Kindeswohlgefährdung ist ein präsentes Thema, welches häufig mit dem Versagen der Jugendämter in Verbindung gebracht wird. In den folgenden Abschnitten wird das ethische Dilemma im Kinderschutz am Beispiel eines realen Falls des Peiner Jugendamts erklärt. Dieser reale Fall „Sonja“ wird im ersten Abschnitt dieser Fallstudie beschrieben.
Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Namen der Personen verändert.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung 3
2. Fall „Sonja“ 4
3. Berufsethische Leitfragen 6
4. Berufsethische Spannungsfelder 6
5. Handlungsoptionen 7
6. Handlungsempfehlung 9
7. Handeln des Jugendamts 9
8. Fazit 10
9. Literaturverzeichnis 11
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fall „Sonja“
3. Berufsethische Leitfragen
4. Berufsethische Spannungsfelder
5. Handlungsoptionen
6. Handlungsempfehlung
7. Handeln des Jugendamts
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Kindeswohlgefährdung ist ein präsentes Thema, welches häufig mit dem Versagen der Jugendämter in Verbindung gebracht wird. Die Aktualität dieses Themas wurde in der Zeit der Corona-Pandemie nochmal besonders deutlich.
„Die Jugendämter in Deutschland haben im Jahr 2020 bei fast 60.600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das waren rund 5.000 Fälle oder 9 Prozent mehr als 2019. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, haben die Kindeswohlgefährdungen damit im Corona-Jahr 2020 den höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erreicht.“(Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, o.J.).
In den folgenden Abschnitten wird das ethische Dilemma im Kinderschutz am Beispiel eines realen Falls des XY Jugendamts erklärt. Dieser reale Fall „Sonja“ wird im ersten Abschnitt dieser Fallstudie beschrieben.
Im Anschluss werden berufsethischen Leitfragen gestellt, die bei diesem Fall aufkommen. Danach werden die berufsethischen Spannungsfelder, die beim Ablauf des Falls entstehen, aufgezeigt.
Um den Fall bearbeiten zu können, werden im fünften Abschnitt verschiedene Handlungsoptionen aufgezeigt, nach denen das Jugendamt hätte handeln können. Dabei werden auch Handlungsoptionen aufgezeigt, die nicht zum optimalen Ziel führen würden. Daher werden im Anschluss die empfohlene Handlungsweise thematisiert.
Danach wird beschrieben, wie das Jugendamt wirklich in dem Fall gehandelt hat und wie dieses Handeln ablief. Am Ende dieser Fallstudie werden im Fazit die wichtigsten Aspekte zusammengefasst.
Das Hauptziel dieser Fallstudie ist es, das ethische Dilemma im Kinderschutz dazustellen und zu verdeutlichen, dass Jugendämter in Fällen der Kindeswohlgefährdung nicht immer versagen, sondern jede Handlung rechtlich genau ablaufen muss und jeder Schritt im Sinne des Kindeswohls ablaufen muss.
2.Fall „Sonja“
Im folgenden Fallbeispiel wird ein realer Fall des XY Jugendamts beschrieben, der insgesamt fünf Jahre andauerte. Die Namen der beteiligten Personen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen verändert. Die Altersangaben waren zum Zeitpunkt der Fallannahme im Jahr 2015.
In diesem Fall geht es um Sonja, eine 34 Jahre alte Hausfrau und Mutter, ihren 37 Jahre alten Ehemann Sven und dessen gemeinsame Kinder Maik (*2011), Niko (*2008) und Klaus (*2001). Sonja und Sven waren noch verheiratet, jedoch lebten sie seit 2014 wegen Streitigkeiten getrennt. Zum Zeitpunkt der Fallannahme im Jahr 2015 lebten die drei Söhne bei der Mutter, da der Vater seit der Trennung in einer sehr kleinen Wohnung lebt. Sven hatte im Jahr 2006 einen schweren Verkehrsunfall, hat deswegen seit 2007 eine rechtliche Betreuung und ist erwerbsunfähig. Sonja befand sich in zwei verschiedenen Arztpraxen in psychiatrischer Behandlung, in denen bei ihr ein Verfolgungswahn diagnostiziert wurde. Die Behandlung durch die Ärzte war jedoch nicht erfolgreich, da sie die Termine nicht zuverlässig wahrgenommen hat und zwischen den Praxen hin und her wechselte. Dadurch bekam sie von den Ärzten unterschiedliche Tabletten verschrieben, die sie entweder unregelmäßig oder gar nicht einnahm.
Im Jahr 2015 kontaktierte die Polizei das Jugendamt, um eine Kindeswohlgefährdung zu melden. Sie berichteten von einer Mutter, die bereits 52 EDV-Einträge bei der Polizei wegen ihres irrationalen, wahnhaften und hoch aggressiven Verhaltens hat und auch gegenüber ihren drei Söhnen Gewalt anwenden würde, wenn diese sich nicht so benehmen, wie sie es will. Auffällig wurde sie vor allem durch ihr wahnhaftes Verhalten in einem Supermarkt, in dem sie Hausverbot bekam, da sie den Mitarbeitern vorwarf, die Ware umgeräumt zu haben, um sie zu ärgern. Zudem würden die Mitarbeiter sie über die Lautsprecher beleidigen. Außerdem griff Sonja des Öfteren wahllos Passanten an, wenn sie mit ihren Söhnen spazieren ging. Dabei riss sie ihnen büschelweise Haare aus und kratze sie. Zu diesem Verhalten animierte Sonja auch ihre Söhne, die dann ebenfalls Passanten angriffen. Bei der Polizei begründete Sonja dieses Verhalten damit, dass die Passanten ihr fremd seien und diese sie beleidigen würden und sie absichtlich angerempelt hätten. Bei Festnahmen griff sie auch die Polizisten an, da sie sich zu Unrecht beschuldigt fühlte.
Ein Mitarbeiter des ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) übernahm diesen Fall und vereinbarte einen Hausbesuch bei der Mutter. Dabei stellte der Fallzuständige eine deutliche Überforderung fest und richtete, mit Zustimmung der Mutter, einer Familienpflege und eine APP (Ambulante Psychiatrische Pflege) ein. Diese Hilfen wurden bereits nach wenigen Monaten abgebrochen, da Sonja krankheitsuneinsichtig, unzuverlässig und nicht kooperativ war.
Der Fallzuständige erfuhr, dass sich der Kindsvater Sven trotz Trennung häufig im Haushalt von Sonja und den Kindern aufhält und handwerkliche Aufgaben im Haushalt erledigt. Durch den nahezu täglichen Kontakt wurde der Vater zunächst als Ressource für die Kinder eingestuft. In einem persönlichen Gespräch mit ihm ergab sich jedoch, dass er, trotz Trennung, emotional abhängig von Sonja ist und sich ihr unterwirft. Sich von ihr zu distanzieren, würde ihm sehr schwerfallen. Zudem konnte er die Kinder aufgrund seiner finanziellen und gesundheitlichen Probleme nicht bei sich aufnehmen. Sonja hatte ebenfalls große finanzielle Probleme, da sie ihre Post nicht öffnete und ihre Rechnungen, wie beispielsweise Miete oder Strom nicht bezahlte. Durch Hausverbote in mehreren Supermärkten war es für Sonja schwer Lebensmittel einzukaufen. Außerdem gab Sonja das Geld nur bedürfnisorientiert für sich aus, zum Beispiel für Friseur- und Nagelstudiobesuche, farbige Kontaktlinsen und neue Kleidung. Das führte dazu, dass die Kinder kaum etwas zu essen hatten, wenn das Geld am Ende des Monats vollständig ausgegeben war.
Um die Kinder zu schützen, wurde beim Jugendamt, zusammen mit der Mutter und dem Vater, ein Schutzplan erstellt. Ein Gespräch mit der Schule der beiden ältesten Kinder ergab jedoch, dass die Eltern sich nicht an diesen halten würden. Die Mutter würde häufig verschlafen und daher kommen die Kinder entweder zu spät oder gar nicht in die Schule. Allein dürfen die Kinder nicht zur Schule laufen, da Sonja ihnen das nicht zutraut und Angst hat, dass die Kinder entführt werden. Ein Gespräch mit Niko und Klaus, den beiden ältesten Söhnen, ergab jedoch, dass die beiden es sich selbst durchaus zutrauen würden, allein zur Schule zu laufen, und auch in der Lage dazu sind, aber die Mutter das nicht erlaubt. Sonja erhielt durch ihr aggressives Verhalten bereits Hausverbot in der Schule, wodurch die Kinder noch seltener zum Unterricht kamen. Wenn die Kinder mal in der Schule waren, zeigten sie das gleiche aggressive und gewalttätige Verhalten, wie ihre Mutter. Der jüngste Sohn Maik war, wie sich bei einem Gespräch mit einem der Erzieher rausstellte, auch kaum im Kindergarten und zeige, wenn er dort ist, ebenfalls ein aggressives Verhalten. Ein Gespräch mit dem Kinderarzt ergab, dass die Eltern auch hier ihre Pflichten nicht einhalten und die Kinder zu spät oder gar nicht zu Terminen bringen.
Da sowohl die Polizei als auch das Jugendamt Sonja auf ihre Wahnvorstellungen aufmerksam machen wollten, aber sie nicht krankheitseinsichtig war, zog sie sich in ihrer Wohnung zurück und war der Meinung die ganze Welt hätte sich gegen sie verschworen. Die Kinder gingen nicht mehr zur Schule oder in den Kindergarten und eine Kontaktaufnahme zur Mutter war nur selten möglich. Bei dem letzten Gespräch mit ihr im Jugendamt mit dem Fallzuständigen und einem Kinderschutz-Fachberater zeigte sie ebenfalls ein aggressives irrationales Verhalten und drohte den Mitarbeitern damit ihnen die Augen mit ihren Fingernägeln auszustechen, da alle sowieso nur neidisch auf ihre Schönheit wären. Danach lehnte sie jeglichen Versuch einer Kontaktaufnahme durch das Jugendamt ab und verbot den Amtsärzten die Kinder zu untersuchen.
3. Berufsethische Leitfragen
Die folgenden Leitfragen dienen als Grundannahmen und stützen die Bearbeitung der Fallstudie. Die Leitfragen grenzen den Fall von Sonja und ihren drei Kindern ein und dient zum Herausarbeiten der relevanten Themen.
- Welche berufsethischen Spannungsfelder entstehen?
- Inwieweit ist das Kindeswohl gefährdet?
- Dürfen Sonjas Rechte als Mutter eingeschränkt werden?
- Wie kann das Jugendamt in diesem Fall im Sinne des Kindeswohls handeln?
4. Berufsethische Spannungsfelder
Aus der Sicht der involvierten Instanzen entsteht bei diesem Fall ein großes Spannungsfeld. Auf der einen Seite stehen die Polizei, das Jugendamt und das Familiengericht, die im Sinne des Kindeswohls handeln möchten und ihren gesetzlichen Pflichten nachgehen. Auf der anderen Seite steht die Familie den gesetzlichen Instanzen gegenüber. Die Familie möchte nicht auseinandergerissen werden und sieht sich auch nicht als hilfebedürftig. Zudem ist das Handeln der Familie aus emotionalen Gründen, beziehungsweise aus den krankhaften Wahnvorstellungen der Mutter.
Aus Sicht der Moral und der Gesetze stehen die Kinderschutzgesetze §1666 BGB, §8a SGB VIII und §4 KKG auf der einen Seite. Diese sollen die Kinder schützen und es ihnen ermöglichen sich zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. In dem Fall „Sonja“ wäre auf dieser Seite auch die Inobhutnahme der Kinder ein Thema. Auf der gegengesetzten Seite stehen die Rechte der Eltern §1 SGB VIII und Artikel 6 Abs. 2 GG den Kinderschutzgesetzen gegenüber. Diese beinhalten, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das Recht und die Pflicht der Eltern sind.
Aus der ethischen Sicht steht das Wohl des Kindes auf einer Seite mit der Erfüllung der gesetzlichen Pflichten der handelnden Instanzen und deren individuelles, angepasstes Handeln. Das Wohl des Kindes richtet sich hierbei an die körperliche seelische und geistige Gesundheit des Kindes, welche nur subjektiv wahrgenommen werden kann. Auf der anderen Seite steht die Bindung, die die Familie hat und die Rechte der Mutter. Zudem steht auf dieser Seite die Menschenwürde, die man besonders beim Arbeiten mit der Mutter berücksichtigen muss.
5. Handlungsoptionen
Um die Handlungsoptionen des Jugendamts aufzuzeigen, sollte man zuerst wissen, was Kinderschutz bedeutet. Hierbei ist folgende Definition hilfreich: „Kinderschutz umfasst […] alle gesellschaftlichen Bemühungen, Kinder und Jugendliche beim Aufwachsen vor Gefahren und Gefährdungen zu bewahren. Er soll das Recht des Kindes auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit stützen.“ (Thole & Höblich, 2015).
Eine Handlungsoption wäre, die Kinder von Sonja stärker in den Ablauf miteinzubeziehen. Hierbei könnte das Jugendamt von Anfang an mehr mit den Kindern, ohne Beisein der Mutter, sprechen. Dadurch würde der Fallzuständige einen besseren Einblick in die Gefühle und Wünsche der Kinder, in die reelle Lage aus Sicht der Kinder zur Gefährdungseinschätzung, in das Handeln der Mutter im häuslichen Umfeld und in die Beziehung der Kinder zum Vater bekommen. Das Problem bei dieser Handlungsoption ist die Mutter, die wahrscheinlich nicht zulassen würde, dass das Jugendamt oder andere Instanzen allein mit den Kindern sprechen.
Die zweite Handlungsoption wäre den Vater stärker miteinzubeziehen, da er als mögliche Ressource nützlich sein könnte. Dabei würde auch die Bindung zwischen den Kindern und dem Vater gestärkt werden. Um mit dem Vater zusammen zu arbeiten, müsste er sowohl finanziell als auch emotional vom Jugendamt oder anderen Instanzen unterstützt werden. Das Problem bei dieser Handlungsoption ist, dass der Vater emotional abhängig von Sonja ist und sich nicht von ihr distanzieren kann. Zudem ist der Vater, wegen des Unfalls, körperlich nicht in der Lage sich um die Kinder kümmern zu können. Hinzu kommt noch, dass der Vater getrennt von Sonja und den Kindern lebt. Somit kann er nicht eingreifen, wenn die Mutter den Kindern gegenüber handgreiflich wird. Außerdem besteht die Gefahr, dass Sonja dem Vater auch den Kontakt zu den Kindern verbietet, wenn sie mitbekommt, dass er mit dem Jugendamt kooperiert. Insgesamt hätte diese Handlungsoption wahrscheinlich keinen oder keinen langfristigen Erfolg.
Die dritte Handlungsoption wäre, die Mutter zu behandeln. Hierbei könnte man sie sensibilisieren nur zu einem, und nicht zu mehreren, Psychologen zu gehen und auch die Medikamente zu nehmen. Eine Zwangseinweisung der Mutter in eine Psychiatrie wäre dabei auch eine Möglichkeit, weil eine akute Fremdgefährdung besteht. Dadurch würde sie die an den Verfolgungswahn angepasste medikamentöse und therapeutische Behandlung erhalten. Das Problem bei dieser Handlungsoption ist, dass die Mutter weder krankheits- noch behandlungseinsichtig ist. Dadurch würde die Zwangseinweisung gewaltsam ablaufen und wäre wahrscheinlich sehr traumatisch für die Kinder. Zudem würde die Mutter sich weiterhin nicht verstanden fühlen, was zur Verschlimmerung ihrer Krankheit führen könnte. Außerdem würde eine ambulante Behandlung sehr lange andauern, wodurch das Kindeswohl in dieser Zeit nicht gewährleistet wäre, da Sonja die Kinder zu Hause weiterhin betreuen würde. Der wichtigste Aspekt bei dieser Handlungsoption ist, dass es ethisch nicht vertretbar wäre die Mutter zwangseinweisen zu lassen, da sie das Recht auf Selbstbestimmung hat.
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- Quote paper
- Saskia Höhne (Author), 2022, Ethisches Dilemma im Kinderschutz. Fallstudie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1252738
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