In der vorliegenden Arbeit steht die Frage im Mittelpunkt, wie handlungs- und produktionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht einen Beitrag zum Verstehen von epischen Langformen wie Romanen leisten können.
In den Richtlinien und Lehrplänen werden diese Rezeptionsweisen bei der Behandlung von Romanen in der Schule zwar ausdrücklich verlangt, aber der Schwerpunkt bei der Romanlektüre liegt im Unterricht häufig auf textanalytischen und -interpretatorischen Methoden. Im Verlauf der Arbeit soll gezeigt werden, dass sich gerade handlungs- und produktionsorientierte Verfahren für die Erschließung von Romanen im Unterricht eignen und die Schüler auf besondere Art und Weise an die Texte heranführen können. Exemplarisch soll dies an Theodor Fontanes bekanntestem Gesellschaftsroman "Effi Briest" vorgestellt werden.
Aus dieser dargelegten Konzeption ergibt sich eine Zweiteilung der Arbeit: Im ersten Teil soll auf theoretischer Ebene in den handlungs- und produktionsorientierten Umgang mit Literatur eingeführt werden. Im zweiten Teil der Arbeit rückt dann Fontanes "Effi Briest" in das Zentrum der Betrachtung und es soll anhand dieses Werks aufgezeigt werden, wie ein sinnvoller handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit einem Roman aussehen kann und was er leistet.
Inhalt
1. Einleitung
2. Romane im Deutschunterricht
3. Begriffsbestimmung und Vorgeschichte
3.1 Definition
3.2 Historische Hintergründe
3.2.1 Literaturtheoretische Hintergründe
3.2.2 Pädagogische und lernpsychologische Hintergründe
4. Vertreter und Akzentuierungen
5. Grundlegende Annahmen eines handlungs- und produktions-orientierten Literaturunterrichts
5.1 Prinzipien
5.2 Ziele
5.2.1 Verstehen literarischer Texte
5.2.2 Mediendidaktik
5.2.3 Leseförderung
5.2.4 Imaginationsfähigkeit
5.2.5 Eigenes literarisches Schreiben
5.2.6 Identitätsfindung
5.2.7 Fremdverstehen
6. Methoden
6.1 Textproduktive Verfahren
6.2 Szenische Verfahren
6.3 Visuelle Verfahren
6.4 Akustische Verfahren
6.5 Verfahrenübergreifende Anmerkungen
7. Kritik und deren Erwiderung
8. Didaktische Vorüberlegungen zu Effi Briest
8.1 Mögliche Schwierigkeiten bei der Lektüre
8.2 Themen einer Unterrichtsreihe zu Effi Briest
9. Vorbemerkungen zum Untersuchungsgegenstand: Unterrichts- materialien und Lektürehilfen
10. Analyse und Reflexion handlungs- und produktionsorientierter Verfahren zu Effi Briest
10.1 Fontanes Erzähltechnik: Die Funktion epischer Ausführlichkeit:Ein visuelles Verfahren
10.1.1 Beschreibung des Verfahrens
10.1.2 Begründung und Ziele des Verfahrens
10.1.3 Weitere Anmerkungen und abschließende Beurteilung des
Verfahrens
10.2 Die Romanfiguren und ihre Beziehungen: Ein szenisches Verfahren
10.2.1 Beschreibung des Verfahrens
10.2.2 Begründung und Ziele des Verfahrens
10.2.3 Weitere Anmerkungen und abschließende Beurteilung des
Verfahrens
11. Zusammenfassung und Ausblick
12. Literaturverzeichnis
13. Anhang
Erklärung
„ Was soll ein Roman? […] Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte.“1 (Theodor Fontane, 1875)
1. Einleitung
Literarische Texte laden den Leser2 ein: Sie öffnen ihm Türen zu einer unbekannten Welt, in der er sich umschaut, zeigen ihm Figuren, deren Empfindungen er nachspürt, führen ihm Orte vor, die er lesend durchwandert und ermöglichen ihm, sich immer wieder neu in das Erzählte einzubringen, indem sie Reaktionen provozieren. So kann der Leser mit einem Romanhelden in Dialog treten, einen geschilderten Konflikt pantomimisch darstellen, eine Hörszene zu einem erzählten Geschehen erarbeiten oder eine Bildcollage zu einer im Text beschriebenen Landschaft erstellen.
Diese textproduktiven, szenischen, akustischen und visuellen Methoden lassen sich unter dem Begriff der handlungs- und produktionsorientierten Verfahren zusammenfassen, die seit Mitte der 80er Jahre Eingang in die Literaturdidaktik gefunden haben und seitdem auch in curricularen Vorgaben zu finden sind. In den Richtlinien und Lehrplänen des Landes Nordrhein-Westfalen heißt es, dass der Deutschunterricht „zur Förderung von Selbständigkeit und Verantwortlichkeit […] auf Handlungs- und Produktionsorientierung ausgerichtet“3 ist.
Gerade dort, wo Texte zunächst sperrig und widersprüchlich erscheinen, den Leser verunsichern und sein Erwartungsmuster sowie seinen Erfahrungsbereich durchbrechen, ist eine identifikatorische Auseinandersetzung mit der Lektüre im Sinne eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts hilfreich, um das Gelesene zu verarbeiten und mit der eigenen und gesellschaftlichen Praxis in Beziehung zu setzen. In diesem Zusammenhang kann der Roman als literarischer Text gesehen werden, der meist sowohl formal als auch inhaltlich anders als die Texte ist, denen Schüler im Alltag sonst begegnen, und der daher eine spezifische Verstehensleistung fordert.
In der vorliegenden Arbeit steht demnach die Frage im Mittelpunkt, wie handlungs- und produkionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht einen Beitrag zum Verstehen von epischen Langformen wie Romanen leisten können. In den Richtlinien und Lehrplänen werden diese Rezeptionsweisen bei der Behandlung von Romanen in der Schule zwar ausdrücklich verlangt,4 aber der Schwerpunkt bei der Romanlektüre liegt im Unterricht häufig auf textanalytischen und -interpretatorischen Methoden. Im Verlauf der Arbeit soll gezeigt werden, dass sich gerade handlungs- und produktionsorientierte Verfahren für die Erschließung von Romanen im Unterricht eignen und die Schüler auf besondere Art und Weise an die Texte heranführen können. Exemplarisch soll dies an Theodor Fontanes bekanntestem Gesellschaftsroman Effi Briest vorgestellt werden, dessen Behandlung in der gymnasialen Oberstufe in den vom Schulministerium erlassenen Vorgaben für die schriftlichen Abiturprüfungen im Fach Deutsch in diesem und den kommenden beiden Jahren gefordert wird.5
Aus dieser dargelegten Konzeption ergibt sich eine Zweiteilung der Arbeit:
Im ersten Teil soll auf theoretischer Ebene in den handlungs- und produktionsorientierten Umgang mit Literatur eingeführt werden. Da der Schwerpunkt der Arbeit auf der Romandidaktik liegt, sollen zunächst einleitend Überlegungen zur Romanlektüre im Unterricht vorgestellt werden. Für ein Verständnis des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes ist dann nach einer ersten Begriffsbestimmung die Erläuterung seiner Vorgeschichte und Entwicklung unerlässlich. Da er mittlerweile zu einem Schlagwort und zum „meistdiskutierten Paradigma des Literaturunterrichts im deutschen Sprachraum“6 geworden ist, erscheint es umso wichtiger, in ihm die Differenzierungen auszumachen. Daher sollen im Weiteren die Hauptvertreter mit ihren verschiedenen Akzentuierungen vorgestellt werden. Im Anschluss werden dann die wichtigsten Grundprinzipien und Ziele des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts dargelegt, wobei diese vor allem auf die Romandidaktik bezogen werden sollen.
Auch bei der darauffolgenden Erläuterung der Methoden des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes soll der Fokus auf der Romandidaktik liegen. Da das Repertoire der Arbeitsweisen mittlerweile sehr groß ist, kann an dieser Stelle nur ein Überblick über Vorschläge, Modelle und Zugriffe gegeben werden. Eine vertiefte Darstellung der Verfahren, die für die Behandlung von Effi Briest im Unterricht geeignet erscheinen, ist erst im zweiten Teil der Arbeit sinnvoll, um diese dann in ihrer konkreten Umsetzung besser beurteilen zu können. Da es hierzu aber auch notwendig ist, sich mit der Kritik an der handlungs- und produktionsorientierten Arbeitsweise zu beschäftigen, soll dies im letzten Abschnitt der theoretischen Auseinandersetzung mit den Verfahren geschehen.
Im zweiten Teil der Arbeit rückt dann Fontanes Effi Briest in das Zentrum der Betrachtung und es soll anhand dieses Werks aufgezeigt werden, wie ein sinnvoller handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit einem Roman aussehen kann und was er leistet. Zunächst geht es einleitend um didaktische Vorüberlegungen zum Einsatz dieses Romans im Unterricht und um allgemeine Anmerkungen zu den untersuchten Lehrerhandreichungen und Lektürehilfen, bevor dann die Anwendung des bisher Erläuterten zu den handlungs- und produktionsorientierten Verfahren konkret auf die Durchführung von Unterricht zu Effi Briest erfolgt. So sollen zwei handlungs- und produktionsorientierte Arbeitsweisen aus den Lehrmaterialien zu diesem Roman vorgestellt und analysiert werden. Hierbei werden die Methoden ausführlich hinsichtlich ihrer Ziele und der Begründung für ihren Einsatz im Unterricht untersucht. Es soll geprüft werden, ob und wie sie zur Erschließung einzelner Aspekte von Effi Briest beitragen können und welche Schwierigkeiten bei der Durchführung denkbar sind.
Den Abschluss der Arbeit bildet dann ein zusammenfassender Überblick über die wesentlichen Ergebnisse der Erarbeitung und die daraus folgenden Konsequenzen.
2. Romane im Deutschunterricht
In Publikationen zur Literaturdidaktik, in Lehrplänen, Deutschbüchern und somit im Unterricht ist der Roman vor den 1960er Jahren zumeist unberücksichtigt geblieben. Erst seitdem findet eine deutlichere Betonung der Romanlektüre im Unterricht statt: So erfolgte in den 60er und 70er Jahren eine grundsätzliche didaktische Besinnung auf die Gattung Roman, die besonders in der Betonung eines analytischen Erschließens seiner Struktur mündete. Anfang der 80er Jahre setzte sich dann die Einsicht durch, dass dieses analytische Vorgehen zu einseitig ist, und ein handelnder und produktiver Umgang mit dem Roman fand vermehrt Eingang in die Didaktik und schließlich auch in den Unterricht.
Dennoch kann heute bei der Erarbeitung von Romanen im Unterricht eine deutliche Dominanz analytischer und interpretatorischer Anteile – vorwiegend in Form des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs – festgestellt werden: Mit gezielten Lehrerfragen soll das Denken der Schüler zum gewünschten Interpretationsergebnis geführt werden. Ein solches Vorgehen wird allerdings weder dem Schüler noch dem Roman an sich gerecht: Zum einen sind an dieser Art von Unterrichtsgesprächen häufig nur einige wenige, analytisch-begabte Schüler beteiligt, während die mehr praktisch Begabten und langsamen Lerner den Anschluss verlieren. Zum anderen fordern Inhalt und Form des Romans eine starke Ich-Beteiligung des Lesers, die mit dem alleinigen, distanzierten Sprechen über den Text nicht eingelöst werden kann: Das Lesen von Romanen ist ein Erlebnis, weil in ihnen von Figuren mit unterschiedlichsten Motiven, Träumen und Konflikten sowie von unerwarteten Geschehnissen an unbekannten Orten und fremden zeitlichen Umständen erzählt wird. Dies kann den Leser in die Welt des Romans entführen und seine Phantasie anregen, so dass die Handlung wie ein ‚Kopfkino’ vor dem inneren Auge abläuft und er selbst ganz in die Geschichte mit hineintritt. Daneben fordert der Roman auch in formaler Hinsicht als umfangreiche, komplexe und häufig auch schwer zu durchblickende Gattung eine vertiefte, selbsttätige Auseinandersetzung, weil mit deren Hilfe seine produzierte Vielschichtigkeit persönlich erfahren und dann besser durchschaut werden kann.
Diese genannten Aspekte zeigen, dass ein rein analytisch-interpretatorischer Zugang zu Romanen häufig nicht genügt, um sie als Lernmedium und Lerngegenstand in vollem Ausmaß zur Geltung kommen zu lassen. An dieser Stelle können handlungs- und produktionsorientierte Verfahren einen Zugang zu Romanen schaffen, der sowohl dem Schüler als auch dem Roman selbst gerecht werden und ausdrücklich analytisch-interpretatorische Herangehens-weisen ergänzen bzw. eventuell auch ersetzen kann. Darüber hinaus können sie auf besondere Art und Weise auch die Zielsetzungen der Romanlektüre im Deutschunterricht verfolgen und erfüllen: Handlungs- und produktions-orientierte Verfahren zu Romanen können die Freude am Lesen, die Imaginationsfähigkeit, die Identitätsfindung sowie das Fremdverstehen der Schüler fördern, zur Gewinnung der Texterschließungs- und Medienkompetenz beitragen und die Entwicklung der ästhetischen Kompetenz der Schüler durch eigenes literarisches Schreiben begünstigen.7
Diese zusammenfassende Aufzählung soll nur einen kurzen Einblick in die Möglichkeiten eines ‚anderen’ Umgangs mit Romanen geben, die im Laufe der Arbeit weiter ausgeführt und dann auch differenzierter betrachtet werden sollen.
Dabei soll es darum gehen, zwei Aspekte, die in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, darzulegen: Erstens sind handlungs- und produktions-orientierte Verfahren bei der Romanlektüre im Deutschunterricht sinnvoll und notwendig und zweitens eignen sich gerade solche Arbeitsweisen für die Behandlung von Romanen, auch wenn dies in didaktischen Publikationen bisher fast unberücksichtigt geblieben ist.8 Da diese zwei Gesichtspunkte nur schwer voneinander zu trennen sind, müssen sie bei der Bearbeitung der einzelnen Themenbereiche stets mitbedacht werden, auch wenn nicht immer beide eine ausdrückliche Erwähnung finden.
3. Begriffsbestimmung und Vorgeschichte
3.1 Definition
In den letzten 25 bis 30 Jahren haben vermehrt solche Arbeitsweisen in den Literaturunterricht Eingang gefunden, die eine Ergänzung zur traditionellen Textanalyse und -interpretation darstellen: Einerseits sprechen die Schüler über den Text, andererseits tun sie aber auch etwas mit ihm, indem sie handlungs- und produktionsorientierte Verfahren anwenden. Wenngleich das Unterrichts-gespräch immer noch die dominierende Form bei der Behandlung literarischer Texte ist, zeigt sich doch, dass die handlungs- und produktionsorientierten Methoden im Literaturunterricht ihren sinnvollen Platz haben.
Der relativ junge handlungs- und produktionsorientierte Ansatz „zielt auf einen Unterricht, in dem sich die […] Schüler nicht nur lesend und analysierend mit einem Text beschäftigen, sondern der sie in literarischen und anderen ästhetischen Ausdrucksformen tätig werden lässt“.9 Zwar haben sie schon immer im Unterricht Produkte anfertigen und Handlungen vollziehen müssen, aber unter dem Begriff ‚handlungs- und produktionsorientiert’ wird nicht das herkömmliche sachliche Arbeiten verstanden, sondern vielmehr ästhetisch-künstlerisch Aktivität. Der schöpferisch-spielerische Umgang mit der Sprache findet sowohl in der Durchführung von Handlungen, die sich auf den Ausgangstext beziehen und diesen gestalterisch umsetzen, als auch in der Herstellung von eigenen literarischen Produkten seinen Niederschlag. Diese beiden Richtungen der schülerischen Tätigkeit werden mit den Attributen ‚handlungsorientiert’ und ‚produktionsorientiert’ beschrieben:10
Mit dem Stichwort ‚Handlungsorientierung’ wird der Bezug zur Schulpädagogik hergestellt, in der Lernformen diskutiert werden, die Denken, Fühlen und Handeln miteinander zu verbinden suchen und somit auf ein ganzheitliches Tun abzielen.11 Hinter diesem didaktischen Konzept steht die Feststellung, dass die heute Heranwachsenden einer handlungsarmen Lebenswelt begegnen und dass diesem „Verschwinden der Wirklichkeit“12 – wie es Hentig bereits 1984 in einem Buchtitel formulierte – entgegengewirkt werden muss.13 So sollen die Schüler im Unterricht dazu angeregt werden, kognitive, sinnliche und affektive Zugänge zu Literatur miteinander zu vereinigen und in ihrem Umgehen mit den Texten zum Ausdruck zu bringen. Durch ihr Handeln machen sich die Schüler „die eigene konkrete literarische Rezeption“14 bewusst und konfrontieren diese mit dem Ausgangstext des Autors. Es geht demnach um die Bewusstmachung und Illustration von Ich-Beteiligung am Lese- und Verstehensprozess.15
Mit der Bezeichnung ‚produktionsorientiert’ wird der Akzent auf konstruktive Tätigkeiten der Schüler gelegt: Sie schaffen selbst etwas Neues, indem sie an einen vorhandenen Text anknüpfen und sich von ihm in ihrem Produzieren anregen lassen. In diesem Sinne können die Schüler als ‚Koproduzenten’ des Autors verstanden werden, die sich Literatur subjektiv und interessengeleitet aneignen.16 Der Text wird dabei nicht als autonomieästhetisch isoliertes Kunstwerk gesehen, das in sich abgeschlossen ist, sondern als ‚Partitur’, die erst durch die Lektüre und die weitere Auseinandersetzung entfaltet wird.
Bei den verschiedenen Vertretern des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes gibt es unterschiedlich starke Betonungen der einen oder anderen Richtung.17 Dies erklärt, weshalb in einigen Publikationen von ‚operativen’, ‚produktiven’ oder ‚kreativen’ sowie ‚handlungs- und produktionsorientierten’ Verfahren die Rede ist. Die Gemeinsamkeiten der Zugänge sind aber so groß, dass sich die begrifflichen Schwerpunktsetzungen mit dem Doppelbegriff ‚handlungs- und produktionsorientiert’ zusammenfassen lassen. Spinner verknüpft in diesem Zusammenhang die Akzentuierungen im Hinblick auf den Lehr-Lern-Kontext sehr präzise in der Definition „Gemeint ist ein Unterricht, bei dem die Schüler selbst produktiv tätig werden“.18 Dieses Verständnis von handlungs- und produktionsorientiertem Unterricht soll Grundlage dieser Arbeit sein.
3.2 Historische Hintergründe
Die Erscheinungsformen des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts berufen sich auf eine lange Tradition, die bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht: Bereits Comenius, Rousseau und Pestalozzi forderten einen auf ganzheitliches Lernen ausgerichteten Unterricht, in dem die Schüler durch eigenes Handeln Erkenntnisse gewinnen sollten.19 Solche Konzepte, die einseitig kognitiv ausgerichtete Formen des Lernens durch sinnliche Zugänge zu ergänzen versuchen, wurden über die Jahrhunderte hinweg vereinzelt wieder aufgegriffen. Als erstes konkretes Beispiel für einen handlungs- und produktionsorientierten Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur kann Campes Robinson der Jüngere von 1779 angesehen werden.20
In den 1980er Jahren wurde der handlungs- und produktionsorientierte Umgang mit Literatur immer selbstverständlicher und kam jetzt zu seinem eigentlichen Ausbau. 1984 wurde der Terminus ‚handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht’ von Haas mit der Erscheinung seines gleichnamigen Buches in die Diskussion eingebracht und im selben Jahr erschien auch Waldmanns bedeutsamer Aufsatz Grundzüge von Theorie und Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts.21 Mit diesen beiden Publikationen hat sich der handlungs- und produktionsorientierte Ansatz in der Literaturdidaktik etabliert und verschiedene zeitgenössische Konzepte eines ‚anderen’ Umgangs mit Literatur und Lernenden gebündelt: So hat er Anregungen aus der Literaturtheorie und der pädagogischen Psychologie in ein didaktisches Konzept für den Literaturunterricht aufgenommen, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen.22
3.2.1 Literaturtheoretische Hintergründe
Als der wesentliche Ausgangspunkt für die Entwicklung des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes kann die Rezeptionsästhetik gelten. Vor allem die Konstanzer Schule rückte den Leser in das Interesse der literaturtheoretischen Betrachtung und zeigte auf, dass dieser an der Sinnbildung eines Textes mitwirkt und sie durch sein Lesen immer mitschafft. So werden laut Iser Bedeutungen „literarischer Texte […] überhaupt erst im Lesevorgang generiert“.23 Er spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten ‚Leerstellen’, denen im Kommunikationsprozess zwischen Text und Leser eine entscheidende Rolle zukommt: Sie befinden sich zwischen bestimmten schematisierten Ansichten des Textes und öffnen ihn damit für den Leser zur Mitwirkung an der Bedeutungskonstitution.24 Allerdings lassen die Leerstellen keine vollkommene Freiheit bei ihrem Ausfüllen zu, sondern in der textlichen Gestaltung ist ein gewisser Grad an Füllung vorgegeben.25
Die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren setzen genau an diesen Leerstellen an und fördern bei den Schülern die Entfaltung eigener Vorstellungen zum Text. Dabei darf es keinesfalls um ein willkürliches Erzeugen neuer Formen oder wahlloses Handeln im Sinne einer radikalen ‚Leerstellenbeseitigung’ gehen, sondern die Appellstruktur des Textes muss gezielt und bedacht mit der Aktivität der Schüler verbunden werden.
Neben rezeptionsästhetischen Modellen führten auch Annahmen des Poststrukturalismus zum Text-Leser-Verhältnis zu einer neuen Betonung der Schüleraktivität im Literaturunterricht. Ein Text wird nicht als geschlossenes Gebilde angesehen, sondern als dynamische Gestalt, in die der Leser eingreifen muss. So formuliert Barthes:
Er [der Text; Anm. d. Verf.] ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; […] er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren […].26
Diesen ‚Spuren’ wird mithilfe handlungs- und produktionsorientierter Verfahren gefolgt und sie werden als Ausgangspunkt für das Aufbrechen des Textes genommen.
Die dekonstruktivistische Literaturtheorie argumentiert darüber hinaus, dass literarische Texte in sich diskrepant sind und damit jede abschließende Deutung verbieten. Mithilfe von handlungs- und produktionsorientierten Arbeitsweisen können daher unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten erkundet und das Gegenläufige sowie Heterogene des Textes aufgezeigt werden.27
In ähnlicher Weise hat auch die konstruktivistische Literaturtheorie einen Beitrag zur Entwicklung des handlungs- und produktionsorientierten Umgangs mit Texten beigetragen: Literatur wird als subjektives Konstrukt verstanden, in dem der Leser sich den Sinn selbst schafft. Damit darf im Literaturunterricht nicht von außen der Zielzustand eines Textes vorgegeben werden, sondern der Schüler muss angeregt werden, seine Konstruktion des Textes zu hinterfragen, zu überprüfen, weiterzuentwickeln und auch gestalterisch zu verwandeln.
Auch differenztheoretische Überlegungen in der Tradition des russischen Formalismus und Prager Strukturalismus haben den handlungs- und produktionsorientierten Ansatz mitgeprägt, da sie auf die Produziertheit von Texten und ihre Literarizität sowie Poetizität hingewiesen haben. So können handlungs- und produktionsorientierte Methoden die Erzeugung literarischer Texte durch den Autor mithilfe verschiedener Verfahren der binnen- und außenliterarischen Verfremdung verdeutlichen und auch die Schüler anregen, solche Gestaltungsmöglichkeiten zu erproben.28
3.2.2 Pädagogische und lernpsychologische Hintergründe
Neben diesen literaturtheoretischen Hintergründen sind auch pädagogische und lernpsychologische Konzepte für die Entwicklung handlungs- und produktions-orientierter Verfahren wichtig gewesen.
In der Schulpädagogik wird schon seit dem 19. Jahrhundert mit der Kritik am Frageunterricht die Handlungsorientierung stark betont: Reformpädagogische Bestrebungen zielen auf einen offenen und ganzheitlichen Unterricht, in dem die Selbsttätigkeit der Schüler im Mittelpunkt steht.29 Nur durch ihre eigene Erfahrung und durch aktives Tun kann eine ‚echte’ Auseinandersetzung mit den Lerninhalten geschehen. Am fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch im Literaturunterricht wird demnach kritisiert, dass die Schüler scheinbar nur die vom Lehrer vorgegebene Textinterpretation nachvollziehen müssen, statt sich selbst auf den Text einzulassen sowie eigene Deutungsansätze zu entwickeln und auch tätig-sinnlich zu erproben. Mithilfe handlungs- und produktions-orientierter Verfahren sollen die Schüler zur selbst-tätigen Mitarbeit angeregt werden: Sie sind nicht länger Konsumenten, sondern Produzenten im Unterricht.
Die Entwicklung handlungs- und produktionsorientierter Verfahren wurde darüber hinaus auch von der kognitiven Wende in der Lernpsychologie beeinflusst. Der Kognitivismus betont die Wichtigkeit der Eigenaktivität des Lerners beim Erwerb von Wissen und Fähigkeiten. Um sogenanntes ‚träges Wissen’ zu vermeiden, muss die Anwendung des Gelernten bzw. zu Lernenden im Vordergrund stehen. Dabei sind besonders individuelle Lernwege förderlich und tragen zu einem besseren Verstehen bei.30
Dieses Bild vom Lernenden, das die behavioristische Sichtweise abgelöst hat, findet sich im handlungs- und produktionsorientierten Ansatz wieder, da er auf die Eigenaktivität des Schülers ausgerichtet ist und individuelle Zugänge zu literarischen Texten anregt. Spinner sieht in diesem Zusammenhang Schüler nicht nur als Subjekte an, die von dem, was ein Lehrer ihnen beibringen möchte, noch nichts wissen, sondern formuliert, dass sie „immer schon in einen Prozess der selbsttätigen Erschließung von Welt involviert sind“.31 Dieser Erschließung kommen handlungs- und produktionsorientierte Verfahren entgegen.
Abschließend lässt sich zur Entwicklung des handlungs- und produktions-orientierten Ansatzes festhalten, dass handelnde und produktive Verfahren bisher zumeist nur für kurze, moderne Texte – vor allem für Kinder- und Jugendlyrik sowie Kurzgeschichten – entworfen wurden. Überzeugende Beispiele eines handlungs- und produktionsorientierten Umgangs mit längeren Texten gibt es nur vereinzelt.32 In dieser Arbeit wird daher näher darauf einzugehen sein, weshalb sich gerade epische Langformen für solche Methoden eignen und dass demnach ein vermehrter Einsatz dieser Verfahren in der Romandidaktik wünschenswert ist.
4. Vertreter und Akzentuierungen
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der handlungs- und produktionsorientierte Ansatz kein einheitliches didaktisches Konzept darstellt, sondern sich vielmehr hinsichtlich der Zugänge, Methoden und Zielsetzungen unterscheidet. Im Folgenden sollen die Positionen Waldmanns, Spinners und Haas’ kurz vorgestellt werden, weil sie als die wichtigsten drei Hauptvertreter dieses ‚anderen’ Umgangs mit Literatur gelten können. Dabei ist eine Erläuterung ihrer Vorstellungen von Zielen, Arbeitsweisen und dem Verhältnis von Analyse und Produktion bei handlungs- und produktionsorientierten Verfahren zu erzählenden Texten mit Blick auf den zweiten Teil der Arbeit wichtig, weil dort dann unter anderem untersucht werden soll, an welches Grundverständnis des handlungs- und produktionsorientierten Umgangs mit Literatur die vorgestellten Methoden zu Effi Briest anknüpfen. Da auch ein szenisches Verfahren analysiert werden soll, wird an dieser Stelle außerdem Scheller vorgestellt, von dem die wichtigsten Anregungen zur szenischen Interpretation literarischer Texte stammen.33
Waldmann betont die enge Verknüpfung von produktiven Verfahren und der Erarbeitung der textlichen Struktur in formaler und inhaltlicher Hinsicht. Die Schüler sollen durch einen produktionsorientierten Umgang mit den Texten erfahren, dass und als was diese produziert worden sind und sich dann auch selbst an solchen Produktionen versuchen. Insofern sieht Waldmann Produktion und Analyse in einem engen Zusammenhang und keinesfalls als konkurrierende und sich ausschließende Verfahren.34 Er nennt als das wichtigste Ziel des Literaturunterrichts, „den Schülern Erfahrungen im Umgang mit Literatur zu vermitteln“.35 Diese Erfahrungen können die Schüler mithilfe verschiedener Verfahren des Literaturumgangs machen, die Waldmann in fünf Kategorien zusammenfasst: Literaturspiele, aktives und produktives Lesen, produktive Konkretisation literarischer Texte, produktive Veränderung literarischer Texte sowie produktive Auseinandersetzung mit literarischen Texten.36 Diese unterschiedlichen Methoden sind bei ihm jeweils verschiedenen Unterrichts- bzw. Verstehensphasen zugeordnet.
Für Spinner ist ein Hauptziel des Literaturunterrichts die Förderung des Fremdverstehens und der Imaginationsfähigkeit der Schüler. Er geht davon aus, dass literarische Texte sich auch widerständig zeigen können und dass diese Schwierigkeiten mithilfe handlungs- und produktionsorientierter Verfahren bewusst thematisiert werden können. Daneben betont er aber auch den Beitrag dieser Methoden für einen identitätsorientierten Literaturunterricht, in dem sich die Schüler in besonderem Maße persönlich angesprochen fühlen und der das Entdecken und Modellieren ihrer Subjektivität in den Vordergrund rückt. Dies kann mithilfe textproduktiver sowie mit szenischen, visuellen und akustischen Gestaltungen geschehen.37 Solchem kreativen Umgang mit Texten misst Spinner einen Eigenwert zu, der nicht immer einer anschließenden Reflexion und Analyse bedarf, weil er einen Schritt im Interpretationsprozess darstellt.38
Als weiterer Hauptvertreter des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts kann Haas genannt werden. Für ihn stellt Literatur ein ästhetisches System dar, das als Spielfeld für vielfältige Erfahrungen dienen kann. In der Tradition reformpädagogischer Forderungen geht es Haas nicht um vom Lehrer angeleitete Textanalyse und -interpretation, sondern vielmehr um einen lebensbezogenen, emotionalen und damit individuellen Zugang zu Literatur. Er begründet dies mit dem Hinweis, dass für viele Schüler „der Weg zur analytischen Intelligenz über die emotionale Intelligenz“39 führt und dass man auch langsamen Lernern im Literaturunterricht gerecht werden müsse.40 Damit ist bei ihm der Einsatz handlungs- und produktionsorientierter Verfahren in die übergreifende Forderung nach einem mehr schülerorientierten und offenen Literaturunterricht eingebunden, der den Schülern Freude am Lesen vermittelt. Bei der Darstellung seiner methodischen Zugänge zu erzählerischen Texten finden sich vermehrt textproduktive und nur vereinzelt graphisch-bildliche, auditive sowie gestisch-pantomimische Arbeitsweisen, aus denen sich auf ganz natürliche Weise analytisch-kognitive Prozesse ergeben.
Von Scheller stammen die meisten Hinweise zu szenischen Verfahren im handlungs- und produktionsorientierten Unterricht. Er geht davon aus, dass die Interpretation eines Textes durch Handlungen der Schüler mit ihm erfolgt. Unter ‚szenischer Interpretation’ versteht er das Handeln in vorgestellten Situationen, das eine Auseinandersetzung mit dem Text anregt und die Beziehung zwischen Text und Leser intensiviert. Dabei macht sie andere Interpretationsverfahren nicht überflüssig, kann aber neue Zugänge zum Text ermöglichen.41 So werden das Pantomimenspiel, das Bauen von Standbildern, das Spielen von Szenen usw. mit dem Ziel durchgeführt, Leseerfahrungen sichtbar zu machen, das historische und soziale Umfeld und den Habitus von Personengruppen zu erkunden und sich vor allem in Figuren und Szenen einzufühlen und diese zu spielen.42
Inwieweit sich diese vier unterschiedlichen Akzentsetzungen bei einem handlungs- und produktionsorientierten Umgang mit Literatur in den jeweiligen Verfahren zu Effi Briest widerspiegeln, wird im zweiten Teil der Arbeit zu untersuchen sein.
5. Grundlegende Annahmen eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts
Im Folgenden werden die wichtigsten Prinzipien und Ziele des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts dargestellt, wobei sich beide Aspekte aufeinander beziehen und daher nicht vollkommen getrennt behandelt werden können. Dies geschieht mit besonderem Blick auf die Romandidaktik und es soll gezeigt werden, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren bei der Romanlektüre im Unterricht sinnvoll und notwendig sind.
5.1 Prinzipien
In Anlehnung an die Erkenntnisse der Lernpsychologie gehen die Vertreter des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts davon aus, dass eigenes Tun intensivere Lernprozesse ermöglicht als die bloße Anweisung und das Unterrichtsgespräch. Der Umgang mit Romanen im Unterricht sollte die Schüler daher zur Selbsttätigkeit anregen, indem er handlungsbezogen, produktiv und produzierend ist. So werden Gelegenheiten geschaffen, bei aktiver und persönlicher Auseinandersetzung mit dem Roman eigene literarische Erfahrungen zu machen. Damit wird der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht dem schulischen Auftrag zur Ausbildung der Handlungskompetenz in besonderer Weise gerecht, weil er die Selbsttätigkeit der Schüler in den Mittelpunkt stellt.
Der schulische Unterricht zielt darauf ab, Schüler in ihrer Entwicklung zu sich selbst verwirklichenden, mündigen Persönlichkeiten in sozialer Verantwortung zu fördern. Daher muss er den Heranwachsenden über die Ausbildung ihrer Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit eine allgemeine Grundbildung ermöglichen, die sie befähigt, ihr privates, berufliches und öffentliches Leben in sittlicher Verantwortung selbstbestimmt zu gestalten.43 Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung setzt die Fähigkeit zum Handeln voraus, welche eine im Menschen angelegte, aber noch nicht ausgebildete Disposition ist. Somit ist es die Hauptaufgabe von Unterricht, die allgemeine Handlungskompetenz zu fördern und damit die Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Urteilskraft auszubilden. In diesem Sinne können alle Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes auch unter dem Stichwort ‚handelnder Umgang mit Texten’ zur Förderung der Handlungskompetenz zusammengefasst werden.44 Gerade Romane eignen sich für diese Art der Auseinandersetzung mit Literatur, weil sie häufig aufgrund ihrer sprachlich-stilistischen und inhaltlichen Komplexität eine Hürde darstellen, die eine allein theoretische Behandlung nicht überwinden kann. Diese formale und inhaltliche Vielschichtigkeit der Texte bietet aber gerade handlungs- und produktionsorientierten Verfahren zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Ein weiteres Prinzip des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts ist die Betrachtung von nicht-analytischen Zugangsweisen zu Texten als Verstehens- und Interpretationsleistung.45 Demnach bewirken handelnde und produktive Arbeitsweisen, dass die Schüler kognitive Einsichten in die Inhalte, Formen, Wirkungen und Leistungen der Texte gewinnen. Mithilfe handlungs- und produktionsorientierter Verfahren können die Schüler bei der Auseinandersetzung mit Romanen erfahren, wie diese sprachlich-stilistisch und inhaltlich-thematisch konzipiert sind und gerade in ihrem So-Sein ihre Wirkung auf den Leser entfalten sowie ihre Funktion für das Romanverständnis erfüllen.46
Insgesamt sieht sich der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht als individualisierender Unterricht, der nicht auf einheitliche Ergebnisse zielt, sondern auch alles Überraschende und Andere miteinbeziehen will. Damit berücksichtigt er in besonderem Maße die Unterschiedlichkeit der Schüler und gesteht ihnen verschiedenartige Verarbeitungsweisen literarischer Texte zu. Wenn Wangerin in seiner Auflistung methodischer Probleme bei der Romanlektüre im Unterricht anmerkt, dass „jeder Text Sinnüberschüsse hat, denen keine Planung gerecht werden kann und die sich im jeweiligen Horizont des Lesenden unterschiedlich aktualisieren“,47 so lässt sich dieser Hinweis gerade als Aufforderung zu handlungs- und produktionsorientierten Verfahren lesen: Mit ihnen kann der Versuch unternommen werden, an den individuellen Leseerfahrungen der Schüler anzuknüpfen, diese aufzugreifen und in – ebenso individuelle – Ausdrucksformen zu lenken.
In diesem Zusammenhang steht auch die vom handlungs- und produktions-orientierten Ansatz aufgegriffene Annahme der Rezeptionsästhetik, dass der Leser den Sinn eines Textes immer mitschafft. Der Text ist kein geschlossenes Gebilde, das seine Bedeutung an den Leser im Leseprozess ‚übergibt’, sondern er fordert die aktive Beteiligung des Lesers am Verstehensprozess.
5.2 Ziele
Der Einsatz handlungs- und produktionsorientierter Verfahren bedarf einer genauen Reflexion ihrer Ziele und Funktionen. Die folgenden Erläuterungen zu sieben Zielen der handlungs- und produktionsorientierten Behandlung von Romanen im Unterricht können nur einen allgemeinen Überblick geben und es muss bedacht werden, dass zum einen die verschiedenen Vertreter unterschiedliche Akzentuierungen vornehmen und zum anderen nicht jede Methode gleichermaßen jedes Ziel erfüllt.
Die Zielsetzungen werden zwar aus der Sicht des handlungs- und produktions-orientierten Ansatzes formuliert, aber dennoch können sie als allgemeine Zielsetzungen im Umgang mit Romanen im Unterricht gelten, auch wenn dies nicht einzeln erwähnt wird. Daran wird deutlich, dass die handelnden und produktiven Verfahren stets im Dienst der Schüler bzw. der Romane als Lernmedien und -gegenstände und der damit verbundenen Unterrichtsziele stehen. Es darf keinesfalls darum gehen, einseitig von den Verfahren her Zielsetzungen zu entwickeln, sondern die Auswahl und der Einsatz der Verfahren müssen auf die zu erreichenden Lernziele abgestimmt werden.
5.2.1 Verstehen literarischer Texte
Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren können den Schülern vor allem das Verstehen literarischer Texte ermöglichen. Sie sollen eine Sensibilität für die Formen und Inhalte von Romanen, ihre Wirkungen sowie besonders für ihre Leistungen gewinnen, diese erproben und üben sowie sich kognitiv, emotional und imaginativ in die Romane einbringen. Waldmann hebt dabei die Differenz- und Intertextualitätserfahrungen der Schüler hervor und betont, dass sie die Produziertheit literarischer Texte erkennen können sollen. Dies spielt auch für Spinner eine wesentliche Rolle: Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren sollen zur Form- und Stilanalyse eingesetzt werden, da Besonderheiten der Ausdrucksweise durch Handlungs- und Produktions-aufgaben im Vergleich des Originaltextes und des eigenen Textes besser sichtbar gemacht werden können.48 Bei Romanen kann dies im Unterricht aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität nur an einzelnen Stellen und Beispielen erfolgen, die aber so gewählt sein sollten, dass sie über das Erfassen einzelner formaler Aspekte hinausweisen und zum Gesamtverständnis des Romans beitragen.
Schüler können mithilfe handlungs- und produktionsorientierter Verfahren auch die inhaltliche Bedeutung eines Textes erfassen, wenn sie sich beispielsweise in Figuren hineinversetzen. Dazu laden Romane in besonderem Maße ein, weil sie zumeist mehrperspektivisch erzählen und verschiedene Handlungsträger mit ihren Motiven, Hoffnungen, Wünschen und Problemen vorstellen, an welche die Schüler anknüpfen können. Dies fasst Spinner unter dem Begriff des ‚Fremdverstehens’ zusammen, wobei er damit nicht nur den Text als solchen, sondern auch die Befähigung zum Fremdverstehen als anthropologisches Phänomen in einer individualisierten Gesellschaft meint:49 Zum einen können literarische Figuren Projektionsflächen für eigene Probleme des Lesers sein, aber darüber hinaus halten sie zum anderen immer auch zur Empathiefähigkeit an. Somit steht das Fremdverstehen nicht nur im Dienst des Textverstehens, sondern auch umgekehrt das Textverstehen im Dienst des Fremdverstehens.50 Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren einen wichtigen Beitrag zur Texterschließung in formaler und inhaltlicher Hinsicht leisten können.
5.2.2 Mediendidaktik
Daneben kann als zweiter wichtiger Aspekt handlungs- und produktions-orientierter Verfahren die Mediendidaktik genannt werden: Auf der einen Seite reagieren die Methoden auf die veränderte Rezeptionsweise von Kindern und Jugendlichen, die sich in Form einer passiven Konsumentenhaltung zeigt, indem sie die Fähigkeit zum anschaulichen Denken fördern und die Heranwachsenden tätig werden lassen. Auf der anderen Seite sind solche Verfahren auch für einen medienintegrierenden Unterricht geeignet, der die Schüler zu einem angemessenen und sinnvollen Einsatz von Film, Hörspiel, Computer usw. anleiten will. Durch die selbständige Produktion werden die Schüler dabei auch in ihrer Medienkompetenz gefördert.51
[...]
1 Fontane: Roman, S.53.
2 Im Folgenden wird bei Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gebraucht. Dies geschieht nicht in diskriminierender Absicht und selbstver-ständlich sind damit stets auch weibliche Personen (Leserinnen, Schülerinnen, Lehrerinnen etc.) gemeint.
3 Richtlinien und Lehrpläne, S.47.
4 Vgl. Richtlinien und Lehrpläne, S.55. Hier heißt es: „Produktionsorientierte Verfahren unterstützen – im Umgang mit den epischen […] Texten – die Verstehensvorgänge.“
5 Vgl. Vorgaben zu den unterrichtlichen Voraussetzungen für die Abiturprüfungen Deutsch. Online unter www.schulministerium.nrw.de.
6 Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, S.247.
7 Vgl. Spinners Zusammenfassung der Zielsetzungen für den Literaturunterricht, die auf die Romanlektüre übertragen werden kann, und die Ausführungen in den Richtlinien und Lehrplänen zu den Zielen des Faches Deutsch. Vgl. Spinner: Zielsetzungen, S.168-172. Vgl. Richtlinien und Lehrpläne, S.5f.
8 Hierzu bemerkt Wangerin: „Produktive Rezeptionsverfahren werden mittlerweile von Rahmenrichtlinien gefordert, und die Behandlung von Romanen im Unterricht kann auf sie kaum verzichten. Dennoch gibt es bislang keine zusammenfassende Darstellung kreativer Möglichkeiten für die Romanlektüre.“ Wangerin: Romane, S.609.
9 Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, S.247.
10 Handlungsorientierung einerseits und Produktionsorientierung andererseits lassen sich nicht immer exakt trennen, sondern es sind „vielfältige Übergänge und Mischformen möglich“. Haas/Menzel/Spinner: Literaturunterricht, S.18.
11 Gudjons bemerkt zum Begriff der Handlungsorientierung, dass dieser „zunächst einmal als eine Art Sammelname für recht unterschiedliche methodische Praktiken verwendet wurde und wird.“ Dennoch stellt er fest, dass die Gemeinsamkeit der Methoden „die eigentätige, viele Sinne umfassende Auseinandersetzung und aktive Aneignung eines Lerngegenstandes“ ist. Gudjons: Handlungsorientiert, S.8.
12 Hentig: Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit.
13 Gudjons beschreibt den Wandel der kindlichen Lebenswelt anhand der Veränderungen im demographischen Bereich, in der gegenständlichen Ausstattung von Kindheit, im Raumerleben und im Umgang mit Fernsehen und elektronischen Medien. Vgl. Gudjons: Handlungsorientiert, S.11-16.
14 Haas/Rupp/Waldmann: Produktionsorientierter Umgang, S.8.
15 Vgl. ebd., S.8.
16 Zumeist wird der Begriff ‚produktive Verfahren’ nur auf schriftliche Methoden begrenzt. Allerdings müssen daneben aber auch akustische, visuelle und szenische Gestaltungen zu schülerischen ‚Produktionen’ gezählt werden.
17 Hierauf wird unter Punkt 3 näher eingegangen.
18 Spinner: Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren im Literaturunterricht, S.175. [Herv. d. Verf.].
19 Comenius stellt in seiner Didactica magna das „Lernen durch Tun“ als ein Unterrichtsprinzip vor und Rousseau widmet in seinem berühmt gewordenen Erziehungsroman Emil ein Kapitel der „Übung der Organe und Sinne“. Pestalozzi formuliert die Formel des Lernens mit „Kopf, Herz und Hand“. Comenius: Didactica magna., Rousseau: Emil., Pestalozzi: Werke.
20 Vgl. hierzu Spinner: Kinder- und Jugendliteratur, S.979f.
21 Vgl. Haas: Handlung- und produktionsorientierter Literaturunterricht in der Sekundarstufe I., Waldmann: Grundzüge.
22 Einen zusammenfassenden, ausführlicheren Überblick über die Vorgeschichte des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts gibt Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, S.248-252.
23 Iser: Appellstruktur, S.7.
24 Vgl. ebd., S.15.
25 Iser spricht von Freiheitsgraden, „die dem Leser im Kommunikationsakt gewährt werden müssen, damit die ‚Botschaft’ entsprechend empfangen und verarbeitet werden kann“. Ebd., S.19.
26 Barthes: Abenteuer, S.11.
27 Spinner zeigt dekonstruktivistische Verfahrensweisen am Beispiel von Bertold Brechts Erinnerung an die Marie A. auf. Vgl. Spinner: Brecht dekonstruktivistisch.
28 Besonders Waldmann bezieht solche differenztheoretischen Begründungen in seine didaktischen Überlegungen mit ein, worauf unter Punkt 3 nochmals eingegangen wird.
29 Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden schöpferische Leistungen von Kindern und Jugendlichen von der Reformpädagogik nachhaltig gefordert und gefördert. Vgl. Hegele: Literaturunterricht, S.166.
30 Zum Begriff des ‚trägen Wissens’ siehe Renkl: Träges Wissen. Die Konsequenzen der Lehr-Lern-Forschung für den Deutschunterricht zeigen Beisbart/Marenbach prägnant auf. Vgl. Beisbart/Marenbach: Bausteine, S.286-293.
31 Spinner: Kreativer Deutschunterricht, S.131.
32 Vgl. Haas/Menzel/Spinner: Literaturunterricht, S.22.
33 Einen Überblick über weitere Vertreter des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts gibt Spinner: Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren im Literatur-unterricht, S.179-181.
34 Vgl. Walmann: Produktiver Umgang (1998), S.498. Ausführlicher legt Waldmann seine Position zum Verhältnis von Analyse und Produktion zusammen mit Fingerhut und Melenk dar. Vgl. Fingerhut/Melenk/Waldmann: Umgang mit Literatur, S.134-140.
35 Ebd., S.496. [Herv. im Original].
36 Vgl. Waldmann: Produktiver Umgang (2006), S.62-83.
37 Vgl. Spinner: Produktive Verfahren im Literaturunterricht, S.37-39. Hier zählt Spinner zwanzig produktive Verfahren zu erzählenden und dramatischen Texten auf.
38 Vgl. ebd., S.40. Auf die Frage, wie sich Textanalyse und Interpretation zueinander verhalten, antwortet Spinner: „Analyse und Interpretation sind in der Regel eng miteinander verbunden. Aber es gibt auch Analyse, die nicht im Dienst der Interpretation steht […] und Interpretation ohne Analyse […].“ Spinner: Textanalyse, S.25.
39 Haas: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, S.16.
40 Vgl. ebd., S.50.
41 Vgl. Scheller: Szenische Interpretation (1999), S.32.
42 Vgl. ebd., S.23-27.
43 Vgl. Schulgesetz NRW, S.2. Online unter www.schulministerium.nrw.de.
44 Haas nennt als ein Globalziel des Literaturunterrichts die Handlungskompetenz und formuliert dazu: „Lesen als Aufforderung zum Handeln im sozialen bzw. gesellschaftlichen Feld verstehen lernen.“ Außerdem nennt er die beiden Lesefunktionen: „(1) Texte als Aufforderung zu eigenem (innerem oder äußerem, individuellem oder kollektivem) Handeln verstehen lernen“ und „ (2) von Texten aus Aktionen (Schreiben, Sprechen, Spielen, öffentlich handeln) entwickeln“. Haas: Literatur, S.13.
45 Wie bereits erwähnt wurde, gibt es unter den Vertretern des handlungs- und produktions-orientierten Ansatzes verschiedene Positionen dazu, wie das Verhältnis von Analyse und Produktion bei den Verfahren zu sehen ist.
46 Besonders Waldmann betont, dass Schüler die Erfahrung der Produziertheit literarischer Texte machen sollen. Vgl. Waldmann: Grundzüge, S.106.
47 Wangerin: Romane, S.614.
48 Spinne nennt solche Verfahren im Hinblick auf die Textanalyse „operationale Methoden“. Spinner: Produktive Verfahren im Literaturunterricht, S.34.
49 Vgl. besonders seinen Aufsatz zum Fremdverstehen. Spinner: Fremdes verstehen – ein Hauptziel des Literaturunterrichts.
50 Vgl. ebd., S.128.
51 Zum Begriff ‚Medienkompetenz’ vgl. ursprünglich Baacke: Medienkompetenz, S.8. Hier heißt es: Medienkompetenz ist „die Fähigkeit, in die Welt aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen“. Einen guten Überblick über pädagogische Konzepte bietet Kübler: Medienkompetenz. Rupp/Schreier definieren Medienkompetenz auf Grundlage der Vielzahl vorliegender Entwürfe „in Analogie zur Lesekompetenz als die Fähigkeit zur gesellschaftlich-kulturellen Teilhabe an einer Mediengesellschaft“ und erläutern fünf Teilbereiche der Medienkompetenz. Rupp/Schreier: Lesekompetenz, S.254.
- Citation du texte
- Angela Lintzen (Auteur), 2009, Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren in der Romandidaktik am Beispiel von Theodor Fontanes "Effi Briest", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1246604
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