf nationaler Ebene haben es die Neobroker geschafft, die Aufmerksamkeit der Politik auf sich zu ziehen. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung heißt es: „Für FinTechs, InsurTechs, Plattformen, NeoBroker und alle weiteren Ideengeber soll Deutschland einer der führenden Standorte innerhalb Europas werden.“ (Bundesregierung 2021, S. 172). Neben der politischen Dimension ist auch in ökonomischer Hinsicht eine hohe Relevanz erkennbar. Trade Republic zählt mit einer Bewertung von über USD 5 Mrd. zu den wertvollsten privaten FinTechs in Europa (Vgl. Trade Republic 2021). Der Neobroker und digitale Vermögensverwalter Scalable Capital ist mit einer Bewertung von über USD 1 Mrd. ebenfalls ein sogenanntes „unicorn“4.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit die Hoffnungen und Befürchtungen, die im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung der Neobroker geäußert werden, gerechtfertigt sind. Hierfür wird anhand empirischer Daten untersucht, ob Neobroker tatsächlich mit einer Veränderung des Privatanlegerverhaltens assoziiert werden können. Thematisch ist diese Arbeit damit dem Forschungsfeld der sogenannten “positive household finance”5 zuzuordnen. In diesem Bereich werden Aussagen über das tatsächliche Anlageverhalten von Haushalten getroffen (Vgl. Campbell 2006, S. 1555). Die konkrete Forschungsfrage dieser Arbeit lautet: Inwieweit unterscheidet sich das Privatanlegerverhalten von Neobroker-Nutzern im Vergleich zu Nutzern klassischer Broker? Im Rahmen vergangener Untersuchungen konnten bereits Hinweise auf einen möglichen Einfluss der Brokerwahl auf das Anlageverhalten entdeckt werden. Zum Beispiel kamen Fong et al. (2014) zu dem Ergebnis, dass sich die Kunden verschiedener Brokertypen signifikant in der Informiertheit ihrer Transaktionen6 unterscheiden würden. Die Autoren gelangten zu folgender Schlussfolgerung: „Our evidence highlights that broker type is an important filter that reduces heterogeneity among individual investors. This result suggests that broker type selection is an important consideration in designing and interpreting the evidence of an individual investor study.” (Fong et al. 2014, S. 433). Obwohl die Relevanz der Brokerwahl damit bereits teilweise aufgezeigt werden konnte, könnte die vorliegende Arbeit den vorhandenen Forschungsstand weiter ausbauen und insofern zur Schließung einer Forschungslücke beitragen. Denn im Vergleich zu Fong et al. (2014) beschäftigt sich diese Arbeit mit einer anderen Gruppe von Privatanlegern. Während in ihrer Untersuchung sowohl Kunden von Discount Brokern, die selbstständig investierten, als auch Kunden von Full-Service Brokern, die beraten wurden, berücksichtigt wurden, beschränkt sich diese Arbeit ausschließlich auf zumindest teilweise selbstständig investierende Privatanleger. Die Untersuchungsgruppe dieser Arbeit ist durch den Ausschluss von Anlegern, die ihre Investition vollkommen einem Berater oder einem anderweitigem Serviceanbieter überlassen, stärker eingegrenzt. Falls sich trotz der höheren Homogenität der Probanden signifikante Ergebnisse in Bezug auf die Brokerwahl einstellen würden, würde das die Vermutung von der Relevanz der Brokerwahl noch einmal bekräftigen.
Der verbleibende Teil dieser Arbeit ist wie folgt gegliedert: Zunächst werden in Kapitel 2 einige wichtige Begriffe definiert. Anschließend widmet sich Kapitel 3der Beschreibung des gegenwärtigen Privatanlegerverhaltens mit Fokus auf Deutschland. Zu jeder Ausprägung des Anlageverhaltens wird dabei mindestens eine Hypothese mit Blick auf den Einfluss der Brokerwahl formuliert. Daraufhin werden in Kapitel 4 eine Reihe von soziodemografischen und investitionsbezogenen Merkmalen vorgestellt, welche sich in vorangegangenen Untersuchungen als mögliche Einflussfaktoren auf das Privatanlegerverhalten herausgestellt haben. Kapitel 5gewährt einen Einblick in die Methodik bezüglich des empirischen Teils dieser Arbeit. Dabei wird insbesondere auf den Prozess der Datenerhebung, die Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe und das Vorgehen bei der Auswertung der Daten eingegangen. Die Ergebnisse der Datenauswertung werden anschließend in Kapitel 6 vorgestellt und diskutiert. Es wird zudem überprüft, ob die zuvor formulierten Hypothesen anhand der Daten bestätigt werden können. Zum Schluss werden die wichtigsten Erkenntnisse in Kapitel 7 zusammengefasst und auf die Limitationen dieser Arbeit eingegangen.
2 Begriffsdefinitionen
2.1 Privatanleger
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Anlageverhalten einer bestimmten Gruppe von Investoren: den Privatanlegern. Diese unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von professionellen Anlegern und sollten daher eindeutig von diesen abgegrenzt werden. In juristischer Hinsicht orientiert sich die Abgrenzung der beiden Anlegertypen in der EU an der europäischen Finanzmarktrichtlinie „Markets in Financial Instruments Directive II“ (MiFID II). Gemäß dieser Richtlinie bezeichnet der Begriff „Kleinanleger“7 alle Anleger, die nicht die Kriterien eines professionellen Anlegers erfüllen (Art. 4 Abs.1 Nr. 11 MiFID II). Als professionelle Anleger zählen wiederum insbesondere juristische Personen wie etwa Kreditinstitute, Finanzinstitute, Pensionsfonds und sonstige institutionelle Anleger (Anhang II Abschnitt I MiFID II). Im Vergleich zu professionellen Anlegern verfügen Privatanleger über weniger Kenntnisse und Ressourcen. Daneben können Unterschiede im rechtlich zulässigen Anlagespektrum bestehen. Während Privatanleger in Deutschland problemlos eine Investition in beispielsweise Kryptowährungen vornehmen können, sind professionellen Investoren wie Pensionsfonds regulatorische Grenzen gesetzt.
Nach der juristischen Einordnung des Privatanlegerbegriffs soll nachfolgend auch eine finanztheoretische Betrachtung vorgenommen werden. Klassische Modelle zeichnen häufig das abstrakte Bild eines perfekten Investors. Investoren sollten demnach unbegrenzt komplexe Entscheidungssituationen bewältigen können, das Ziel der Nutzenmaximierung verfolgen und außerdem risikoavers und vollständig rational sein (Vgl. Nagy und Obenberger 1994, S. 63). Diese vereinfachenden Annahmen treffen in der Praxis nicht uneingeschränkt zu. Besonders Privatanleger weisen in Bezug auf ihre Finanzen verschiedene Besonderheiten auf, welche ihre Investitionsentscheidungen beeinflussen können. Campbell (2006, S. 1558-1561) beschreibt in diesem Zusammenhang fünf besondere Eigenschaften von Privathaushalten:
1. Ihre Finanzplanung betrifft einen langen, aber endlichen Zeithorizont. Die Planung muss dabei unter Berücksichtigung von zukünftigen Vermögens- und Einkommensveränderungen erfolgen, die mit den unterschiedlichen Phasen im Lebenszyklus einhergehen.
2. Ein bedeutender Teil ihres Vermögens besteht aus einem nicht-handelbaren Vermögenswert: ihrer Arbeitskraft. In der Regel führt die Arbeitskraft zu einem stetigen Kapitalzufluss für den Haushalt. Eine Absicherung dieses Kapitalzuflusses ist allerdings nur eingeschränkt möglich, wodurch ex ante unklar ist, wie sich die Zuflüsse in Zukunft entwickeln werden. Die Unsicherheit bezüglich der eigenen Arbeitskraft kann wiederum einen Einfluss auf die Risikoaversion bei Investitionsentscheidungen haben.
3. Sie halten illiquide Vermögenswerte, insbesondere in Form von Eigenheimen. Eigenheime können als langfristige Vermögenswerte betrachtet werden, die neben ihrer Beherbergungsfunktion auch die Möglichkeit bieten, als Sicherheit für die Kreditaufnahme genutzt zu werden.
4. Ihre Kreditaufnahmefähigkeit ist begrenzt.
5. Ihr Einkommen unterliegt einer komplexen Versteuerung.
Die genannten Aspekte tragen dazu bei, dass sich das Anlageverhalten von Privatanlegern jeweils stark voneinander unterscheiden kann. Es ist daher zu erwarten, dass sich auch in der vorliegenden Arbeit eine äußerst heterogene Gruppe von Privatanlegern ergibt – sowohl was die Lebensumstände als auch das Anlageverhalten betrifft.
2.2 Neobroker
Die Brokerwahl und ihr Einfluss auf das Privatanlegerverhalten stehen im Zentrum dieser Arbeit. Der differenzierten Betrachtung der verschiedenen Brokertypen kommt daher eine besondere Bedeutung zu. In der wissenschaftlichen Literatur ist die gezielte Untersuchung von Neobrokern und die damit einhergehende Abgrenzung zu klassischen Brokern bislang noch eine Seltenheit. Grund für den vorherrschenden Mangel an einschlägiger Literatur könnte die relative Neuheit der Neobroker sein. Das verstärkte öffentliche Interesse an ihnen ist ein Produkt der letzten zwei Jahre. Dies bestätigen die öffentlich einsehbaren Google Trends, welche die Entwicklung des Suchinteresses im Zeitverlauf wiedergeben. Abb. 1 stellt die relative Anzahl von Nutzern dar, welche im Betrachtungszeitraum den Suchbegriff „Neobroker“ bzw. die alternativen Schreibweisen „Neo-Broker“ und „Neo Broker“ in die Suchmaschine Google eingegeben haben8. Zur Interpretation der Werte schreibt Google: „Die Werte geben das Suchinteresse relativ zum höchsten Punkt im Diagramm für die ausgewählte Region im festgelegten Zeitraum an. Der Wert 100 steht für die höchste Beliebtheit dieses Suchbegriffs. Der Wert 50 bedeutet, dass der Begriff halb so beliebt ist und der Wert 0 bedeutet, dass für diesen Begriff nicht genügend Daten vorlagen.“ (Google 2022). Abb. 1 bezieht sich auf Deutschland im Zeitraum von Oktober 2019 bis Februar 2022.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Entwicklung des Suchinteresses an Neobrokern in Deutschland von Oktober 2019 bis Februar 2022 (Suchmaschine Google) (eigene Darstellung auf Basis der Daten von Google [9] ).
Die Datenpunkte zeigen, dass sich hierzulande erstmals im Juni 2020 ein sichtliches Interesse an den Suchbegriffen „Neobroker“, „Neo-Broker“ bzw. „Neo Broker“ ergab. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte das Suchinteresse im anschließend Februar 2021, nachdem die einschlägigen Suchanfragen zum Jahreswechsel rasant angestiegen waren. Nach einer Phase des moderaten Interesses zwischen Juni und September 2021 suchten die deutschen Google-Nutzer ab Oktober 2021 wieder deutlich häufiger nach Neobrokern. Die bislang höchste Anzahl von neobrokerbezogenen Suchanfragen verzeichnete Google in Deutschland jüngst im Januar 2022. Obwohl Google Trends das Suchverhalten der Nutzer anderer Suchmaschinen unberücksichtigt lässt, ist aufgrund der überragenden Marktdominanz von Google von einer angemessenen Wiedergabe des öffentlichen Interesses auszugehen. Im Februar 2022 wurde Google für über 90 Prozent aller Suchanfragen in Deutschland genutzt (Vgl. Statista 2022).
Bislang existiert in der wissenschaftlichen Literatur keine allgemein akzeptierte Definition für Neobroker. Um dennoch zu einer fundierten Begriffsbestimmung zu gelangen, werden im Folgenden die wichtigsten Gedanken verschiedener Autoren zusammengetragen. Die Ausführungen von Meyer et al. (2021) können hierbei als erster Orientierungspunkt dienen: “Neo-brokers offer near commission-free trading on a convenient, simple, and seamless mobile app or website. […] An additional element of enabling low commission participation on the capital markets, is to limit the number of market makers or stock exchanges for executing client orders.” (S. 1 f.). Dieser Beschreibung lassen sich drei typische Eigenschaften von Neobrokern entnehmen:
1. Neobroker sind für die unkomplizierte mobile Benutzung optimiert.
2. Neobroker verlangen keine oder allenfalls sehr geringe Ordergebühren.
3. Neobroker beschränken sich auf eine geringe Anzahl von Handelsplätzen.
Obwohl die meisten Neobroker ihren Kunden neben einer App für das Smartphone auch eine Desktop-Version zur Verfügung stellen, ist ihr Fokus auf die mobile Benutzung unbestritten. Schmidt (2021) bezeichnet Neobroker als eine „neue Gattung von Brokern, welche sich vollständig auf den Kundenkontakt via Smartphone spezialisiert haben“ (S. 185). Sie bieten dem Anwender eine Applikation mit einer simplen Benutzeroberfläche, welche sich intuitiv bedienen lässt. Die Benutzerfreundlichkeit von Neobrokern ist derart hoch, dass zuweilen Sorgen in Bezug auf eine mögliche Gamification10 des Investitionsprozesses geäußert werden (Vgl. Sajnovits 2021, S. 826; Vgl. Kritikos et al. 2022, S. 4). Der in Deutschland nicht verfügbare Neobroker Robinhood aus den USA geriet beispielsweise für seine Konfetti-Animationen in die Kritik, die das Ausführen bestimmter Aktionen in der App feierten. Obwohl die hiesigen Neobroker nicht auf derartige Mittel setzen, ermöglichen sie doch den spielend leichten Handel mit Wertpapieren. Trade Republic, der aktuell erfolgreichste Neobroker Europas (Vgl. Collin und Schmincke 2021, S. 307), bewirbt seine mobile Applikation als Instrument, mit dem „Menschen mit nur drei Taps provisionsfrei am Kapitalmarkt sparen, investieren oder handeln [können].“ (Trade Republic 2020). Diese bisher ungekannte Einfachheit des Kapitalmarktzugangs wird bisweilen als Revolution der Geldanlage bezeichnet (Vgl. Landgraf 2021, S. 89). Der niederschwellige Kapitalmarktzugang ergibt sich jedoch nicht allein aus der mobilen Zugänglichkeit, sondern auch aus den geringen Transaktionskosten, die ebenfalls ein Wesensmerkmal der Neobroker sind. Fixe Ordergebühren von unter EUR 1,00 und die vollständige Abwesenheit variabler Ordergebühren sind hierbei charakteristisch. In Bezug auf die expliziten11 Transaktionskosten ist der Wertpapierhandel teilweise sogar vollkommen kostenfrei. Dieser drastische Preisunterschied zu klassischen Brokern ist auf Unterschiede im Geschäftsmodell zurückzuführen. Neobroker sind zur Finanzierung ihrer kundenfreundlichen Gebühren hochgradig auf das Praktizieren von payment for orderflow (PFOF) angewiesen. Battalio und Loughran (2008) fassen PFOF folgendermaßen zusammen: “Briefly, payment for order flow occurs when a broker sells his or her client's stock trade order to an intermediary for a cash payment.” (S. 37). PFOF beschreibt demnach den Verkauf von Kundenorders an einen ausgewählten Market Maker gegen eine Rückvergütung. Ein Blick auf die Jahreszahl des zitierten Papers verrät, dass diese Geschäftspraxis auch schon vor dem Aufkommen der Neobroker existierte – und damals wie heute in der Kritik stand. Laut dem Entwurf zur Reform der Europäischen Finanzmarktverordnung (MiFIR) erwägt die EU-Kommission ein Verbot von PFOF in der EU. Die Europäische Finanzmarktverordnung soll um den Artikel 39a “Ban on payment for forwarding client orders for execution” ergänzt werden. Die bis heute andauernde Kritik an PFOF beruht auf der ethischen Überlegung, dass Kundenorders stets an den aus Kundensicht bestmöglichen12 Market Maker vergeben werden sollten. PFOF führe jedoch dazu, dass Broker für die Orderausführung statt des bestmöglichen jene Market Maker bevorzugen, welche die höchste Rückvergütung zahlen, und somit auf Kosten der Kunden verdienen.
Meyer et al. (2021) haben diese Vermutung für den Neobroker Trade Republic untersucht. Die Kunden von Trade Republic sind auf den Handel über die Lang & Schwarz Exchange beschränkt. Es handelt sich hierbei um ein von der Börse Hamburg betriebenes elektronisches Handelssystem. Die Wahl eines anderen Handelsplatzes ist nicht möglich. Die Kundenorders werden demzufolge ausschließlich an den Market Maker Lang & Schwarz TradeCenter AG & Co. KG geleitet. Da den Kunden auf diese Weise der Handel über möglicherweise liquidere Handelsplätze verwehrt bleibt, sehen Kritiker die Gefahr hoher impliziter Kosten. Implizite Kosten entstehen, wenn die Kunden eines Neobrokers durch die beschränkte Anzahl von Handelsplätzen dazu gezwungen sind, zu einem schlechteren Ausführungskurs zu handeln als es auf dem liquidesten Markt möglich wäre. Im Fall von Trade Republic berechneten Meyer et al. (2021) die impliziten Kosten einer Order als Differenz zwischen dem Ausführungskurs auf Trade Republic (Market Maker Lang & Schwarz TradeCenter AG & Co. KG) und dem zeitgleichen Kurs auf dem liquidesten deutschen Markt (XETRA). Insgesamt wurden rund 2,2 Mio. Transaktionen betrachtet, wobei der Ausführungskurs auf Trade Republic in nur 0,9 Prozent der Fälle schlechter war als der entsprechende Kurs auf XETRA. 78,1 Prozent der Transaktionen wurden zum identischen und 21,1 Prozent sogar zu einem besseren Kurs ausgeführt als auf XETRA (Vgl. Meyer at al. 2021, S. 4). Die Autoren kamen entsprechend zu dem Fazit, dass PFOF entgegen der Kritik keinen Nachteil für die Kunden von Neobrokern bedeute, sondern ihnen im Gegenteil sogar nütze. Zum gleichen Ergebnis kamen auch vorangangene Untersuchungen. Battalio und Loughran (2008) betonen die mit PFOF einhergehende Reduktion der expliziten Transaktionskosten: “On the whole, payment for order flow, although it sounds unethical, appears to be beneficial for investors. Since 1975, investors have seen a dramatic decline in commission costs. Part of this decline has occurred because payments for order flow are passed back to investors due to brokerage house competition.” (S. 43).
Ein weiteres Charakteristikum von Neobrokern ist deren Dasein als sogenanntes FinTech. Nach Dorfleitner et al. (2017) können FinTechs wie folgt definiert werden: “The term “FinTech,” which is the short form of the phrase financial technology, denotes companies or representatives of companies that combine financial services with modern, innovative technologies. As a rule, new participants in the market offer Internet-based and application-oriented products.” (S. 5). Diese Beschreibung zeigt nicht nur eine hohe Übereinstimmung mit den tatsächlichen Eigenschaften von Neobrokern, sondern auch mit deren Selbstverständnis. Neobroker wie Trade Republic13, Scalable Capital14 und justTrade15 bezeichnen sich selbst als FinTech. Ihre Ziele stimmen mit den klassischen Zielen eines FinTechs überein, zu denen unter anderem die Verbesserung des Status Quo in Bezug auf Benutzerfreundlichkeit, Effizienz und Transparenz gehören (Vgl. Dorfleitner et al. 2017, S. 5). Im Vergleich zu traditionellen Anbietern verfügen Neobroker über eine deutlich intuitivere Benutzeroberfläche und dementsprechend höhere Benutzerfreundlichkeit. Ihre Gebührengestaltung beschränkt sich auf einen fixen Betrag, der unabhängig vom Ordervolumen anfällt, und ist dadurch äußerst transparent. Außerdem führt die Möglichkeit, Wertpapiere mit Hilfe weniger Taps handeln zu können, zu einer hohen Effizienz für den Kunden. Der Effizienz ebenfalls zuträglich ist die Tatsache, dass Neobroker neben Aktien und ETFs oftmals auch den Handel mit Kryptowährungen anbieten. Während Neobroker-Kunden somit über eine App auf beide Assetklassen zugreifen können, werden die Kunden klassischer Broker in der Regel einen separaten Krypto-Broker benötigen – oder dies zumindest glauben16.
Aus den obigen Erläuterungen wurden sechs Kriterien für die Klassifizierung als Neobroker abgeleitet. Nur bei Vorliegen aller Kriterien wurde ein Broker der Gruppe der Neobroker zugeordnet:
1. Möglichkeit der direkten Investition in Aktien und ETFs
2. Möglichkeit der Orderaufgabe via Smartphone-App
3. Geringe Anzahl von Handelsplätzen
4. Kostenlose Depot- und Kontoführung
5. Keine oder sehr geringe fixe Ordergebühren
6. Keine variablen Ordergebühren
Die Selbstbezeichnung eines Brokers als „FinTech“ oder „Neobroker“ wurde zwar als Indiz, nicht aber als Beweis für das Vorliegen eines Neobrokers angesehen. So wurde etwa der sich selbst als Neobroker bezeichnende Smartbroker dennoch den klassischen Brokern zugeordnet, weil er über keine Smartphone-App verfügt (Kriterium 2). Auch der Trading 212-Broker wurde trotz der Selbstbezeichnung als FinTech nicht in die Gruppe der Neobroker aufgenommen, da er einen erheblichen Teil der Orders von deutschen Kunden mit einer faktischen variablen Ordergebühr belegt17 (Kriterium 6). Der Bitpanda-Broker, welcher sich ebenfalls als FinTech bezeichnet, bietet seinen Nutzern keine direkte Investitionsmöglichkeit in Aktien und ETFs (Kriterium 1). Eine Investition ist nur über Derivate möglich. Nach Anwendung der Kriterien auf die im Rahmen der Erhebung genannten Broker verblieben in dieser Arbeit insgesamt drei Neobroker: Trade Republic, Scalable Capital und justTRADE.
2.3 Klassische Broker
Die klassischen Broker bilden in der vorliegenden Arbeit das Gegenstück zu den Neobrokern. Das bedeutet, dass alle Broker, die nicht die Voraussetzungen eines Neobrokers erfüllten, automatisch der Gruppe der klassischen Broker zugeordnet wurden. Die Gruppe der klassischen Broker umfasst wiederum drei Untergruppen: Filialbank-Broker (z.B. Commerzbank, Deutsche Bank, Targo Bank, …), Direktbank-Broker (z.B. comdirect, DKB, ING-DiBa, …) und Online-Broker (z.B. flatex, onvista, Smartbroker). Letztere weisen in Bezug auf ihre Eigenschaften die meisten Parallelen zu Neobrokern auf. Hinsichtlich der Aufteilung des Brokerage-Marktes ist trotz des Mangels an belastbaren18 Daten davon auszugehen, dass die klassischen Broker zum aktuellen Zeitpunkt den weit überwiegenden Teil des Marktes beherrschen. Dies liegt insbesondere daran, dass diese in der Regel auf eine deutlich längere Unternehmensgeschichte zurückblicken können. Dies trifft insbesondere auf Filialbank-Broker zu, bei welchen die Erstaufnahme des Brokergeschäfts teilweise mehrere Jahrzehnte zurückliegt. Aber auch die meisten Online-Broker wie onvista (seit 1997) und flatex (seit 2006) sind seit über 15 Jahren am Markt aktiv. Demgegenüber ist Trade Republic mit seinem Markteintritt im Januar 2019 der am längsten am Markt existierende Neobroker in Deutschland (Vgl. Trade Republic 2019). Andere Neobroker wie justTRADE (seit 2019) und Scalable Capital (seit 2020) folgten kurze Zeit später.
Im öffentlichen Diskurs wird bei der Differenzierung zwischen Neobrokern und klassischen Brokern neben dem Alter der Broker vor allem auf die Unterschiede in den Gebühren verwiesen. Hierbei ist unumstritten, dass die Nutzung eines klassischen Brokers in der Regel mit deutlich höheren expliziten Transaktionskosten verbunden ist. Tab. 10 im Anhang stellt die Ordergebühren verschiedener Broker gegenüber. Die Tabelle erhebt explizit keinen Anspruch auf die vollständige Abbildung der komplexen Kostenstruktur am Brokermarkt19. Es handelt sich vielmehr um eine kleine Auswahl bekannter Broker in Deutschland, um dem Leser ein Gefühl für die möglichen Differenzen hinsichtlich der Ordergebühren zu geben. Auffällig ist, dass die meisten klassischen Brokern bei der Orderausführung eine variable Kostenkomponente in Abhängigkeit vom Ordervolumen verlangen. Neobroker zeichnen sich dagegen durch Pauschalbeträge aus. Dadurch fällt die Kostendifferenz zwischen den Brokern je nach Ordervolumen unterschiedlich aus. Bei einem Ordervolumen von 300,00 EUR beträgt die Kostendifferenz zwischen dem günstigsten der betrachteten Broker (Scalable Capital, 0,99 EUR) und dem teuersten Broker (Commerzbank und comdirect, jeweils 9,90 EUR) 8,91 EUR. Ein Ordervolumen von 4.000,00 EUR führt demgegenüber bereits zu einer maximalen Differenz von 14,00 EUR zwischen Scalable Capital und dem S Broker der Sparkassen (14, 99 EUR). Aus der Tab. 10 wird allerdings auch ersichtlich, dass einige klassische Broker, insbesondere Online-Broker, vergleichbare Konditionen wie Neobroker anbieten, wenngleich der Pauschalbetrag in der Regel etwas höher ausfällt.
In Bezug auf die zur Verfügung stehenden Handelsplätze sind klassische Broker zumeist breit aufgestellt. Es wird regelmäßig eine Vielzahl elektronischer Handelsplattformen sowie Parkettbörsen angeboten. Auch der Handel an ausländischen Börsen ist in der Regel möglich. Wenngleich diese Auswahl dem Kunden mehr Entscheidungsspielraum gewährt, ist die hohe Anzahl an zu berücksichtigen Handelsplätzen auch ein komplexitätssteigerndes Element. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die unterschiedlichen Handelsplatzgebühren an den Kunden weitergegeben und entsprechend von diesem berücksichtigt werden müssen. Im Vergleich zu Neobrokern, welche dem Kunden in der Regel nur eine sehr geringe Auswahl an Handelsplätzen bieten, besteht für klassische Broker daher die Gefahr, aus Kundensicht komplex und intransparent zu wirken.
3 Ausprägungen des Anlageverhaltens
3.1 Portfoliozusammensetzung
Die bis heute wichtigsten Anlageformen in den Portfolios der deutschen Haushalte sind (1) Bargeld und Einlagen sowie (2) Ansprüche aus Versicherungs-, Alterssicherungs- und Standardgarantiesystemen. Im dritten Quartal 2021 betrugen ihre Anteile am Geldvermögen der privaten Haushalte 39,5 bzw. 34,5 Prozent. (3) Börsennotierte Aktien aus dem In- und Ausland (6,9 Prozent) sowie (4) Investmentfondsanteile (11,8 Prozent) kamen auf deutlich geringere Anteile. Dennoch ist die Entwicklung der beiden letztgenannten Anlageformen beachtlich. Sowohl börsennotierte Aktien aus dem In- und Ausland als auch Investmentfondsanteile konnten ihre Anteile am Geldvermögen im Vergleich zum Vorjahresquartal um beträchtliche 1,4 bzw. 1,6 Prozentpunkte steigern (Vgl. Deutsche Bundesbank 2022 und eigene Berechnungen).
Hinsichtlich des aktienbezogenen Anlageverhaltens ermöglichen die Zahlen des Deutschen Aktieninstituts (2022) einen noch differenzierteren Einblick in die Präferenzen der deutschen Privatanleger. Im Jahr 2021 wurden hierzulande insgesamt 12,1 Mio. Aktiensparer20 erfasst. Dies entspricht 17,1 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren. Der überwiegende Teil der Privatanleger präferierte dabei die Investition in aktienbasierte Fonds/ETFs. Während zum Erhebungszeitpunkt 74 Prozent der Aktiensparer in ebendiese investiert waren, gaben nur 43 Prozent den Besitz von Einzelaktien an. Beide Produkte gleichzeitig, also sowohl aktienbasierte Fonds/ETFs als auch Einzelaktien, besaßen immerhin 17 Prozent der Aktiensparer (Vgl. Deutsches Aktieninstitut 2022, S. 18 und eigene Berechnungen). Insbesondere ETFs haben in den vergangenen Jahren rasant an Beliebtheit gewonnen. In Deutschland hat sich das von ETFs verwaltete Vermögen zwischen 2014 (EUR 84,1 Mrd.) und 2020 (EUR 168,9 Mrd.) mehr als verdoppelt, wobei diese Zahlen die tatsächliche Höhe des Vermögens noch unterschätzen21 (Vgl. BVI 2021, S. 85). Madhavan (2014) sieht verschiedene Gründe für die wachsende Popularität von ETFs. Einerseits würden sich die Vorstellungen der modernen Finanztheorie und mit ihr das Wissen um die Relevanz der Diversifikation und die Annahme effizienter Preise zunehmend etablieren. ETFs weisen eine hohe Konformität mit diesen Thesen auf, schließlich ist die Streuung der Anlage auf eine Vielzahl von Wertpapieren einer ihrer Wesenszüge. Daneben erkennen ETFs auch die Markteffizienzhypothese an, indem sie in der Regel22 nicht versuchen, Preisineffizienzen am Markt auszunutzen. Andererseits würden Anleger verstärkt auf Transaktionskosten achten und Steuern sowie Gebühren im Vergleich zu aktiv gemanagten Fonds abwägen (Vgl. Madhavan 2014, S. 312 f.). ETFs verlangen grundsätzlich weitaus niedrigere Verwaltungsgebühren als aktiv gemanagte Fonds und weisen darüber hinaus einen geringeren Portfolioumschlag auf, was sich positiv auf den Steuerstundungseffekt auswirkt. Auch im Vergleich zu einzelnen Wertpapieren besitzen ETFs insofern einen Vorteil, als die Geld-Brief-Spannen bei ETFs häufig deutlich niedriger sind als bei den zugrundliegenden Wertpapieren selbst (Vgl. Madhavan 2014, S. 320 f.).
Trotz der genannten Vorteile scheint sich der tatsächliche Nutzen von ETFs für Privatanleger in Grenzen zu halten. Bhattacharya et al. (2017, S. 1230-1234) untersuchten den Anlageerfolg von knapp 8.000 deutschen Privatanlegern und stellten fest, dass diese ihre Portfolioperformance durch die Nutzung von ETFs nicht signifikant verbessern konnten. Dieses Ergebnis ließ sich auf das unvorteilhafte Anlageverhalten der untersuchten Privatanleger zurückführen. Anstatt auf kostengünstige und marktbreite ETFs zu setzen, fiel die Investitionsentscheidung zu häufig auf teure und weniger diversifizierte Varianten, wie beispielsweise Industrie- oder Sektor-ETFs. Außerdem versuchten viele Anleger mit ihren ETFs aktives Trading zu betreiben, was zu erhöhten Transaktionskosten führte. Die Gesamtperformance der Portfolios der betrachteten Anleger wäre um signifikante 1,69 Prozentpunkte pro Jahr höher ausgefallen, wenn sie ihre ETF-Auswahl auf den breit diversifizierenden Vanguard MSCI World ETF beschränkt und anschließend eine buy-and-hold23 Strategie verfolgt hätten (Vgl. Bhattacharya et al. 2017, S. 1244). Der überwiegende Teil des Performanceunterschiedes (1,28 Prozentpunkte) entfiel dabei auf die unvorteilhafte ETF-Auswahl. Dies verdeutlicht, dass in der Praxis drastische Unterschiede zwischen den verschiedenen ETFs bestehen. Im Jahr 2020 lag der von Bhattacharya et al. (2017) empfohlene MSCI World Index mit einem Gesamtumsatz von 13,65 Mrd. Euro auf dem Börsenhandelsplatz XETRA immerhin auf Rang zwei der bedeutendsten ETF-Indizes in Deutschland hinter dem Deutschen Aktienindex (DAX) (22,89 Mrd. Euro) (Vgl. Deutsche Börse AG 2021, S. 3).
Neben Aktien und ETFs können auch derivative Finanzinstrumente wie Optionen, Zertifikate oder Contracts for Difference (CFD) für Privatanleger interessant sein. Optionen können beispielsweise genutzt werden, um auf zukünftige Kursentwicklungen zu spekulieren oder das eigene Portfolio abzusichern. Während Indexoptionen häufig mit dem Ziel der Absicherung gehalten werden, werden Einzelaktienoptionen mit einer eher spekulativen Motivation assoziiert (Vgl. Lemmon und Ni 2014, S. 1985). Lemmon und Ni (2014) konnten diesbezüglich feststellen, dass der gewöhnliche Privatanleger24 Einzelaktienoptionen gegenüber Indexoptionen zu bevorzugen scheint. In ihrer Untersuchung waren die gewöhnlichen Privatanleger für 14 Prozent des nicht auf Market Maker entfallenden Handelsvolumens von Einzelaktienoptionen verantwortlich. In Bezug auf Indexoptionen machten sie dagegen nur 2 Prozent des Handelsvolumens aus (Vgl. Lemmon und Ni 2014, S. 1993). Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass gewöhnliche Privatanleger vor allem zu Spekulationszwecken mit Optionen handeln. Absicherungszwecke scheinen dagegen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Zahlen von Kramer (2012, S. 405) sprechen ohnehin dafür, dass Optionen für die meisten Privatanleger nur von geringer Bedeutung sind. Von den rund 4.800 selbstständig investierenden Anlegern der Stichprobe waren lediglich 6 Prozent im Besitz dieses Finanzprodukts.
Abschließend spielen auch Kryptowährungen für Privatanleger eine immer größere Rolle. Diese vergleichsweise neue Anlageklasse ist sowohl in Bezug auf ihr Renditepotenzial als auch hinsichtlich ihres Risikos als höchst facettenreich einzustufen. Auf der einen Seite sind zweistellige Kursbewegungen binnen eines Tages selbst bei den Leitwährungen des Kryptomarktes, Bitcoin (BTC) und Ethereum (ETH), keine Seltenheit25. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Kryptowährungen, die aufgrund ihrer Kopplung an ein anderes Asset eine deutlich geringere Volatilität aufweisen. Üblicherweise dient hierbei der Wert einer Fiat-Währung oder Gold als Referenz. Die Bedeutung dieser sogenannten Stable Coins ist nicht zu vernachlässigen. Der tokenisierte US-Dollar Tether (USDT) ist gemessen an der Marktkapitalisierung die drittgrößte Kryptowährung der Welt. Obwohl Stable Coins wie Tether in der Theorie keinem Kursverlustrisiko in Bezug auf ihren Basiswert ausgesetzt sein sollten, besteht in der Praxis dennoch ein Emittentenrisiko. Hinsichtlich des Totalverlustrisikos ähnelt das Risikoprofil eines zentralisierten Stable Coins daher dem eines Einzelunternehmens. Angesichts dessen sind Kryptowährungen unabhängig von der Art des Coins oder Tokens grundsätzlich als ausgesprochen risikoreich einzustufen. Nichtsdestotrotz sind vor dem Hintergrund der aufsehenerregenden Renditen immer mehr Privatanleger bereit, Kryptowährungen zumindest als Beimischung in ihr Portfolio aufzunehmen (Vgl. Lammer et al. 2019, S. 13-15).
Es erscheint angesichts der üblichen Kritik, Neobroker würden ihre Nutzer zum Handel mit risikoreichen Produkten verleiten, sinnvoll, dies im Rahmen der Regressionen zu überprüfen. Im Vergleich zu Aktien(-fonds)/ETFs können Kryptowährungen, aufgrund ihrer hohen Volatilität, und derivative Finanzinstrumente, aufgrund ihres häufig spekulativen Einsatzes (Vgl. Lemmon und Ni 2014, S. 2000 f.), als vergleichsweise risikoreich eingestuft werden. Da Neobroker ihren Nutzern einen besonders einfachen Zugang zu diesen Produkten26 gewähren, sollen die folgenden Hypothesen überprüft werden:
H1: Im Vergleich zu den Nutzern klassischer Broker investieren Neobroker-Nutzer häufiger in Kryptowährungen (ggf. über Derivate).
H2: Im Vergleich zu den Nutzern klassischer Broker investieren Neobroker-Nutzer häufiger in Zertifikate, CFD oder Optionen/Optionsscheine.
3.2 Diversifikation
Gemäß der Portfoliotheorie von Markowitz (1952) kann das idiosynkratische Risiko eines Portfolios durch Diversifikation verringert werden, ohne dabei die erwartete Portfoliorendite zu reduzieren. Hierfür ist die Investition in nicht perfekt miteinander korrelierte Anlagen erforderlich. Nach den Ergebnissen von Goetzmann und Kumar (2008, S. 440-442) scheinen die Aktienportfolios von Privatanlegern allerdings systematisch unterdiversifiziert zu sein. In ihrer Untersuchung wiesen zu jedem Zeitpunkt mehr als 75 Prozent der untersuchten Portfolios eine höhere Volatilität als das Marktportfolio auf. Privatanleger tolerieren demnach in systematischer Weise höhere idiosynkratische Risiken, ohne hierfür durch eine höhere erwartete Rendite kompensiert zu werden. Dabei sind die Kosten der Unterdiversifikation von erheblichem Ausmaß. Im Durchschnitt erzielten Portfolios aus dem am schlechtesten diversifizierten Dezil eine um 2,04 Prozentpunkte niedrigere jährliche Rendite als Portfolios aus dem am besten diversifizierten Dezil. Lediglich eine sehr kleine Gruppe von Anlegern konnte bezogen auf die Rendite vom Halten eines unterdiversifizierten, d.h. konzentrierten Portfolios profitieren (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 457-460).
In der Literatur werden verschiedene Ansätze zur Erklärung dieses aus portfoliotheoretischer Sicht irrationalen Verhaltens der Mehrheit der Privatanleger diskutiert. Einerseits könnte es sein, dass Anleger neben den Kriterien Rendite und Risiko weitere Motive in ihre Investitionsentscheidungen einfließen lassen. Zu diesen anderweitigen Motiven kann etwa die Vorliebe für Aktien mit linksschiefen, glücksspielartigen Auszahlungsprofilen (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 450) oder das Verlangen, die Übersichtlichkeit im Depot zu wahren (Vgl. Kitzmann 2009, S. 18), zählen. Andererseits können auch kognitive Verzerrungen wie die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten zur Unterdiversifikation beitragen. So kann es zu einer bewussten Vernachlässigung der Diversifikation kommen, wenn Anleger, die ihre eigenen Fähigkeiten womöglich überschätzen, versuchen, die Marktrendite durch die gezielte Auswahl einzelner Aktien zu übertreffen. Statistisch gesehen ist von diesem auch als „stock picking“ bezeichneten Verhalten abzuraten. Gemäß Domian et al. (2003) führt das Weglassen der am besten performenden Aktien zu einem größeren Renditeverlust als das Weglassen der am schlechtesten performenden Aktien umgekehrt einbringt: „We believe that the greatest long-run risk for investors is the potential shortfall from not owning the best-performing stocks. Even if market overreaction exists, it is impossible to identify all of the stocks which will be the future top performers. To improve the likelihood of owning these top investments, simply buy more stocks.” (Domian et al. 2003, S. 63). Rational wäre es demgemäß, keine gezielte Auswahl zu treffen, sondern stattdessen möglichst breit zu diversifizieren. Eine weitere kognitive Verzerrung, die einen Einfluss auf das Diversifikationsverhalten haben kann, ist der sog. (Equity) Home Bias. Der Home Bias beschreibt die Präferenz von Anlegern, vor allem in die Aktien des Heimatlandes zu investieren, mit der Folge einer relativen Untergewichtung ausländischer Aktien im Portfolio (Vgl. Graham et al. 2009, S. 1095). Der verringerte Diversifikationsgrad bei Vorliegen dieses Bias beruht auf der Tatsache, dass die Aktien eines Landes typischerweise stärker miteinander korrelieren als Aktien aus unterschiedlichen Regionen der Welt. Anleger, die keine ausländischen Aktien halten, scheinen zudem eine insgesamt geringere Anzahl von Positionen in ihren Portfolios aufzuweisen (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 447-449). Weitere Erklärungsansätze für die unzureichenden Diversifikationsbemühungen von Privatanlegern betreffen die Transaktions- und Suchkosten, die bei der Portfoliodiversifikation anfallen. Demnach könnten sich vor allem Anleger mit kleinen Portfolios keine ausreichende Diversifikation leisten. Goetzmann und Kumar (2008) konnten diesbezüglich allerdings keinen starken Zusammenhang feststellen. Tatsächlich konnte gerade bei den weniger diversifizierten Portfolios eine erhöhte Transaktionsfrequenz und damit erhöhte Inkaufnahme von Transaktionskosten beobachtet werden. Nach Auffassung der Autoren würden kleine Portfoliogrößen und hohe Transaktionskosten demgemäß keine wesentlichen Hindernisse für eine angemessene Diversifizierung des Portfolios darstellen (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 447).
Oftmals gehen Privatanleger davon aus, dass zur Bewertung des Diversifikationsgrades ihres Portfolios die Betrachtung der Anzahl der Positionen ausreichend wäre. Barasinska et al. (2008) bezeichnen diese heuristische Herangehensweise auch als „naive Diversifikation“ (S. 706). Sie führt zwar zu einem Resultat, das als grobe Orientierung genutzt werden kann, für eine präzise Bewertung des Diversifikationsgrades ist sie aber unzureichend. Grund dafür ist, dass die bloße Anzahl der Positionen keinen Einblick in die Korrelationsbeziehungen zwischen den Wertpapieren erlaubt. Goetzmann und Kumar (2008) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen passiver Diversifikation und Diversifikationskompetenz. Unter passiver Diversifikation verstehen die Autoren die Risikoreduktion, die aus dem Halten von mehr als einem Wertpapier resultiert. Diversifikationskompetenz beschreibt hingegen die Risikoreduktion, die sich aus der Auswahl imperfekt korrelierter Wertpapiere ergibt (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 434). Mit Blick auf die passive Diversifikation konnten die Autoren erwartungsgemäß feststellen, dass die normalisierte Portfoliovarianz mit zunehmender Anzahl von Aktienpositionen abnimmt. Portfolios mit nur drei Aktien wiesen in der 5-Jahres-Betrachtung eine rund doppelt so hohe normalisierte Portfoliovarianz auf (0,451) wie Portfolios mit 11 bis 15 Aktien (0,226). Die Korrelation zwischen den im Portfolio befindlichen Aktien blieb mit zunehmender Anzahl jedoch weitgehend unverändert. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Anleger, die auf die passive Diversifikation ihres Portfolios achten, nicht zwangsweise auch über eine höhere Diversifikationskompetenz verfügen (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 438 f.). Dies bestätigt den Verdacht, dass viele Privatanleger dem Irrglauben zu unterliegen scheinen, dass allein die Anzahl der Positionen für den Diversifikationsgrad ihres Portfolios ausschlaggebend wäre. Die Anzahl der durchschnittlich gehaltenen Aktien stieg bei den von Goetzmann und Kumar (2008, S. 442 f.) untersuchten Privatanleger von 4,28 im Jahr 1991 auf 6,32 im Jahr 1996. Unter der Annahme, dass sich diese Tendenz in den Folgejahren weiter fortgesetzt hat, sollte die heutige Anzahl der durchschnittlich von Privatanlegern gehaltenen Aktien noch einmal wesentlich höher liegen. Im Durchschnitt hielten in der Zeit von 1991 bis 1996 75,48 Prozent der Anleger weniger als sechs Aktien. Gleichzeitig beschränkte sich der Anteil der Anleger mit mehr als zehn Aktien auf 9,16 Prozent (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 438 und eigene Berechnungen). Auch hier liegt die Vermutung nahe, dass sich diese stark rechtsschiefe Verteilung bis heute ein wenig nach rechts verschoben und geglättet hat.
Domian et al. (2003) haben sich mit der Frage beschäftigt, wie viele Einzelaktien für eine ausreichende Portfoliodiversifikation von einem Anleger gehalten werden müssen. Vorangegangene Untersuchungen kamen diesbezüglich zu unterschiedlichen Ergebnissen, da die Antwort auf diese Frage von der Länge des unterstellten Anlagehorizonts und der jeweiligen Definition von Diversifikation abhängig ist. Traditionell soll die Empfehlung bei circa acht bis 20 Positionen gelegen haben (Vgl. Domian et al. 2003, S. 41). Nach Domian et al. (2003) scheinen diese Zahlen jedoch zu niedrig angesetzt zu sein. Die Autoren bestimmten die Güte der Diversifikation anhand des Shortfall-Risikos. Hierfür wurden für verschiedene Portfoliogrößen jeweils 100.000 Portfolios simuliert und dem Portfolioendwert nach geordnet. Die relative Differenz zwischen dem Endwert des 5-Prozent-Perzentil Portfolios und dem Endwert des Marktportfolios wurde als Shortfall-Risiko definiert. Als Proxy für das Marktportfolio wurde der S&P 100 Index verwendet. Hätte ein Anleger bei einem Anlagehorizont von fünf Jahren (1979-1983) in ein Portfolio bestehend aus zehn zufälligen Aktien aus dem S&P 100 Index investiert, hätte sein Portfolio in fünf Prozent aller Fälle einen um rund 23 Prozent kleineren Endwert erzielt als das Marktportfolio (Vgl. Domian et al. 2003, S. 58). Anleger hätten in diesem Zeitraum mehr als 40 Aktien halten müssen, um das Shortfall-Risiko auf zehn Prozent zu begrenzen. Bei einem Anlagehorizont von 20 Jahren (1979-1998) wären gar mehr als 60 Aktien erforderlich gewesen, um auch hier eine Begrenzung des Shortfall-Risikos auf zehn Prozent zu erzielen. Aus ihren Berechnungen konnten Domian et al. (2003) folgende Erkenntnis ableiten: Mit zunehmender Länge des Anlagehorizonts ist eine höhere Anzahl von Aktien erforderlich, um den gleichen Diversifikationsgrad des Portfolios gemessen am Shortfall-Risiko zu gewährleisten. Grund dafür ist die Zunahme der Schwankungsbreite im Portfolioendwert, die sich aus dem Zinseszinseffekt über mehrere Perioden ergibt. Eine derart hohe Anzahl von Positionen, wie sie Domian et al. (2003, S. 43 f.) empfehlen, wurde in der Vergangenheit insofern kritisiert, als mit ihr höhere Transaktions- und Suchkosten einhergehen würden. Diese Kritik hält heutzutage angesichts der stark gesunkenen Transaktionskosten und großen Auswahl an breit diversifizierenden und kostengünstigen Investmentfonds und ETFs allerdings nicht stand. Domian et al. (2003) erklären sich die dennoch zu beobachtende Präferenz einiger Privatanleger, bevorzugt in Einzelaktien statt Fonds zu investierten, damit, dass Einzelaktien vor allem bei längeren Anlagehorizonten dazu geeignet sind, Verwaltungs- und Managementgebühren gegenüber Fonds einzusparen. Außerdem könnten Anleger aus steuerlicher Sicht ein Interesse daran haben, selbst zu entscheiden, wann die Kursgewinne bzw. -verluste einzelner Positionen realisiert werden (Vgl. Domian et al. 2003, S. 40). Bei Fonds besitzt der Anleger in Bezug auf die internen Transaktionsentscheidungen und -zeitpunkte keine Einflussmöglichkeit.
Eine zusätzliche Maßnahme, die im engen Zusammenhang mit der Portfoliodiversifikation steht, ist das sog. Rebalancing. Beim Rebalancing werden die Gewichtungen der einzelnen Portfoliopositionen derart angepasst, dass sich eine bestimmte Portfoliozusammensetzung ergibt. Üblicherweise erfolgen Rebalancing-Maßnahmen in regelmäßigen Abständen und mit dem Ziel, die ursprünglich festgelegte Portfoliozusammensetzung wiederherzustellen. Dieses Verhalten kann insofern zur Diversifikation beitragen, als marktentwicklungsbedingte Übergewichtungen im Portfolio abgebaut werden: „Rebalancing produces a better diversified portfolio than a long run buy-and-hold strategy where a few stocks grow to dominate the portfolio.” (Domian et al. 2003, S. 62 f.). Ein Portfolio, welches 20 Jahre lang jährlich einem Rebalancing27 unterzogen worden wäre, hätte in der Untersuchung von Domian et al. (2003) einen um rund 15 Prozent höheren Portfolioendwert erzielt als das gleiche Portfolio ohne derartige Interventionen. Dieses Ergebnis ergab sich sowohl für das Marktportfolio als auch alle anderen Portfolios bestehend aus zehn bis 100 Aktien.
Zusammenfassend konnten in der wissenschaftlichen Literatur keine Hinweise dafür gefunden werden, dass die Kerneigenschaften der Neobroker wie insbesondere niedrige Ordergebühren und mobile Zugänglichkeit einen Effekt auf das Diversifikationsverhalten haben könnten. Obwohl niedrigere Transaktionskosten in der Theorie das Potenzial besitzen, eine bessere Diversifikation zu ermöglichen, scheinen Privatanleger in der Realität nicht von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen (Vgl. Goetzmann und Kumar 2008, S. 447). Aus diesem Grund lautet die zweite Hypothese dieser Arbeit:
H3: Neobroker-Nutzer unterscheiden sich hinsichtlich ihres Diversifikationsverhaltens nicht von den Nutzern klassischer Broker.
3.3 Transaktionsfrequenz
Aus Sicht eines Privatanlegers kann es verschiedene Motivationen für die Durchführung von Transaktionen geben. Barber und Odean (2000, S. 795-799) geben diesbezüglich einen Überblick. Zunächst kommen Liquiditätsengpässe als Transaktionsgrund in Betracht. Falls es Privatanlegern aufgrund externer Schocks an Liquidität mangelt, könnten diese den Verkauf von Aktien zur Liquiditätsbeschaffung erwägen. Nach Ansicht der Autoren sollte diese Motivation für die Erklärung des Transaktionsverhaltens allerdings von untergeordneter Bedeutung sein, da Privatanlegern in der Regel kostengünstigere Mittel zur Liquiditätsbeschaffung zur Verfügung stehen sollten (Vgl. Barber und Odean 2000, S. 795). Einerseits führt der Verkauf von Aktien mit Kursgewinnen zur Realisierung dieser Gewinne und damit zur frühzeitigen Entrichtung von Steuern. Es fallen dadurch indirekte Kosten durch den Wegfall des Steuerstundungseffektes an. Andererseits resultiert aus dem Verkauf von Aktien mit Kursverlusten eine Realisierung dieser Verluste, welche sich nur dann positiv auswirkt, wenn eine Verrechnung mit aktuellen oder zukünftigen Verkaufsgewinnen möglich ist. Hinzu kämen in beiden Fällen die anfallenden Transaktionskosten. Diese direkten und indirekten Kosten machen den Verkauf von Aktien zur Liquiditätsbeschaffung vergleichsweise unattraktiv. Die Autoren nennen Rebalancing-Überlegungen als eine weitere mögliche Motivation. So könnten Anleger ein Interesse daran haben, das Risikoprofil ihres Portfolios möglichst konstant zu halten und bei Abweichungen entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Genauso könnte ein Rebalancing nach einer Veränderung der persönlichen Lebensumstände erforderlich sein. Allerdings wird auch dieser Motivation keine wesentliche Bedeutung beigemessen. Der von den untersuchten Anlegern getätigte, immense Portfolioumschlag von durchschnittlich 75 Prozent des Portfolios pro Jahr deute nicht auf Anpassungen zu Rebalancing-Zwecken hin (Vgl. Barber und Odean 2000, S. 796). Steuerlich motivierte Transaktionen halten die Autoren demgegenüber für wesentlich plausibler. Falls Anleger über Positionen mit unrealisierten Kursverlusten verfügen, können diese genutzt werden, um die Steuerlast zu reduzieren. Hierfür müssen die verlustbehafteten Positionen veräußert und die realisierten Verluste mit den zeitgleich oder zukünftig realisierten Gewinnen anderer Positionen verrechnet werden. Nach Hoffmann und Nippel (2012, S. 1312) stellt diese Strategie die faktische Inanspruchnahme eines zinslosen Steuerkredits dar. Grundsätzlich sollten zur Steueroptimierung negative Kursgewinne möglichst frühzeitig realisiert werden. Auf die Realisierung positiver Kursgewinne sollte dagegen möglichst lange verzichtet werden (Vgl. Hoffmann und Nippel, S. 1331). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz, die im Speziellen deutsche Privatanleger betrifft, resultiert aus dem Sparer-Pauschbetrag gem. § 20 Abs. 9 EStG. Der Sparer-Pauschbetrag stellt einen jährlichen Freibetrag für die Kapitaleinkünfte von Privatanlegern bis zu einer Höhe von 801 EUR (Einzelveranlagung) bzw. 1.602 EUR (zusammenveranlagte Personen) dar28. Da ein ungenutzter Sparer-Pauschbetrag nicht in das Folgejahr übernommen werden kann, profitieren Privatanleger von der jährlichen Realisierung ihrer Kursgewinne bis zur Höhe des Sparer-Pauschbetrages. In dieser Situation kann eine frühzeitige Realisierung von Kursgewinnen also ausnahmsweise von Vorteil sein, solange die Transaktionskosten den Nutzen aus der Steuerersparnis nicht übertreffen. Barber und Odean (2000) ziehen des Weiteren die Glücksspiellust als Transaktionsmotivation in Betracht. Privatanleger könnten demnach zu Unterhaltungszwecken mit Aktien handeln. Die Autoren halten es dabei für möglich, dass sich die betroffenen Anleger der Konsequenzen ihres exzessiven Tradings durchaus bewusst sein könnten, die mögliche Minderperformance aber wissentlich in Kauf nehmen (Vgl. Barber und Odean 2000, S. 798 f.). Vor dem Hintergrund dieser Vermutung haben Gao und Lin (2015) die sog. „fun and excitement hypothesis“ (S. 2131) aufgestellt und für taiwanesische Privatanleger untersucht. Die Hypothese unterstellte, dass es Anleger gibt, die das Handeln mit Aktien als amüsantes und aufregendes Glücksspiel betrachten. Zur Überprüfung dieses Verdachts wurde der Substitutionseffekt zwischen der nationalen Lotterie und dem Handelsvolumen bestimmter Aktien analysiert. Wenn sich die beiden Größen tatsächlich in einer Substitutionsbeziehung befänden, dann müsste ein hoher und damit attraktiver Lottojackpot zu einer Verringerung des Handelsvolumens der betrachteten Aktien führen. Zu den betrachteten Aktien zählten zum einen privatanlegerbevorzugte Aktien29 und zum anderen lottoartige Aktien30. Im Ergebnis konnten die Autoren ihre Vermutung für beide Aktienarten bestätigen. So war das auf Privatanleger entfallende Handelsvolumen lottoartiger Aktien um 6,8 bis 8,6 Prozent niedriger, wenn der Lottojackpot bei über TWD 500 Mio. (Taiwan-Dollar)31 lag. Bei den privatanlegerbevorzugten Aktien betrug der Rückgang 5,2 bis 9,1 Prozent (Vgl. Gao und Lin 2015, S. 2158). Dieser auf Substitution hindeutende Effekt blieb auch bei der Verwendung anderer Grenzwerte für den Jackpot erhalten. Dorn et al. (2015) erhielten für deutsche und US-amerikanische Privatanleger ähnliche Ergebnisse. Sie fanden zudem heraus, dass der Substitutionseffekt zwischen Investieren und Lottospielen nicht bei allen Finanzprodukten gleichermaßen gegeben ist. So konnte für die deutschen Privatanleger kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Höhe des Lottojackpots und der Handelsaktivität bei Investmentfonds, Anleihen und Sparplänen festgestellt werden. Bei Einzelaktien und Aktienoptionen ging die Handelsaktivität dagegen mit zunehmender Höhe des Jackpots signifikant zurück (Vgl. Dorn et al. 2015, S. 2389 f.). Die von Barber und Odean (2000) angebrachte Glücksspiellust scheint demzufolge zumindest für die beiden letztgenannten Finanzprodukte eine relevante Transaktionsmotivation darzustellen. Die Gründe für häufiges Trading könnten ferner in der Selbstüberschätzung einiger Anleger liegen. Die höhere Tradingaktivität wird hierbei mit der Überzeugung der Anleger begründet, die Marktrendite durch den geschickten Kauf- und Verkauf von Aktien übertreffen zu können. Eine derartige Überzeugung konnte in vergangenen Untersuchungen sowohl bei Privatanlegern als auch bei professionellen Investoren festgestellt werden (Vgl. Daniel und Hirshleifer 2015, S. 61 f.). Den Grund für die Hartnäckigkeit der Selbstüberschätzung sehen Daniel und Hirshleifer (2015, S. 66) im sog. Self-Attribution Bias. Diese kognitive Verzerrung führt dazu, dass Personen ihre Erfolge und Misserfolge unterschiedlich interpretieren. Während sie Erfolge auf ihre eigenen Fähigkeiten zurückführen, werden Misserfolge anhand von externen Faktoren begründet, die außerhalb der eigenen Beeinflussbarkeit liegen (Vgl. Nguyen und Schüßler 2012, S. 1 f.). Infolgedessen kann die Wahrnehmung der betroffenen Anleger getrübt sein: „investors who have experienced high returns attribute this to their high skill and become more overconfident, while investors who experience low returns attribute it to bad luck rather than experiencing an offsetting fall in their overconfidence level.” (Daniel und Hirshleifer 2015, S. 66). Dies führt dazu, dass Anleger, selbst nachdem sie die tatsächlichen Grenzen ihrer Fähigkeiten aufgezeigt bekommen haben, weiter an ihre persönliche Überlegenheit glauben und infolgedessen häufiger traden. Ein weiteres Transaktionsmotiv, welches speziell die Privatanleger in dieser Arbeit betreffen könnte, liefert die Opportunitätskosten-Hypothese von Schmittmann et al. (2014). Gemäß den Autoren wägen Privatanleger die Durchführung von Investitionen mit alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten ab. So würden Privatanleger an Tagen mit gutem Wetter signifikant weniger handeln, da sie andere Aktivitäten gegenüber dem Investieren vorziehen (Vgl. Schmittmann et al. 2014, S. 1155 f.). In Zeiten der Corona-Pandemie könnten sich einige Privatanleger aus Mangel an Beschäftigungsalternativen verstärkt dem Investieren gewidmet haben.
Die vielzitierte Untersuchung von Barber und Odean (2000) legt nahe, dass exzessives Trading zu einer signifikanten Reduzierung der Nettoperformance32 führen kann. Diese Beobachtung beruht auf der Tatsache, dass Vieltrader ihre höheren Transaktionskosten zwingend durch eine höhere Bruttoperformance überkompensieren müssen, um einen insgesamt positiven Nutzen aus der gesteigerten Tradingaktivität zu ziehen. Privatanlegern gelingt es in der Regel jedoch nicht, die Marktrendite durch geschicktes Trading zu übertreffen. Angesichts der höheren Transaktionskosten einer solchen Strategie resultiert dann für die Mehrheit der Anleger eine geringere Nettoperformance (Vgl. Barber und Odean 2000, S. 774 f.). Dabei würde die Berücksichtigung der zusätzlich anfallenden, nicht-monetären Informations- und Suchkosten die Beurteilung dieser Strategie noch schlechter ausfallen lassen. Trotz dieser Erkenntnis scheinen viele Privatanleger nicht von dem Versuch zurückzuweichen, es selbst mit dem aktiven Traden zu versuchen. Dieses Phänomen wird auch als „active investing puzzle“ bezeichnet (Vgl. Daniel und Hirshleifer 2015, S. 64). Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Transaktionskosten für Privatanleger seit der Untersuchung von Barber und Odean (2000) drastisch gesunken sind, könnte die Grundaussage der Autoren bis heute ihre Gültigkeit behalten haben.
Im Kontext der Transaktionsfrequenz wird Neobrokern häufig vorgeworfen, das Verhalten ihrer Nutzer negativ zu beeinflussen und exzessives Trading zu fördern. Während der überwiegende Teil der aufgeführten Transaktionsmotive wie Liquiditätsengpässe, steuerliche Erwägungen und Rebalancing-Maßnahmen in keinem Zusammenhang zur Brokerwahl stehen sollten, ist eine Verstärkung der Glücksspiellust durch die Nutzung eines Neobrokers durchaus denkbar. Immerhin ist das Abschließen einer Order über einen Neobroker kostengünstiger als der Erwerb eines handelsüblichen Lottoscheins. Anhand der folgenden Hypothese soll überprüft werden, ob tatsächlich eine derartige Wirkung besteht:
H4: Im Vergleich zu den Nutzern klassischer Broker handeln Neobroker-Nutzer häufiger.
3.4 Haltedauer
Die zeitliche Diversifikationstheorie bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Risiko und Haltedauer. Allgemein wird dabei angenommen, dass das Risiko eines riskanten Assets mit zunehmender Haltedauer abnimmt. Zugleich soll die Wahrscheinlichkeit, dass ein riskantes Asset einem weniger riskanten Asset in Bezug auf die Performance unterliegt, umso geringer ausfallen, je länger die betrachtete Haltedauer ist. Daraus abgeleitet sollten Anleger darauf achten, den Anteil der riskanten Assets in ihrem Portfolio mit abnehmender Haltedauer schrittweise zu verringern (Vgl. Estrada 2013, S. 26). Kritiker stimmen allerdings nicht mit allen Aussagen der zeitlichen Diversifikationstheorie überein. So könne je nach Wahl des Renditemaßes eine andere Interpretation des Verhältnisses zwischen Risiko und Haltedauer abgeleitet werden. Das Risiko nehme bei Betrachtung kumulierter Renditen – entgegen der Botschaft der zeitlichen Diversifikationstheorie – mit zunehmender Haltedauer zu statt ab. Zur Überprüfung dieser Kritik berechnete Estrada (2013) die kumulierten Aktienmarktrenditen für verschiedene Haltedauern zwischen 1900 und 2009. Der schlechteste 5-Jahres Zeitraum (30-Jahres-Zeitraum) erwirtschaftete eine kumulierte Rendite von -51,1 Prozent (87,3 Prozent). Im besten 5-Jahreszeitraum (30-Jahres-Zeitraum) konnten Anleger dagegen eine kumulierte Rendite von 175,7 Prozent (1473,4 Prozent) erzielen. Würde man nun die Differenz zwischen dem schlechtesten und besten Szenario als Risikomaß betrachten, so würde der 30-Jahres-Zeitraum übereinstimmend mit den Kritikern zu einem höheren Risiko führen. Auch die Standardabweichung der kumulierten Renditen und die Schwankungsbreite der Endwerte wäre beim 30-Jahres-Zeitraum um ein Vielfaches höher. Grund dafür ist der Zinseszinseffekt bei aufeinanderfolgenden Renditen (Vgl. Estrada 2013, S. 28). Dieser Kritik an der zeitlichen Diversifikationstheorie kann nach Estrada (2013) jedoch entgegengehalten werden, dass es sich bei der größeren Schwankungsbreite der Endwerte bei längeren Haltedauern vor allem um aus Anlegersicht vorteilhafte Schwankungen handelt: „[A]lthough the spread between the highest and lowest cumulative returns steadily increases with the holding period, and so does the uncertainty about terminal wealth, the worst-case scenario does not get worse; it actually gets better. In other words, most of the increase in the spread is due to an increase in upside potential. ” (Estrada 2013, S. 29). Im Hinblick auf kumulierte Renditen führen längere Haltedauern demnach zwar zu einer höheren Unsicherheit bezüglich des Endwertes, nicht aber zu einem höheren Downside-Risiko. Die höhere Standardabweichung bei längeren Haltedauern würde dem gewöhnlichen Privatanleger daher ein falsches Bild vermitteln. Es ist davon auszugehen, dass dieser beim Begriff Risiko vor allem oder ausschließlich an das Downside-Risiko denkt, nicht aber an das „Upside-Risiko“, welches hier maßgeblich für die hohe Standardabweichung verantwortlich ist. Werden statt kumulierter Renditen annualisierte Renditen betrachtet, so behalten die Aussagen der zeitlichen Diversifikation durchgehend ihre Gültigkeit und das Risiko nimmt mit zunehmender Haltedauer ab. In der Untersuchung traf diese Feststellung auf alle betrachteten Risikomaße33 zu. So konnte die Standardabweichung der annualisierten Rendite durch eine Erhöhung der Haltedauer auf fünf Jahre im Vergleich zur 1-jährigen Haltedauer mehr als halbiert werden. Bei einer Haltedauer von 30 Jahren lag die Standardabweichung gar bei einem Zehntel der 1-jährigen Haltedauer. Aus Anlegersicht wirkte sich eine Erhöhung der Haltedauer auch auf das Worst-Case-Szenario und die sog. Shortfall Probability positiv aus. Im schlechtesten 5-Jahres-Zeitraum hätte ein Anleger eine annualisierte Rendite von -13,3 Prozent erzielt. Bei Betrachtung einer 20-jährigen Haltedauer wären dagegen schlimmstenfalls -0,6 Prozent Rendite pro Jahr möglich gewesen. Mit Blick auf die Shortfall Probability zeigte sich das gleiche Muster. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer 5-jährigen Investition in den Aktienmarkt eine schlechtere Rendite als mit einer ebenso langen Investition in Anleihenmarkt zu erzielen, lag bei 26,4 Prozent. Demgegenüber unterlagen Aktienmarktinvestitionen mit einer Haltedauer von 20 Jahren in nur 7,7 Prozent der Fälle einer 20-jährigen Anleihenmarktinvestition (Vgl. Estrada 2013, S. 28). Die Ergebnisse von Estrada (2013) zeigen, dass selbst üblicherweise als langfristig bezeichnete Aktieninvestitionen von über 10 Jahren keineswegs eine Garantie für über Null liegende annualisierte Renditen darstellen. Dennoch wird deutlich, dass längere Haltedauern angesichts der Vorteile der zeitlichen Diversifikation grundsätzlich erstrebenswert sind. Auch Fellner und Sutter (2009) sprechen sich für längere Anlagehorizonte aus, weil sie Privatanleger zu einer rationaleren34 Portfolioallokation bewegen würden (Vgl. Fellner und Sutter 2009, S. 900 f.). Anleger agierten bei kurzen Anlagehorizonten zu risikoscheu, wodurch sie vermeidbaren Opportunitätskosten ausgesetzt wären.
Oftmals besteht die Kritik, die in Bezug auf den Einfluss der Neobroker geäußert wird, in der Befürchtung, dass es zu einer gefährlichen Veränderung des Anlageverhaltens in Folge der verschwindend geringen Ordergebühren kommen könnte. Dass diese Befürchtung nicht vollkommen unbegründet ist, zeigen die Ergebnisse von Atkins und Dyl (1997). Die Autoren untersuchten den Einfluss von Transaktionskosten auf die Haltedauer: „The basic proposition that the cost of transacting affects the volume of trade and, ceteris paribus, investors' holding periods, is intuitively appealing and appears to be widely accepted.” (Atkins und Dyl 1997, S. 310). Sie stellten fest, dass Anleger ihre Aktien umso kürzer hielten, je geringer die Transaktionskosten waren (Vgl. Atkins und Dyl 1997, S. 320 f.). Dieser Effekt konnte signifikant für verschiedene Handelsplätze (Nasdaq und New York Stock Exchange) sowie für verschiedene Zeiträume (1983-1991 und 1976-1989) ermittelt werden und erwies sich damit als äußerst robust. Fraglich ist allerdings, ob sich die Ergebnisse von Atkins und Dyl (1997) auch auf die Transaktionskostenunterschiede bei Brokern übertragen lassen. Die Autoren berücksichtigten als Transaktionskosten lediglich die Höhe der Geld-Brief-Spannen. Anderweitige Kosten, wie sie etwa in Form von Orderprovisionen bei Brokern anfallen, wurden nicht berücksichtigt. Der überwiegende Teil der Transaktionskostenunterschiede zwischen Neobrokern und klassischen Brokern liegt jedoch in ebendiesen anderweitigen Kosten.
[...]
1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechtsidentitäten.
2 In diesen Jahren lag der Anteil der Aktiensparer ebenfalls bei über 17 Prozent.
3 Die Deutsche Welle (2020) titelt „Gefährlicher Spagat zwischen Zocken und Handeln“; Der Spiegel (2021) schreibt „Was Sie beim Aktienzocken per Smartphone beachten müssen“.
4 Als “unicorn” werden Unternehmen bezeichnet, die im Rahmen einer oder mehrerer Finanzierungsrunden Kapital von institutionellen Investoren eingesammelt haben und dabei mit USD 1 Mrd. oder mehr bewertet wurden. Das betrachtete Unternehmen muss bis zum Zeitpunkt der Finanzierung zu jeder Zeit privat und nicht Teil einer Aktiengesellschaft gewesen sein. (Vgl. Bock und Hackober 2020, S. 950)
5 Das Gegenstück bildet die sogenannte „normative household finance“, welche sich mit der Frage beschäftigt, wie Haushalte idealerweise investieren sollten (Vgl. Campbell 2006, S. 1558).
6 Zur Bemessung der Informiertheit der Transaktionen wurden die über verschiedene Zeithorizonte erzielten Alphas genutzt (Vgl. Fong et al. 2014, S. 438).
7 Bei der Überführung der EU-Richtlinie in nationales Recht hat sich der deutsche Gesetzgeber für die Abänderung der Bezeichnung „Kleinanleger“ in „Privatkunde“ entschieden (Vgl. § 67 Abs. 3 WpHG).
8 Ein separater Vergleich der Suchbegriffe zeigt, dass in Deutschland die Schreibweisen „Neobroker“ und „Neo Broker“ von den Nutzern der Suchmaschine Google gegenüber der Alternative “Neo-Broker“ präferiert werden.
9 Daten abrufbar unter: https://trends.google.de/trends/explore?date=2016-01-01%202022-02-28&geo=DE&q=%22neobroker%22%20%2B%20%22neo%20broker%22%20%2B%20%22neo-broker%22.
10 Gamification beschreibt die Nutzung von “game design elements in non-game contexts.” (Deterding et al. 2011, S. 2).
11 Die expliziten Transaktionskosten beinhalten alle variablen und fixen Gebühren, die ein Broker für die Orderausführung verlangt. Sie bilden das Gegenstück zu den impliziten Transaktionskosten, welche sich aus der Differenz zwischen den Ausführungskursen auf verschiedenen Märkten ergeben (Vgl. Meyer et al. 2021, S. 1 f.). Während ein Broker über die Höhe der expliziten Transaktionskosten bestimmen kann, besitzt er keine Entscheidungsgewalt über die von den Market Makern festgelegte Höhe der Geld-Brief-Spannen.
12 „Bestmöglich“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Höhe der impliziten Kosten. Es sollte jener Market Maker gewählt werden, welcher die betrachtete Order mit der geringsten Geld-Brief-Spanne belegt.
13 Beispielsweise https://assets.ctfassets.net/vkizfq3pbtzc/3KfMbBa6hx0ig96UyZKZQY/cb03b6673c74636d9c6c3ecd8e6ac49e/2021-05-20_Trade_Republic_Pressemitteilung_Series_C.pdf.
14 Beispielsweise https://de.scalable.capital/newsroom/finanzierungsrunde-ueber-180-millionen.
15 Beispielsweise https://www.justtrade.com/ueber-uns-1.
16 Tatsächlich bieten einige klassische Broker ihren Kunden das gleiche Angebot an Kryptowährungen wie Neobroker. Dies liegt daran, dass es sich bei den von Neobrokern angebotenen Kryptowährungen teilweise nicht um den Basiswert, sondern lediglich um Exchange-Traded Products (ETP) handelt, die deren Wertentwicklung abbilden. Kunden sind auch über klassische Broker wie beispielsweise comdirect in der Lage, in solche Finanzinstrumente zu investieren.
17 Beim Handel von Aktien deren Währung nicht der Währung des Kundenkontos entspricht fällt eine Währungsumrechnungsgebühr i. H. v. 0,15 Prozent des Ordervolumens an.
18 Die Berechnungen von OliverWyman (2021) können zumindest der groben Orientierung dienen. Das Strategieberatungsunternehmen schätzte den Marktanteil der Neobroker im Jahr 2020 auf sieben bis acht Prozent, wobei der Smartbroker abweichend von der vorliegenden Arbeit als Neobroker definiert wurde.
19 Gänzlich andere Gebührenmodelle weisen zum Beispiel die Broker der DKB und der Postbank auf.
20 Der Begriff Aktiensparer bezeichnet alle Personen, „die entweder direkt mit Aktien oder indirekt mit Fonds oder Exchange Traded Fonds (ETFs) an der Entwicklung des Aktienmarktes partizipieren.“ (Deutsches Aktieninstitut 2022, S. 29) Diese Definition schließt auch die Aktieninvestition über Mischfonds ein.
21 Der Bundesverband Investment und Asset Management (BVI) gibt an, dass die Zurechnung des Vermögens von im Ausland aufgelegten ETFs zum deutschen Absatzmarkt nur eingeschränkt möglich war (Vgl. BVI 2021, S. 85).
22 Eine Ausnahme von dieser Regel bilden aktiv gemanagte ETFs wie beispielsweise der ARK Innovation ETF (US00214Q1040).
23 Unter buy-and-hold versteht man die auf der Markteffizienzhypothese beruhende Strategie, Aktien zu kaufen und langfristig zu halten. Zwischenzeitliche Verkäufe zur Ausnutzung von Preisineffizienzen am Markt sind per Definition nicht vorgesehen (Vgl. Shiryaev et al. 2008, S. 765).
24 Lemmon und Ni (2014) unterteilten die untersuchten Privatanleger in gewöhnlich („unsophisticated“) und professionell („sophisticated“). Als gewöhnliche Privatanleger wurden Kunden von Discount Brokern definiert. Als professionell galten hingegen solche Anleger, die über Vermögensverwaltungen investierten (Vgl. Lemmon und Ni 2014, S. 1993).
25 Bitcoin und Ethereum verzeichneten in der Zeit vom 01.01.2021 bis zum 31.12.2021 insgesamt 11- bzw. 25-mal Kursbewegungen von über 10 Prozent binnen eines Tages. In der Spitze lag die Differenz zwischen dem Eröffnungs- und dem Schlusskurs eines Handelstages bei Bitcoin (Ethereum) bei 18,80 Prozent (27,26 Prozent) (Eigene Berechnungen auf Basis historischer Kurse). Kurse abrufbar unter: https://de.finance.yahoo.com/quote/BTC-USD/history?p=BTC-USD (ETH analog).
26 Insbesondere Kryptowährungen, Zertifikate und Optionsscheine. Der Handel mit CFD und Optionen wird in der Regel nicht angeboten.
27 Alle Portfoliopositionen wurden jährlich zurückgesetzt und gleichgewichtet. Transaktionskosten und Steuern wurden nicht berücksichtigt (Vgl. Domian et al. 2003, S. 55).
28 Gemäß dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung soll der Sparerpauschbetrag ab dem 1. Januar 2023 auf 1.000 bzw. 2.000 EUR erhöht werden (Vgl. Bundesregierung 2021, S. 165).
29 Unter „stocks preferred by individual investors” (Gao und Lin 2015, S. 2135) verstanden die Autoren Aktien mit einem hohen Privatanlegeranteil am Handelsvolumen, hohen vergangenen Renditen, niedriger Marktkapitalisierung, niedrigem oder negativem Gewinn pro Aktie und hohem Kurs-Buchwert-Verhältnis.
30 Unter „lottery-like stocks“ (Gao und Lin 2015, S. 2135) verstanden die Autoren Aktien mit einem glücksspielartigen, d.h. schiefen Renditeprofil.
31 Dies entspricht einem Betrag von rund EUR 15,9 Mio. (Stand 28.03.2022).
32 Die Nettoperformance ergibt sich aus der Bruttoperformance abzüglich der Transaktionskosten, welche sich wiederum aus Provisionen, Geld-Brief-Spanne und Kursveränderungen im Zuge der Transaktion zusammensetzen (Vgl. Barber und Odean 2000, S. 781).
33 Zu den betrachteten Risikomaßen zählten die Volatilität der Rendite, die Differenz zwischen höchster und niedrigster Rendite, die Semideviation der Rendite, die Worst-Case-Szenario-Rendite und der Expected Shortfall im Vergleich zu Anleihen (Vgl. Estrada 2013, S. 38)
34 Der Ausdruck „rational“ bezieht sich hier auf eine Allokation, die nicht den negativen Einflüssen der „myopic loss aversion“ nach Benartzi und Thaler (1995, S. 75) unterliegt. Ausführlichere Beschreibungen zu diesem Phänomen folgen in Kapitel 3.5.
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- Robert Ziola (Author), 2022, Der Einfluss der Brokerwahl auf das Anlageverhalten deutscher Privatanleger, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1254843
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