Die Arbeit beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung unseres heutigen Mutterbildes und dem medialen Diskurs, welcher auf die Regretting Motherhood Studie folgte. In den nachfolgenden Kapiteln soll herausgearbeitet werden: Inwieweit sind bereuende Mütter in der medialen Darstellung ein Tabu? Welche gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Konstruktionen sind dafür verantwortlich, dass Regretting Motherhood ein Tabuthema ist? Welches mediale beziehungsweise gesellschaftliche Echo gab es nach der Publizierung der Regretting Motherhood Studie? Wie wird im Diskurs die Studie und Mutterschaft behandelt und vor welchem Ideal geschieht dies? Werden bereuende Mütter im medialen Diskurs stigmatisiert?
Orna Donath sprengte im Jahr 2015 mit ihrer Studie Regretting Motherhood unseren gesellschaftlichen Rahmen, welcher das Muttersein bis dato zumeist mit positiven Gefühlen verbunden hat. Die israelische Soziologin ließ in ihrer Studie 23 Mütter zu Wort kommen, die ihre Mutterschaft bereuen und auf die zentrale Frage, ob sie, wenn sie könnten, ihre Mutterschaft rückgängig machen würden, geschlossen mit „Ja“ antworteten. Nach Donaths Publikation folgten unzählige Artikel in den Print- und Onlinemedien. Es entstand außerdem einiges an Literatur und auch zahlreiche deutsche Frauen, die ihre Mutterschaft bereuten, brachen öffentlich ihr Schweigen. In dem daraus resultierenden Diskurs um Regretting Motherhood ging es deshalb auch um den Vorwurf fehlender Mutterliebe.
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG
1.1 Fragestellung und Relevanz der Arbeit
2 METHODIK: DISKURSTHEORETISCHE ANSÄTZE
2.1 Kritische Diskursanalyse nach Jäger
2.1.1 Theoretische Vorgehensweise
3 ORNA DONATHS STUDIE REGRETTING MOTHERHOOD
3.1 Differenzierung: Reue und Ambivalenz
3.2 Differenzierung: Reue und Absenz von Liebe
4 PERSPEKTIVEN AUF MUTTERSCHAFT
4.1 Historische Entwicklung des Mutterbildes
4.1.1 Das 18. Jahrhundert: Mutterschaft zwischen Desinteresse und Lieblosigkeit
4.1.2 Das 19. Jahrhundert: Idealisierung der Mutterschaft
4.1.3 Das 20. Jahrhundert: Von NS-Rassenideologien bis zur Psychologisierung der Mutter-Kind-Beziehung
4.2 Psychoanalytische Perspektive auf Mutterschaft
4.3 Die deutsche Mutter: Der Schatten des Muttermythos
5 STIGMATISIERUNG NACH ERVING GOFFMAN
5.1.1 Personale Identität
5.1.2 Stigmatisierung bereuender Mütter
6 DISKURSANALYSE: REGRETTING MOTHERHOOD
6.1 Forschungsgegenstand: Mutterbild, REGRETTING MOTHERHOOD, Medien
6.2 Materialgrundlage
6.3 Strukturanalyse
6.4 Feinanalyse „Artikel 10“
6.4.1 Institutioneller Rahmen
6.4.2 Text-Oberfläche
6.4.3 Sprachlich-rhetorische Mittel
6.4.4 Inhaltlich-ideologische Ansichten
6.5 Feinanalyse „Artikel 21“
6.5.1 Institutioneller Rahmen
6.5.2 Text-Oberfläche
6.5.3 Sprachlich-rhetorisch Mittel
6.5.4 Inhaltlich-ideologische Ansichten
6.6 Feinanalyse „Artikel 32“
6.6.1 Institutioneller Rahmen
6.6.2 Text-Oberfläche
6.6.3 Sprachlich-rhetorische Mittel
6.6.4 Inhaltlich-ideologische Ansichten
6.7 Feinanalyse „Artikel 7“
6.7.1 Institutioneller Rahmen
6.7.2 Text-Oberfläche
6.7.3 Sprachlich-rhetorische Mittel
6.7.4 Inhaltlich-ideologische Ansichten
6.8 Gesamtanalyse
7 ZUSAMMENFASSENDE BEANTWORTUNG DER FORSCHUNGSFRAGEN UND FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
1 Einleitung
„Nur eine Mutter weiß allein, was lieben heißt und glücklich sein."
Dieses Zitat stammt aus dem Gedichts-Zyklus von Adalbert von Chamisso. Seine Gedichte beschreiben das Leben der Frauen im 19. Jahrhundert. Die moralischen Vorstellungen, wie ein solches Frauenleben damals auszusehen hatte, scheinen aus heutiger Sicht veraltet. Aber sind Kinderwunsch und Mutterglück nicht immer noch das Maß an dem sich Frauen heute messen? Ist die Vorstellung nicht immer noch in unseren Köpfen verankert, dass Kinder das größte Geschenk im Leben einer Frau sind und die Mutterrolle, sowie die Liebe zum Kind, sie mit nichts als Glück erfüllt? Denn von Reue sprechen wir nur, wenn es darum geht, sich gegen Kinder entscheiden zu wollen. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Arbeit gilt dem in der Öffentlichkeit medial präsentierten Ideal der „guten Mutter“ und dem daraus resultierenden Umgang mit der Studie Regretting Motherhood. Die im April 2015 in Deutschland publizierte Studie von der israelischen Soziologin Orna Donath ist im zeitlichen Kontext dieser Arbeit betrachtet, ein medial omnipräsentes Thema. Der Wissenschaftsdiskurs wird dabei in Form einer Aufarbeitung des historischen Hintergrundes und der Genese des Mutterideals dargelegt und soll detaillierte Hintergrundinformationen zur Thematik liefern und diese kontextuell einordnen. Mittels Kritischer Diskursanalyse nach Siegfried Jäger, ist das Ziel, Erkenntnisse über sprachliche und grafische Wirkungsmittel in Bezug auf gesellschaftliche Konstruktionen und eine potenzielle Parteilichkeit im Mediendiskurs zum Phänomen Regretting Motherhood zu erlangen. Um die methodische Aufarbeitung der medialen Präsentation dieses Phänomens in einem in einer Masterarbeit bewältigbaren Rahmen zu gewährleisten, werden der diskursive Raum und die diskursive Zeit eingegrenzt. Das Ereignis der Publikation der Studie „#regrettingmotherhood. Wenn Mütter bereuen“ prägte einige Wochen lang die massenmediale Agenda. Die Massenmedien bieten den zu Grunde liegenden Orientierungsrahmen für die gesellschaftliche Kommunikation (vgl. Luhmann 2009, S. 120). Denn alles was unser Wissen über die Welt und die Gesellschaft ausmacht, wird durch Massenmedien geformt (vgl. ebd., S. 9). Auch deshalb eignet sich die kritische Diskursanalyse zur Betrachtung, denn Jägers Methode legt einen klaren Fokus auf den medialen Diskurs. In den folgenden Kapiteln soll daher zunächst die Studie von Orna Donath vorgestellt werden, da sie die Basis für die vorliegenden Arbeit bildet. Im weiteren Verlauf wird die Entstehung unseres heutigen Ideals der „guten Mutter“ eingeordnet und es wird eine kurze historische Abwicklung der Entwicklung des heutigen Mutterbildes erfolgen, beginnend im 18. Jahrhundert. Dies dient, wie bereits erwähnt, dem notwendigen Verständnis für die gesellschaftlichen und medialen Reaktionen auf die Studie. Zum Abschluss des dritten Kapitels wird die Stigmatisierung nach Erving Goffman erläutert und in Kontext mit bereuenden Müttern gebracht. Dies ist weiterführend von Bedeutung, da im Zuge der Analyse zudem herausgefunden werden soll, ob bereuende Mütter im medialen Diskurs stigmatisiert werden. Zudem soll ein psychoanalytischer Blick auf Mutterschaft mit einfließen. Im Anschluss an die theoretischen Kapitel zwei und drei folgt der empirische Teil im vierten Kapitel. Hier wird, wie bereits erwähnt, anhand der kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger der mediale Diskurs zum Thema Regretting Motherhood analysiert werden.
1.1 Fragestellung und Relevanz der Arbeit
Orna Donath sprengte im Jahr 2015 mit ihrer Studie Regretting Motherhood unseren gesellschaftlichen Rahmen, welcher das Muttersein bis dato zumeist mit positiven Gefühlen verbunden hat. Die israelische Soziologin, ließ in ihrer Studie 23 Mütter zu Wort kommen, die ihre Mutterschaft bereuen und auf die zentrale Frage, ob sie, wenn sie könnten, ihre Mutterschaft rückgängig machen würden, geschlossen mit „Ja“ antworteten. Nach Donaths Publikation folgten unzählige Artikel in den Print- und Onlinemedien. Es entstand außerdem einiges an Literatur und auch zahlreiche deutsche Frauen, die ihre Mutterschaft bereuten, brachen öffentlich ihr Schweigen. In dem daraus resultierenden Diskurs um Regretting Motherhood ging es deshalb auch um den Vorwurf fehlender Mutterliebe.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung unseres heutigen Mutterbildes und dem medialen Diskurs, welcher auf die Regretting Motherhood Studie folgte. In den nachfolgenden Kapiteln soll herausgearbeitet werden:
- Inwieweit sind bereuende Mütter in der medialen Darstellung ein Tabu?
- Welche gesellschaftlichen/kulturellen/historischen Konstruktionen sind dafür verantwortlich, dass Regretting Motherhood ein Tabu-Thema ist?
- Welches mediale bzw. gesellschaftliche Echo gab es nach der Publizierung der Regretting Motherhood Studie?
- Wie wird im Diskurs die Studie und Mutterschaft behandelt und vor welchem Ideal geschieht dies?
- Werden bereuende Mütter im medialen Diskurs stigmatisiert?
Ziel der Arbeit ist es, diese zugrundeliegenden Forschungsfragen zu beantworten. Zu diesem Zweck soll die Methode der Kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger herangezogen werden. Es soll herausgefunden werden, „was zu einem bestimmten gegenwärtigen oder früheren Zeitpunkt [...] »gesagt« wurde bzw. sagbar ist bzw. war“ (Jäger 2015, S. 81).
In dieser Definition liegt nach Jäger, der Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach einer eventuellen Tabuisierung der Regretting Motherhood Thematik in Deutschland. Da der gesamtgesellschaftliche mediale Diskurs „ein äußerst verzweigtes und ineinander verwurzeltes Netz“ (Jäger 2015, S. 86) ist, und somit im Rahmen einer Masterarbeit nicht in Gänze zu bestimmen ist, wird sich auf die qualitative Analyse des (online)medialen Diskurses beschränkt, also auf die Analyse von vier ausgewählten Artikeln deutscher Online-Leitmedien. Durch dessen Bestimmung soll sowohl die Fragestellung beantwortet werden können, als auch ein Ausblick auf den Gesamtdiskurs gewagt werden.
2 Methodik: Diskurstheoretische Ansätze
Um sich dem Begriff des „Diskurses“ anzunähern, sollen nachfolgend unterschiedliche diskurstheoretische Ansätze kompakt dargestellt werden. Insbesondere widmet sich dieses Kapitel dem Diskursverständnis der Kritischen Diskursanalyse, die gleichermaßen ein Methoden- und Theoriekonzept darstellt (vgl. Jäger 2015, S. 19.). Die Kritische Diskursanalyse wurde am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung von Siegfried und Margarete Jäger entwickelt und orientiert sich grundlegend am Foucaultschen Diskursverständis sowie den Konzepten Jürgen Links (vgl. Bartel; Ullrich; Ehrlich 2008, S. 53f.). Diskurse im poststrukturalistischen Sinne bilden Realität nicht nur ab, sie sind zudem gesellschafts- und wirklichkeitskonstiutierend. Derrida bezeichnet das Feststellen der konstruierten Selbstverständlichkeiten, die den diskursiven Ordnungen inhärent sind, als Dekonstruktion. Das bedeutet, Diskurse von innen zu dekonstruieren. Dabei sind ihre gesetzten Logiken und die in ihnen verborgenen Paradoxien, ob sie begrifflicher oder nicht-begrifflicher Natur seien, herauszufinden (vgl. Derrida 2001, S. 45). In Gefolge Foucaults stellt die kritische Diskursanalyse nach Jäger ein Theorie- sowie Methodenkonzept dar, welches die Basis für ein geeignetes Verfahren der Diskursanalyse hervorgebracht hat und ergänzend ein kritisches Programm hat. Der Zusatznutzen einer kritischen Diskursanalyse nach Jäger beruht auf der Auseinandersetzung mit soziopolitisch wichtigen Themen, wobei es nicht lediglich um die „Beschreibung von Sachverhalten“ geht, sondern vielmehr auch darum, jene Sachverhalte „wohlbegründet zu bewerten und zu kritisieren“, wodurch die einfache Diskursanalyse zur Kritischen Diskursanalyse wird (Jäger 2015. S. 150f.).
2.1 Kritische Diskursanalyse nach Jäger
Im späteren methodischen Teil der vorliegenden Arbeit, soll wie bereits erwähnt, die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger zur Anwendung kommen. Da bei Jägers Methode der Fokus auf der „Sagbarkeit“ und auf dem Bereich des Mediendiskurses liegt, wird diese als passend für die Fragestellung der Arbeit erachtet (vgl. Jäger 2015, S. 90ff.). Als Orientierungsgrundlage für Siegfried Jägers Definition der Kritischen Diskursanalyse dienen ebenfalls die Ansichten des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucault. Für Jäger stehen bei der Kritischen Diskursanalyse die „Fragen, was (jeweils gültiges) Wissen überhaupt ist, wie jeweils gültiges Wissen zustande kommt, wie es weitergegeben wird, welche Funktion es für die Konstituierung von Subjekten und die Gestaltung von Gesellschaft hat und welche Auswirkungen dieses Wissen für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung hat“ (Jäger 2011, S. 91) im Zentrum der Betrachtung. Daher ist es für die Diskurstheorie Jägers zunächst von Bedeutung herauszufinden, was der zentrale Begriff „Wissen“ exakt meint: Nach Jäger sind damit alle Arten von Bewußtseinsinhalten bzw. von Bedeutungen, mit denen jeweils historische Menschen die sie umgebenden Wirklichkeit deuten und gestalten“ (Jäger 2011, S. 91) gemeint. Auch Jäger legt, als Befürworter der Foucaultschen Diskurstheorie, den Fokus seiner Beobachtungen auf die „Macht“ der Diskurse, die für ihn darin besteht, dass „individuelles und kollektives Handeln und Gestalten bestimmt“ (Jäger 2011, S. 92) wird.
Laut Jäger stellen „Diskurse bzw. ,soziale Wissensflüsse durch die Zeit’ [...] in ihrer Gesamtheit ein riesiges und komplexes ,Gewimmel’“ (Jäger 2011, S. 107) dar. Zur Entwirrung des „Gewimmels“, und um es durchschaubar zu machen und dadurch den Diskurs analytisch zu betrachten, sollte die grundsätzliche Struktur von Diskursen verstanden werden. Prinzipiell muss eine Unterscheidung von Spezialdiskursen der jeweiligen Wissenschaften und dem Interdiskurs vorgenommen werden. Ist ein Diskurs kein wissenschaftlicher, so fällt er unter die Rubrik der Interdiskurse. Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass Teile wissenschaftlicher Diskurse nichtsdestotrotz in den Interdiskurs einfließen und beides gegebenenfalls „verschmelzen“ kann (vgl. Jäger 2015, S. 80). Um die Struktur von Diskursen zu ermitteln muss sich, so Jäger mit Kategorisierungshilfen befasst werden. Dazu zählen Diskursfragmente, sie bilden die kleinste Einheit des Diskurses, wie einen Text oder einen Teil davon, der lediglich ein explizites Thema behandelt. Da ein einzelner Text zweifellos mehrere unterschiedliche Themen behandeln kann, enthält er folglich auch mehrere unterschiedliche Diskursfragmente. Als nächsthöhere Ebene (Kategorisierungshilfe) führt Jäger den Diskursstrang an, welcher Diskursfragmente zum gleichen Thema meint (vgl. ebd). Diskursstränge zeichnen sich durch ihre synchrone und diachrone Dimension aus, wobei ein „synchroner Schnitt durch einen Diskursstrang [...] ermittelt, was zu einem bestimmten gegenwärtigen oder früheren Zeitpunkt bzw. in jeweiligen Gegenwarten ‘gesagt‘ wurde bzw. sagbar ist bzw. war“ (Jäger 2015, S.81).
Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass Diskursstränge „thematisch einheitliche Wissensflüsse durch Zeit und Raum“ (ebd., S. 81) sind. Durch die Untersuchung eines Diskursstrangs lassen sich Aussagen und deren Häufigkeit ermitteln. Unter Aussagen versteht man dabei die inhaltlich geteilte Grundaussage, die „aus Sätzen und Texten gezogen werden kann“ (vgl. Jäger; Jäger 2007, S. 26) und nicht etwa einzelne Sätze oder Satzelemente. Merkmal von Diskurssträngen ist unter anderem ihre Eigenschaft sich mit anderen Diskurssträngen zu überschneiden. Das bedeutet, dass sie „sich gelegentlich gegenseitig beeinflussen und stützen, wodurch besondere diskursive Effekte zustande kommen“ (Jäger 2015, S.81) können. Von einer Diskursverschränkung spricht man daher, wenn beispielsweise in einem Text unterschiedliche Themen behandelt werden, aber ebenso, wenn neben einem Hauptthema Bezug auf weitere Motive genommen wird. Des weiteren, lassen sich auch diskursive Knoten finden, welche eine eher leichte Form der Verschränkung darstellen. Von diskursiven Knoten spricht man, wenn ein Text thematisch grundsätzlich einheitlich ist, aber ein Diskursfragment sich partiell auf andere Themen bezieht (vgl. ebd., S. 87). Diskursstränge bewegen sich auf verschiedenen diskursiven Ebenen, Jäger nennt hier Beispielhaft Bereiche der Politik, Medien, Wissenschaft, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben etc. Jene Diskursebenen wirken aufeinander ein und nehmen aufeinander Bezug, sie nutzen und durchdringen sich gegenseitig. (vgl. Jäger 2015, S. 83f.). „Zu beachten ist auch, dass die einzelnen Diskursebenen in sich stark verflochten sind, dergestalt, dass z. B. auch renommierte Leitmedien Informationen und Inhalte aller Art übernehmen, die bereits in anderen Medienaufgetaucht sind. Dann liegen sogenannte intermediale Abhängigkeiten vor; sprich: man schreibt einfach voneinander ab oder spricht aus der gleichen ideologischen Position heraus. Das berechtigt umso mehr, von dem Mediendiskurs zu sprechen, der insgesamt, insbesondere was die hegemonialen Medien betrifft, in wesentlichen Aspekten als einheitlich betrachtet werden kann, was nicht ausschließt, dass dabei kleinere unterschiedliche Diskurspositionen mehr oder minder stark zur Geltung kommen“ (Jäger 2015, S. 84). Die Diskursposition ist somit eine weitere wichtige Kategorie welche Jäger definiert. Mit ihr ist ein exakter politisch-ideologischer Standort gemeint, welchen sowohl einzelne Personen, Gruppen oder Medien vertreten können (vgl. ebd., S. 85). Dieser Punkt ist auch insbesondere für diese Arbeit von großer Wichtigkeit und bei der, im späteren Teil der Arbeit folgenden Diskursanalyse, zu beachten, um die Aussagen in den richtigen Kontext stellen zu können.
Im Folgenden werden die Theorien der Kollektivsymbolik und die der Normalismus erläutert, da sich diese Arbeit im späteren Methodik-Teil mit dem Mediendiskurs befasst und dieser nach Jäger in erster Linie mit diesen beiden Theorien analysierbar ist. Beide, Kollektivsymbolik als auch Normalismus, haben bei der Diskursanalyse einen exponierten Stellenwert, da sie den gesamten Diskurs tragen bzw. stützen. Beide der Kategorien sind insofern miteinander verbunden, dass Kollektivsymbole, insbesondere in den Massenmedien, zur Durchsetzung des Normalismus verwendet werden (vgl. Jäger 2015, S. 55).
Kollektivsymbolik
Bei einem Kollektivsymbol handelt es sich einerseits um ein visuell darstellbares Bild und andererseits, um eine beziehungsweise mehrere sinngemäße Entsprechungen. Als Kriterien zur Erkennung von Kollektivsymbolen führt Jäger sechs Kriterien an, die zumindest teilweise oder implizit erfüllt werden müssen:
1. Kollektivsymbole sind semantisch, bedeutet, sie haben eine indirekte Bedeutungsfunktion. Als Beispiel wird der Begriff der „Eisenbahn“ herangezogen, diese kann die symbolische Bedeutung des „Fortschritts“ erhalten. Deutlich wird dies insbesondere an folgendem Satz: „Der Zug in eine bessere Zukunft ist noch nicht abgefahren. Wir dürfen ihn nicht verpassen.“
2. Die zweite Bedeutung der Kollektivsymbole ist dabei nicht willkürlich, sondern sinngemäß passend gewählt (Die Eisenbahn als auch der Fortschritt bewegen sich tatsächlich fort).
3. Kollektivsymbole müssen visuell darstellbar sein.
4. Kollektivsymbole haben mehrere Bedeutungen. Die „Eisenbahn“ kann nicht nur für den „Fortschritt“ stehen, sondern ebenso für „Demokratie“ oder „Westen“.
5. Kollektivsymbole sind grundlegend allen Menschen präsent und sie erzählen sich dadurch weiter, wodurch eine semantische Kettenbildung entsteht. So denkt man bei dem Wort „Eisenbahn“ an Wagon, Schiene, Bahnhof, etc.
6. Durch Kollektivsymbole entstehen Analogiebeziehungen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem (vgl. Jäger 2012, S. 60f.).
Die stringente Verbindung der Kollektivsymbole führt dazu, dass diese sich „wie ein Netz über die Diskurse ziehen und ihnen außerordentliche Festigkeit verleihen“ (Jäger; Jäger 2007, S. 46) können. Durch zwei grundlegende Funktionen der Kollektivsymbole werden sie zu diskurstragenden Kategorien: Zum einen simplifizieren sie komplexe Wirklichkeiten, machen sie dadurch verständlich und lassen sie besser deuten dadurch produzieren sie Wissen, welches wiederum „bestimmte Logiken und (Handlungs-)Optionen“ erfordert. (ebd., S. 40).
Die entscheidende Rolle der Kollektivsymbole für die Diskursanalyse beschreibt Jäger wie folgt: „Da der gesamtgesellschaftliche Diskurs von einem synchronen System kollektiver Symbole zusammengehalten wird [...], übt dieses System von Bildern eine ungeheuer starke Wirkung bei allen Gesellschaftsmitgliedern darauf aus, wie sie die Wirklichkeit sehen, deuten und ’verstehen’“ (Jäger 2015, S. 55).
Normalismus
„Unter Normalismus wird nach Jürgen Link die Gesamtheit aller diskursiven Verfahren, Dispositive, Instanzen und Institutionen verstanden, ’durch die in modernen Gesellschaften Normalitäten produziert und reproduziert werden’“ (Link zit. nach Jäger 2015, S. 53). Der Normalismus entstand durch drei wichtige Entwicklungsprozesse. Der erste davon fand im Feld der Medizin (Psychiatrie, Psychologie, etc.) statt, als Gesundheit sich als das Normale etablierte.
Danach sind Normungen im Bereich der Ökonomie zu nennen. Zuletzt folgte das soziale und politische Leben, welches von Normalisierungsprozessen erfasst wurde. (vgl. Jäger 2015, S. 53). Die Normalismus-Theorie ist insofern als diskurstragend anzusehen, da sie das Sagbarkeitsfeld des Diskurses festlegt und dadurch eine der maßgebenden Fragen der Diskursanalyse beantworten kann (vgl. ebd., S. 55).
2.1.1 Theoretische Vorgehensweise
In diesem Kapitel soll die genaue Vorgehensweise der kritischen Diskursanalyse nach Jäger erläutert werden. Die folgende Auflistung ist nicht streng obligatorisch, sie stellt nur eine grobe Orientierung dar, der bei der späteren Analyse gefolgt werden wird:
Ziel der Einleitung einer Diskursanalyse ist Gegenstand und Intention der Forschungstätigkeit zu umreißen. Hierbei ist es notwendig den gewählten theoretischen Hintergrund samt Methoden kompakt darzustellen (vgl. Jäger 2015, S. 91).
Im darauffolgenden zweiten Schritt muss der Gegenstand der Untersuchung, als auch der zeitliche Rahmen auf den sich die Forschung bezieht, benannt und begründet werden (vgl. Jäger 2015, S. 91). Der dritte Schritt beinhaltet die Auswahl des zu analysierenden Materials, welche als Grundlage der Diskursanalyse gilt. Dieser Schritt ist einer der wichtigsten und daher mit besonders großer Sorgfalt durchzuführen (vgl. ebd., S. 91). [...] obwohl die kritische Diskursanalyse beansprucht, ein Verfahren qualitativer Forschung bereitzustellen, kann dies nicht bedeuten, dass man sich mit ein paar Stichproben oder einzelnen Diskursfragmenten begnügt. Es geht ja darum, ganze Diskurse qualitativ vollständig zu erfassen und zu analysieren, und ganze Diskurse sind immer Teile eines überaus großen diskursiven Gewimmels, also eines diskursiven Kontextes, in dem sich der Diskurs bewegt“ (ebd., S. 92). Im Zusammenhang mit der Materialgrundlage geht Jäger auf die Begriffe Korpus und Dossier ein. Hierbei bezeichnet der Korpus die gesamte Menge aller zum Diskursstrang gehöhrenden Fragmente und das Dossier beschreibt einen bereits reduzierten Bestand, welche genau begründet werden muss (vgl. ebd., S. 124). Es ist daher von Bedeutung, dass ein passender zeitlicher sowie räumlicher Ausschnitt zur Darstellung des Diskurses gewählt wird (vgl. ebd., S. 16). Mit Bezug auf Foucault differenziert Jäger zwischen Aussagen und Äußerungen innerhalb eines Diskursfragmentes. Äußerungen sind dabei eher belanglose und oberflächliche Textstellen, Aussagen hingegen definiert Foucault als „Atome oder auch Kerne des Diskurses“. Sie sind der inhaltliche „ gemeinsame Nenner “.
Hauptbestandteil der Diskursanalyse ist das herausfiltern eben dieser Aussagen, daher werden im vierten Schritt, der Strukturanalyse, die Diskursfragmente mit gleichem Inhalt empirisch aufgelistet, sowie ihre formale Beschaffenheit und Häufungen erfasst. In diesem Schritt erfolgt die Reduktion des Materials. Dies dient dem Zweck herauszufinden welche Aussagen im Diskursstrang von besonderer Bedeutung sind und so können Aussagen über die Schwerpunkte der diskursiven Wirkung getroffen werden (vgl. Jäger 2015, S. 96). Jene Ergebnisse sind im Rahmen der Strukturanalyse in Form einer Materialaufarbeitung darzulegen. Durch eine analytische Materialsortierung kann ermittelt werden, was einzelne Elemente bedeuten, beispielsweise welche Aussagen sich erkennen lassen und welche Diskurspositionen auftauchen und wie diese wiederum mit dem Selbstverständnis eines Mediums einhergehen (vgl. ebd., S.97).
„Für eine Strukturanalyse ist jedes Diskursfragment in einer Tabelle zu notieren mit:
Datum; Zeitungstitel und politisches Selbstverständnis (beanspruchte Diskursposition); Textsorte; Rubrik; AutorIn; Überschrift des Artikels; Untertitel; Lead; Anlass des Artikels (ergibt sich aus dem diskursiven Kontext); Grafische Darstellung (Schrift, Hervorhebung, Zwischentitel); Bebilderung: Fotos, Karikaturen; (Knappe) Inhaltsangabe; Themen und Unterthemen; Aussagen; Quellen des Wissens (Wissenschaft, Politik, Verweise auf andere Medien etc.); (tatsächliche) Diskursposition; Kollektivsymbolik; Normalismen; besondere Auffälligkeiten; vorläufige Anmerkungen zur Analyse; ist der Artikel ein 'Kandidat’ für den typischen Artikel, der für die Feinanalyse ausgewählt werden könnte?“ (Jäger 2015, S. 96).
Jede einzelne Kategorie muss auf ihre Wirkung für diese Arbeit überprüft werden und im Anschluss werden die Ergebnisse dargelegt. Die Strukturanalyse bildet den ersten Schritt hin zur Diskursanalyse, da in diesem Rahmen die Materialgrundlage schematisch aufgelistet und so eine Ermittlung von getätigten Aussagen und deren Häufigkeit realisiert werden kann. Sie ist sozusagen das Herzstück der Diskursanalyse und muss daher besonders sorgfältig durchgeführt werden (vgl. ebd., S. 97). Aus der Strukturanalyse kann abschließend herausgearbeitet werden welcher Artikel sich für die darauffolgende Feinanalyse eignet. Der Artikel sollte die zentralen Aussagen, Normalismen und Kollektivsymbole enthalten. Für den Fall, dass es den „typischen“ Artikel nicht gibt, müssen mehrere Artikel einer Feinanalyse unterzogen werden (vgl. Jäger 2015, S. 95ff.).
Der fünfte Schritt, die Feinanalyse, ermöglicht final eine passende Einschätzung des gesamten untersuchten Diskursstrangs. Dabei muss dieser Schritt so umfassend durchgeführt werden, bis sich keine Hinweise auf etwaige neue Einschätzungen erkennen lassen, die Feinanalyse somit „gesättigt“ ist (vgl. ebd., S. 98).
Die Feinanalyse nach Jäger wird wiederum in fünf Schritte gegliedert, auf welche im Folgenden verkürzt eingegangen werden soll:
1. Institutioneller Kontext: Dieser beinhaltet: Medium, Rubrik, AutorIn, Anlässe für den Artikel, etc. Zudem lassen sich hier, durch die Bestimmung der journalistischen Textsorte, Rückschlüsse auf die gewollte Wirkung des Artikels ziehen. Außerdem gilt es zu ermitteln, ob im Text auf eventuelles (historisches) Vorwissen zurückgegriffen wird (vgl. Jäger 2015, S. 98ff.).
2. Text-Oberfläche: Hierbei wird die graphische Gestaltung des Artikels beleuchtet. Diese beinhaltet sowohl Fotos und deren Bildsprache und Graphiken, als auch die unterteilten Sinneinheiten (vgl. ebd., S. 98). Des Weiteren ist eine knappe Inhaltsangabe zu erstellen und die Motivation des Autors/ der Autorin herauszuarbeiten. Es sollten zudem Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen festgestellt und Unterthemen erfasst werden. Auch auf sprachliche Performanzen sollte eingegangen werden (vgl. ebd., S. 101 f.).
3. Sprachlich-rhetorische Mittel: Die sprachliche Mikro-Analyse zielt darauf ab, die Argumentationsstrategie, Anspielungen und Implikate als auch Redewendungen, Sprichwörter, Metaphern, sprachlichen Stil und Wortschatz genau zu untersuchen (vgl. ebd. S. 98). Augenmerk soll nach Jäger besonders auf die Anfänge und Schlüsse der einzelnen Sequenzen gelegt werden, sowie auf die Übergänge zwischen den Abschnitten. Es stellen sich die Fragen, welcher Elemente sich der / die AutorIn bedient und welche Funktionen diese mit sich bringen und wodurch die Textkohärenz hergestellt wird. Weiter ist von Bedeutung, ob der Text Kollektivsymbole enthält und welche Funktion diese haben etc. (vgl. ebd., S. 103 f.).
4. Inhaltlich-ideologische Aussagen: Im letzten Schritt der Feinanalyse sollen Anhaltspunkte für Menschenbild, Gesellschaftsverständnis, Technikverständnis, Zukunftsvorstellungen etc. des Autors/ der Autorin herausgefiltert werden (vgl. ebd. S. 98). „Solche Verdichtungen innerhalb der eigenen Diskursposition können wichtige 'Duftmarken’ für eine Analyse darstellen [...]“ so Jäger (S.108).
5. Abschließende Gesamtanalyse typischer Diskursfragmente: Hierbei werden alle festgestellten Fakten, welche von Bedeutung erscheinen in Zusammenhang gebracht um eine Quintessenz des bisherigen analytischen Vorgehens herauszuarbeiten. Vordergründig zu betrachten ist dabei nicht primär die Absicht des Autors, sondern die Wirkung des Textes auf den Rezipienten (vgl. Jäger 2015, S. 108). „Dabei ist nicht davon auszugehen, dass jeder Leser den Text so verstehen muss, wie er vom Analysierenden entschlüsselt worden ist“ (ebd., S. 108). Auch wenn das einzelne Diskursfragment lediglich ein kleiner Teil des gesamten Diskurses darstellt und ihn nicht in seiner Gesamtheit repräsentieren kann, ist es dennoch möglich durch diese Teilanalyse einen Eindruck des Gesamtdiskurses zu gewinnen (vgl. Jäger 2015, S. 108). Jäger gibt des Weiteren zu bedenken: „Es ist nicht der einzelne Text/ das einzelne Diskursfragment, das wirkt, sondern der Diskurs als ganzer in seinem Fluss durch Zeit und Raum und seiner kontinuierlichen Einwirkung auf Subjekte und Gesellschaften, wodurch sich die Aussagen eines Diskurses in massenhaften Verkleidungen in diverse Äußerungen im kollektiven und individuellen Bewusstsein festsetzen“ (ebd., S. 108).
Zuletzt werden sämtliche Ergebnisse von Struktur- und Feinanalyse zusammengefasst und in Zusammenhang gebracht, wobei die wesentlichen inhaltlichen als auch formalen Eigenschaften des Diskursstrangs genauestens dargestellt werden und anschließend eine kritische Auseinandersetzung erfolgt (vgl. Jäger 2015, S. 111). Abschließend, sollten Überlegungen zur Frage der Gültigkeit beziehungsweise Vollständigkeit der Analyse angestellt werden (vgl. ebd., S. 91).
3 Orna Donaths Studie Regretting Motherhood
Im Jahr 2015 veröffentlichte die israelische Soziologin Orna Donath in Deutschland eine bis dato einzigartige Studie, in der sie sich an ein tabuisiertes Thema wagte: Mütter, die es bereuen Kinder bekommen zu haben. Der Auslöser für die Studie war, dass Reue immer nur den Frauen prophezeit wurde, die keine Kinder haben wollen, von der Reue ein Kind bekommen zuhaben sprach niemand. (vgl. Donath 2015, S. 9). So machte sich Orna Donath auf die Suche nach Frauen, die eben jenes bereuen, worüber keiner sprechen mag, da es uns, so Donath schwer fällt anzuerkennen, „dass auch die Mutterschaft zu den Lebensbereichen zählt, in denen ein Gefühl wie Reue auftreten kann - wie in so vielen anderen Lebensbereichen, in denen wir agieren oder die wir aushalten müssen und wo wir auch manchmal den Wunsch verspüren mögen, umzukehren und manche Dinge noch einmal, aber ganz anders zu machen“ (Donath 2015, S. 10 f.). So fand Donath 23 Frauen, die ihr auf die Frage „Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, mit den Erfahrungen und den Kenntnissen, die Sie heute haben, wären Sie dann Mutter geworden?“ mit „Nein“ antworteten (vgl. Mundlos 2016, S. 10). Donaths Forschungsarbeit dauerte von 2008 bis 2013. In ihrem Heimatland Israel wurde die Studie bereits 2014 veröffentlicht (vgl. ebd., S.13).
Von Interesse sind außerdem die biographischen und soziodemographischen Merkmale der befragten Mütter um Unterschiede oder mögliche Gemeinsamkeiten feststellen zu können:
Alter: Die befragten Frauen waren zwischen 26 und 73 Jahre alt, drei von ihnen waren zudem bereits Großmütter.
Nationalität und Religion: Alle Frauen waren Jüdinnen, dabei waren fünf von ihnen nach eigener Aussage Atheistinnen, zwölf bekannten sich als weltlich und drei zu unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen, drei weitere beschrieben ihre Religion als eine Art Mischform.
Gesellschaftsschicht: Sieben der Mütter gehörten der Arbeiterschicht an, 14 der Mittelschicht und zwei der oberen Mittelschicht.
Bildung: Elf der Frauen haben einen College- bzw. Universitätsabschluss, acht hatten eine weiterführende Schule abgeschlossen, drei absolvierten eine Berufsausbildung und eine der Frauen befand sich zum Zeitpunkt des Interviews im Bachelorstudium (vgl. Donath 2015 S. 19).
Erwerbstätigkeit: 20 der 23 befragten Frauen waren in ihrem Leben bereits einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Zum Zeitpunkt des Interviews waren nur drei der Frauen nicht erwerbstätig.
Anzahl der Kinder: Fünf der Befragten hatten ein Kind, elf von ihnen hatten zwei Kinder, eine von ihnen hatte Zwillinge, fünf der Frauen hatten drei Kinder (eine von ihnen hatte Zwillinge und eine weitere Drillinge), zwei hatten vier Kinder. Das Alter der Kinder erstreckte sich von einem Jahr bis zu 48 Jahren. Keines der insgesamt 50 Kinder hatte eine körperliche Behinderung. Fünf der Frauen wurden durch reproduktionsmedizinische Behandlungen schwanger.
Sexuelle Identität: Eine der Frauen beschreibt sich als homosexuell, alle anderen interviewten Frauen wollten ihre sexuelle Identität nicht offenlegen, befanden sich aber alle in heterosexuellen Beziehungen.
Familienstand: Acht der Frauen waren verheiratet bzw. in Langzeitbeziehungen, 14 waren geschieden bzw. getrenntlebend, eine war verwitwet. Keine der Frauen war als Teenagerin Mutter geworden oder zu Beginn der Mutterschaft alleinerziehend gewesen. Die Kinder von drei der geschiedenen Frauen lebten beim Vater (vgl. Donath 2015 S. 19 f.).
Besonders interessant ist die Tatsache, dass #regrettingmotherhood vor allem in Deutschland enorm hohe Wellen schlug, während die Studie in Israel nicht sonderlich viel Beachtung bekam. Es brach eine stürmische Debatte los, in der bereuende Mütter verurteilt wurden (vgl. Donath 2015, S.12). Kann es sich bei diesen Frauen doch „nur um selbstsüchtige, verrückte, psychisch labile [...] und unmoralische Personen handeln, um weitere Beweise für die Kultur des Jammerns in der wir leben“ (ebd. 2015, S. 12). Die Mütter in Donaths Studie äußerten sich wie folgt zu ihren Gefühlen der Mutterschaft gegenüber:
„Ich hasse es, Mutter zu sein. Ich hasse diese Rolle, ich hasse es, immer die zu sein, die Grenzen setzen muss, die bestrafen muss. Ich hasse es, dass ich so in meiner Freiheit eingeschränkt bin, dass ich nie spontan sein kann.“ - Sophia (zwei Kinder zwischen 1 und 5) (Donath 2015, S. 55).
„Wenn meiner Tochter danach ist, ruft sie an und kommt rüber, und dann zerreiße ich mich förmlich: „Wow, super, ich vermiss dich so, ich kann es gar nicht erwarten, dich zu sehen“, aber das stimmt gar nicht ... ich versuche so eine Art Show aufzuführen, aber es stimmt gar nicht. Ich kann nicht mal so tun als ob.“ Sky (drei Kinder zwischen 15 und 20, und eins zwischen 20 und 25) (Donath 2015, S. 62).
„Ich würde keine Kinder haben, Punkt, keine Frage. [...] Ich sage immer, dass ich im Leben drei fatale Fehler gemacht habe: Der erste Fehler war, mich für meinen früheren Partner zu entscheiden; der zweite, mit ihm Kinder zu bekommen, und der dritte Fehler war , überhaupt Kinder zu bekommen.“ Susie (zwei Kinder zwischen 15 und 20 (Donath 2015, S. 90).
„Rückblickend hätte ich nicht mal ein einziges Kind haben wollen.“ Brenda (drei Kinder zwischen 20 und 25) (Donath 2015, S. 92).
„Ich kann es nicht ertragen, Mutter zu sein. Kann diese Rolle einfach nicht ertragen. [...] Ich kann wirklich mit aller Gewissheit sagen, ja, wenn ich vor drei Jahren gewusst hätte, was ich jetzt weiß? Dann hätte ich kein Kind. Ich hätte keins.“ Jasmine (ein Kind zwischen 1 und 5) (Donath 2015, S. 92).
Aussagen wie diese sind es, die in der Debatte um Regretting Motherhood den Fokus nicht nur auf die Reue über die eigene Mutterschaft legten, sondern den Vorwurf der fehlenden Mutterliebe aufbrachten. Doch oftmals empfinden die Frauen beides, Liebe für ihr Kind als auch Reue Mutter zu sein (vgl. Mundlos 2016, S. 13f.).
Aufgrund unseres gesellschaftlichen Konsenses darüber, dass Mutterschaft Glück bedeutet, ist es auf Grund der Angst ausgegrenzt zu werden für die Frauen nicht möglich über ihre Gefühle zusprechen. So bleibt es ein unausgesprochenes Tabu (vgl. Mundlos 2016, S.12). Wie in Kapitel 3.2 erörtert werden wird, liegt es nicht zuletzt am deutschen Muttermythos, dass die Gefühle der bereuenden Mütter als etwas nicht der Norm entsprechendes angesehen werden. Denn offensichtlich erfüllt es eben jene Mütter nicht mit Glück, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse für ihre Kinder zurückstellen, die für normal erachtete Selbstlosigkeit scheint ihnen daher zu fehlen (vgl. Mundlos 2016, S. 15).
3.1 Differenzierung: Reue und Ambivalenz
Zunächst soll hier der Begriff der Reue definiert werden: „ Reue, “seelischer Schmerz”, komplexe Emotion, die u.a. das Gefühl der Beschämung oder Schuld und den Wunsch nach Wiedergutmachung beinhaltet. Sie tritt z.B. nach Entscheidungen oder bei Schädigung einer anderen Person auf“ (Lexikon der Psychologie, https://www.spektrum.de). In Bezug auf die Mutterschaft kann Reue zwar eine gewisse Ambivalenz auf die Mutterschaft auslösen, jedoch sind sie konkret voneinander zu unterscheiden. Reue und Ambivalenz sind nicht dasselbe. Denn Frauen die eine ambivalente Einstellung zu ihrer Mutterschaft haben, bereuen diese nicht zwangsläufig. Ebenso lässt sich auch umgekehrt feststellen, dass es Mütter gibt die ihre Mutterschaft eindeutig bereuen und keineswegs ambivalente Gefühle diesbezüglich haben (vgl. Donath 2016, S. 15).
Donath schreibt: „Bei der Reue geht es nicht um die Frage: Wie kann ich mich mit der Mutterschaft arrangieren, sondern um die Erkenntnis, Mutter zu werden war ein Fehler“ (Donath 2016, S.15). Reue und Ambivalenz dürfen auch dahingehend nicht vermischt werden, da sich die Debatte um Regretting Motherhood nicht nur um Entbehrungen dreht, die die Mutterschaft mit sich bringt. Die Reue muss im Mittelpunkt der Debatte stehen (vgl. Donath 2016, S. 15). Es geht um Mütter die die Frage „Wenn Sie heute, mit Ihrem heutigen Wissen und Ihren Erfahrungen, die Zeitzurückdrehen könnten, würden Sie dann noch einmal Mutter werden / Kinder haben wollen“ mit einem eindeutigen „Nein“ beantworten würden, nicht mit einem „Manchmal“.
3.2 Differenzierung: Reue und Absenz von Liebe
Badinter stellte fest: „Die Mutterliebe ist nur ein menschliches Gefühl. Sie ist, wie jedes Gefühl, ungewiß, vergänglich und unvollkommen. Sie ist möglicherweise - im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung - kein Grundbestandteil der weiblichen Natur“ (Badinter 1981, S. 12). Donath beschreibt in ihrer Studie jedoch, dass die Liebe zum Kind und zeitgleiche der Hass auf die Mutterrolle einen Stressfaktor für die Mütter darstellte. Die Reue habe insbesondere nichts mit den Kindern selbst zu tun. Beispielhaft ist hier Doreen zu zitieren, die die Differenz dieses schwer zu greifendem Paradoxon wie folgt beschreibt: „Es fällt mir schwer, das zu sagen, weil ich sie liebe. Sehr sogar. Aber ich könnte es auch gut ohne sie aushalten. [...] Der Vorgang, Mutter zu werden, kommt mir einfach nicht rund vor - aber ich fühle mich völlig eins mit dem, was ich sage. Auch mit diesem Zwiespalt, dass ich, wow, Kinder habe und sie liebe, aber auch auf sie verzichten könnte.“ Doreen (drei Kinder zwischen 5 und 10) (Donath 2015, S. 101). So kann man sagen, dass die Reue der Mutterschaft gegenüber der Liebe zu den Kindern keineswegs ausschließt. Beide Empfindungen existieren gleichzeitig nebeneinander (vgl. Mundlos 2016, S. 14). Daher kann man durchaus feststellen, dass nur weil Mütter bereuen Mutter geworden zu sein, dies nicht bedeutet, dass sie ihre Kinder deshalb nicht lieben würden. Denn die Liebe ist bei allen Müttern wie sie betonen vorhanden, nur ihre Rolle als Mutter lieben sie nicht.
4 Perspektiven auf Mutterschaft
„Ist Mutterliebe ein Instinkt der weiblichen Natur oder ein Sozialverhalten, welches sich mit der Zeit und den gesellschaftlichen Verhältnissen wandelt?“ fragt Elisabeth Badinter, zu Anfang ihres Buches „Die Mutterliebe Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute“.
Tatsächlich muss die Geschichte der Mutterliebe insbesondere mit Blickwinkel auf die Aufklärung und Jean-Jaques Rousseau betrachtet werden, welcher die Menschen aufforderte sich auf die Natur zurück zu besinnen. Denn dies war der Punkt, an dem Mütterlichkeit einer jeden Frau als natürlicher Charakterzug zugeschrieben wurde. Was sonst kulturelle oder soziale Unterscheidungsmerkmale zwischen den Geschlechtern waren, mussten denen der Natur weichen (vgl. Krüger-Kirn; Metz-Becker; Rieken 2016, S. 11). Richtet man beispielsweise den Blick auf die Frauen in Frankreich im 18. Jahrhundert, vor der Revolution, war es vollkommen der Norm entsprechend, dass schon Säuglinge zu Pflegemüttern abgegeben worden sind, und es keinen Kontakt zur leiblichen Mutter gab, bis sie Jahre später wieder zurück in ihre leiblichen Familien kamen. Die Kindersterblichkeit war enorm hoch und es stellt sich unweigerlich die Frage danach, weshalb Säuglinge, in einer Zeit in der Muttermilch und die mütterliche Pflege als größte Überlebenschance galten, weggeben wurden. Ein derartiges Desinteresse am eigenen Kind steht im direkten Widerspruch zu unserer heutigen Wertvorstellung. Woran liegt es, dass sich eben jene Gleichgültigkeit im damaligen 18. Jahrhundert zu der besorgten, aufopfernden Mutter des 19. und 20. Jahrhundert gewandelt hat? Besagter Wandel widerspricht der Vorstellung des weiblichen naturgegebenen Instinkts zur Mutterliebe und Fürsorge, der die Frau auszeichnen soll (vgl. Badinter 1981, S. 9).
4.1 Historische Entwicklung des Mutterbildes
Fast zwei Jahrhunderte lang, schwankte das Verhalten von Müttern ihren Kindern gegenüber zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung (vgl. Badinter 1981, S. 14).
Im Folgenden soll daher gezeigt werden, dass Mütterlichkeit von Ideologien, sowie dem gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Umfeld geprägt war und immer noch ist.
4.1.1 Das 18. Jahrhundert: Mutterschaft zwischen Desinteresse und Lieblosigkeit
Während des 18. Jahrhunderts war die Geburt und die Geburtshilfe ausschließlich Sache der Frauen. Daher wurden werdende Mütter bei der Entbindung ausschließlich von Hebammen unterstützt, männliche Mediziner waren nicht die Regel und so waren die Frauen bei häufig auftretenden Komplikationen ihrem Schicksal ausgeliefert. Die Frauen wussten aus Erfahrungen und Erzählungen um die Gefahr während, oder nach einer Geburt zu sterben. Zu dieser Zeit war die Säuglings-, als auch die Müttersterblichkeit exorbitant hoch. Ein Viertel der Todesfälle bei Frauen im Alter von 15 bis 40 Jahre stehen im direkten Zusammenhang mit Schwangerschaft und Entbindung. (vgl. Metz-Becker 2016, S. 24). Somit kam die Entbindung als Todesursache im 18. Jahrhundert direkt an zweiter Stelle nach der Tuberkulose. Hat eine Frau die Geburt überlebt, bestand weiterhin die Gefahr am damals verbreiteten Kinderbettfieber zu erkranken. Diese Wochenbettinfektion endete in so gut wie allen Fällen tödlich, da es damals keine Medikation, wie das heutige Penicillin, für eine derart schwere Infektion gab. Um 1800 nahmen sich stetig mehr Ärzte der Geburtshilfe an und die Hebammen rutschten in die Position der Assistentinnen. Neue Werkzeuge wie die Zange, der Kaiserschnitt und die Perforationsinstrumente zur Geburtshilfe wurden etabliert. Es entstanden zudem Geburtskliniken, jedoch wirkten sich die neuen Methoden keineswegs positiv auf die Mortalitätsrate aus - ganz im Gegenteil. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Geburt im 18. Jahrhundert als auch im beginnenden 19. Jahrhundert ein enormes Risiko für das Leben der Frauen darstellte (vgl. ebd., S. 21 ff.). Doch nicht nur dieser Umstand hatte maßgeblichen Einfluss auf die Beziehung zu Mutter und Kind. Zahlreiche weitere Elemente der weiblichen Kultur in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts prägten das Verhältnis von Frauen in Bezug auf Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft. Die Frau wurde zur damaligen Zeit eine eigenständige Position zuteil. Sämtliche innerhäusliche Geschäfte, ob in der Landwirtschaft, im Handwerk oder im Gewerbe fielen in ihre Zuständigkeit. In der gemeinsam wirtschaftenden Haushaltsfamilie hatte die Frau sei es als Bäuerin oder Meisterfrau ihre feste Stellung. Eine Trennung von Familien- und Erwerbsleben wie es heute üblich ist gab es damals nicht, da die Familie zugleich Produktionsstätte darstellte. Hausvater und Mutter waren der Haushaltsfamilie vorständig, jedoch war der Mann, obgleich der hohen Stellung der Frau, das Familienoberhaupt, welcher auch das „Züchtigungsrecht“ über alle in der Familie lebenden innehatte. Zu den Familienmitgliedern zählten dabei nicht nur Frau und Kinder, sondern auch Knechte, Mägde, Lehrlinge und Gesellen (vgl. ebd., 2016, S. 26). „Das Selbstbewusstsein der Frauen lag in ihrer starken Stellung in der häuslichen Produktion begründet. Ihre Arbeit war unersetzlich. An dieser Tatsache fand die patriarchalische Ordnung ihre Grenze“ (Metz-Becker 2016, S. 26). Die Mutterrolle, nach dem heutigen Verständnis, gab es damals nicht. Mütter pflegten keine liebevolle und intime Mutter-Kind-Beziehung. Oft wurden die Kinder von den Knechten und Mägden erzogen und schon früh wurden auch sie zur Arbeit herangezogen und wie Erwachsene behandelt. Die Arbeit damals war hart und zeitintensiv, sodass besonderes in den unteren ärmeren Gesellschaftsschichten die Zeit für liebevolle Zuwendung fehlte. Zudem kam die hohe Muttersterblichkeit woraufhin folglich viele Kinder gänzlich ohne leibliche Mutter aufwuchsen. (vgl. Metz-Becker 2016, S. 26). Diese Kinder lebten „im besten Fall bei einer Stiefmutter, im ungünstigeren Fall bei Pflegeeltern, die ihr Einkommen durch die Aufnahme eines oder mehrerer verwaister oder unehelicher Kinder aufbessern wollten“ (Metz-Becker 2016, S. 26 f.). In Jahren der Krise oder des Hungers war es nicht unüblich Kinder auszusetzen. Auch die Kindsmordrate bei ledigen Müttern erreichte dann ihre traurigen Höhepunkte. Dieses weitverbreitete Phänomen wollten die Aufklärer unter philanthropischen Gesichtspunkten aufhalten. In Folge dessen wurde die sogenannte Hurenstrafe und die Kirchenbuße für unverheiratete Mütter abgeschafft. Auch die Todesstrafe die auf den Kindsmord folgte wurde durch eine mehrjährige Haftstrafe ersetzt. Kinder waren zudem für den Fortbestand der Familie von größter Wichtigkeit, daher sollten junge verheiratete Frauen schnellst möglich Kinder bekommen. Kinderlosigkeit wurde auf Grund des Mangels an Wissen wie die Empfängnis genau funktionierte, als Strafe Gottes gedeutet. Auch Menstruation, Schwangerschaft und Geburt wurden mit der antiken Humoralpathologie, die im 18. Jahrhundert in der Medizin gängig war erklärt (vgl. ebd., S. 28). Durch die äußerst hohe Kindersterblichkeit im 18. Jahrhundert gab es kaum Familien in denen alle Kinder überlebten. Dieses Phänomen betraf nicht nur sozial schwache Familien, sondern zog sich durch sämtliche Schichten der Gesellschaft (vgl. Metz-Becker 2016, S. 29). Aus diesem Grund war man lange der Annahme, es sei eine Art des Selbstschutzes für viele Mütter, sich emotional möglichst wenig an ihre Kinder zu binden, um im Falle des Todes nicht zu sehr leiden zu müssen. Mit Hilfe dieser Interpretation kann „eine schöne Kontinuität zwischen den Müttern aller Zeiten hergestellt“ werden. Also die Vorstellung Mutterliebe habe es immer gegeben, zu stützen scheint. Die Gleichgültigkeit der Mütter im 18. Jahrhundert wäre also nur eine Begleiterscheinung von Armut, Epidemien und anderen Nöten um selbst nicht noch mehr leiden zu müssen. Die Mutterliebe wäre aber nichtsdestotrotz eine übergeschichtliche Konstante (vgl. Badinter 1981, S. 61f.). Doch das lässt die Frage nach den Frauen und Müttern aufkommen, die keiner Not ausgesetzt waren, denen es möglich war ihre Kinder selbst zu erziehen und zu lieben und die es jahrhundertelang trotzdem nicht getan haben. Frauen der oberen sozialen Schichten, zeigten ein offensichtliches Desinteresse an ihren eigenen Kindern, da deren Erziehung und die generelle Beschäftigung mit ihnen unter ihrer Würde zu sein schien und sie sich deshalb dieser Last entledigten. Dies geschah damals ohne jeglichen Skandal; Berichterstatter aus der damaligen Zeit schienen ein solches Vorgehen als normal zu empfinden, so Badinter (1981, S.62). „Die Tatsache, dass diese letzteren sich für die liebenden Mütter oder auch für die entarteten Mütter so wenig interessiert haben, lässt im Übrigen darauf schließen, dass der Mutterliebe damals kein sozialer und moralischer Wert beigemessen wurde.“ (Badinter 1981, S. 62). Laut Badinter muss die Auffassung, dass Mütter sich eine Gleichgültigkeit ihren Kindern gegenüber aneigneten, weil die Chance des Kindstodes so hoch war, umgekehrt werden. Die Kinder sind in so hoher Zahl eben wegen dieser Gleichgültigkeit gestorben (vgl. Badinter 1981, S. 63). Die Frauen verweigerten sich des Stillens, sie hatten besseres zu tun und auch der glaube, dass das Stillen die Brust „verunstalten“ würde hielt sie oftmals davon ab. Auch Intellektuelle dieses Jahrhunderts wie Burlamaqui Buffon sprach von einem Ekelgefühl, wenn es um den natürlichen Vorgang des Stillens geht. Es schickte sich in der gehobenen Gesellschaft nicht seine Kinder zu stillen. Es war nicht „in Mode“ seine Kinder zu sehr zu lieben und seine Zeit mit ihnen zu vergeuden. Gesellschaftlich angesehene Frauen verbrachten ihre Zeit in der Oper und der Komödie. Ihr Vergnügen spielt sich im gesellschaftlichen Leben ab, indem es für Kinder keinen Platz gab. Dies ist die Antwort auf die Frage nach der Gleichgültigkeit der wohlhabenden Mütter. Da es den Müttern aus weniger wohlhabenden Ständen nicht möglich war ein solches Leben zu führen, konnten sie ihrem Leben aber doch eine gewisse Vornehmlichkeit verschaffen, indem auch sie sich ihrer Kinder entledigten, denn dies erweckte zumindest den Anschein, sich nicht um solch unbedeutende Dinge kümmern zu können (vgl. Badinter 1981, S. 72 ff.). Während Theologen aus dem 16. Jahrhundert Müttern zu viel Zärtlichkeit zu ihren Kindern noch vorwarfen, wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Müttern exakt das Gegenteil zum Vorwurf gemacht. So mag es zunächst widersprüchlich erscheinen, dass genau im Moment des aufflackernden Verständnisses für die Kindheit Frauen beginnen sich von sämtlicher Mütterlichkeit zu distanzieren, betrachtet man jedoch die Frau nicht ausschließlich im Rahmen der Mutterschaft so wird klar, dass die Frau, insofern sie die finanziellen Mittel hatte, sich im 17. Und 18. Jahrhundert als Frau zu definieren versuchte. Dies Gelang ihr insbesondere, da das Kind nicht wie heute üblich einen Platz in der Gesellschaft innehatte. Um sich als Frau zu emanzipieren und zu definieren, mussten daher die Rollen der Mutter und die der Ehefrau in den Schatten treten, da diese Funktionen der Frau lediglich in Beziehung auf eine weitere Person eine Daseinsberechtigung gab (Badinter 1981, S. 74). „In dem Versuch, sich als selbstständiges Wesen zu definieren, mussten die Frauen unausweichlich einen Emanzipations- und Machtwillen beweisen. Den ersten Schritt konnten die Männer und die Gesellschaft nicht verhindern, doch verstanden sie es sehr geschickt, den zweiten zu behindern und die Frau in jene Rolle zurückzudrängen, die sie nie hätte verlassen sollen: die Mutterrolle“ (Badinter 1981, S. 74). So bekamen die Männer ihre Ehefrauen zurück und die Frau wurde in eine Rolle gedrängt die von der Gesellschaft zunächst keinerlei Beachtung und Wertschätzung erfuhr (vgl. Badinter 1981, S. 74). Weiterhin vergrößert sich die Schere zwischen Mann und Frau durch die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im neuen Bürgertum entsteht die auch heute noch bekannte Rollenaufteilung. Arbeitsplatz und privater Raum driften auseinander, dies hat die Folge der Trennung von Produktionsstätte und Familie.
Beginnend durch den politischen, industriellen und sozialen Wandel entsteht die moderne Kernfamilie aus Mann, Frau und Kindern (vgl. Göbel 2016, S. 112). Jean-Jacques Rousseau, einer der Vordenker der Französischen Revolution, entwickelt eine neue Gesellschaftsordnung, welche auch gekoppelt an eine neue Staatsform ist. Er hebt die Trennung zwischen Frau und Mutter auf. Nach Rousseau sind beide Rollen im weiblichen Geschlecht unzertrennlich, wobei nur die Rolle der Mutter moralisch berechtigt ist. Er erschafft die Dichotomie zwischen der Frau und der Mutter. Die Mutter ist Gut, die Frau ist Schlecht (vgl. Göbel 2016, S. 107).
4.1.2 Das 19. Jahrhundert: Idealisierung der Mutterschaft
Im Zuge der Französischen Revolution wandelten sich die politischen, sozialen und auch mentalen Verhältnisse deutlich. Vor dem Hintergrund der Aufklärung wurden die Menschen nicht mehr als Mitglieder eines gesellschaftlichen Standes registriert. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts rückte das Geschlecht in den Vordergrund und verdrängte sämtliche andere Elemente der bisherigen Ordnung, wie beispielsweise die ökonomischer, kultureller oder politischer Art. Die Forderungen der Französischen Revolution nach Gleichheit wurden ein Ende gesetzt und es wurde auf die Biologisierung des Weiblichen zurückgegriffen sozusagen auf „die Prärogativen der Geschlechtsnatur“ (vgl. Metz-Becker 2016, S. 32). Die Differenz der Geschlechter wird zur tragenden Säule menschlicher Organisation und damit salonfähig gemacht (vgl. Frevert zit. nach Metz-Becker 2016, S. 32). Frauen ist es zu dieser Zeit nicht möglich das Abitur zu machen, geschweige denn zu studieren. Sie dürfen nicht wählen und auch keine Geschäftsbeziehungen eingehen. Heiratet eine Frau, so verliert sie ihr Recht am eigenen Besitztum und ihr Ehemann trifft sämtliche Entscheidungen für sie mit. Rousseaus Ideal einer Frau verwirklichte sich in der breiten Masse stetig weiter. Vermeintlich naturgegebene Charaktereigenschaften der Frau, wie Passivität und Emotionalität stützen damals die Vorstellung der Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts. Die Frau wird aus dem öffentlichen Geschehen verbannt und erhält eine eigene Sphäre zuhause. Dort besteht die Aufgabe der Frau darin, sich um alles Häusliche und um die physische Versorgung der Kinder zu kümmern. Auch das Beibringen von Manieren, Disziplin und Gehorsam unterliegt nun der Mutter. Soziale Anerkennung und Respekt erhalten Frauen in Folge nun für eine gelungene Erziehung der Kinder (vgl. Göbel 2016, S. 112f.). „Das Frauenbild im 19. Jahrhundert verenget sich immer weiter zum Muttersein“ (Göbel 2016, S. 112). In Folge der neuen Weiblichkeit um 1800 und der daraus resultierenden neuen Mütterlichkeit war es Ziel gegen die weitverbreitete Säuglings- und Müttersterblichkeit vorzugehen (vgl. Metz-Becker 2016, S. 33). Auch das Stillen der eigenen Kinder soll wieder zur Normalität werden, da auch dies in der Natur der Frau liege und die Kinder nur so bestmöglich Versorgt werden können (vgl. Badinter 1981, S. 144 f.). Vielmehr hängt das gesamte Wohl des Staates vom Stillen der leiblichen Mutter ab, so Rousseau. Ihm ging es auch nicht um die Unersetzlichkeit des Stillens der leiblichen Mutter, sondern um ihre Fürsorge (vgl. Vinken 2011; S. 134). „Seitdem die Mütter pflichtvergessen, ihre eigenen Kinder nicht mehr stillen wollen, müssen sie sie gewinnsüchtigen Frauen anvertrauen. Diese geben sich natürlich keine Mühe, da sie als Mütter fremder Kinder keinen Naturtrieb in sich fühlen“ (Rousseau zit. nach Vinken 2011, S. 135). Zudem ist das Abgeben der Kinder an Ammen teuer, wodurch die Frauen nicht nur die Ökonomie der Natur, sondern auch die des Staates in Unordnung bringen (vgl. Vinken 2011, S. 135). Die Aufgaben der Frau reduzierten sich somit im Zuge der Hinwendung von der großen Haushaltsfamilie auf die kleine Kernfamilie enorm. Vor diesem Hintergrund wurde die häusliche Arbeitet aufgewertet und es entstand auch eine literarische Öffentlichkeit welche eine Idylle des Familienlebens propagierte. So drifteten die Frauen- und Männerwelten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts stetig weiter auseinander. (vgl. Metz-Becker 2016, S. 34 f.). Die bürgerliche Hausfrau war „sozial entmachtet, ohne Entscheidungsbefugnisse“ und ohne „sinnerfüllende Tätigkeit“ (Metz-Becker 2016, S. 35). Dies betraf zunächst jedoch nur die Frauen der gehobenen bürgerlichen Schicht. Für die Frauen der Aristokratie und die arbeitenden Frauen der unteren Klassen war die „große neue Mütterlichkeit“ noch nicht real (vgl. Metz-Becker 2016, S. 35). Die Hausfrau fühlte sich von nun an dem Mann unterlegen und in der Tat war sie dies auch. Aufgrund des Mangels an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten war sie in eine Abhängigkeit geraten und ihre Autorität konnte sie lediglich in der Rolle der Mutter wiederfinden. Die Frauen der Arbeiterklasse kämpften mit den neuen Idealen des Kleinbürgertums. Aufgrund enormer Existenznöte war es ihnen nicht möglich sich entsprechend um ihren Nachwuchs zu kümmern. Sie suchten nach Wegen um an Verhütungsmittel zu gelangen und Forderungen nach der Abschaffung des Abtreibungsverbots wurden laut (vgl. Metz-Becker 2016, S. 35f.). Die Unzufriedenheit der Frauen wächst insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drastisch. 1865 wird der Allgemeine Deutsche Frauenverein gegründet und weitere Frauenbewegungen organisieren sich (vgl. Göbel 2016, S. 114). Doch bis sich die Verhältnisse ändern, die Kinderarbeit abgeschafft, das Frauenwahlrecht eingeführt, der Acht-Stunden-Arbeitstag standardisiert und die Situation der Frau und Mutter verbessert wird dauerte es noch Jahrzehnte. Das bürgerliche Rollenmodell verlor dabei nie an Leitbild-Status und wirkt bis in die heutige Zeit (vgl. Metz-Becker 2016, S. 39f.). „Das Ideal der „guten Mutter“ ist fest in den Köpfen verankert und doch ist es verhandelbar, veränderbar und keineswegs statisch oder gar „natürlich“. Mutterliebe - so viel dürfte deutlich geworden sein - war nicht zu allen Zeiten, nicht in allen Schichten und schon gar nicht als angeborene Konstante per se vorhanden. Mutterliebe musste man sich auch leisten könne, und ob diese überhaupt als Wert anerkannt wurde, hing von den jeweiligen gesellschaftlichen, ökonomischen, medizinischen und politischen Kontexten ab, in denen die Menschen sich befanden“ (Metz-Becker 2016, S.40).
4.1.3 Das 20. Jahrhundert: Von NS-Rassenideologien bis zur Psychologisierung der Mutter-Kind-Beziehung
Um die Wende zum 20. Jahrhundert drängten die Frauen auf ihr Wahlrecht und auch sie wollten studieren dürfen. In Karlsruhe wurde 1893 das erste Mädchengymnasium gegründet und sechs Jahre später bestanden dort die ersten vier Mädchen ihr Abitur. Für die deutschen Frauen war speziell 1918, das Jahr der Gründung der Weimarer Republik, ein sehr bedeutendes Jahr. Frauen erhielten nun final das Recht zu wählen. In den darauffolgenden Jahren gab es für die deutschen Frauen einige Erfolge zu verbuchen. Sie machten damals fast zehn Prozent der Abgeordneten aus, ab 1920 war es ihnen erlaubt zu habilitieren und nur zwei Jahre danach gab es die ersten Rechtsanwältinnen und Richterinnen. (vgl. Göbel 2016, S. 114). In der Mitte der 1920er Jahre sind circa 11 Millionen Frauen berufstätig. Auch jede dritte verheiratete Frau war erwerbstätig. Dies war durch den zurückliegenden Krieg möglich geworden, der die Frauen dazu „zwang“ Berufe ausüben zu müssen, welche bisher lediglich Männern vorbehalten waren, um die Familie ernähren zu können. Zwar kann nur ein kleiner Teil der Frauen das damalige Bild der Goldenen Zwanziger leben, aber doch gibt es das neue Frauenbild, wenn auch nur für kurze Zeit. Denn mit dem Beginn des Dritten Reiches wird die emanzipierte Frau wieder zurückgedrängt und die Aufwertung der Mutterfigur erreicht einen neuen Höhepunkt. (vgl. ebg., S. 115). Unter den Nationalsozialisten wird die deutsche Mutter zum wichtigsten Bestandteil ihrer völkischen Ideologie. Ebenso wie die Männer müssen die Frauen ihren Teil zur Verhinderung der „Volkszerstörung“ beitragen. Nur tun deutsche Frauen dies, anders als deutsche Männer, durch ihre Fähigkeit „rassenideologisch reines arisches“ Leben zu schenken. So hält auch der Begriff der Mutter Einzug in die NS-Kriegsrhetorik und man spricht von den Frauen an der „Geburtenfront“, die ab dem vierten Kind Mutterkreuze verliehen bekommen. Das NS-Regime schaffte Anreize für Frauen möglichst viel Nachwuchs zu gebären und manipuliert die Frauen mit Belohnungen. Dazu zählten Ehestandsdarlehen für junge deutsche „erbgesunde“ Familien, Steuererleichterungen, Kindergeld ab dem dritten Kind und Heime für Nationalsozialistinnen mit unehelichen Kindern. Abgesehen von den Belohnungen schränkte das Regime den Gebrauch von Verhütungsmitteln massiv ein und auf aktive Abtreibung folgte die Todesstrafe (vgl. Göbel 2016, S. 115 f.). Zudem wurde eine Erziehung propagiert, welche gefühlskalte Soldaten hervorbringen soll. Dies geschah vor allem durch Ratgeber wie den 1934 von Johanna Haarer veröffentlichten Werk „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Die in diesem Buch enthaltenen Ratschläge wirkten auf die Mütter modern und wissenschaftlich, aber das waren
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- Alessaa Maasjosthusmann (Author), 2021, Das westliche, kulturelle Ideal der "guten Mutter" im Zusammenhang mit dem Phänomen "Regretting Motherhood", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1253126
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