Diese Arbeit setzt sich mit der gegenhegemonialen Wirkung des 1992 in der Frühjahrs- und Sommerkampagne Benettons veröffentlichten Fotos des an AIDS sterbenden David Kirby auseinander. Untersucht wird mithilfe der demokratietheoretischen Überlegungen Chantal Mouffes, ob diese Veröffentlichung als Teil einer gegenhegemonialen Intervention gewertet werden kann – Eine Sache, die Benetton immer wieder betonte.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich dazu in zwei große Teile: (A) einen theoretischen und (B) einen analytischen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Verortungen und begriffliche Auseinandersetzungen
2.1. Grundlagen der Mouffe‘schen Demokratietheorie
2.2. Zur kritischen Rolle künstlerischer Praxen
3. United Colors: AIDS als Gegenstand der Benetton-Werbekampagne
3.1. The Face of AIDS: Kontextualisierung eines Fotos und sozialen Problems
3.2. Das Kirby-Foto als Teil der Benetton-Werbung: Persistenz der Kritik?
4. Zusammenfassung der Ergebnisse, Ausblick und Fazit
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Eidesstattliche Versicherung
An Eides statt versichere ich, dass diese Arbeit von mir selbst und ohne jede unerlaubte Hilfe angefertigt wurde. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken und Quellen, auch Internetquellen, dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen sind, habe ich in jedem einzelnen Fall als Entlehnung kenntlich gemacht.
Monheim am Rhein, den 28.02.2022
Dominik Evcimen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das Kirby-Foto von Therese Frare, 1990
Abbildung 2: Die Benetton-Werbung mit David Kirby, 1992
1. Einleitung
1989 rief der italienische Bekleidungshersteller Benetton unter der kreativen Leitung des Fotografen Oliviero Toscani die Werbekampagne United Colors ins Leben.1 Damit begründete die Modefirma eine eher unorthodoxe Art des Werbens: Wo einst die angebotenen, bunten Kleidungsstücke präsentiert wurden, zierten nunmehr kunterbunte Farbfotografien von Menschen verschiedener Herkunft, Religion oder Hautfarbe die Werbeplakate des Unternehmens.2 Kommunikation statt Produktmarketing lautete die Devise dieses Ansatzes: Nach Toscani solle sich Werbung nicht nur auf das Bewerben von Produkten konzentrieren, sondern die dafür aufgebrachten Summen lieber für größere Dinge genutzt werden.3 Unternehmen seien Akteure, die ebenso ein Recht auf Meinungsäußerung haben; sich nur auf die klassische Bewerbung von Produkten zu konzentrieren sei amoralisch, so der Fotograf in einem Interview mit der New York Times.4
Besonders markant tritt dieses von Toscani postulierte Recht mit Blick auf die Frühjahrs- und Sommerkampagne 1992 hervor: Die Plakate stützen sich zum ersten Mal in der Geschichte von United Colors gänzlich auf fotojournalistische, nicht explizit für Werbezwecke entstandene, Werke.5 Dazu gehört auch die Werbung AIDS: A Modern Day Pietà, eine kolorierte Version des 1990 von Therese Frare in den USA geschossenen und sodann im LIFE Magazine unter dem Titel The Face of AIDS veröffentlichen Fotos (vgl. Abb. 1). Es zeigt den Anfang 30-jährigen AIDS-Kranken David Kirby im Kreis seiner Eltern sowie seiner Cousine kurz vor seinem Tod in einem Hospiz. Die Mutter hält ihre Nichte tröstend im Arm, während beide auf den Versterbenden blicken. Mit geschlossenen Augen lehnt der Vater seinen Kopf an den des Sohnes, umklammert ihn.
David Kirby liegt in seinem Krankenbett, er wirkt abwesend und starrt ins Leere; seine Arme sind dünn, sein Gesicht eingefallen. Als Werbung wird das Beschriebene einzig durch den Schriftzug der genannten Kampagne ergänzt: United Colors of Benetton steht in einem grünen Kasten am unteren rechten Bildrand geschrieben (vgl. Abb. 2).
Mit der Verwendung dieses Fotos löste das Unternehmen eine große Kontroverse innerhalb der westlichen Demokratien, vor allem in den USA und in Europa, aus. Der Tonus der Vorwürfe: Toscani und Benetton nutzten das Schicksal Kirbys sowie das damit verbundene Leid für Profitzwecke aus. Dem widersprach jedoch nicht nur Toscani mit seiner oben genannten Rahmung von Unternehmen als meinungsbildende Akteure. Auch die Eltern Kirbys, die Benetton die Nutzung des Fotos gestatteten, stellten sich gegen die Vorwürfe: Man wurde nicht ausgenutzt, sondern habe die Reichweite des Unternehmens genutzt, um die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem zu lenken.6
Die sich aus diesem Sachverhalt ergebende wissenschaftliche Fragestellung lautet, ob die angesprochene Werbung aus einer demokratietheoretischen Perspektive als eine kritische Praxis bezeichnet werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage stützt sich die vorliegende Arbeit auf die demokratietheoretischen Überlegungen Chantal Mouffes. Dabei wird in einem ersten Schritt das theoretische Demokratiedenken der belgischen Politologin dargestellt, ehe der Begriff der kritischen Kunst erarbeitet und innerhalb dieses Denkens verortet wird. Aufbauend auf diesen theoretischen Ausführungen widmet sich das dritte Kapitel anschließend der genannten Werbung des Unternehmens. Hierzu wird in einem ersten Schritt die kritische Komponente des von Frare geschossenen Fotos herausgearbeitet. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse wird sodann kritisch diskutiert, ob die angesprochene Werbung im Sinne Mouffes als eine kritische Praxis gewertet werden kann. Ein resümierendes und ausblickendes Fazit bildet den Abschluss der Arbeit.
Der Umfang der wissenschaftlichen Literatur zur genannten Fragestellung ist vor allem hinsichtlich des theoretischen Teils als reichhaltig zu bezeichnen. Auch die genannte Werbepraxis ist Gegenstand zahlreicher Publikationen, vor allem aus den Reihen der Kommunikations- und Werbewissenschaft. Wenngleich der Ansatz von United Colors in diesem Kontext mitunter auch soziologisch betrachtet wurde, liegen jedoch noch keine explizit demokratietheoretisch fundierten Auseinandersetzungen mit der genannten Werbung und Werbepraxis vor. Diesem Umstand begegnet die vorliegende Arbeit mit einem ebensolchen Versuch; sie setzt sich dabei sowohl mit Primär- sowie Sekundärliteratur aus den genannten Bereichen auseinander, um der Fragestellung adäquat zu begegnen.
2. Theoretische Verortungen und begriffliche Auseinandersetzungen
2.1. Grundlagen der Mouffe‘schen Demokratietheorie
Eine fundierte Auseinandersetzung mit der genannten Fragestellung bedarf zunächst einer Darstellung des theoretischen Demokratieverständnisses Mouffes. Die hieraus erarbeiteten Begriffe sollen der vorliegenden Arbeit als grundlegender argumentativer Bezugsrahmen dienen.
In The Return of the Political bezeichnet Mouffe ihr theoretisches Bestreben als „[…] project of a ‘radical and plural democracy’ […].”7 Die moderne liberale Demokratie begreift sie als „[…] Regierungsform […], [als] eine politische Gesellschaftsform, die ausschließlich auf der Ebene des Politischen definiert ist […].“8 Somit sollte danach gefragt werden, was Mouffe mit dem Begriff des Politischen zum Ausdruck bringen möchte und was den pluralistischen sowie radikalen Charakter der modernen liberalen Demokratie formt.
Dem Begriff des Politischen nähert sich Mouffe mittels Anlehnung an den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt.9 Vordergründing hierbei ist eine grundlegende, konzeptionelle Kritik am Liberalismus; dieser könne, so Mouffe, die grundlegende Natur des Sozialen nicht fassen: „The methodological individualism which characterizes liberal thought precludes understanding the nature of collective ideas.“10 Den Kern der Schmitt’schen Perspektive auf Gesellschaft sieht Mouffe darin, dass dieser das Politische als Unterscheidung zwischen Freund und Feind, als Antagonismus, begreift.11 Die Identität des Wir ist bei Schmitt stets das Resultat kollektiver Praxen in Form von Abgrenzung(en) gegenüber einer angebbaren Gruppe außenstehender Anderer, dem Die.12 Die Identität einer Gesellschaft oder Gruppe ist bei Schmitt folglich ein Produkt des Ausschlusses sowie einer dahingehenden Benennung unvereinbarer und unüberbrückbarer Differenz(en) und Andersartigkeit(en).13
Schmitts Überlegungen sind bei Mouffe in zweierlei Hinsicht präsent: Einerseits übernimmt sie mit dem Begriff des Politischen seine konfliktuelle und liberalismuskritische Perspektive auf das Soziale, indem sie die Idee eines vollständig inklusiven, rationalen Konsenses zwischen verschiedenen Perspektiven und Werten ablehnt.14 Andererseits wohnt dieser Anlehnung insofern ein grundlegender Konflikt inne, als dass Schmitt von einem homogenen Demos ausging; sein Bestreben war keine liberaldemokratische Ordnung.15 Für die belgische Politologin ergibt sich daraus die konzeptionelle Notwendigkeit, die von Schmitt übernommenen Aspekte konform ihres Projekts (s.o.) einzubetten.16 Abgrenzend zu Schmitt erweitert sie daher die Kritik am liberalen Individualismus und Rationalismus um den Aspekt des Pluralismus; er stellt für sie das konstitutive Element der modernen Demokratie dar.17
Hier knüpft Mouffe an den französischen Philosophen Claude Lefort und seine Definition der modernen demokratischen Gesellschaft an: „[…] a society in which power, law and knowledge are exposed to a radical indetermination […].“18 Für Lefort sind die Identität(en) (innerhalb) einer demokratischen Gesellschaft, ihrer Bürger:innen sowie die Legitimation ihrer Ordnung nicht länger endgültig fixiert, sondern bedürfen stetiger Aushandlungsprozesse.19 Der Macht kommt in diesem Kontext eine besondere Rolle zu, da sich aus ihr die Identität sowie die Legitimität einer Ordnung speisen; Lefort formuliert dazu: „[…] the status of power […] is the agency of legitimacy and identity.”20
Dieser konstruktivistischen Perspektive bedient sich Mouffe, indem sie die Moderne mit der Postmoderne verknüpft: Da das Kennzeichen der Moderne die Auflösung finaler Sicherheiten sei, schlussfolgert sie für die Postmoderne, dass keine endgültigen Ordnungsfixierungen bestehen.21 Mit ihrem Begriff des Politischen bringt Mouffe somit die stets machtbezogene und konfliktuelle Komponente als Postulat des Sozialen zum Ausdruck: „[…] the social could not exist without the power relations through which it is given shape.”22 Sodann ergibt sich aus diesen, für das Soziale als notwendig und konstitutiv gedachten, Aspekten der Macht und des Konflikts der für Mouffe stets politische Charakter einer jeden Ordnung: „[…] every order is political and based on some form of exclusion. There are always other possibilities that have been repressed and that can be reactivated.”23 Ordnungen sind für Mouffe somit niemals vollständig inklusiv und definit, sondern stets momentan; dieses temporäre Ordnungsmoment bezeichnet sie als Hegemonie.24
Zentral ist an dieser Stelle, dass Hegemonien demnach durch gegenhegemoniale Praxen kontestierbar und somit umform- beziehungsweise ersetzbar sind; der vorgenannte Gedanke der Nichtfixierung ist somit deutlich im Hegemoniebegriff verankert.25 Innerhalb Mouffes Theorie ergibt sich folglich eine interdependente Wirkungsbeziehung zwischen (a) der Hegemonie als Ordnungsmoment auf der einen und (b) der Kontingenz als Konfliktmoment auf der anderen Seite. Nach Mouffe formt sich eine Hegemonie erst durch eine konfliktuelle Aushandlung, wobei sich diese Aushandlung stets auf eine bestehende Hegemonie bezieht. Darin zeigt sich abermals die Konzentration auf Differenz, der sich, so Mouffe, ein radikaldemokratisches Projekt verschreiben müsse.26 Für die Belgierin kommt ein Projekt der Demokratisierung nicht ohne die Erfassung hegemonialer Strukturen sowie der sie konstituierenden Machtbeziehungen aus.27
Wie vorgenannt, geht Mouffe durch Anknüpfungen an Schmitt und Lefort von einer differenzgebundenen Identitätskonstruktion aus. Soziale Beziehungen denkt Mouffe dabei jedoch nicht als stets antagonistisch, differente Identität nicht als prinzipiell feindlich; entscheidend ist für sie, dass das Politische die stetige Möglichkeit der Bildung eines solchen Antagonismus bedeutet.28 Insofern rekontextualisiert Mouffe diesen von Schmitt übernommenen Begriff und das ihm inhärente Moment des konstitutiven Außen (s.o.).29 Der Antagonismus stellt bei Mouffe nicht länger die einzige Möglichkeit der Identitätsbildung dar, sondern markiert vielmehr die Grenzen einer liberalen und pluralistischen Demokratie: Ein Konflikt ist nicht länger demokratisch, wenn er eine antagonistische Form annimmt.30 Die der Demokratie zuträglichen Konflikte subsumiert Mouffe unter dem Begriff des Agonismus: Da der Antagonismus nicht auszuradieren sei, müsse die konfliktuelle Beziehung zwischen Akteur:innen zwecks Aufrechterhaltung der modernen liberalen Demokratie gebändigt werden, so die Belgierin.31 Demokratischer Konflikt sei erst dann erreicht, wenn konfligierende Akteur:innen trotz ihrer Differenzen und der bestehenden Unmöglichkeit eines rationalen Konsenses ihre(n) Gegenüber als legitime(n) Gegner:in begreifen.32
Hieraus leitet Mouffe sodann die Verantwortlichkeiten demokratischer Politik ab: Ihre Kernaufgabe bestehe darin, das Politische zu domestizieren, antagonistische Mouffe spricht hier von einem „[…] common symbolic space […]“ (ebd.), geformt durch einen „[…] ‘conflictual consensus’ […]“ (ebd., S. 52), bestehend aus Anerkennung der ethisch-politischen Werten Freiheit und Gleichheit (vgl. ebd., S. 121). Feind:innen würden zu legitimen Gegner:innen, indem und wenn sie sich diesen Grundwerten verschreiben (vgl. ebd.).
Konflikte in agonistische umzuformen.33 Dafür erfordere es, „[…] die Spuren von Macht und Ausschluss […] in den Vordergrund zu rücken, sie sichtbar zu machen, sodass sie herausgefordert werden können.“34 Diesen Prozess begreift Mouffe als immerwährend; er ist Ausdruck eines demokratischen Gemeinwesens und Kern dessen, was sie als das Politische begreift.35 Entsprechend findet sich in diesem Schaffen der radikale Charakter ihres agonistischen Demokratiedenkens wieder: „[…] a profound transformation of the existing power relations and the establishment of a new hegemony.“36
2.2. Zur kritischen Rolle künstlerischer Praxen
Im vorigen Kapitel wurde für das Politische in einem radikaldemokratischen Sinne nach Mouffe festgehalten, dass bestehende Ordnungen und Subjektpositionen stetigen Prozessen der Aushandlung, Herausforderung und Konflikthaftigkeit ausgesetzt sind. In Anbetracht der Fragestellung dieser Arbeit soll nun in einem zweiten Schritt herausgearbeitet werden, welche Funktionen künstlerische Praxen bei solchen Prozessen übernehmen können, und was ihren kritischen Charakter formt.
Das Politische und die Kunst setzt Mouffe in einen besonderen Bezug zueinander; sie schreibt dazu: „[…] ich betrachte Kunst und Politik nicht als zwei voneinander unabhängig konstituierte Bereiche […]. Das Politische hat eine ästhetische Dimension und die Kunst eine politische.“37 Innerhalb des Kontextes der radikalen Demokratie ergeben sich somit zwei Wirkungsweisen künstlerischer Praxen: Sie tragen entweder (a) zum Ent- beziehungsweise Bestehen oder (b) zu einer Kontestation beziehungsweise Infragestellung einer bestehenden Ordnung bei.38 Diese Differenzierung bietet die Möglichkeit, Aussagen über die Rolle und Funktionen kritischer künstlerischer Praxen zu treffen.
Mouffe stellt eine eindeutige Definition der kritischen Kunst bereit: „[…] critical art is art that foments dissensus, that makes visible what the dominant consensus tends to obscure and obliterate.“39 Folglich liegt das Kernmoment kritischer Kunst darin, einen Beitrag zu einer kritischen Auseinandersetzung oder Positionierung gegenüber dem Bestehenden zu leisten, diese anzustoßen oder zu forcieren.40 Künstlerische Praxen sind demnach Teil einer gegenhegemonialen Intervention, wenn sie die exkludierenden Momente der geltenden Ordnung aufzeigen und somit zu einer „[…] Destabilisierung der vorherrschenden Hegemonie beitragen […]“.41 Folglich stellen sowohl (a) die Anknüpfung an das Bestehende sowie (b) die (Möglichkeit zur) Kontestation dessen (vgl. Kap. 2.1) für Mouffe konstitutive Elemente der kritischen Kunst dar; sie schreibt dazu:
„It [kritische Kunst, Anm. d. Verf.] is constituted by a manifold of artistic practices aiming at giving voices to all those who are silenced within the framework of the existing hegemony.”42 Für Mouffe stellt die kritische Kunst somit eine konkrete Praxis dar, durch, über und mithilfe derer mit einer Hegemonie zu brechen versucht wird beziehungsweise werden kann.43
Mittels dieser theoretischen Rahmung soll nun die bereits in der Einleitung angesprochene Werbung Benettons Gegenstand der Auseinandersetzung sein. In einem ersten Schritt soll diesbezüglich das kritische Moment der dort verwendeten Fotografie herausgestellt werden.
3. United Colors: AIDS als Gegenstand der Benetton-Werbekampagne
3.1. The Face of AIDS: Kontextualisierung eines Fotos und sozialen Problems
Einen Zugang zum kritischen Moment des Kirby-Fotos bietet eine Betrachtung der Rolle Frares im Kontext des Abgebildeten. Dass die Fotografin in einem so privaten und intimen Moment zugegen war, verwundert zunächst; doch war es der AIDS-Aktivist Kirby selbst, der ihr erlaubte, diesen finalen Moment seines Lebens fotografisch festzuhalten.44 In Kapitel 2.2 wurde herausgestellt, dass Kunst für Mouffe stets eine politische Dimension besitzt, weil sie auf und innerhalb des Politischen wirkt. Dieser Dimension verleiht auch der Soziologie und Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz Nachdruck; mit Blick auf das von Frare geschossene, im LIFE Magazine veröffentlichte Foto formuliert er: „Gewiß wollte […] Therese Frare werben, […] ihr Anliegen war […], für die Unterstützung und (Wieder-)Aufnahme der Aids-Kranken in die Familie und die Gesellschaft zu plädieren.“45 Eine hieraus abgeleitete These lautet, dass das Foto nur dann als kritische Kunst gewertet werden kann, wenn der abgebildete familiäre und innige Moment des Abschieds in einem kritischen Verhältnis zur bestehenden Ordnung steht.
Abb. 1: Das Kirby-Foto von Therese Frare, 1990. Quelle: World Press Photo: 1991 Photo Contest General News. Singles, 2nd Prize, 01. Mai 1990.
Ein Blick46 auf die gesellschaftlichen Dynamiken von AIDS innerhalb der USA (bis) zu Beginn der 1990er-Jahre bietet eine Möglichkeit, das kritische Moment des von Frare geschossenen Fotos näher zu fassen. Im Juni 1981 publizierte die amerikanische Gesundheitsbehörde den ersten Bericht über eine neuartige und unbekannte Krankheit, von der vor allem junge homosexuelle Männer betroffen waren.47 Bis zur Entdeckung des Virusstamms Ende 1982 sprach man daher offiziell von Gay-Related Immune Disease; zudem bürgerten sich Bezeichnungen wie Gay Disease oder Gay Plague ein.48 Deutlich sticht hier eine sexualitätsspezifische Rahmung der Krankheit hervor; diesbezüglich begreift der Medizinhistoriker Charles E. Rosenberg die AIDS-Epidemie in einer sozialkonstruktivistischen Perspektive: Für ihn forcierte die genannte Rahmung der Krankheit die gesellschaftliche Exklusion der Betroffenen49 sowie ihrer Anliegen.50 Als ein zentrales Element, beziehungsweise Instrument, benennt Rosenberg hierbei die Beschuldigung: Mittels der Bezugnahme auf die Sexualität wurde den Infizierten unmoralisches Verhalten unterstellt, Opfer somit zu Täter:innen stilisiert. 51 In ihrer soziologischen Betrachtung der Epidemie führen Eric K. Glunt und Gregory M. Herek eindrückliche Beispiele an, die die von Rosenberg genannte Exklusionsdynamik untermauern: Hinsichtlich HIV und AIDS zeichneten sich nicht etwa unmittelbare, gesamtgesellschaftliche Solidarisierungseffekte und -prozesse ab, sondern es kam stattdessen oftmals zu Abgrenzung(en) gegenüber, Angst vor sowie zur Meidung und Verstoßung von Erkrankten und besonders vulnerablen Gruppen.52 Der Historiker Christopher Capozzola stellt eine, durchaus kritisch zu lesende, Konsequenz dieser heraus: Aus Angst vor Diffamierung(en) sowie Distanzierung(en), Über- und Angriffen verheimlichten manche Betroffene ihre HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung.53 Die genannten Aspekte weisen somit eindrücklich auf eine machtdurchzogene Dimension von HIV und AIDS sowie auf den stigmatisierenden Charakter der damaligen Ordnung hin. Bis Ende 1990 forderte die Krankheit in den USA über 100.000 Menschenleben, darunter noch immer vor allem marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Homosexuelle (59%) und Afroamerikaner:innen; 31% dieser Todesfälle wurden allein im Jahr 1990 selbst verzeichnet.54 Zum Entstehungszeitpunkt des genannten Fotos steckten die USA somit inmitten einer Gesundheitskrise, die, mit Blick auf die soeben genannten Aspekte, im Sinne Mouffes als eine politische Krise bezeichnet werden kann (vgl. Kap. 2.1).
Zu Beginn des zweiten Kapitels wurde herausgestellt, dass Mouffe das Politische konfliktuell begreift: Bestehende Ordnungen sind niemals final und somit stets heraus- forder- und umformbar. In Rückbezug auf den von Mouffe entwickelten Hegemoniebegriff erweist sich alsdann eine Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Problemen als hilfreich, um die kritische Funktion des Kirby-Fotos im skizzierten Kontext zu spezifizieren:
„Whether social problems emerge as issues of social justice or social order, they are usually asso- ciated with the idea that ‘something must be done’. Social problems represent conditions that should not be allowed to continue because they are perceived to be problems for society, requiring society to react […]. Where private troubles are matters for the individuals involved to resolve, public issues or social problems demand a public response.”55
Folgt man dieser Definition, so lassen sich zwei konstitutive Bedingungen für ein soziales Problem aufstellen: (a) die öffentliche Wahrnehmung eines bestehenden Problems sowie (b) eine entsprechende Positionierung der Öffentlichkeit. Schlussfolgern lässt sich hieraus, dass ein Problem auch immer eines gewissen Grades der Solidarität mit den Betroffenen bedarf, um als ein soziales, und damit als eines mit entsprechendem Handlungsbedarf, zu gelten. Ein Blick auf den Titel der Erstveröffentlichung des Fotos macht die Zentralität dieses Moments deutlich: Mit The Face of AIDS wird die Erkrankung emotionalisiert, ihr ein Gesicht gegeben.56 Persönliches wird zum Gegenstand des Konflikts, indem die Aspekte der Trauer, des Abschieds und des Leidens sowie der damit verbundene (familiäre) Raum des Privaten zu Teilen der öffentlichen Debatte um AIDS erhoben werden.
Als soziale Problemfotografie lässt sich das Kirby-Foto somit entsprechend der von Mouffe aufgestellten Kategorisierungen kritischer Kunst (vgl. Kap. 2.2) einordnen: Es rahmt AIDS mitsamt den soeben genannten Aspekten als politische Realität (vgl. Fn. 43). Da der Fokus hierbei jedoch auf Nähe, Beisammensein und Vertrautheit statt auf Distanz, Ausgrenzung und Angst liegt, kann das Kirby-Foto zudem als eine Kontestation der vorgenannten, stigmatisierenden Narrative über und Stilisierungen von AIDS- Kranken gelesen werden; insofern kann es ebenso als eine kritische Auseinandersetzung mit der Identität der Betroffenen gelten (vgl. Fn. 43). Rückbezogen auf Mouffe erscheint somit der zu Beginn des Kapitels angeführte Aspekt des Werbens als das zentrale kritische Moment des Fotos: Das Ziel, verhaltensrelevante Einstellungen hervorzurufen, kontextuell verstanden als (selbst-)kritische(re) Positionierungen von Menschen gegenüber dem bisherigen Umgang mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken.57
3.2. Das Kirby-Foto als Teil der Benetton-Werbung: Persistenz der Kritik?
Wie eingangs bereits erwähnt wurde, zeichnet sich die der Auseinandersetzung zugrundeliegende Werbung dadurch aus, dass Benetton das von Frare geschossene Foto in kolorierter Form übernahm; einzig der Kampagnenschriftzug United Colors of Benetton wurde ergänzt (vgl. Abb. 2). Dementsprechend soll die im vorangegangenen Kapitel aufgeworfene Frage zu Beginn dieses Kapitels in Form einer These spezifiziert werden: Die angesprochene Werbung kann nur dann als Teil einer gegenhegemonialen Intervention gewertet werden, wenn das kritische Moment des Kirby-Fotos (vgl. Kap. 3.1) innerhalb der Benetton-Werbung weiterhin prominent ist. Übergreifend stellt sich somit die Frage, ob die angesprochene Werbung die Diskussion über den gesellschaftlichen Umgang mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken zu forcieren vermochte.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Die Benetton-Werbung mit David Kirby, 1992. Quelle: Benetton Group: Spring/Summer 1992. AIDS – David Kirby.
Einen Zugang zu einer Auseinandersetzung mit diesen Sachverhalten bietet ein allgemeiner Blick auf die von Toscani gestaltete Kampagne. Der Ansatz, soziale Problemfotografien zu Kommunikationszwecken zu nutzen, wird in der Literatur gemeinhin als Shock Advertising oder Shock Tactics bezeichnet.58 Eine 2003 veröffentlichte Studie hebt die potenzielle Wirkmächtigkeit einer solchen Werbetaktik hervor: „[…] shocking communications can have positive effects on attention, memory, and behavior [of the viewers, Anm. d. Verf.].“59 Der Kommunikationswissenschaftler Pavel Skorupa weist jedoch darauf hin, dass hierbei zwischen verschiedenen Akteuren hinsichtlich ihrer Absichten differenziert werden sollte: „[…] commercial entities try to grab the public’s attention and make them buy goods or services, while social organisations try to highlight social issues and encourage people to change inappropriate behaviour patterns.“60 Herauslesen lässt sich hieraus, dass der werbende Akteur mitsamt seiner (antizipierten) Absichten stets zur Rahmung des Gezeigten beiträgt. Reichertz stützt eine solche Lesart; hinsichtlich der Bedeutung der Rahmung für das Verständnis der Botschaft von Fotografien formuliert er: „Rahmen tönen die Bedeutung des Gerahmten nicht nur graduell ab, sondern sie bestimmen es entscheidend. […] Erst durch diese Beigabe erlangt der ‘Inhalt‘ seine Bedeutung […].“61 Skorupas Distinktion stellt somit nicht nur eine unmittelbare Anknüpfung an die zu Beginn des Kapitels formulierte These dar; sie markiert zugleich einen zentralen Ausgangspunkt kritischer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der Verwendung des Kirby-Fotos durch Benetton.
Im vorigen Kapitel wurde das kritische Moment der von Frare geschossenen Fotografie mittels Hintergrundinformationen sowie spezifischer Kontextualisierungen erarbeitet; betrachtet man nun jedoch ausschließlich die Benetton-Werbung, so fehlen diese wichtigen Referenzpunkte. In Form des Werbeplakats wurde das Foto durch Benetton weder kommentiert noch erläutert; den einzigen (direkten) Bezugsmarker für eine Verortung des Gezeigten bietet somit das eingefügte Kampagnenlogo United Colors of Benetton mitsamt dem darin enthaltenen Firmennamen (vgl. Abb. 2). Der Sozialkritiker Henry A. Giroux entwickelt diesbezüglich seine zentrale Kritik an der Verwendung des Kirby-Fotos durch Benetton: Die Fotografie würde in diesem Rahmen ihres (sozial- )kritischen Kontextes beraubt.62 Giroux wertet dieses Vorgehen jedoch nicht als einen groben Fehler oder als ein Versäumnis des Modelabels oder Toscanis, sondern als einen bewussten und notwendigen Schritt: Erst die Dekontextualisierung der fotojournalistischen Werke böte die Chance, die United Colors -Kampagne mitsamt dem Namen Benetton gänzlich in den öffentlichen Fokus zu rücken.63 Den Werbeansatz Toscanis charakterisiert Giroux insofern als eine Depolitisierung der fotografischen Ursprungswerke:
„By denying specificity, Benetton suppresses the history of these images, and, in doing so, limits the range of meanings that might be brought into play. […] the ads simply register rather than challenge the dominant social relations reproduced in the photographs. […] There is no sense here of how the operations of power inform the construction of social problems depicted in the Benetton ads, nor is there any recognition of the diverse struggles of resistance that attempt to challenge such problems. […] Isolated from its historical and social contexts, Benetton’s images are stripped of their political possibilities […].”64
Ein Rückbezug auf Skorupa ermöglicht es, dieses Argument zu untermauern: Geht man davon aus, dass der werbende Akteur in entscheidender Weise zur Rahmung und Bedeutung des Gezeigten beiträgt, so rückt durch eine fehlende Kontextualisierung und Einbettung des Kirby-Fotos der Akteur Benetton mitsamt seiner Absicht des Verkaufens in den Vordergrund. Reichertz verleiht dieser Perspektive mit seiner Einschätzung Nachdruck:
„Die Einfügung des Firmennamens ‘United Colors of Benetton‘ katapultiert das engagierte Bild der Therese Frare in eine andere Sinnwelt. Nicht mehr die Kunst […] oder die Aufforderung zum anderen Umgang mit AIDS-Kranken bilden den Orientierungsrahmen für das Foto, sondern die Sinnprovinz der Werbung.“65
Schlussfolgern lässt sich hieraus, dass nicht länger das ursprüngliche, kritische Moment des Kirby-Fotos, sondern die Nutzung der Fotografie durch Benetton zum zentralen Gegenstand der Diskussion(en) und Debatte(n) avancierte. Folglich sind nicht AIDS sowie die damit verbundenen Dynamiken (vgl. Kap. 3.1) Gegenstand des durch die Werbung generierten Schocks, sondern dessen ökonomische Nutzung. Dies tritt besonders zum Vorschein, wenn man die Reaktionen verschiedener Akteure auf AIDS: A Modern Day Pietà betrachtet. So bezeichneten AIDS-Aktivist:innen und - Hilfsorganisationen das Vorgehen als unethisch, da ausbeutend, und riefen, unter anderem mittels öffentlicher Proteste, zu einem Boykott des Labels auf.66 Auch innerhalb der Modebranche führte das Thema zu Verwerfungen: Diverse Magazine, darunter die britischen Ausgaben der Elle sowie der Vogue, weigerten sich, die Werbung zu publizieren.67 Diskutiert und gestritten wurde mit Blick auf Benetton also in der Tat nicht (primär) über den gesellschaftlichen Umgang mit AIDS-Kranken, sondern vor allem hinsichtlich der Frage, ob es moralisch vertretbar ist, dass ein Kleidungshersteller durch Werbung mit einem an AIDS versterbenden Menschen auf sich aufmerksam zu machen versucht.
Der Diskussion bedarf vor diesem Hintergrund sodann auch die bereits in der Einleitung erwähnte Rechtfertigung der Werbepraxis seitens Toscanis. Gegenüber der Presse erklärte der Kreativdirektor des italienischen Modelabels, dass mit seiner Werbung größere Dinge erreicht werden sollen; hinsichtlich bestehender politischer und sozialer Konflikte sei jede andere Form der Werbung amoralisch (vgl. Kap. 1). Fraglich ist, wie die hier implizierte Absicht, über bestimmte gesellschaftliche Probleme diskutieren zu wollen, mit den bereits genannten Aspekten der Dekontextualisierung und Depolitisierung des Kirby-Fotos einhergeht. Herauslesen lässt sich aus der Äußerung Toscanis somit vor allem eine Moralisierung des Handelns Benettons; durch die Bezugnahme auf eine vermeintliche Handlungsabsicht stellt sich Benetton somit als einen sozialbewussten Akteur dar.68 Damit gelingt es Toscani jedoch nicht etwa, die Diskussion um AIDS als ein soziales Problem zu forcieren; vielmehr befeuert der Fotograf die Kontroverse um den Werbeansatz an sich.69 Insofern weist die United Colors -Kampagne mitsamt der durch sie ausgelösten Kontroverse(n) eine hohe Selbstreferenzialität auf, die die Möglichkeit zum Dialog über das kritische Element des Kirby-Fotos überschattet.70 Nachvollziehbar ist insofern auch die Schlussfolgerung, die Reichertz aus diesen Dynamiken und Umständen zieht. Für den Soziologen liegt die Bedeutsamkeit der Benetton-Werbung nicht etwa im Anstoßen oder Forcieren einer gesellschaftlichen Debatte über den Umgang mit AIDS-Kranken, sondern darin, allen Interessierten im Rahmen einer weitläufigen öffentlichen Debatte die Möglichkeit zu bieten, sich mittels der Empörung über und Kritik an Benetton hinsichtlich der eigenen Moral profilieren zu können.71 In diesem Kontext kann die Abbildung Kirbys als ein an AIDS versterbender Mensch im Kreis seiner Familie mitsamt dem damit verbundenen Opfernarrativ (vgl. Kap. 3.1) nicht als Teil eines gegenhegemonialen Projekts, sondern als Ausdruck einer dominanten Repräsentationslogik gewertet werden.72
Die bisherigen Verortungen zeichnen ein eindeutiges Bild eines Verlusts der kritischen Funktion des Kirby-Fotos im Rahmen der Benetton-Werbung. Entscheidend hierbei ist, dass den Betrachtenden notwendige Informationen zur Entschlüsselung der kritischen Bildbotschaft fehlten; zudem forcierte die Omnipräsenz des Benetton-Logos eine Selbstbezüglichkeit der Werbepraxis. Dabei scheinen jedoch vor allem Reichertz und Giroux die Perspektive zu vernachlässigen, dass die daraus entstandene Kontroverse um AIDS: A Modern Day Pietà förmlich von Benetton forderte, die Kritik öffentlich zu adressieren und somit Stellung zu beziehen. Im Licht der starken Gegenreaktionen, die der Werbung entgegenschlugen, begleitete Benetton die United Colors -Kampagne vor allem in den USA mit Pressekonferenzen und Talkshows, an denen auch die Eltern von David Kirby teilnahmen.73 Die Kommunikationswissenschaftlerin Heidi J. Brough stellt zudem heraus, dass die skizzierte Welle der Empörung dazu führte, dass hunderte Personen die Kirbys direkt kontaktierten.74 Argumentieren lässt sich diesbezüglich, dass erst der Konflikt zwischen dem Gezeigten sowie dessen Nutzung durch Benetton die Möglichkeit bot, im Rahmen öffentlicher Aufgebrachtheit und Aufmerksamkeit die fehlenden Informa-tionen zu ergänzen und das Foto mitsamt seines kritischen Elements somit entsprechend zu platzieren.75 In diesem Kontext kann die Kontroverse um die Benetton-Werbung mit Kirby durchaus selbstironisch gelesen werden: Sie führt vor Augen, dass sich über das Leid anderer profiliert werden und somit das Opfer-Narrativ ausgenutzt werden kann – und fragt insofern gleichsam danach, ob eine bloße Empörung über die ökonomische Nutzung des Fotos eines an AIDS versterbenden Menschen der Bekämpfung der abgebildeten sozialen Problematik dienlich ist.76
4. Zusammenfassung der Ergebnisse, Ausblick und Fazit
Dieser Arbeit lag die Frage zugrunde, ob die Benetton-Werbung mit dem Titel AIDS: A Modern Day Pietà im Sinne der radikaldemokratischen Überlegungen von Chantal Mouffe als eine kritische Praxis bezeichnet werden kann. Hierfür wurde zunächst das Grundgerüst der Mouffe’schen Demokratietheorie erarbeitet; anschließend wurde der Begriff der kritischen Kunst innerhalb dieses Konstrukts verortet, um einen Zugang zur Rolle der in der Werbung verwendeten Fotografie im Kontext von AIDS zu ermöglichen. Herausgestellt wurde, dass das Kirby-Foto in kritischer Perspektive den gesellschaftlichen Umgang mit AIDS-Kranken hinterfragt, indem die Fotografin Frare einen an der Krankheit versterbenden Menschen im Kreis seiner Familie abbildet. Nähe, Zusammensein und Vertrautheit dominieren die emotionale Darstellung; die Fotografie kann insofern als ein kritischer Gegenentwurf zu den stigmatisierenden Narrativen über AIDS-Kranke und HIV-Positive gelesen werden.
Hinsichtlich der Verwendung des Kirby-Fotos in der Benetton-Werbekampagne United Colors galt es zunächst, dem Kontext besondere Beachtung zu schenken. Zwar erlaubten die Kirbys der Firma Benetton die Nutzung der Fotografie, doch wurde das Foto durch Benetton nicht primär ausgewählt, um auf AIDS als spezifisches soziales Problem aufmerksam zu machen. Dieser Umstand führte somit zu der Frage, ob das kritische Element der Fotografie im Rahmen der Werbung für Benetton weiterhin präsent ist. Erarbeitet wurde, dass dieser neuen Rahmung ein entscheidender Einfluss auf die Wahrnehmung und Interpretation des Dargestellten zuteilwird. Mittels eines Reduktionismus der Bildbotschaft und einer referenziellen Dominanz des Kampagnenlogos trägt Benetton zu einer Dekontextualisierung des Ursprungswerks bei – damit gelingt es dem italienischen Modelabel, vor allem auf sich selbst zu verweisen. Wahrgenommen wurde das Werben Benettons mit David Kirby von verschiedenen Akteuren als anmaßend, amoralisch und ausbeutend; diskutiert wurde damit jedoch nicht etwa über den gesellschaftlichen Umgang mit AIDS-Kranken, sondern hinsichtlich der Frage, ob sich ein Modelabel mittels der gezeigten Problematik profilieren darf und sollte. Die kritische Fotografie der Therese Frare erscheint in diesem Kontext nunmehr als ein Vehikel, um den Namen Benetton in aller Munde zu legen.
Einen Aspekt, den die angeführten Autor:innen hierbei jedoch vernachlässigen ist, dass gerade die durch Benetton ausgelöste Kontroverse einen Rahmen bot, das ursprüngliche Anliegen der Kirbys zum Gegenstand der, nun eine breite(re) Öffentlichkeit erreichenden, Debatte zu erheben. Die starke, gefühlte Unvereinbarkeit zwischen der Werbung und der dortigen Abbildung eines an AIDS versterbenden Menschen kann somit schlussendlich auch als Ausgangspunkt für die Möglichkeit des Dialogs sowie einer damit verbundenen kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema AIDS und dem gesellschaftlichen Umgang mit AIDS-Kranken gedacht werden.
Problematisch für eine finale Einschätzung erweist sich jedoch sodann, dass die, teils stark gegensätzlichen, (möglichen) Dynamiken aus einer demokratietheoretischen Perspektive keinen eindeutigen Schluss über die Effekte der besagten Benetton-Werbung zulassen. Dieser Umstand lässt an dieser Stelle keine definitive Beantwortung der Frage zu, ob diese Werbung als Teil einer gegenhegemonialen Intervention, und somit als eine kritische Praxis, gewertet werden kann. Die obig angeführten Wirkmöglichkeiten der Kontroverse um AIDS: A Modern Day Pietà können somit zunächst nur als (theoretische) Annahmen gelten, die in Zukunft weiter diskutiert werden sollten. Die übergeordnete Frage nach dem Verhältnis zwischen ökonomischen Akteuren, ihren Absichten und sozialem Wandel und Fortschritt wird in kapitalistisch geprägten, sich dennoch ständig verändernden, demokratischen Gesellschaften wie der unseren sicherlich nicht an Relevanz verlieren.
Literaturverzeichnis
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[...]
1 Vgl. Tinic, Serra A.: United Colors and United Meanings. Benetton and the Commodification of Social Issues, in: Journal of Communication, Jg. 47 (3/1997), S. 3-25, S. 4; Vgl. Benetton Group: Historical Campaigns. Image Gallery.
2 Vgl. ebd.; Toscani arbeitete schon seit 1984 für Benetton; bereits seine ersten Werbungen gingen in eine ähnliche gestalterische Richtung wie jene der United Colors-Kampagne (vgl. Tinic, a.a.O.; vgl. Niskanen, Tuija: More than Sweaters and Shocking Pictures. On the Corporate Philosophy and Communications Strategy of Benetton, in; Inkinen, Sam: Mediapolis. Aspects of Texts, Hypertexts and Multimedial Communica- tion, Berlin/New York 1998, S. 358-380, S. 358).
3 Vgl. Rothenberg, Randall: Benetton’s Magazine to Push Vision, Not Clothing, 15. April 1991.
4 Vgl. ebd.
5 Vgl. Benetton Group, a.a.O. (Fn. 1)
6 Vgl. dazu u.a. Brough, Heidi J.: Activist Advertising. Case Studies of Benetton’s AIDS-Related Com- pany Promotion, Baton Rouge 2001, S. 86.
7 Mouffe, Chantal: The Return of the Political, London/New York 1993, S. 10; An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Mouffe das zentrale Ziel ihrer theoretischen Überlegungen als ein politisches begreift (vgl. Mouffe, Chantal: On the Political, London/New York 2005, S. 9). Mouffe sieht die Demokratie gefährdet, wenn nicht die sie betreffenden, entscheidenden Fragen gestellt würden (vgl. ebd.).
8 Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox, Wien 2008, S. 33f.
9 Dass Mouffe bei ihrem Vorhaben der Formulierung eines radikaldemokratischen Projekts auf die Ausführungen des für die NS-Diktatur engagierten Staatsrechtlers Schmitt Bezug nimmt, kann durchaus kritisch beäugt werden. Wenngleich das Ziel dieses darstellenden Kapitels nicht in einer konzeptuellen Kritik an Mouffe liegt, so greift die vorliegende Arbeit diesen Aspekt dennoch auf, indem im weiteren Verlauf die konzeptionelle Grundproblematik dieses Bezugs sowie der Umgang Mouffes mit dieser herausgestellt wird.
10 Mouffe: On the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 11.
11 Vgl. ebd., S. 11ff.; Für Mouffe stellt die Unterscheidung zwischen Freund und Feind bei Schmitt die einzig mögliche politische Form einer Wir/Sie-Beziehung dar (vgl. ebd., S. 15f.).
12 Vgl. ebd., S. 11.
13 Vgl. ebd.
14 Vgl. ebd., S. 11ff., spezifisch S. 14.
15 Vgl. ebd., S. 14.
16 Diesem Umstand ist sich Mouffe durchaus bewusst (vgl. ebd., S. 11).
17 Vgl. ebd., S. 14.
18 Lefort, Claude: The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, Cambridge 1986, S. 305; Vgl. Mouffe: The Return of the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 11f.
19 Vgl. Lefort, a.a.O., S. 303f.
20 Ebd., S. 305; Auch bei Lefort ist die Identitätsfindung in einen Modus der Abtrennung eingebunden (vgl. ebd.).
21 Vgl. Mouffe: The Return of the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 10; Vgl. ebd., S. 11f.; Das Nichtvorhandensein endgültiger Fixierungen verdeutlicht Mouffe an einer zentralen Stelle: „To be capable of thinking politics today, […] it is indispensable to develop a theory of the subject as a decen- tred, detotalized agent, a subject constructed at the point of intersection of a multiplicity of subject positions […] whose articulation is the result of hegemonic practices. Consequently, no identity is ever definitively established […]” (ebd., S. 12).
22 Vgl. Mouffe: On the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 18.
23 Ebd.
24 Zur Etablierung und Aufrechterhaltung einer solchen Hegemonie formuliert Mouffe: „The articulatory practices through which a certain order is established [sic!] and the meaning of social institutions is fixed are ‘hegemonic practices’” (ebd.).
25 Vgl. ebd.
26 Vgl. Mouffe: The Return of the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 13.
27 Vgl. Mouffe: On the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 51.
28 Vgl. ebd., S. 15ff.; Mouffe nennt Bedingungen für einen Umschwung hin zum Antagonismus: „[…] when the ‘they’ is perceived as putting into question the identity of the ‘we’ and as threatening its existence” (ebd., S. 15f.).
29 Vgl. ebd., S. 18.
30 Vgl. ebd., S. 21; Vgl. ebd., S. 51.
31 Vgl. ebd., S. 20.
32 Vgl. ebd.
33 Vgl. ebd., S. 20f.
34 Mouffe: Das demokratische Paradox, a.a.O. (Fn. 8), S. 47.
35 Vgl. ebd., S. 47f.
36 Vgl. Mouffe: On the Political, a.a.O. (Fn. 7), S. 52.
37 Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2016, S. 140.
38 Vgl. ebd., S. 140f.; Vgl. Mouffe, Chantal: Art and Democracy. Art as an Agnostic Intervention in Public Space, in: Open Magazine, Nr. 14 (2008), S. 6-15, S. 11.
39 Ebd., S. 5.
40 Vgl. ebd., S. 5f.
41 Mouffe: Agonistik, a.a.O. (Fn. 37), S. 141.
42 Mouffe: Art and Democracy, a.a.O. (Fn. 38), S. 5.
43 Die unterschiedlichen Ansätze kritischer Kunst bricht Mouffe auf vier grundlegende Formen herunter: (I) direkte, kritische Auseinandersetzung(en) mit politischer/n Realität(en); (II) kritische Auseinandersetzung(en) mit auf Marginalität, Differenz, Ausschluss und Ungerechtigkeit basierenden Identitäten; (III) kritische Auseinandersetzung(en) mit den Umständen des künstlerischen Schaffens sowie den Bedingungen der Produktion und Zirkulation der Kunst sowie (IV) das Aufzeigen von Utopien und alternativen Lebens- und Gesellschaftsformen (vgl. ebd., S. 5f.). Dass Kunst ihre kritische Wirkung in multiplen Facetten entfalten kann, zeigt Mouffe anhand von Beispielen: So kann sie nicht nur systemische Ordnungen wie beispielsweise den Neoliberalismus infrage stellen, sondern ebenso dazu genutzt werden, um soziale und/oder lokale Wandlungsprozesse und Veränderungen in Gang zu setzen. Hierbei stellt Mouffe vor allem die Möglichkeit kritischer Kunst, Bedürfnisse und Gefühle bei Menschen zu wecken, besonders heraus (vgl. Mouffe: Agonistik, a.a.O. (Fn. 37), S. 144ff.).
44 Vgl. dazu u.a. TIME Magazine: The Face of AIDS. The Story Behind Therese Frare’s Photo, 21. November 2016, Min. 2:18.
45 Reichertz, Jo: Religiöse (Vor-)Bilder in der Werbung. Zu Anzeigen von Benetton, Kern und Diesel, in: Medien praktisch. Medienpädagogische Zeitschrift für die Praxis, Jg. 18 (2/1994), S. 18-23, S. 19.
46 Diese Perspektivierung ist bewusst sehr kompakt gehalten; eine umfängliche Darstellung des AIDS- Diskurses sowie der politischen Entwicklungen innerhalb der USA würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
47 Vgl. Center for Disease Control and Prevention (CDC): First Report of AIDS, 01. Juni 2001; Vgl. Ders.: Pneumocystis Pneumonia – Los Angeles, 05. Juni 1981.
48 Vgl. dazu u.a. Padamsee, Tasleem J.: Fighting an Epidemic in Political Context. Thrity-Five Years of HIV/AIDS Policy Making in the United States, in: Social History of Medicine, Jg. 33 (2018), S. 1001- 1028, S. 1004.
49 Wenngleich AIDS schnell als sexualisierte Krankheit galt, so waren auch drogenabhängige Menschen oder spezifische Bevölkerungsgruppen wie Afroamerikaner:innen überproportional stark betroffen (vgl. ebd.). Konzentriert man sich diesbezüglich auf den Aspekt der Marginalisierung, so besaß AIDS von vornherein eine stark politische Komponente. Kurz und prägnant stellen dies auch Denis Altman und Kent Buse heraus: AIDS sei „[…] ‚the most political of diseases’” (Altman, Dennis/Buse, Kent: Think- ing Politically about HIV. Political Analysis and Action in Response to AIDS, in: Contemporary Poli- tics, Jg. 18 (2/2012), S. 127-140, S. 127).
50 Vgl. Rosenberg, Charles E.: What Is an Epidemic? AIDS in Historical Perspective, in: Daedalus, Jg. 118 (2/1989), S. 1-17, S. 13f.; Ergänzend beschreibt die Soziologin Tasleem J. Padamsee die damalige gesellschaftliche und politische Positionierung von homosexuellen Männern als stark marginalisiert sowie stigmatisiert (vgl. Padamsee, a.a.O.).
51 Vgl. Rosenberg, a.a.O.; Ein Zitat des republikanischen Kolumnisten Patrick Buchanan macht diesen Punkt besonders deutlich: „There is one, only one, cause of the AIDS crisis – the willful refusal of homosexuals to cease indulging in the immoral, […] suicidal practice of anal intercourse, […] the primary means by which the AIDS virus is being spread through the ‘gay’ community […]” (Buchanan, Patrick J.: AIDS and Moral Bank- ruptcy, New York Post, 2. Dezember 1987, S. 23, zit. nach Glunt, Eric K./Herek, Gregory M.: An Epi- demic of Stigma. Public Reactions to AIDS, in: American Psychologist, Jg. 43 (1988), S. 886-891, S. 888). Wer solchen Menschen Rechte einräume, mache sich zum Mitverschwörer und gehöre durch die Gemeinschaft angeklagt, so Buchanan (vgl. ebd.). Der Bezug auf den Gemeinschaftsbegriff kann an dieser Stelle als Beispiel dafür gewertet werden, wie stigmatisierende Praxen dazu beitrugen, AIDS- Betroffene mithilfe einer Stilisierung als Täter:innen systematisch auszuschließen.
52 Vgl. Glunt, Eric K./Herek, Gregory M.: An Epidemic of Stigma. Public Reactions to AIDS, in: American Psychologist, Jg. 43 (1988), S. 886-891; Einer solchen Perspektive pflichtet auch die Soziologin Tasleem J. Padamsee bei: Die damalige gesellschaftliche und politische Positionierung von homosexuellen Männern beschreibt sie als stark marginalisiert sowie stigmatisiert (vgl. Padamsee, a.a.O.).
53 Vgl. dazu Capozzola, Christopher: A Very American Epidemic. Memory Politics and Identity Politics in the AIDS Memorial Quilt, 1985-1993, in: Radical History Review, Jg. 28 (3/2002), S. 91-109, S. 93; Einen eindrücklichen Überblick über solche Momente stellen unter anderem Eric K. Glunt und Gregory M. Herek bereit. Mit ihrer diesbezüglichen Bezeichnung von AIDS als Stigma-Epidemie weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass nicht nur das so genannte Victim Blaming, sondern die, damit verbundene, Stigmatisierung von homosexuellen Menschen sowie Angst vor HIV-Infizierten AIDS- Kranken zentrale Aspekte der Exklusion der Betroffenen darstellen (vgl. Glunt, Eric K./Herek, Gregory M.: An Epidemic of Stigma. Public Reactions to AIDS, in: American Psychologist, Jg. 43 (1988), S. 886-891).
54 Vgl. Center For Disease Control and Prevention (CDC): Current Trends Mortality Attributable to HIV Infection/AIDS – United States, 1981-1990, 25. Januar 1991.
55 Clarke, John/Cochrane, Allan: The Social Construction of Social Problems, in: Saraga, Esther: Embod- ying the Social. Constructions of Difference, London/New York 2005, S. 3-38, S. 8.
56 In (Rück-)Bezug auf die kritische Komponente des Fotos zeichnet sich an dieser Stelle ab, dass dem Verwendungskontext des Fotos eine essenzielle Rolle bei seiner Rahmung zuteilwerden scheint. Aus dem Foto selbst geht keine direkte Botschaft, Aufforderung oder Appell hervor; insofern fordert es die Betrachter:innen, sich den Kontext sowie die kritische Botschaft des Bildes eigenständig zu erschließen. In Kapitel 3.2 soll dieser Aspekt mit Bezug auf die genannte Werbung Benettons aufgegriffen und kritisch diskutiert werden.
57 Diese Verortung fußt auf einer Definition von Werbung des Kommunikationswissenschaftlers Jürgen Schulz; er ordnet die Praxis des Werbens in einen diskursiven Kontext ein: „Werbung ist die Beeinflussung […] von verhaltensrelevanten Einstellungen mittels spezifischer Kommunikationsmittel“ (Schulz, Prof. Dr. Jürgen: Werbung). Wenngleich Schulz diese Definition mit Blick auf ökonomische Werbung erarbeitet, so scheint der Begriff des Werbens in einem allgemeinen Sinne an dieser Stelle dennoch dienlich, um die kommunikative, vermittelnde und diskursive Komponente des Kirby-Fotos als kritisches Werk zu fassen.
58 Vgl. dazu u.a. Brough, a.a.O., S. 94; Vgl. dazu u.a. Tinic, a.a.O., S. 11.
59 Dahl, Darren W./Frankenberger, Kristina D./Manchanda, Rajesh V.: Does It Pay to Shock? Reactions to Shocking and Nonshocking Advertising Content among University Students, in: Journal of Adver- tising Research, Jg. 43 (2003), S. 268-280, S. 278.
60 Skorupa, Pavel: Shocking Contents in Social and Commercial Advertising, in: Creativity Studies, Jg. 7 (2/2014), S. 69-81, S. 79.
61 Reichertz, Jo: Selbstgefälliges zum Anziehen. Benetton äußert sich zu Zeichen der Zeit, in: Schröer, Norbert (Hrsg.): Interpretative Sozialforschung. Auf dem Wege zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie, Opladen 1994, S. 253-280, S. 264.
62 Vgl. Giroux, Henry A.: Consuming Social Change. The “United Colors of Benetton”, in: Cultural Cri- tique, Nr. 26 (1993), S. 5-32, S. 23.
63 Vgl. ebd., S. 20f.
64 Ebd., S. 21f.
65 Vgl. Reichertz: Selbstgefälliges zum Anziehen, a.a.O. (Fn. 61).
66 Vgl. TIME Magazine, a.a.O., Min. 8:00; Vgl. Cosgrove, Ben: The Photo That Changed The Face of AIDS, 24. November 2014.
67 Vgl. ebd.
68 Giroux pflichtet einer solchen Lesart bei: United Colors sei vor allem eine Imagekampagne; der Sozialkritiker spricht diesbezüglich von einer Promotional Culture (vgl. Giroux, a.a.O., S. 10f.).
69 Dieses Argument stützt sich auf die Ausführungen der Medienwissenschaftlerin Serra A. Tinic; zur Kontroverse der United Colors -Kampagne formuliert sie: „[…] the ads serve as public service announcements with a sales pitch. This implicit contradiction between the aims of public service and the goals of commerce underlines the controversy created by the Benetton ad series” (Tinic, a.a.O., S. 11). Weiterhin hält die US-Amerikanerin fest: „[…] the Benetton ads violate common notions of the proper ‘place’ from which to discuss political and social issues” (ebd., S. 18).
70 Besonders deutlich wird dies mit Blick auf eine begriffliche Differenzierung zwischen Controversy Advertising und Advocvacy Advertising: Ziel kontroverser Werbung sei nicht, ein bestimmtes Resultat, z.B. in Form einer tiefgreifenden Diskussion über AIDS als soziales Problem, anzuregen, sondern vielmehr, mittels einer interpretativen Offenheit eine Bandbreite an Reaktionen wie beispielsweise Ablehnung oder Wut anzuregen und zuzulassen (vgl. Tinic, a.a.O., S. 12; vgl. dazu Barela, Mark J.: United Colors of Benetton – From Sweaters To Success. An Examination of the Triumphs and Contro- versies of a Multinational Clothing Company, in: Journal of International Marketing, Jg. 11 (4/2003), S. 113-128, S. 121). Die Möglichkeit zum kritischen Dialog über die abgebildeten Themen, in diesem spezifischen Fall über den Umgang mit AIDS-Kranken, sei daher insofern von vornherein eingeschränkt, als dass der ökonomische Werbekontext den Diskurs überforme (vgl. Tinic, a.a.O., S. 15). Tinic verleiht diesem Punkt an einer weiteren Stelle Nachdruck: „Because the framework was linked to the Benetton slogan and logo, the signifier of human suffering no longer stood for its usual referent of the social condition” (ebd., S. 17).
71 Vgl. Reichertz: Selbstgefälliges zum Anziehen, a.a.O. (Fn. 61), S. 275ff.
72 Hieraus ließe sich sodann auch der oben genannte, von AIDS-Aktivist:innen und -Hilfsorganisationen lautstark vertretene, Vorwurf der stigmatisierenden Darstellung und einer damit verbundenen Ausbeutung von AIDS-Kranken und ihrem Leid erklären.
73 Vgl. dazu u.a. Brough, a.a.O., S. 96; Vgl. dazu u.a. TIME Magazine, a.a.O., Min. 8:35.
74 Vgl. Brough, a.a.O., S. 86.
75 Brough ergänzt diesen Gedanken, indem sie darauf hinweist, dass die Werbung aufgrund der mit ihr verbundenen Kontroversen auch den Weg in Bildungseinrichtungen wie Schulen und Museen fand, in denen das Sterben des David Kirby (wieder) in seinen politischen, sozialen und historischen Kontext eingebettet wurde (vgl. ebd., S. 121). Jedoch kann auch hier nicht ausdrücklich gesagt werden, ob, und in welchem Ausmaß, das Kirby-Foto als Benetton-Werbung in diesen Kontexten einen Beitrag zu einer Diskussion über sowie zu einem anderen gesellschaftlichen Umgang mit AIDS-Kranken leistet(e). Bezüglich der im Folgenden aufgestellten Lesart der Werbepraxis kann insofern auch nur hypothetisch geschlossen werden; im Fazit soll hinsichtlich dieser Problematik besonders sensibilisiert werden.
76 Einen Hinweis darauf, dass die Kontroverse über Benetton durchaus einen Raum zu schaffen vermochte, in dem der Fokus auf AIDS als ein soziales, und somit auch als ein politisches, Problem gelenkt wurde, gibt ein Ausschnitt aus der TV-Talkshow Night Talk with Jane Whitney aus dem Jahr 1992. Im Rahmen der Diskussion über die Verwendung des Kirby-Fotos durch Benetton meldete sich dort eine Zuschauerin mit der Aussage zu Wort, dass man nicht Benetton für die Verwendung der Fotografie, sondern lieber der US-amerikanischen Regierung Vorwürfe hinsichtlich der fehlenden Reaktion auf das Leid der AIDS-Kranken solle (vgl. TIME Magazine, a.a.O., Min. 8:35).
- Citar trabajo
- Dominik Evcimen (Autor), 2022, Die Wirkung sozialer Problemfotografie als Teil kontroverser Benetton-Werbung. Pietätlose Konfrontation oder gegenhegemoniale Intervention?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1248840
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