Auf Drängen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hin besteht derzeit die offene Frage eines EU-Beitritts der Ukraine – ggf. im Eilverfahren. Die Thematik wird kontrovers diskutiert. Der vorliegende Beitrag skizziert die Voraussetzungen eines EU-Beitritts der Ukraine sowie die mit einer Realisierung einhergehenden Problemlagen und zeigt eine mögliche Betrachtungsweise auf.
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Voraussetzungen und Problemlagen
1. Voraussetzungen
2. Problemlagen
III. Eine mögliche Betrachtungsweise
IV. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Auf Drängen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hin besteht derzeit die offene Frage eines EU-Beitritts der Ukraine – ggf. im Eilverfahren. Die Thematik wird kontrovers diskutiert. Der vorliegende Beitrag skizziert die Voraussetzungen eines EU-Beitritts der Ukraine sowie die mit einer Realisierung einhergehenden Problemlagen und zeigt eine mögliche Betrachtungsweise auf.
I. Einführung
„Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.“ Diese Worte sprach die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Vormittag des 24.02.2022 in Berlin nach den Angriffen russischer Soldaten auf die Ukraine aus1. Vier Tage nach dem eklatanten Bruch des Völkerrechts durch den ungerechtfertigten Angriffskrieg Putins folgte von ukrainischer Seite ein Antrag zu einem EU-Beitritt. Das von dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterzeichnete Aufnahmegesuch sieht eine besondere Aufnahmeprozedur vor. Es soll ein möglichst schneller Vollzug des Beitritts erfolgen2. Die Thematik ist von hoher Relevanz – nicht nur, weil die Ukraine auf eine positive Rückmeldung zu ihrem Gesuch hofft, sondern auch, weil die Thematik von EU-Beitrittskandidaten3 genau verfolgt und die EU vor die mutmaßlich größte Bewährungsprobe in ihrer jüngeren Geschichte gestellt wird. Schließlich würde Russland einen EU-Beitritt der Ukraine nicht mit Freude zur Kenntnis nehmen. Die EU steht vor mehreren Herausforderungen. Sie muss schnell handeln. Die dem Verbund angehörenden Länder müssen zudem gemeinsam und entschlossen zusammenstehen und wirkungsvolle Entscheidungen treffen, die ggf. verheerende Auswirkungen auf den Kriegsverlauf, die Humanität, die Sicherheit und die Zukunft der EU und der Welt haben. Auf dem Spiel stehen der Ruf der EU, die Menschenleben in der Ukraine und die Existenz des Landes. Die EU befindet sich in einer ambivalenten Situation: effektive Unterstützung einerseits und eine Zukunft der Ukraine in der EU andererseits. Trotz des Kriegsgeschehens besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die Ukraine in ferner Zukunft Teil der EU werden soll4 – nicht aber in naher Zukunft. Grund ist, dass bis heute der Forderungskatalog der EU nicht erfüllt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die EU-Kommission dem Europäischen Rat empfiehlt, der
Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen, erscheint als gering, denn hierfür bedarf es eines einstimmigen Votums seitens der 27 Ratsmitglieder. Anschließend würde abgestimmt, ob mit der Ukraine offiziell Beitrittsverhandlungen eröffnet werden. Auch hier wäre Einstimmigkeit erforderlich. Ein solches Szenario scheint nur aus symbolischen Gründen wahrscheinlich zu sein.
II. Voraussetzungen und Problemlagen
1. Voraussetzungen
Grundsätzlich kann jeder Staat des geografischen Europas der EU beitreten5, sofern er gewisse Bedingungen erfüllt6. Auch auf kulturell europäische Staaten wie Zypern mit seiner europäischen Identität trifft dies zu. Die kulturelle Grenze kann also nur ideologisch gezogen werden7.
Der Beitritt zur EU ist primär von den drei Kopenhagener Kriterien abhängig, die von allen Staaten erfüllt werden müssen. Dazu gehört erstens das politische Kriterium, das institutionelle Stabilität voraussetzt, ferner eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und weiterhin das Wahren der Menschenrechte sowie das Achten und Schützen von Minderheiten. Zum Zweiten ist das wirtschaftliche Kriterium zu erfüllen, das eine funktionsfähige Marktwirtschaft voraussetzt und darüber hinaus ein Standhalten gegenüber dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarkts. Als letzte Voraussetzung gilt das Acquis-Kriterium, das die Fähigkeit beschreibt, der Übernahme des gesamten gemeinschaftlichen Rechts, des gemeinschaftlichen Besitzstandes gerecht zu werden8. Darüber hinaus darf keine Grenzstreitigkeit vorliegen9.
Die EU verfolgt keine einheitliche und strikte, unveränderliche Linie10. In der Vergangenheit zeigte die Politik, dass Beitrittsprozesse in praxi unterschiedliche Geschwindigkeiten annehmen können, auch wenn Beitrittsverfahren üblicherweise mindestens zehn Jahre dauern. Während die Beitrittsverhandlungen mit Finnland weniger als drei Jahre in Anspruch nahmen, bestehen die Verhandlungsprozesse mit der Türkei seit 2005 nahezu unverändert. Erklären lässt sich dies damit, dass Finnland die Kopenhagener Kriterien bereits sehr früh erfüllte, während in der Türkei die demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite größer werden. Auch politische Motive können Einfluss auf Verhandlungen nehmen, wie das Beispiel Nordmazedonien zeigt: Bulgarien macht vor dem Hintergrund von geschichtspolitischen Forderungen an Nordmazedonien von seinem Recht auf ein Veto Gebrauch. Zypern wurde trotz eines ungelösten Grenzkonflikts, der aufgrund einer widerrechtlichen Besetzung des Lands durch die Türkei entstand, Mitglied der EU. Dort bestehen fortwährend Konflikte, was es unwahrscheinlich macht, dass ein weiterer und noch gefährlicherer Konflikt unbekannten Ausmaßes hinzukommen wird11. Schließlich warnte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor der Gefahr eines atomaren Konflikts, die nicht „unterschätzt werden“12 sollte. Ein dritter Weltkrieg ist insbesondere bei einer bewaffneten Beteiligung der NATO nicht auszuschließen13.
2. Problemlagen
Politisch gesehen ist die Ukraine eine instabile Demokratie mit Problemen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit14, Korruption15 und Umgang mit Minderheiten16. Bereits in den 1990er-Jahren wurde die eindeutige Absicht geäußert, der EU beizutreten. Allerdings standen dem einige Verstöße gegen demokratische Prinzipien entgegen17.
Dies war bereits Debattenthema im Deutschen Bundestag. In einer kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE kommt zum Ausdruck, dass rechtsextreme Aktivisten essenzielle Funktionen in der Ukraine innehaben: „Die Bedenken erhöhen sich insbesondere durch zahlreiche Hinweise auf eine anhaltende rechtsextreme Durchdringung der offiziellen Politik und des Sicherheitsapparates. Insbesondere über die Wahllisten der Parteien „Volksfront“ und „Selbsthilfe“, die an der Regierung beteiligt sind, sind mehrere Anführer problematischer Milizen ins Parlament gewählt worden [...].“18
Es besteht darüber hinaus kein Zweifel daran, dass der Beitritt der Ukraine eine immense finanzielle Belastung für die EU bedeuten würde. Eine Analyse zur Abschätzung langfristig erforderlicher Aufbausummen für die Ukraine im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung taxierte bereits vor sieben Jahren zwischen 60 und 100 Milliarden Euro. Dies seien die – konservativ veranschlagt – in der nächsten Dekade notwendigen (Investitions-)Mittel für den Auf- und Umbau der ukrainischen Wirtschaft19. Berechnungen der Vereinten Nationen zufolge leben 80 Prozent der Ukrainer unter der Armutsgrenze. Außerdem befürchtete man bereits damals einen Staatsbankrott20. In der Analyse von 2015 ist der durch den Krieg entstandene Schaden noch nicht einkalkuliert. Die USA taxierten im Mai eine Summe zwischen 200 und 500 Milliarden Dollar (ca. 190 bis 470 Milliarden Euro), während die Schätzung der ukrainischen Regierung vom 3. Mai einen Finanzbedarf von rund 600 Milliarden Dollar (ca. 560 Milliarden Euro21 ) vorsieht, Tendenz steigend22.23 24 25 26 27
Neben den Problemlagen, die den Vorgaben zu einem EU-Beitritt widersprechen, gibt es zahlreiche weitere Argumente gegen eine Aufnahme der Ukraine in die EU. Weiterhin muss konstatiert werden, dass ein beschleunigtes Verfahren zum Zwecke eines EU-Beitritts der Ukraine bei anderen Beitrittskandidaten wie Nordmazedonien
Der Eilantrag und der Krieg haben zur Folge, dass für die ukrainische Bevölkerung keine Möglichkeit besteht, darüber abzustimmen, ob sie Teil der EU werden möchte. Werden vor diesem Hintergrund Umfragen vor Kriegsbeginn in den Blick genommen, so zeigt sich, dass nur 40 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt stimmen würden, 33 Prozent wären dagegen, während die restlichen 27 Prozent sich enthalten oder keine Antwort geben28. Fraglich ist, inwieweit der Krieg die Meinung der Bevölkerung geändert hat.
Die genannten Contra-Argumente widersprechen dem Ziel der EU, für mehr Frieden und Wohlergehen aller ihrer Mitgliedstaaten29 und ferner für eine größere Stabilität in Europa zu sorgen. Auch ein stärkeres Gewicht der EU im Weltgeschehen wäre damit selbst in ferner Zukunft nicht verbunden. Vielmehr ergäbe sich mit dem Beitritt der Ukraine in vielerlei Hinsicht eine Belastung für die EU.
[...]
1 Vgl. Rosenfeld 2022, online
2 Vgl. Lippert 2022, online
3 Insbesondere Albanien, Montenegro und Nordmazedonien. Den Beitrittskandidaten-Status besitzen darüber hinaus Serbien und die Türkei, vgl. Europäische Union o.J., online
4 Vgl. Tagesschau 2022, online
5 Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV im Einklang mit Achtung der in Art. 2 EUV genannten Werte
6 Vgl. Hakenberg 2021, S. 27f.
7 Vgl. Fischer 2022, online
8 Vgl. Bundesregierung o.J., online; vgl. auch Fischer 2022, online; vgl. auch Hakenberg 2021, S. 28
9 Vgl. Fischer 2022, online
10 Acht mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten brachten in einem offenen Brief zügig ihre Unterstützung zum Ausdruck und forderten eine sofortige Anerkennung des Kandidatenstatus der Ukraine und die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Andere Mitglieder, darunter Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder, sind zurückhaltender, da sie Bedenken hinsichtlich der Bereitschaft der Ukraine und ihrer Eignung für den Heranführungsprozess, der Aufnahmekapazität der EU und der langfristigen geopolitischen Folgen haben, vgl. Van Elsuwege und Van der Loo 2022, S. 1 Eine Übersicht der Befürworter findet sich unter: https://www.euractiv.de/section/eu- aussenpolitik/news/wie-stehen-die-eu-laender-zum-eu-kandidatenstatus-der-ukraine/, zuletzt abgerufen am 30.05.2022
11 Vgl. Kapern 2022, online
12 Vgl. RP Online 2022, online
13 Vgl. RP Online 2022, online
14 Vgl. Kiffmeier 2022, online
15 Im weltweiten Korruptionsindex liegt die Ukraine laut "Transparency International" auf Rang 122 und damit an letzter Stelle aller europäischen Länder mit Ausnahme Russlands, vgl. Neumayer 2022, online
16 Vgl. Fischer 2022, online
17 Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg o.J.a, online tsprechen 500 Milliarden Euro etwa drei Prozent. Die EU-Kommission sieht die Notwendigkeit, bereits jetzt die Eckpunkte der internationalen Bemühungen für den Wiederaufbau festzulegen, außerdem stehe die Europäische Union „in der Verantwortung und sie hat auch ein strategisches Interesse daran, beim Wiederaufbau der Ukraine die Führungsrolle zu übernehmen“, so Kommissionspräsidentin von der Leyen Mitte Mai, vgl. Deutschlandfunk 2022, online Vgl. Deutschlandfunk 2022, online
18 Vgl. BT-Drucksache 18/3968, S. 1
19 Vgl. Deuber 2015, online
20 Vgl. Stein und Umland 2015, online
21 In Relation zur Wirtschaftsleistung der EU en und Albanien nicht auf Verständnis stoßen würde, zumal deren Beitritt seit vielen Jahren verzögert wird. Polen und Ungarn könnten sich noch weiter von der EU entfernen. Sicherheitspolitisch gesehen birgt die Aufnahme der Ukraine in die EU Gefahren, denn damit gingen eine schwierige Außengrenze zu Belarus und eine größere Nähe zu Russland einher. Noch kritischer wäre die Beistandsverpflichtung der EU, denn „im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“, was einen Beitritt der Ukraine unmöglich macht.
22 Vgl. Deutschlandfunk 2022, online
23 Albanien hat seinen Beitrittsantrag im April 2009 beim Europäischen Rat eingereicht, die Republik Nordmazedonien im März 2004, vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden- Württemberg o.J.b, online
24 Vgl. Fischer 2022, online
25 Gegen Polen und Ungarn laufen bereits Verfahren, vgl. Finke 2022, online
26 Boris Jelzin im März 1997: „Die Erweiterung sollte sich nicht auf ehemalige Sowjetrepubliken erstrecken. Ich kann kein Dokument unterzeichnen, in dem das nicht klargestellt wird. Besonders die Ukraine.“ Vgl. Kerren 2022, S. 302 Diese rote Linie zieht sich zu einem möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO. Folglich wird eine EU- Osterweiterung - insbesondere die Ukraine betreffend - in Moskau auf wenig Zustimmung treffen.
27 Art. 42 Abs. 7 S. 1 EUV, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen; dies lädt zu einem Vergleich mit Art. 5 des NATO-Vertrags sowie der Solidaritätsklausel gemäß Art. 222 AEUV ein
28 Vgl. Vogel 2012 in Ukraine-Analysen NR. 103, siehe Grafik-Nr. 2, S. 9
29 Vgl. Art. 3 Abs. 1 EUV
- Citation du texte
- Chrisovalantis Konstantinou (Auteur), 2022, Kann die Ukraine der EU beitreten? Voraussetzungen und Problemlagen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1254790
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