Was ist ein Feuilletonroman? Diese zentrale Frage nach der Definition und Theorie des
Feuilletonromans liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde, doch ihre Beantwortung am Anfang
würde zuviel auf einmal vorweg nehmen. Anhand seiner historischen Voraussetzungen und
Entwicklungen sollen zunächst die wesentlichen Charakteristika herausgearbeitet und
diskutiert werden. In der Conclusio soll dann der Versuch einer theoretischen
Systematisierung unternommen werden und auf eventuell auftretende Problemschwerpunkte
hingewiesen werden.
Die verwendete Periodisierung ist Lise Queffélecs Büchlein Le roman feuilleton au XIX
siècle entlehnt, wobei die Ereignisse der „Übergangsphase“ (periode de transition) in den
beiden hauptsächlichen Phasen mitbehandelt werden. Die Autorin weist ihrerseits bereits auf
die Relativität einer jeden Periodisierung hin. In der Retrospektive ist es zur gängigen Praxis
geworden, Epochenphänomene, wenn möglich, in einzelne Phasen zu untergliedern, um
wesentliche Strukturen und Strömungen sichtbar zu machen und voneinander abzugrenzen.
An dieser Stelle ist jedoch Vorsicht geboten. So wie das Leben vielfältigen dynamischen
Prozessen unterliegt, sind nachträglich gezogene Periodengrenzen auch niemals starr, sondern
fließend und sollen vor allem als Orientierungshilfe dienen. Stets verschieben sie sich je nach
Blickwinkel und Fragestellung. Auch ist es nicht ratsam, kulturelle, politische oder soziale
Aspekte strikt voneinander zu trennen, da wichtige Synergieeffekte und Zusammenhänge
unterschlagen werden und einem gewissen Schematismus zum Opfer zu fallen. Das exakte
Nachzeichnen und Abgrenzen unter möglichst allen Gesichtspunkten führt von einer
unvermeidlichen Abstraktion zur ungewollten Verzerrung. Da eine absolute Periodisierung
also notwendig defizitär sein muss, soll diese im Hinblick auf das vorliegende Thema stets als
eine Möglichkeit betrachtet werden. Die zeitgeschichtliche Untersuchung beginnt im Jahre
1836 mit dem ersten veröffentlichten Feuilletonroman überhaupt und endet im Jahre 1914,
was nicht das Verschwinden des Feuilletonromans bedeutet, so doch zumindest das Ende
seiner bis dato unbestrittenen Vormachtstellung unter den Unterhaltungsmedien. Zudem ist
der Ausbruch des ersten Weltkrieges ein wohl nicht zu ignorierender Markstein in der
Menschheitsgeschichte überhaupt, weshalb auch der Feuilletonspezialist Hans-Jörg
Neuschäfer den historischen Rahmen von 1836-1914 absteckt. (Neuschäfer 1986, S. 2)
[...]
Inhalt
Vorwort
1. Die romantische Periode des Feuilletonromans (1836-1866)
Vor dem Feuilletonroman, Die Geburt des Feuilletonromans, Verbreitungsmodi,
Sue und Dumas, Kritik, Genres und Autoren, Entwicklung der Meinungspresse,
Die Zeitungsromane, Aufstieg der Unterhaltungspresse, Zur Buchproduktion
2. Der Feuilletonroman unter der Dritten Republik (1875-1914)
Die Spaltung der Presse, Werbestrategien, Verbreitung des Feuilletonromans, Der
Feuilletonroman in der Krise, Neue Medien
Conclusio
Bibliografie
Vorwort
Was ist ein Feuilletonroman? Diese zentrale Frage nach der Definition und Theorie des Feuilletonromans liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde, doch ihre Beantwortung am Anfang würde zuviel auf einmal vorweg nehmen. Anhand seiner historischen Voraussetzungen und Entwicklungen sollen zunächst die wesentlichen Charakteristika herausgearbeitet und diskutiert werden. In der Conclusio soll dann der Versuch einer theoretischen Systematisierung unternommen werden und auf eventuell auftretende Problemschwerpunkte hingewiesen werden.
Die verwendete Periodisierung ist Lise Queffélecs Büchlein Le roman feuilleton au XIX siècle entlehnt, wobei die Ereignisse der „Übergangsphase“ (periode de transition) in den beiden hauptsächlichen Phasen mitbehandelt werden. Die Autorin weist ihrerseits bereits auf die Relativität einer jeden Periodisierung hin. In der Retrospektive ist es zur gängigen Praxis geworden, Epochenphänomene, wenn möglich, in einzelne Phasen zu untergliedern, um wesentliche Strukturen und Strömungen sichtbar zu machen und voneinander abzugrenzen. An dieser Stelle ist jedoch Vorsicht geboten. So wie das Leben vielfältigen dynamischen Prozessen unterliegt, sind nachträglich gezogene Periodengrenzen auch niemals starr, sondern fließend und sollen vor allem als Orientierungshilfe dienen. Stets verschieben sie sich je nach Blickwinkel und Fragestellung. Auch ist es nicht ratsam, kulturelle, politische oder soziale Aspekte strikt voneinander zu trennen, da wichtige Synergieeffekte und Zusammenhänge unterschlagen werden und einem gewissen Schematismus zum Opfer zu fallen. Das exakte Nachzeichnen und Abgrenzen unter möglichst allen Gesichtspunkten führt von einer unvermeidlichen Abstraktion zur ungewollten Verzerrung. Da eine absolute Periodisierung also notwendig defizitär sein muss, soll diese im Hinblick auf das vorliegende Thema stets als eine Möglichkeit betrachtet werden. Die zeitgeschichtliche Untersuchung beginnt im Jahre 1836 mit dem ersten veröffentlichten Feuilletonroman überhaupt und endet im Jahre 1914, was nicht das Verschwinden des Feuilletonromans bedeutet, so doch zumindest das Ende seiner bis dato unbestrittenen Vormachtstellung unter den Unterhaltungsmedien. Zudem ist der Ausbruch des ersten Weltkrieges ein wohl nicht zu ignorierender Markstein in der Menschheitsgeschichte überhaupt, weshalb auch der Feuilletonspezialist Hans-Jörg Neuschäfer den historischen Rahmen von 1836-1914 absteckt. (Neuschäfer 1986, S. 2)
1. Die romantische Periode des Feuilletonromans (1836-1866)
Vor dem Feuilletonroman
Zum Ende des 18. Jahrhunderts avanciert in Frankreich der Roman zum beliebtesten literarischen Genre. Großen Publikumserfolg feiern beispielsweise die romans gais von Pigault-Lebrun (1753-1835) und die romans noirs von Ducray-Duminil (1761-1819), welche antiklerikale Tendenzen erkennen lassen. Damit ist die Geburtsstunde des populären Romans eingeläutet. Mme de Staël plädiert in ihren Essais sur les fictions für die Rechte der Imagination und einen Roman, der die Sitten und Bräuche der Nation illustriert. Das geistige Klima nach 1815 ist bestimmt durch ein wachsendes Interesse an – vor allem nationaler – Geschichte. Die literarischen Impulsgeber hierfür kommen jedoch zunächst aus dem Ausland: Während der Zeit der Restauration (1815-1830) sind es vor allem Historienromane in der Tradition J.F. Coopers (1789-1851) und Walter Scotts[1] (1771-1832), welche den französischen Buchmarkt erobern.[2] Diese leisten der Beliebtheit des Romangenres weiteren Vorschub und bereiten ihm eine breite Basis, welche eine wichtige Voraussetzung für seinen Einzug in die Tagespresse ist. Vor allem die Konzeption des „mittleren Helden“ als Repräsentant der Vorstellungswelt des Lesers verringert die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart und schafft so bessere Identifikationsmöglichkeiten. Ein neuer Romantypus kristallisiert sich heraus, der roman dramatique oder roman pittoresque prosaïque. Der Grundstein für die spätere Unterhaltungsliteratur ist gelegt.
Im Jahre 1800 führt Julien-Louis Geoffroy den zeitungstechnischen Fachterminus des so genannten feuilleton dramatique ein, welcher zunächst eine Chronik des Theaters darstellt. Es finden sich in dieser Anfangszeit vor allem literarische Artikel und Theaterkritiken in diesem Teil der Zeitung. Mit feuilleton oder rez-de-chaussée wird schon bald der untere Teil einer Zeitungsseite bezeichnet, welcher im allgemeinen ein Drittel ausmacht und durch einen Trennstrich (Feuilletonstrich) gekennzeichnet ist. Im Larousse Universel en deux volumes von 1923 findet sich dazu folgender Eintrag: „Jusque-là, les notices littéraires étaient insérées dans le corps du journal. En installant sa critique dramatique au « rez-de-chaussée » du Journal des Débats, Geoffroy attira par cette nouveauté l’attention des lecteurs. Tous les journaux voulurent avoir le leur, et la vogue du feuilleton devint telle, que le journal semblait vide le jour où il manquait (…)“
Das neue liberale Pressegesetz von 1828 sorgt für einen enormen Aufschwung im Zeitungswesen. Ab 1829 werden Romane von Balzac, Sue, Dumas, Vigny, Sand u.a. in den zweimonatlich erscheinenden Literaturzeitschriften La Revue de Paris und La Revue des Deux Mondes publiziert. Hierbei handelt es sich um Werke, welche zuvor bereits in gebundener Form erschienen sind und auch weitere Publikationskriterien des eigentlichen Feuilletonromans nur bedingt erfüllen, nämlich nur in dem Maße, dass es sich um Romane handelt, die episodenhaft in Zeitungen abgedruckt werden. Auch erscheinen sie noch nicht im Feuilletonteil, da dieser noch bis 1836 ausschließlich der Theaterkritik gewidmet bleibt. Das Kriterium der Publikationsfrequenz (tägliche Erscheinung) ist ebenfalls noch nicht erfüllt. Zudem werden die Romane nicht explizit für eine Zeitung geschrieben bzw. in einer solchen vor dem Erscheinen in Buchform veröffentlicht.[3] Autoren, die ihre Texte im bas de page veröffentlichen, werden fortan feuilletonistes genannt. Dussault und Féletz publizieren beispielsweise im Journal des Débats, Michaud und Châteaubriand im Mercure. An die Stelle der anfänglichen Kritiken treten nun immer mehr die einzelnen Kapitel eines Romans, welche in Fortsetzung erscheinen. Daher wird dem Feuilletonroman auch verschiedentlich das Synonym Fortsetzungsroman gegeben, welches ersteren jedoch per definitionem nicht hinreichend beschreibt, da es keine konkrete Aussage über das Publikationsorgan trifft. Ein Fortsetzungsroman kann unter anderem in mehreren gebundenen Bänden erscheinen oder als eigene Romanheftreihe, wie es in der Weiterentwicklung des Feuilletonromans auch geschehen ist. Es fehlt also das für den Feuilletonroman entscheidende Kriterium, im rez-de-chaussée einer Tageszeitung[4] zu erscheinen. Der Publikationsmodus ist demnach beiden gemein, jedoch nicht das Publikationsmedium. Es handelt sich hierbei um keine ein-eindeutige Zuordnung. Man kann also schlussfolgern: Jeder Feuilletonroman ist ein Fortsetzungsroman, doch nicht jeder Fortsetzungsroman ist zugleich ein Feuilletonroman.
Ab 1831 publiziert Balzac seine Romane bzw. Romanauszüge zunächst in der Presse bevor sie in gebundenen vollständigen Buchausgaben erscheinen. Damit wird ein entscheidender, wenn nicht gar der alles entscheidende, Impuls auf dem Weg zum Feuilletonroman gegeben. Von nun an ist der Leser aktueller Romanwerke auf die Zeitung angewiesen, sofern er nicht ein bis mehrere Jahre bis zur Publikation in Buchform warten möchte. Zugleich weckt das serielle Erscheinen zusätzlich die Neugier des Publikums, welches ein wachsendes Interesse an dieser neuen Publikationsform zeigt. In dem neuen Unterhaltungsmedium wittern kapitalistische Unternehmer einen profitablen Trend.
Zu Beginn der Julirevolution kostet ein Jahresabonnement der großen Pariser Tageszeitungen 80F im Jahr.[5] Die Auflagenhöhe ist verhältnismäßig niedrig (mehrere hundert bis mehrere tausend) im Vergleich zu den steigenden Auflagen nach der Einführung des Feuilletonromans. Nach der Julirevolution vollzieht sich eine Liberalisierung des Pressewesens. Die Zensur wird abgeschafft. Jeder kann von nun an eine Zeitung gründen, der die erforderliche Bürgschaftssumme aufbringen kann.
Die Geburt des Feuilletonromans
Émile de Girardin gilt als der Initiator einer preisgünstigen Tageszeitung. Ab dem 1. Juli 1836 gibt er seine neu gegründete rechtsorientierte Zeitung La Presse heraus. Der Abonnementpreis beträgt 40F im Jahr, was eine Halbierung des damalig üblichen Preises bedeutete.[6] Girardins anfänglicher Mitstreiter Armand Dutacq gibt nahezu zeitgleich sein eigenes, jedoch linksorientiertes, Tagesblatt Le Siècle heraus. Die radikale Preissenkung bleibt nicht ohne Folgen: Am Ende desselben Jahres hat La Presse bereits rund 10000 Abonnenten. Durch die beträchtliche Senkung des Verkaufspreises kann mit einem Mal ein viel größeres Publikum angesprochen werden.[7] Die anderen Zeitungen schlagen seinen Weg ein, um marktfähig zu bleiben und verdoppeln so innerhalb weniger Jahre ihre Auflagen.
Dem neuen Giradinschen Zeitungskonzept liegt eine grundkapitalistische Überlegung zugrunde: Senke ich den Verkaufspreis, so steigt die Zahl der Abonnenten. Mit steigender Abonnentenzahl interessieren sich mehr Unternehmen für eine kostenpflichtige Reklame-Anzeige in der Zeitung, da jeder Abonnent und Leser wiederum ein potentieller Kunde für andere Produkte ist. Zu Beginn der Presse à 40F beträgt der Werbeanteil bis zu einem Viertel einer Ausgabe. Meist ist die gesamte letzte Seite dafür vorgesehen. Es ist die Geburt der werbefinanzierten Presse, deren grundlegende Mechanismen sich bis heute nicht verändert haben. Der Schritt vom „traditionell politisch- räsonierenden zum geschäftlichen, gewinnorientierten Selbstverständnis von Presse“ ist gemacht. (Neuschäfer 1986, S.29)
Neue Inserenten und Abonnementen werden also benötigt, um das Unternehmen rentabel zu machen. Doch der Preis allein genügt nicht. Die Zeitung muss natürlich auch weiterhin inhaltlich interessant sein. Politische Berichterstattung und Diskussion mobilisiert keine neuen Leser. Die Veröffentlichung von Romanabschnitten im Feuilletonteil der Zeitung erweist sich als geeignetes Mittel, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen und ihn dauerhaft an eine Zeitung zu binden. Damit hat der Roman im Feuilleton von Anfang an einen klar formulierten geschäftlichen Auftrag.[8] 1836 veröffentlicht La Presse den allerersten zuvor unveröffentlichten Feuilletonroman: Balzacs La Vieille Fille (23. Oktober bis 30. November).[9] Im Jahr darauf publiziert Le Journal des Débats die Mémoires du Diable von Frédéric Soulié (September bis Dezember). Zum Ende des Jahres 1839 hat Le Siècle bereits rund 30000 Abonnenten. Die Attraktivität des Feuilletonromans besteht für den Leser in erster Linie in seinem Unterhaltungswert, für den Verleger in der Konsequenz in seiner Marktfähigkeit. Viele Lektorate entschließen sich, komplette Romane ausschließlich im rez-de-chaussée zu veröffentlichen. Wenn möglich, werden sie über Jahresgrenzen (phase de réabonnement) hinweg veröffentlicht, damit das Abonnement verlängert wird. Es entbrennt ein Konkurrenzkampf zwischen den Zeitungen um die publikumswirksamsten Autoren.[10] Das Leserinteresse wächst in einem solchen Maß an, dass der Feuilletonroman nach und nach andere Rubriken, wie Reiseberichte, Literaturkritiken oder geschichtliche Fragmente aus der Zeitung verdrängt. Im Jahre 1844 verzichten nur noch zwei der 22 Pariser Tageszeitungen bewusst auf einen Roman im Feuilleton, nämlich das offizielle Regierungsblatt Le Moniteur universel und die Gazette des tribunaux. Einschränkend ist zu bemerken, dass im besagten Jahr gerade einmal die Hälfte aller Feuilletons vom Roman okkupiert wird.[11] Die andere Hälfte bleibt weiterhin der Theater- und Musikkritik und anderen Erzähltexten vorbehalten. Selbst Gedichte und Theaterstücke werden hier abgedruckt.[12] Auch kommt es vor, dass der Publikationsrhythmus mancher Feuilletonromane zugunsten anderer Rubriken nur 3 bis 4 Folgen pro Woche beträgt, statt täglich zu erscheinen. Bei längeren Werken werden sogar künstliche Erscheinungspausen von bis zu 7 Monaten in einen fortlaufenden Roman eingefügt (wie im Falle des Comte de Monte- Christo). Der Feuilletonroman steckt gewissermaßen noch in den Kinderschuhen, die ihm aber alsbald schon zu eng werden sollen. Im Verhältnis zu seinem Alter – vor gerade einmal acht Jahren erschien der erste Roman seiner Spezies – sind sein Einfluss und seine Wirkung jedoch nicht zu unterschätzen. Alle großen Pariser Zeitungen, bis auf die besagten zwei, können über kurz oder lang nicht auf diesen enormen Publikumsmagneten verzichten, wenn sie konkurrenzfähig bleiben wollen.[13]
Verbreitungsmodi
Auch die Buchhandlungen nehmen die Mode der Zeit auf: die meisten Feuilletonromane werden von den großen Verlegern der Epoche (Paulin, Ladvicat, Souverain, Dentu, Pétion, Boulé, M. Lévy) im in-8° Format herausgebracht. Wegen des verhältnismäßig hohen Preises (7-10F) werden sie vorrangig in den cabinets de lecture gelesen, wo man sie für 10-15 Centimes vor Ort lesen bzw. für 3 Francs pro Monat ausleihen kann. Ab 1838 werden sie von Charles Charpentier im Format in-18 zum geringeren Preis von 3,50F, später 2F wiederaufgelegt. Da somit eine durchschnittliche Auflage von 25000 Exemplaren erzielt werden kann, wird dieses Format von allen anderen Verlegern übernommen. (Zahlen nach Quéffelec, S. 32)
Die Zeitungen in den Kleinstädten (journaux de province) re-editieren die Pariser Feuilletons (feuilletons parisiens). Auch ausländische Zeitungen legen die Pariser Vorlagen ihrerseits neu auf. Ab 1840 gründen sich zahlreiche Zeitungen, meist Wochenblätter, die sich der Reproduktion der Feuilletons widmen: L’Echo des feuilletons, La Revue des feuilletons, La Bibliothèque des feuilletons, L’Estaffete, L’Echo français.
In den ländlichen Gegenden finden die Feuilletonromane zunächst wenig Verbreitung. Zum Ende der Julimonarchie werden einige wenige von den Kolporteuren mitgebracht. Jedoch findet eine indirekte Verbreitung der Feuilletonromane durch Theateradaptionen statt, welche sowohl in Paris als auch in den Provinzen vor einem gemischten Publikum aufgeführt werden.
Alle großen Feuilletonromane werden als Theaterfassung in den théâtres de mélodrame gespielt: l’Ambigu-Comique, la Porte-Sait-Martin, la Gaîté, la Renaissance.
Sue und Dumas
Auf der Seite der literarischen Produktion tritt eine bedeutende Neuerung ein, nämlich der Übergang von der stückweisen Pre-Publikation eines fertigen Textes im Feuilletonteil zur Textproduktion in dem neuen Bewusstsein, später in Abschnitten veröffentlicht zu werden. Erstmals in diesem Geiste abgefasst erscheint Les Mystères de Paris von Eugène Sue (19. Juni 1842 -15. Oktober 1843 im Journal des Débats).[14] Zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn macht Sue mit diversen romans maritims[15] auf sich aufmerksam bevor er sich mit Latrémont (1837) auch dem historischen Roman zuwendet. Mit Les Mystères de Paris gelingt ihm schließlich der große Wurf, der ihm zum europaweiten Durchbruch verhilft und welcher der erfolgreichste Roman der Julimonarchie werden soll.[16] Autorenkollegen, wie Hugo, Sand, Dumas, u.v.m. loben die Mystères und finden in ihnen Inspirationen für eigene Werke. Zolas Mystères de Marseille sowie Paul Févals Les Mystères de Londres sind schon allein dem Titel nach eindeutige Allusionen auf die Sue’sche Vorlage. Sie sind aber bei weitem keine epigonalen Werke, sondern eine aufrichtige Reminiszenz an Sues chef-d’œuvre, welches übrigens auch für Dumas’ Trois Mousquetaires Modell steht. In Buchform verbreitet es sich wie ein Lauffeuer in vielen europäischen Ländern, wie Italien, Deutschland, Holland oder England. „Sue éclipse Dickens“, schreibt Lise Queffélec bezüglich der englischen Rezeption. (Queffélec, S. 16) Wie ein Komet zieht Sue seine Bahn am europäischen „Romanhimmel“ entlang. Ihm wird auch die größte Bedeutung in der zeitgenössischen deutschen Rezeption zuteil. Bis 1844 entstehen vier Übersetzungen der Mystères, innerhalb eines Jahres zwölf deutsche Übertragungen des Juif errant. Selbst die Kritik, welche von konservativ-moralistischer sowie sozialistisch-marxistischer Seite nicht ausbleibt, kann seinen Glanz nicht trüben und gereichen ihm im Gegenteil sogar zu weiter steigendem Ruhm. Figuren und Szenen aus den Mystères de Paris werden auf Tellern, Fächern, in Karikaturen, etc. reproduziert. Es sind 400 Leserbriefe als unmittelbare Reaktion auf die Mystères de Paris erhalten. Ob und in welchem Maße das Publikum tatsächlich mittelbaren Einfluss auf die inhaltliche Progression nehmen konnte, bleibt fraglich. Am 13. Februar 1844 wird eine Theateradaption auf der Porte-Saint-Martin uraufgeführt. Ein regelrechter Fanatismus beherrscht die Mystères des Eugène Sue.[17] Sein Nachfolgewerk Le Juif errant, welches ab Juni 1844 erscheint, übertrifft noch den Erfolg seines Vorgängers.
Parallel dazu erscheinen im gleichen Jahr Dumas’ Les Trois Mousquetaires im Siècle und Le Comte de Monte-Christo im Journal des Débats. Damit hat er seinem erfolgreichen Mitstreiter den entscheidenden Schlag verpasst. Ab 1845 wird Sue von Alexandre Dumas auf dem Feuilletonistenthron abgelöst. Dessen Mantel und Degen-Romane (cape et d'épées) sowie Historienromane eignen sich hervorragend als Feuilletonroman. Zusätzlich verhelfen ihm seine nicht weniger erfolgreichen Theaterstücke zu Ruhm und Ehre. Doch hinter den arrivierten Autoren stehen die großkapitalistischen Zeitungsmogule, deren Publikationsstrategie sich inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes auszahlt.[18]
Die Verleger beauftragen Schriftsteller und Schriftstellergruppen mit der rapiden Produktion von Texten nach dem Publikumsgeschmack (littérature populiste). Die Romanproduktion läuft auf Hochtouren. Die Kassen der Verleger klingeln. Das Publikum gibt sich scheinbar zügellos der neuen Unterhaltung hin. Es ist bekannt, dass Dumas nicht allein schreibt, sondern Angestellte und Kollaborateure[19] für sich arbeiten lässt, welche Recherchearbeiten in Archiven für ihn erledigen, aber auch selbst die Feder zur Hand nehmen, um erzählerische Versatzstücke herzustellen, wie sein langjähriger Mitarbeiter Auguste Maquet. Eine wahrhaftige „Romanfabrik“ entsteht.
Es ist unumstritten, dass der Roman vom Aufschwung der Presse zum Massenmedium profitiert. Doch genauer betrachtet bedingen sie sich gegenseitig. Beide stellen die Existenzvoraussetzung des jeweils anderen dar. Die Zeitung ist das Publikationsmedium für den Roman, sowie der Roman der Zeitung als indirektes Werbemedium dient, da sich über deren Abonnentenzahlen die Werbepartner rekrutieren, die seit dem Sturz des Verkaufspreises auf 40F / Jahr die essentielle Einnahmequelle darstellen.
[...]
[1] Die Jahre 1826-35 bezeichnet Queffélec als wahre Scott-Welle in Frankreich. Cooper und Scott attestiert sie eine Vorbildwirkung für die Feuilletonisten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. (Queffélec, S. 10)
[2] Alfred de Vigny (Cinq-Mars, 1826), Prosper Merimée (La chronique du règne de Charles IX, 1829), Honoré de Balzac (Les Chouans, 1829), Victor Hugo (Notre-Dame de Paris, 1831)
[3] Die Evaluation der auftragsmäßigen Autorschaft mit Bindung an inhaltliche Vorgaben und Gestaltung nach Publikumswünschen (via Leserbrief) bleibt problematisch, da hierfür gesicherte Quellen für eine Untersuchungsgrundlage fehlen.
[4] Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinen Feuilletonromane in verschiedenen Publikationsformen auch (bi-) hebdomédaire oder (bi-)mensuelle
[5] vgl. ein Büroangestellter verdiente durchschnittlich 1000-2000F im Jahr (Queffélec, S.11)
[6] Diese Quasi-Revolution geht in die Literaturgeschichte als Presse à 40F ein, von der bereits 1847 in der Feuilleton-Kritik die Rede ist. (Nettement, Bd. 1, S.2)
[7] Dazu ist anzumerken, dass der Vertrieb von Tageszeitungen in Einzelnummern erst ab den 1860er Jahren beginnt. Bis dahin ist das Jahresabonnement die einzige Möglichkeit eine Zeitung zu beziehen.
[8] Die inhaltlichen Konsequenzen einer solchen Verdinglichung von Literatur ruft schon sehr bald die ersten Kritiker auf den Plan. Vgl. Kritik S. 7
[9] Dieser wird in der Literatur allgemein als der erste Roman angesehen, dem offiziell das Prädikat ‚Feuilletonroman’ zukommt. Vgl. Conclusio, S.19
[10] „Bis in die fünfziger Jahre, wo eine Sondersteuer die erste Hochkonjunktur des Feuilletonromans bremste, galt nun die Formel: je spannender der Feuilletonroman, desto mehr Zeitungsleser, je mehr Leser, desto mehr Verbreitung, je mehr Verbreitung, desto mehr Anreiz zum Annoncieren, je mehr Annoncen und Leser, desto größer der Gewinn, und je größer der Gewinn für die Zeitung, um so mehr Konjunktur für die Feuilletonisten. So konnten die bekanntesten Feuilletonautoren ihre Schlüsselstellung im Markt auch entsprechend ausnutzen und Honorare erzielen, die für die damalige Zeit schlechthin märchenhaft waren.“ (Neuschäfer, S.16)
Dafür stehen die Feuilletonisten aber auch unter dem extremen Zeitdruck, ausgelöst durch den Erfolgszwang innerhalb des Pressewesens.
[11] Verteilung der prozentualen Romananteile im Feuilleton im Jahre 1844: Le National 22%, Journal des Débats 30%, Le Constitutionnel 53%, La Presse 62%, Le Siècle 68%. (Zahlen nach Walter 1986, S.36) Es wird deutlich, dass die politischen Zeitungen im Vergleich zu den 40F-Blättern einen entschieden geringeren Anteil ihrer rez-de-chaussée -Einheiten dem Feuilletonroman widmen. Walter spricht von einem „Minimalprogramm […], um nicht ins kommerzielle Abseits des Zeitungsmarktes zu geraten.“ (Walter 1986, S.36)
[12] La Presse publiziert im Frühjahr 1844 die Antigone des Sophokles (Walter 1986, S. 34)
[13] Während der Julimonarchie beträgt die durchschnittliche Auflagenhöhe der Zeitungen 20.000 bis maximal 30.000 Exemplare. Politische Zeitschriften wie Le National, La Quotidienne oder La Gazette de France veröffentlichen nur vereinzelt Novellen und kurze Romane, was sich in ihren vergleichsweise niedrigeren Auflagen widerspiegelt.
[14] Die erfolgreicheren Feuilletonautoren können inzwischen sehr gut von ihrer Arbeit leben. 30.000 F zahlt das Journal des Débats Sue für die Mystères. Die gleiche Summe erhält auch Dumas für seinen Comte de Monte-Christo (erschienen 1845 – 46). Für Sues Le Juif Errant zahlt ihm der Herausgeber des Constitutionnel Louis Véron 100.000 F Vorschuss. Die Investition lohnt sich: Zu Beginn des Jahres 1844 befindet sich das Blatt mit 3000 Abonnenten in einer verhältnismäßig schlechten wirtschaftlichen Lage. Nach Abdruck der Hälfte (Beginn 25. Juni) von Le Juif Errant sind es schon wieder mehr als 22.000 Leser. (Bachleitner, S.25)
[15] Kernok le Pirate, El Gitano (1830), Atar-Gull, La Salamandre (1832)
[16] Neben den Mystères de Paris zählen Le Comte de Monte-Christo und Les Mystères de Londre heute zu den drei „Klassikern“ des Feuilletonromans, wobei man nicht übersehen darf, dass alle drei noch in 80F-Blättern erscheinen. (Neuschäfer 1986, S.31) Nicht alle Zeitungen sind dem Girardinschen Beispiel fünfzigprozentigen Preissenkung gefolgt, wennschon sie am Feuilletonroman nicht mehr „vorbeikommen“.
[17] Noch bevor die Publikation der Mystères de Paris im Feuilleton abgeschlossen ist, geben die beiden Verleger Gosselin und Garnier eine Edition „ en livraisons du roman “ heraus. (Thiesse, S. 513) Eine solche Lieferung besteht aus einer großen Stahl- oder Holzvignette, die auf ein separates Blatt gedruckt ist, einem Blatt mit 16 Seiten Text im Format in-8°, welches drei bis vier Textillustrationen enthält. Die livraisons erscheinen ein bis zweimal die Woche. Während der Julimonarchie . Zur Mitte des Jahrhunderts betragen ihre Auflagen 10000 bis 40000 Exemplare. (Zahlen nach Thiesse, S.514) Wie auch der Feuilletonroman, werden die livraisons via Abonnement bezogen und erscheinen teilweise später auch in Buchform.
[18] Emile Girardins Privatvermögen beträgt bei seinem Tode rund 8 Millionen Francs, welches sich jedoch die verwaltende Bank einverleibt.
[19] Diese werden auch als dessen nègres bezeichnet, welche anonym bleiben und ein miserables Entgelt erhalten, im Gegensatz zu Dumas selbst, welcher zur Hochkonjunktur des Feuilletonromans um die Jahrhundertmitte schätzungsweise 200000F allein an Feuilletonhonoraren bezieht und dessen alleiniger Name zudem unter allen veröffentlichten Werken steht. (Neuschäfer, S. 14)
- Arbeit zitieren
- Magister Artium Philipp Zöllner (Autor:in), 2006, Die Entwicklung des französischen Feuilletonromans im 19. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125055
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