[...] Das gesteigerte Interesse der europäischen Öffentlichkeit an dieser historischen Entwicklung infolge von EU-Beitritts-verhandlungen mit der Türkei lässt dabei die Zeit der Kriege gegen das Osmanische Reich in den Mittelpunkt rücken, die mit dem Großen Türkenkrieg von 1683 ihren Höhepunkt fand. Im Folgenden soll untersucht werden, welchen Einfluss die Vorgänge des späten 17. Jahrhunderts auf das werdende Europa nahmen. Ein starkes Gewicht liegt dabei auf dem sich herauskristallisierenden Mächtegleichgewicht in Europa, das meiner Auffassung nach wichtige Leitlinien für eine Stabilisierung des Kontinents vorgegeben und damit Grundlagen für dessen spätere Einigung geschaffen hat. Somit soll an die aktuelle Forschungstendenz angeknüpft werden, welche als Folge zunehmenden europäischen Denkens damit begonnen hat, die Wirkung historischer Ereignisse und Prozesse unabhängig von nationalen Grenzen zu analysieren. Die staatliche Entwicklung einzelner Länder findet ebenso ihre Berücksichtigung wie der Wandel außenpolitischen Verhaltens von Angehörigen der Heiligen Liga, deren Entstehung 1684 einer permanenten Bedrohung durch das Osmanische Reich geschuldet war. Da die Abwehr dieser Gefahr auch als christliche Gemeinschaftsarbeit gesehen werden sollte, spielt darüber hinaus die sich wandelnde Bedeutung konfessioneller Zugehörigkeit in der Politik eine Rolle. Um einen Überblick über die Liga zu geben, wird einleitend auf deren Ziele und Inhalte eingegangen, damit von dem Grundgerüst die Analyse anderer Teilgebiete erfolgen kann. Der Aufbau der Arbeit wird somit eher systematisch als chronologisch sein. Weil die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei zu Europa aktuell umstritten ist, finden Wandlungsprozesse des Osmanischen Reiches keine Berücksichtigung und auch die Sicht auf Frankreich wird nur in dem Rahmen möglich sein, den die Frage nach der europäischen Einigung ihr erlässt, auch wenn die Eröffnung der zweiten Kriegsfront durch Ludwig XIV. in Verbindung mit den Verwicklungen in Südosteuropa steht und damit ebenso thematisiert wird. Unter diesen Voraussetzungen soll nun erörtert werden, ob der mit einer osmanischen Belagerung Wiens beginnende Türkenkrieg tatsächlich die Einigung Europas beeinflusst hat.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Ziele, Inhalte und Charakter des Bündnisses
3 Außenpolitische Betrachtung
3.1 Die Verwirklichung des Mächtegleichgewichts
3.2 Die Neugestaltung und Professionalisierung diplomatischer Vorgehensweisen
4 Betrachtung von Staatsbildungsprozessen
4.1 Die Entwicklung Österreichs, Brandenburgs und Sachsens
4.2 Die Entwicklung Polens
5 Konfessionelle Betrachtung
6 Zusammenfassung
7 Bibliographie
1 Einleitung
Als der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan am 10. Februar 2008 in Köln vor türkischstämmigem Publikum verkündete, dass ,,von hier aus die Botschaft von Brüderlichkeit, Freundschaft, Solidarität und Frieden nach ganz Europa […] übermittelt’’ werde, sprach er eine Grundtendenz der türkisch-europäischen Beziehungen an, die noch im 17. Jahrhundert in eine ganz andere Richtung verlief. Das gesteigerte Interesse der europäischen Öffentlichkeit an dieser historischen Entwicklung infolge von EU-Beitritts-verhandlungen mit der Türkei lässt dabei die Zeit der Kriege gegen das Osmanische Reich in den Mittelpunkt rücken, die mit dem Großen Türkenkrieg von 1683 ihren Höhepunkt fand.
Im Folgenden soll untersucht werden, welchen Einfluss die Vorgänge des späten 17. Jahrhunderts auf das werdende Europa nahmen. Ein starkes Gewicht liegt dabei auf dem sich herauskristallisierenden Mächtegleichgewicht in Europa, das meiner Auffassung nach wichtige Leitlinien für eine Stabilisierung des Kontinents vorgegeben und damit Grundlagen für dessen spätere Einigung geschaffen hat. Somit soll an die aktuelle Forschungstendenz angeknüpft werden, welche als Folge zunehmenden europäischen Denkens damit begonnen hat, die Wirkung historischer Ereignisse und Prozesse unabhängig von nationalen Grenzen zu analysieren. Die staatliche Entwicklung einzelner Länder findet ebenso ihre Berücksichtigung wie der Wandel außenpolitischen Verhaltens von Angehörigen der Heiligen Liga, deren Entstehung 1684 einer permanenten Bedrohung durch das Osmanische Reich geschuldet war. Da die Abwehr dieser Gefahr auch als christliche Gemeinschaftsarbeit gesehen werden sollte, spielt darüber hinaus die sich wandelnde Bedeutung konfessioneller Zugehörigkeit in der Politik eine Rolle. Um einen Überblick über die Liga zu geben, wird einleitend auf deren Ziele und Inhalte eingegangen, damit von dem Grundgerüst die Analyse anderer Teilgebiete erfolgen kann. Der Aufbau der Arbeit wird somit eher systematisch als chronologisch sein.
Weil die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei zu Europa aktuell umstritten ist, finden Wandlungsprozesse des Osmanischen Reiches keine Berücksichtigung und auch die Sicht auf Frankreich wird nur in dem Rahmen möglich sein, den die Frage nach der europäischen Einigung ihr erlässt, auch wenn die Eröffnung der zweiten Kriegsfront durch Ludwig XIV. in Verbindung mit den Verwicklungen in Südosteuropa steht und damit ebenso thematisiert wird. Unter diesen Voraussetzungen soll nun erörtert werden, ob der mit einer osmanischen Belagerung Wiens beginnende Türkenkrieg tatsächlich die Einigung Europas beeinflusst hat.
2 Ziele, Inhalte und Charakter des Bündnisses
Die Aufhebung dieser Belagerung Wiens im Jahre 1683 durch ein gemeinsames kaiserlich-polnisches Heer hat wie kein anderes Ereignis ähnlicher Art einen Stein ins Rollen gebracht, der die zwischenstaatlichen Beziehungen europäischer Mächte in den folgenden 20 Jahren und darüber hinaus nachhaltig verändern sollte. So ist der Vertrag zwischen Kaiser, Polen und Venedig, der im darauf folgenden Jahr die Heilige Liga entstehen ließ, als eine direkte Folge der sich in Europa ausbreitenden Siegesgewissheit zu sehen.
Mit dem Primärziel, die Osmanen vom Balkan zu vertreiben, erscheint dieses ungleiche Bündnis zunächst zwar als reine Zweckgemeinschaft, die noch dazu aufgrund unterschiedlicher Interessen[1] der jeweiligen Protagonisten nur für die Dauer des Krieges und der äußeren Bedrohung konzipiert war. Bei der Betrachtung weiterer Anliegen der Vertragspartner wird allerdings ersichtlich, dass diese mit ihrem außenpolitischen Handeln bereits eine ziemlich europäische Zielsetzung verfolgten, die beispielsweise durch den Wunsch nach einer Wiedervereinigung Ungarns sowie einem Gleichgewicht der christlichen Mächte auf eine Stabilisierung des Kontinents bedacht war.
Dieser Eindruck verfestigt sich durch eine inhaltliche Begutachtung des 14 Punkte umfassenden Vertrags: Einerseits wird an die Verbündeten die Forderung gestellt, nur bis zum Ende des laufenden Krieges in offensiver Ausrichtung vereint zu bleiben, was nicht gerade die Vermutung einer langfristigen Planung aufkommen lässt – während andererseits die Verpflichtung zum Beistand gegen jeden türkischen Angriff auf ewige Zeit als das Gegenteil dessen gewertet werden kann.[2] Deshalb liegt es nahe, dass die Heilige Liga in der Funktion als Offensivbündnis kein zukunftsweisendes Projekt für eine europäische Gesamtordnung war, sondern lediglich in der Funktion als Defensivbündnis, und dort auch nur solange ein reelles oder zumindest potenzielles Feindbild existierte. Was die Geschlossenheit der Vertragspartner und die Stabilität des Bündnisses anbelangt, wurde allerdings mit dem Verzicht auf Sonderfriedensschlüsse sowie dem strikten Verbot einer Ausrichtung der Liga gegen andere Feinde als dem Osmanischen Reich eine Lösung gefunden, die ausgesprochen fortschrittlich war. So konnte verhindert werden, dass die Liga von einzelnen Beteiligten für die Bereinigung außenpolitischer Konflikte missbraucht wurde.
Wie bereits erwähnt, ist die Heilige Liga von ihrem Charakter her in erster Linie als ein Zweckbündnis zu sehen, dessen Zustandekommen hauptsächlich der Abwehr eines gemeinsamen Feindes geschuldet war. Dies wird u. a. an einer der Vertragsbestimmungen deutlich, die voneinander getrennte Militäroperationen der einzelnen Bündnispartner auf ihren jeweiligen Interessengebieten vorschrieb, wodurch ein Streit um die Marschrouten vorprogrammiert war. Auffällig ist, dass die Liga dennoch über die Jahre ihres Wirkens den Eindruck eines durchaus geschlossenen Auftretens wecken konnte. Das lässt sich mit der Abhängigkeit der Beteiligten von Papst Innozenz XI. begründen, der den Zusammenhalt der Liga durch den Einsatz seiner finanziellen und diplomatischen Ressourcen ermöglichte und dem darüber hinaus als deren Protektor und Bürgen eine führende Rolle zugedacht war. Durch diese Bindung der partizipierenden Mächte an eine überstaatliche Instanz war die Eingliederung in ein zentrales System gewährleistet, welches einzelnen unter ihnen nicht ermöglichte, aufgrund einer herausragenden Stellung als Garantiemacht bestimmte Punkte des Vertrages so umzudeuten, dass dadurch eine größere Machtfülle erreicht wurde. Somit waren die Vertragsunterzeichner automatisch gezwungen, eigene Interessen notfalls in den Hintergrund zu stellen, wie am Beispiel Polens ersichtlich wird.[3]
3 Außenpolitische Betrachtung
3.1 Die Verwirklichung des Mächtegleichgewichts
Ein wichtiges Grundanliegen der päpstlichen Politik unter dem Eindruck der türkischen Bedrohung war die Erschaffung eines europäischen Mächtegleichgewichts, was angesichts der starken und dominanten Stellung Frankreichs gegenüber der verhältnismäßig defensiven und zurückhaltenden Position der Habsburger vor Beginn des Großen Türkenkrieges einer Illusion glich.[4] Für eine Umkehr dieser Konstellation sorgte Ludwig XIV. selbst, indem er einerseits mit der Besetzung Luxemburgs die anderen europäischen Herrscherhäuser gegen sich aufbrachte und andererseits sein Land mit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg in eine Lage manövrierte, die das vorläufige Ende der bourbonischen Expansion bedeutete, da Frankreich am Ende des Krieges erstmals mit geringen Gebietsgewinnen ausging. Im größeren Kontext aber hatte der Krieg der Großen Koalition gegen Ludwig eine weitaus schwerwiegendere Bedeutung, da in ihm die Balancetheorie Wilhelms von Oranien zum ersten Mal in die Praxis umgesetzt werden konnte. Diese ,,basierte auf der Vorstellung, dass das […] Übergewicht einer Macht […] bei den übrigen Staaten einen Automatismus in Gang setzen müsse, einer solchen Gefahr […] entgegenzutreten.’’[5] Somit konnte durch die Schaffung einer flexiblen und anpassungsfähigen Auffassung von Bündnispolitik der Westfälische Frieden durch eine stabile Komponente erweitert werden, die dazu der Weiterentwicklung zwischenstaatlicher Beziehungen in Europa zugute kam. Wenn diese Entwicklung auch das direkte Ergebnis des antifranzösischen Widerstandes war und nicht das des antiosmanischen, so muss sie doch in dem Rahmen gesehen werden, den der Türkenkrieg ihr schuf. Als ,,eine Folge von Entwicklungen im Südosten Europas, die bei aller Eigendynamik doch mit den Auseinandersetzungen in Westeuropa in einem Wirkungszusammenhang standen’’[6] bezeichnet z. B. Rudolf Vierhaus die kriegerische Auseinandersetzung der Großen Allianz mit Ludwig XIV. und bezieht sich damit offensichtlich auf die Einnahme Belgrads durch kaiserliche Truppen, was Friedensangebote seitens der Hohen Pforte und damit für Frankreich eine Gefahr für das erfolgreiche Zusammenspiel mit den Osmanen nach sich zog.
[...]
[1] Die Ziele beispielsweise des Papstes gingen im Vergleich zu denen des Kaisers wesentlich weiter und sahen eine universale christliche Herrschaftsordnung auf dem Balkan vor, in der Leopold mit Ungarn, Polen mit der Wallachei sowie Moldawien und Venedig mit Slawonien, dem osmanischen Teil Kroatiens, Bosnien, Epirus, Dalmatien und Albanien für ihr christliches Engagement belohnt werden sollten. Außerdem sah die Planung des Papstes vor, den Bourbonen Philipp von Anjou als oströmischen Kaiser auf den byzantinischen Thron zu heben. Vgl.: Otto Forst de Battaglia: Jan Sobieski. Köln 1982, S. 214.
[2] Zu den wichtigsten Vertragspunkten vgl.: Ebd., S. 216.
[3] Obwohl sich Polenkönig Jan Sobieski vom Krieg gegen die Türken die Verwirklichung des Anspruches auf die ungarische Krone und Siebenbürgen erhoffte und gleichzeitig befürchtete, dass Kaiser Leopold ihm die Aussicht auf Etablierung einer erblichen Monarchengewalt im Lande nehmen wolle, hielt er am Bündnis fest.
Vgl.: de Battaglia: Jan Sobieski, S. 239.
[4] Fast alle der größeren Territorialfürsten waren nach 1678 vertraglich an Ludwig XIV. gebunden und der Ostteil des Reiches wurde seit den 1670er Jahren durch Aufstände der Kuruzzen erschüttert, die damit ihren Unmut über die absolutistischen Katholisierungs- und Zentralisierungsversuche seitens des Wiener Hofes kundtaten.
Vgl.: Ivan Parvev: Habsburgs and Ottomans between Vienna and Belgrade (1683-1739). New York 1995, S. 24.
[5] Vgl.: Heinz Duchhardt: Altes Reich und europäische Staatenwelt: 1648 – 1806. München 1990, S.23.
[6] Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648 – 1763). Bd.6. Göttingen 1984, S. 161.
- Citation du texte
- Christoph Strauch (Auteur), 2008, Der Große Türkenkrieg als Wegweiser der europäischen Einigung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124913
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