Franz Kafka gilt als einer der bekanntesten Autoren des Expressionismus’ und als eine „Ikone der Moderne“, die zahlreiche Literaten inspiriert und eine umfangreiche literaturwissenschaftliche Kafka-Forschung angeregt hat. Kafkas literarisches Werk zeichnet sich neben der Darstellung des Grotesken und der Anwendung eines
auktorialen Schreibstils dadurch aus, dass es in besonderer Weise von seiner Lebens- und Erfahrungswelt geprägt ist.2 So ist der Rahmen, in denen Kafka seine grotesken Erzählungen einbettet, meist ein Spiegelbild seiner sozialen und insbesondere seiner familiären Situation. Dieser Annahme soll in der folgenden
Arbeit nachgegangen werden, wobei hierzu zwei Texte hinsichtlich ihres biografischen Gehalts untersucht werden, nämlich die 1913 veröffentlichte Erzählung „Das Urteil“ sowie der 1919 verfasste „Brief an den Vater“. Während es sich bei dem „Urteil“ eindeutig um einen fiktiven Text handelt, dessen Inhalt deutlich Kafkas Hang
zum Grotesken erkennen lässt, erweist sich die Einordnung des „Briefs“ als schwierig. Der „Brief an den Vater“ ist weder ein rein fiktives noch ein rein autobiografisches Zeugnis, vielmehr weist er beide Elemente auf – hierzu später mehr. Fest steht, dass beide Texte als besondere Zeugnisse von Kafkas Lebens und
Erfahrungswelt angesehen werden können und daher für die Analyse ausgewählt wurden.
Im Folgenden werden zunächst Inhalt und Form beider Texte einzeln vorgestellt, um sie dann miteinander zu vergleichen und biografisch zu interpretieren.
Die Interpretation der Texte soll dabei der Leitfrage folgen: Welche biografischen Elemente weisen beide Texte auf bzw. wie werden biografische Elemente in der Literatur verarbeitet?
Inhaltsverzeichnis
1.) Einleitung
2.) Analyse der Texte „Brief an den Vater“ und „Das Urteil“
2.1.) „Brief an den Vater“
2.2.) „Das Urteil“
3.) Interpretation
3.1.) Der Vater-Sohn-Konflikt
3.2.) Der Prozesscharakter
3.3.) Fazit
4.) Literaturverzeichnis
1.) Einleitung
Franz Kafka gilt als einer der bekanntesten Autoren des Expressionismus’ und als eine „Ikone der Moderne“1, die zahlreiche Literaten inspiriert und eine umfangreiche literaturwissenschaftliche Kafka-Forschung angeregt hat. Kafkas literarisches Werk zeichnet sich neben der Darstellung des Grotesken und der Anwendung eines auktorialen Schreibstils dadurch aus, dass es in besonderer Weise von seiner Lebens- und Erfahrungswelt geprägt ist.2 So ist der Rahmen, in denen Kafka seine grotesken Erzählungen einbettet, meist ein Spiegelbild seiner sozialen und insbesondere seiner familiären Situation. Dieser Annahme soll in der folgenden Arbeit nachgegangen werden, wobei hierzu zwei Texte hinsichtlich ihres biografischen Gehalts untersucht werden, nämlich die 1913 veröffentlichte Erzählung „Das Urteil“ sowie der 1919 verfasste „Brief an den Vater“. Während es sich bei dem „Urteil“ eindeutig um einen fiktiven Text handelt, dessen Inhalt deutlich Kafkas Hang zum Grotesken erkennen lässt, erweist sich die Einordnung des „Briefs“ als schwierig. Der „Brief an den Vater“ ist weder ein rein fiktives noch ein rein autobiografisches Zeugnis, vielmehr weist er beide Elemente auf – hierzu später mehr. Fest steht, dass beide Texte als besondere Zeugnisse von Kafkas Lebens- und Erfahrungswelt angesehen werden können und daher für die Analyse ausgewählt wurden.
Im Folgenden werden zunächst Inhalt und Form beider Texte einzeln vorgestellt, um sie dann miteinander zu vergleichen und biografisch zu interpretieren.
Die Interpretation der Texte soll dabei der Leitfrage folgen: Welche biografischen Elemente weisen beide Texte auf bzw. wie werden biografische Elemente in der Literatur verarbeitet?
2.) Analyse der Texte „Brief an den Vater“ und „Das Urteil“
Obwohl „Das Urteil“ mehrere Jahre vor dem „Brief an den Vater“ verfasst wurde, soll im Folgenden zunächst der „Brief“ vorgestellt werden, da dieser eine Fülle an biografischen Details und damit einen umfassenden Einblick in das Leben Kafkas liefert. Daher kann der „Brief“ – mit Einschränkungen – als eine Art biografisches Dokument verstanden werden, auf dessen Grundlage die Interpretation der fiktiven Texte Kafkas, hier „Das Urteil“, durchgeführt werden kann.
2.1) „Brief an den Vater“
Zur Entstehung
Der 1919 verfasste und von Max Brod 1952 veröffentlichte „Brief an den Vater“ wird meist den autobiografischen Schriften Kafkas zugeordnet, zu denen eine umfangreiche Sammlung an Briefen sowie Tagebucheinträge zählen. Eine solche Zuordnung kann jedoch durchaus kritisch betrachtet werden und soll in dem Kapitel zur Form des „Briefes“ erörtert werden. Kafka verfasste den „Brief an den Vater“ im November 1919 in der nördlich von Prag gelegenen Kleinstadt Schelesen – dort war Kafka schon zuvor gewesen, um sich von seiner 1917 ausgebrochenen Lungentuberkulose zu erholen. Dem Aufenthalt in Schelesen im November 1919 ging eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sowie das Scheitern der für Anfang November geplanten Hochzeit mit Julie Wohryzek voraus: Die von Kafkas Vater abgelehnte Heirat (die Braut stammte aus der untersten sozialen Schicht) kam nicht zustande, da das Paar keine Wohnung finden konnte.3 Das erneute Scheitern einer geplanten Hochzeit wird oftmals als der eigentliche Anlass für das Verfassen des „Briefes an den Vater“4 angesehen.
Inhalt
Den unmittelbaren Anlass für das Verfassen des „Briefes“ erfährt der Leser bereits zu Beginn der Ausführungen: es ist die vom Vater an den Sohn gestellte Frage, warum dieser behaupte, er hätte „Furcht“ vor dem Vater (B, S.7)5. Der „Brief“ stellt in diesem Sinne den Versuch einer schriftlichen Antwort auf die vom Vater gestellte Frage dar, wobei für den Schreiber klar ist, dass ein derartiger Begründungsversuch unvollständig bleiben muss, „(…) weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.“ (ebd.)
Zunächst schildert Kafka die Ausgangssituation aus der Sicht des Vaters, der sein „ganzes Leben lang schwer gearbeitet“ (ebd.) hat und so den Kindern ein sorgloses Leben ermöglichte. Seinen Kindern und insbesondere dem erstgeborenen Sohn Franz werfe er hingegen vor, ein Leben in „Saus und Braus“ (ebd.) zu führen und beschuldigt ihn der „Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit“ (S.8). Die Schuld an der Entfremdung zwischen Vater und Sohn liegt dabei, aus Sicht des Vaters, allein beim Sohn, der sich seit jeher vor ihm verkrochen habe, in sein „Zimmer, zu Büchern, zu verrückten Freunden, zu überspannten Ideen“ (S.7).
Der väterlichen Ansicht der Vater-Sohn-Beziehung folgt die Einschätzung der Lage durch den Schreiber. Die Schuldzuweisung durch den Vater schwächt er ab, indem er zwar anerkennt, dass der Vater völlig schuldlos ist, jedoch hervorbringt, dass auch er „gänzlich schuldlos“ sei (S.8). In der Perspektive des Sohnes erscheinen sowohl der Vater als auch er selber als Mitverursacher der vorherrschenden Situation der Entfremdung; die Frage der Schuld wird durch die Frage nach Ursache und Wirkung abgelöst. So folgert der Autor, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn aus deren physischer und psychischer Verschiedenheit abgeleitet werden muss: Dem Vater, „ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit (…)“, steht ein „schwächlicher, ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch“ (S.9) entgegen. Die Absicht des Vaters entgegen der im Sohn vorhandenen Anlagen, „einen kräftigen mutigen Jungen“ (S.10) aufzuziehen, war fehlgeschlagen.
Die väterlichen Erziehungsmittel und deren Wirkung schildert der Autor anhand einiger Kindheitserinnerungen. In den Erinnerungen erscheint der Vater als ein „riesiger Mann“ und als „die letzte Instanz“, dem der junge Franz Kafka hilflos ausgeliefert war und der bei ihm das „Gefühl der Nichtigkeit“ (S.11) hervorrief. Dieses Gefühl der Nichtigkeit hat also seinen Ursprung in den Kindheitserfahrungen des Autors und beherrschte ihn seitdem. Anstelle einer Aufmunterung erfuhr der junge Franz Unterlegenheit und Schwäche: Sowohl die „bloße Körperlichkeit“ (S.12) als auch die „geistige Oberherrschaft“ (S.13) des Vaters erdrückten ihn. Der Vater verkörpert hier das Erscheinungsbild eines Tyrannen, der nur die eigene Position und keine Widerrede duldete (S.13).
Des Vaters Wort war für den Sohn „geradezu Himmelsgebot“ (S.15), jedoch stand das Verhalten des Vaters zu seinen Vorgaben und Regeln in scharfem Kontrast, da er sich selbst nicht an die dem Sohn auferlegten Gebote hielt. Dies war eine erdrückende und enttäuschende Erfahrung, nach welcher sich der Autor selbst als „Sklave“ empfand, der unter Gesetzen lebte, die nur für ihn erfunden waren und denen (er) niemals völlig entsprechen konnte“ (S.16). Mit dem Gefühl der naturgegebenen Unterlegenheit geht das der „Schande“ einher:
„Ich war immerfort in Schande, entweder befolgte ich Deine Befehle, daß war Schande, denn sie galten ja nur für mich; oder ich war trotzig, daß war auch Schande, denn wie durfte ich Dir gegenüber trotzig sein, oder ich konnte nicht folgen, weil ich zum Beispiel nicht Deine Kraft, nicht Deinen Appetit, nicht Deine Geschicklichkeit hatte, trotzdem Du es als etwas Selbstverständliches von mir verlangtest; das war allerdings die größte Schande.“ (S.16f.)
Als eine weitere Folge der väterlichen Erziehung nennt Kafka das eigene Schweigen; er „verlernte das Reden“ und schwieg, „zuerst vielleicht aus Trotz, dann weil ich vor Dir weder denken noch reden konnte“ (S.18). Warum die Erziehung durch den Vater fehlschlug (der Vater empfände das Ergebnis seiner Erziehung wohl als „peinlich“) begründet der Autor mit ihrer natürlichen Verschiedenheit (S.19). Der Vermutung des Vaters, der Sohn würde ihm gegenüber eine grundsätzlich ablehnende Haltung einnehmen, widerspricht der Autor mit dem Verweis auf die persönlichen Unterschiede: „(…) und alles schien Dir wieder ‚contra’ zu sein, während es nur selbstverständliche Folge Deiner Stärke und meiner Schwäche war“ (ebd.). Zum Ausdruck kommt dieses ungleiche, aber aufeinander bezogene Verhältnis auch darin, dass der Vater dem Sohn stets dessen Misserfolge und das eigene Scheitern vorhielt. Zu dem Gefühl der Schwäche tritt das der „Wertlosigkeit“ (S.20). Stetes Drohen durch den Vater bewirkte zudem, dass der Sohn abstumpfte: „Man wurde ein mürrisches, unaufmerksames, ungehorsames Kind, immer auf eine Flucht, meist eine innere, bedacht“ (S.21).
Glückliche Momente erlebte der Schreiber, in Situationen, in denen der Vater Schwäche zeigte. In solchen Momenten kamen „Liebe und Güte“ (S.22) zum Vorschein, die sonst meist im Verborgenen blieben. Solche „freundlichen Eindrücke“ (S.23) vom Vater haben bei dem Sohn jedoch „nichts anderes erzielt, als mein Schuldbewußtsein vergrößert und die Welt mir noch unverständlicher gemacht“ (ebd.).
Das Gefühl der Schuld gegenüber dem Vater beherrschte den Autor auch noch in zunehmendem Alter: „Seit jeher machtest du mir zum Vorwurf (…), daß ich dank Deiner Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte“ (S.25). So hielt der Vater mit der Schilderung seiner eigenen Leistungen den Kindern insbesondere dem Sohn Versagen vor; er könne nichts anderes als „bettlerhaft dankbar“ sein und nur in „Beschämung, Müdigkeit, Schwäche, Schuldbewußtsein“ (S.27) annehmen, was der Vater ihm gab.
Das Ergebnis der so erfahrenen Erziehung durch den Vater war, „daß ich alles floh, was nur von der Ferne an Dich erinnerte“ (ebd.). Dazu gehörte das väterliche Geschäft, in dem der Vater aus der Sicht des Schreibers als tyrannischer Herrscher auftrat. Neben dem Geschäft floh Kafka auch vor der Familie, „selbst vor der Mutter“ (S.29). Sein „Familiensinn“ (S.35) kehrte sich dahingehend um, dass er umso näher Personen dem Vater standen, desto größerern Abstand suchte. Einen weiteren Versuch, unabhängig zu werden, stellt laut Autor die verstärkte Besinnung auf das Judentum dar:
„Hier wäre ja an sich Rettung denkbar gewesen, aber noch mehr, es wäre denkbar gewesen, daß wir uns beide im Judentum gefunden hätten, oder daß wir gar von dort einig ausgegangen wären.“ (S.37)
Jedoch kommt Kafka zu dem Schluss, dass seine Beschäftigung mit der Religion dazu führte, dass dem Vater „das Judentum abscheulich“ wurde, wobei der Sohn den „Ekel“ (S.41) des Vaters so versteht, dass er sich nicht eigentlich gegen das Judentum, sondern vielmehr gegen seine eigene Person richtet.
Eine derartige grundsätzliche Abneigung und Ablehnung durch den Vater widerfährt dem Sohn auch bezüglich des Schreibens. Zwar konnte sich der Autor auf diesem Wege ein wenig vom Vater lösen, „ein Stück selbstständig“ (ebd.) werden, eine vollständige Unabhängigkeit vom Vater war jedoch nicht möglich. Kafka vergleicht die durch das Schreiben erreichte Eigenständigkeit mit der eines Wurms, „der, hinten von einem Fuß niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreißt und zur Seite schleppt“ (ebd.). Der Bezug auf den als übermächtig empfundenen Vater bleibt insofern stets bestehen, als der Vater Gegenstand und Auslöser des Schreibens ist (S.42).
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1 Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, Doppelheft: Januar/Februar 2003, S.1.
2 Reiner Stach, Kafka. Jahre der Entscheidungen, Frankfurt/Main 2002, S.217.
3 Michael Müller, Zur Entstehung des Textes, in Franz Kafka, Brief an den Vater, Hrsg. und komm. von Michael Müller, Stuttgart 1995, S. 63-66, S.63.
4 Schlingmann., S.152; vgl. Pelster, S.46.
5 Im Folgenden werden die Literaturnachweise, die sich auf Franz Kafka, Brief an den Vater, Hrsg. und komm. von Michael Müller, Stuttgart 1995 beziehen, mit B abgekürzt.
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2008, Zur Vater-Sohn-Beziehung in Kafkas Werk. „Das Urteil“ und „Brief an den Vater“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124743
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