Lesen ist eine Kulturtechnik, die den Schulerfolg in der heutigen Gesellschaft maßgeblich beeinflusst. Kinder, die von einer Lesestörung betroffen sind, schaffen es trotz regelmäßiger Beschallung oft nicht ohne Unterstützung ein ausreichendes Leseverständnis zu entwickeln.
Diese Arbeit ist theoriegeleitet und stützt sich auf viele Forschungsarbeiten zum Thema Lesen, die gerade in Folge der PISA-Studien in den letzten Jahren entstanden sind. Es werden Modelle zum Leseprozess und seinen Teilfähigkeiten untersucht. Diese Teilfertigkeiten müssen erlernt, trainiert und automatisiert werden. Ziel der Arbeit ist es, die Frage, welche Teilkomponenten des Leseverständnisses im Rahmen der integrativen Lerntherapie effizient gefördert und damit einen sinnvollen Beitrag zur außerschulischen Leseförderung leisten können, zu beantworten und die Antworten mit praxisnahem Fördermaterial zu untermauern.
Dieses Vorgehen wurde gewählt, um die Arbeit der Autorin im täglichen Förderalltag mit leseschwachen Kindern weiterzuentwickeln.
Die Arbeit beginnt mit einer Beschreibung der integrativen Lerntherapie (ILT) und dem Schwerpunkt der Ressourcenorientierung.
Daran schließt sich eine Definition von Leseverständnis, die im weiteren Verlauf zugrunde gelegt wird an. Es folgt eine Darstellung des aktuellen Forschungstandes zur Entwicklung des Leseverständnisses und seinen Teilfähigkeiten. Diese Teilfähigkeiten werden auch unter dem Aspekt Auswirkungen auf den Leseverständnisprozess betrachtet.
Die Definition der Lesestörung und ihre Diagnostik schließt sich an. Anschließend wird die Frage geklärt, welche der Teilfertigkeiten zur Überwindung oder Kompensation der Lesestörung effizient im Rahmen der ILT gefördert werden können. Da Kinder mit Leseproblemen im Rahmen des regulären Leseerwerbs in der Grundschule ihre Probleme entwickeln, muss die Förderung im Rahmen der integrativen Lerntherapie die Förderung aus einer erweiterten Perspektive betrachten. Diese wird in Kapitel 6 unter Folgerungen für die ILT entwickelt.
Kapitel 6 stellt im weiteren Verlauf Methoden und Werkzeuge vor, die die Grundlage für theoriegeleitete Leseförderung in der ILT bilden.
Inhalt
1 Einleitung
2 Integrative Lerntherapie
3 Ressourcenmanagement und Passung
4 Leseverstandnis
4.1 Entwicklung von Leseverstandnis
4.2 Teilprozesse des Textverstandnisses
4.3 Allgemeine kognitive Voraussetzungen
4.4 Hierarchieniedere Prozesse
4.4.1 Modelle zum Wortlesen
4.4.2 Satzverstandnis
4.5 Hierarchiehohe Prozesse und mentale Situationsmodelle
4.6 Leser- und umweltbezogene Ebenen des Leseverstandnisses
4.7 Einflussfaktoren auf das Leseverstandnis
4.8 Limitierende Faktoren des Leselernprozesses in der Schule
4.9 Zusammenfassung
5 Lesestorung
5.1 Definition
5.2 Symptome der Lesestorung
5.3 Diagnostik
5.3.1 ELFE 1-6
5.3.2 ZLT II
5.3.3 WLLP-R
5.4 Schwierigkeiten dieser Perspektive fur die ILT
6 Fordermoglichkeiten des Leseverstandnisses im Rahmen der ILT
6.1 Folgerungen fur die ILT
6.2 Forderdiagnostik im Rahmen der ILT
6.2.1 Forderdiagnostik der Vorlauferfahigkeiten
6.2.2 Forderdiagnostik der Automatisierung und Lesegenauigkeit
6.2.3 Diagnostik des Leseverstandnisses
6.2.4 Zusammenfassende Forderdiagnostik
6.3 Forderplanung
6.4 Systematische Entwicklung der Teilprozesse des Lesens
6.4.1 Vorlauferfahigkeiten
6.4.2 Automatisierung und Geschwindigkeit
6.4.3 Forderung von Leseverstandnis
7 Fazit
Quellenangaben
Abbildungsverzeichnis
Tabellen
Anhange
Anamnesebogen
Fordereinheiten
1 Einleitung
Lesen gehort zu den wichtigsten Kulturtechniken unserer Gesellschaft. Die Kulturtechnik Lesen wird bereits seit dem Altertum weiterentwickelt. Wer lesen konnte, hatte in der Geschichte immer groftere Macht und grofteren Einfluss als andere. Gab es bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts noch ausreichend Moglichkeiten, auch ohne gute Lesekenntnisse einen Platz in der Gesellschaft zu finden, so hat sich dies in den letzten 50 Jahren stark gewandelt. Um am Leben in der heutigen Wissensgesellschaft teilzuhaben, ist ein ausreichendes Leseverstandnis unerlasslich (Ennemoser et al. 2012, S.53). Das Zitat von Wittgenstein aus dem Jahre 1921 „Die Grenzen meiner Sprache (meines Leseverstandnisses) sind die Grenzen meiner Welt.“ beschreibt dies heute noch eindrucksvoll.
Leider gibt es Kinder, die trotz regelmaftiger Beschulung bei aller Anstrengung kein ausreichendes Leseverstandnis entwickeln. Diesen Kindern ist die vorliegende Arbeit gewidmet.
Diese Arbeit ist theoriegeleitet und stutzt sich auf viele Forschungsarbeiten zum Thema Lesen, die gerade in Folge der PISA-Studien in den letzten Jahren entstanden sind (Hurrelmann 2007, S. 19). Es werden Modelle zum Leseprozess und seinen Teilfahigkeiten untersucht. Diese Teilfertigkeiten mussen erlernt, trainiert und automatisiert werden. Ziel der Arbeit ist es, die Frage, welche Teilkomponenten des Leseverstandnisses im Rahmen der integrativen Lerntherapie effizient gefordert und damit einen sinnvollen Beitrag zur aufterschulischen Leseforderung leisten konnen, zu beantworten und die Antworten mit praxisnahem Fordermaterial zu untermauern.
Dieses Vorgehen wurde gewahlt, um die Arbeit der Autorin im taglichen Forderalltag mit leseschwachen Kindern weiterzuentwickeln.
Die Arbeit beginnt mit einer Beschreibung der integrativen Lerntherapie (ILT) und dem Schwerpunkt der Ressourcenorientierung.
Daran schlieftt sich eine Definition von Leseverstandnis, die im weiteren Verlauf zugrunde gelegt wird an. Es folgt eine Darstellung des aktuellen Forschungstandes zur Entwicklung des Leseverstandnisses und seinen Teilfahigkeiten. Diese Teilfahigkeiten werden auch unter dem Aspekt Auswirkungen auf den Leseverstandnisprozess betrachtet.
Die Definition der Lesestorung und ihre Diagnostik schlieftt sich an. Anschlieftend wird die Frage geklart, welche der Teilfertigkeiten zur Uberwindung oder Kompensation der Lesestorung effizient im Rahmen der ILT gefordert werden konnen. Da Kinder mit Leseproblemen im Rahmen des regularen Leseerwerbs in der Grundschule ihre Probleme entwickeln, muss die Forderung im Rahmen der integrativen Lerntherapie die Forderung aus einer erweiterten Perspektive betrachten. Diese wird in Kapitel 6 unter Folgerungen fur die ILT entwickelt.
Kapitel 6 stellt im weiteren Verlauf Methoden und Werkzeuge vor, die die Grundlage fur theoriegeleitete Leseforderung in der ILT bilden.
2 Integrative Lerntherapie
Ziel der integrativen Lerntherapie (ILT) ist es, Kindern und Jugendlichen mit Lernproblemen und Lernstorungen umfassend und ganzheitlich zu helfen. Der Ansatz ist in der Padagogischen Psychologie verortet. Dem integrativen Lerntherapeuten stehen verschiedene theoretische Konzepte aus Padagogik und Psychologie zur Verfugung. Je nach Ausgangslage des betroffenen Kindes wahlt er adaquate Ansatze zu Diagnose und Therapie aus. Unter Berucksichtigung aller Faktoren erstellt er Forderplane fur die Intervention und wird die Entwicklung des Kindes genau kontrollieren und protokollieren. Der integrative Lerntherapeut wirkt an der Schnittstelle zwischen Erziehung, Lernen und Entwicklung. In der ILT wird besonderen Wert auf das Ressourcenmanagement gelegt. Die Situation des Kindes wird auf allen Ebenen erfasst und es wird versucht, alle notigen und moglichen Ressourcen zu aktivieren.
3 Ressourcenmanagement und Passung
Auf die theoretischen Hintergrunde des Ressourcenmanagements und der Passung wird an diese Stelle nur insofern eingegangen, als es fur die Darstellung im Rahmen einer Leseforderung erforderlich ist.
Bevor Ressourcen, erfasst und gemanagt werden konnen, muss die Definition der Ressource klar sein.
„Letztlich alles, was von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation wertgeschatzt wird oder als hilfreich erlebt wird, kann als Ressource betrachtet werden.“ (Nestmann nach Kabat vel Job, 2010 S.89).
Diese Definition birgt einen gewissen Mangel an Konkretem. Sie zeigt aber, dass der Lerntherapeut unvoreingenommen die Gesamtsituation erfassen muss und evtl. auch eine unkonventionelle Unterstutzung erwagen sollte. In der Entwicklungspsychologie unterscheidet man subjektive und objektive Ressourcen. Sowohl die subjektiven, als auch die objektiven Ressourcen unterteilen sich in interne/personale und externe (ebd.).
Jedes Kind bringt Ressourcen mit. Dabei mussen das soziale Umfeld, die Schulsituation und die personlichen Vorlieben berucksichtigt werden.
Konkret sollen fur den Leseerwerb die Ressourcen soziale Netze und Selbstwirksamkeitserwartung betrachtet werden. In der Leseforderung konnen hier Lehrer, GroReltern, altere Freunde, Eltern und andere Bezugspersonen hilfreich sein. Sie konnen sowohl als Vorbild, als auch als Coach fungieren. Leseforderung bedarf neben der Forderung durch den Lerntherapeuten, immer auch eines zusatzlichen Trainings aufterhalb der Forderstunden. In der Regel findet sich eine geeignete Person aus dem Netzwerk des Kindes. Diese „Ressource“ muss lediglich aktiviert werden. Die meisten Eltern oder Betreuer wissen zu Beginn nur nicht, wie sie unterstutzen konnen. Der Lerntherapeut muss sie fur eine effiziente Forderung richtig instruieren.
Die Selbstwirksamkeitserwartung ist eine zweite Ressource, die in der Leseforderung hilfreich wirken kann. Erlebt ein Kind seine Lernfortschritte als Erfolg, wird es hohere Erfolgserwartungen entwickeln und auch daran glauben, gestellte Ziele erreichen zu konnen (Rudolph 2009, S. 154).
In der Padagogischen Psychologie wird die Entwicklung eines Kindes in der Interaktion mit seiner Umwelt betrachtet. Dieser sogenannte Passungsgedanke kann auf alle entwicklungspsychologischen Schritte ubertragen werden (Kabat vel Job, 2010, S. 71).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Passungsparadigma (Kabat vel Job, 2010)
Im Bereich der Lesestorung, der keine Sprachentwicklungsverzogerung voraus geht, kann dies wie folgt interpretiert werden:
Das betroffene Kind wird solange keine Probleme haben, wie es nicht in die Schule kommt. Lesen wird von einem Kindergartenkind nicht erwartet. Mit Eintritt in die Schule kann ein Kind, das an einer Lesestorung leidet, die Erwartungen des sozialen Umfeldes nicht mehr erfullen. Es kommt zu einer Storung in der Beziehung Kind - Schule. Da aber auch das Elternhaus und ggf. Geschwister und Grofteltern eine Erwartung an die Entwicklung der Lesekompetenz haben, kann es auch hier zu Storungen im Beziehungsgeflecht kommen. Im schlimmsten Fall wird das Kind selber eine Erwartung an seine Leseentwicklung gehabt haben und kann dann die Erwartung an sich selbst nicht erfullen. Es nimmt sich als Versager war und entwickelt evtl. eine negative Selbstwirksamkeitserwartung. Dies hat Auswirkungen auf Motivation und weiteres Lernverhalten. Hier muss der Lerntherapeut durch eine geeignete Forderung die Selbstwirksamkeitserwartung positiv zu beeinflussen suchen.
Die Passung hangt neben der Kompetenz auch noch von den Faktoren Charaktereigenschaften, Motivation und dem Willen sich in die Umgebung einzufugen ab (Kabat vel Job, Otmar 2010, S. 73f).
Fur die ILT ergeben sich somit folgende Interventionsmoglichkeiten, die im Rahmen der Forderung immer zu berucksichtigen sind:
- Schaffen/Gestalten eines dem aktuellen Entwicklungsstandes des Individuums angemessenen Lebensraumes
- Schaffen/Gestalten eines positiven emotionalen Klimas
- Schaffen/Gestalten forderlicher sozialer Beziehungen
- Schaffen/Gestalten vielfaltiger Anregungen fur den Lernprozess (ebd.) Konkret bedeutet dies fur die Arbeit in der ILT, dass in die Forderdiagnostik, vgl. Kap.6, eine Erfassung dieser Probleme zu integrieren ist.
4 Leseverstandnis
An dieser Stelle werden zwei Modelle erlautert, die Leseverstandnis aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben.
Die zwei ausgewahlten Ansatze decken den schulischen Bereich ab, zusatzlich ergeben sich Moglichkeiten, eine weitergehende Forderung im Rahmen der ILT zu entwickeln. Es handelt sich zum einen um das kognitionstheoretisch orientierte Modell, das in der PISA-Studie und anderen groftangelegten Evaluationsstudien wie IGLU, DESI und PIRLS Anwendung findet (Hurrelmann 2007, S. 24), zum anderen um das kulturwissenschaftlich orientierte Modell, das der modernen Lesesozialisationsforschung entstammt (Hurrelmann 2007, S. 19).
Beide Modelle uberlappen sich und sind nicht exakt voneinander abgrenzbar. Das kognitionstheoretisch orientierte Modell kommt dem Leseverstandnisbegriff, der den PISA Studien zugrunde liegt sehr nah. Es stimmt ebenfalls weitgehend mit dem Lesekompetenzmodell aus dem angelsachsischen Raum - der Reading-Literacy - uberein (Lenhard 2012, S. 48). „In dieser Denktradition fragt man nach den Basisqualifikationen, die in der modernen Gesellschaft fur eine in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht erfolgreiche Lebensfuhrung unerlasslich sind.“ (Hurrelmann 2007, S. 21). Dieses Modell hat somit einen ausgepragt pragmatischen Ansatz, der sich auf die personliche und okonomische Lebensfuhrung konzentriert.
In diesem Ansatz liegt der Schwerpunkt auf Informations- und Sachtexten. Es werden dabei drei Kompetenzen unterschieden, die fur das Leseverstandnis von Bedeutung sind. Dies sind im Einzelnen das Ermitteln von Informationen, das textbezogene Interpretieren und das Reflektieren und das Bewerten von Texten (Hurrelmann 2007, S. 24). In diesem Konstrukt wird Lesekompetenz hauptsachlich als Informationsaufnahme verstanden (Hurrelmann 2007, S. 27). Er erlaubt in der Regel eine gute Messung der Leseleistung und ist daher, wie bereits oben erwahnt, die Grundlage vieler schulischer Leistungsmessungen.
Dem gegenuber steht das kulturwissenschaftlich orientierte Modell in der Tradition der Bildungstheorie des 19. Jahrhunderts. Hier stehen neben den kognitiven Aspekten, Lesen als rationale Selbstbestimmung, Lesen als existentielle Personlichkeitsbildung und Lesen als Erlebnisgenuss im Vordergrund des Lesekompetenzbegriffes. Dieses Modell fasst den Begriff des Leseverstandnisses viel weiter. Lesekompetenz ist hier zum einen die Konstruktion von Bedeutung und eine Form kultureller Praxis (Hurrelmann 2007, S. 27). Neben den kognitiven Fahigkeiten werden also auch die Personlichkeitsbildung und der Erlebnisgenuss mit einbezogen. Gerade der letzte Punkt konnte sich positiv auf die Forderung leseschwacher Kinder auswirken. Dies belegen auch die Studien von Guthrie et al. Das kulturwissenschaftliche Modell raumt dem Leseverstandnis fur die Personlichkeit einen weit grofteren Stellenwert ein und betrachtet es unter einem ganzheitlicheren Aspekt. Sein grofter Mangel liegt in der empirisch schlechten Belegbarkeit. Sowohl Personlichkeitsentwicklung als auch Erlebnisgenuss sind Faktoren, die immer der subjektiven Empfindung unterliegen.
Da die kognitiven Faktoren auch dem kulturwissenschaftlich orientierten Modell zugrunde liegen, werden in den folgenden Kapiteln Modelle und Moglichkeiten der Entwicklung dieser Fahigkeiten vorgestellt und ihre Eignung in Bezug auf die ILT untersucht. Bei den Uberlegungen zu effizienten Fordermoglichkeiten des Leseverstandnisses finden auch die weiteren Komponenten des kulturwissenschaftlich orientierten Ansatzes Beachtung.
4.1 Entwicklung von Leseverstandnis
In der Regel finden sich in der Literatur zwei Arten von Modellen, die den Leseerwerbsprozess beschreiben. Die Stufenmodelle beschreiben den Erwerb des Lesens sehr eng an den basalen Fahigkeiten des Dekodierens und bilden nur einen Teil des Leseverstandnisprozesses ab. Aus diesem Grund wird das Kompetenzentwicklungsmodell nach Gasteiger und Klicpera-Gasteiger im Kapitel Wortlesen eingefuhrt.
Die Prozessmodelle beziehen alle am Lesen beteiligten Teilprozesse ein. Hier wird stellvertretend das Situationsmodell nach van Dijk und Kintsch betrachtet. Lesen besteht aus vielen Fahigkeiten, die erst im Zusammenspiel eine solide Lesekompetenz ermoglichen. Im Rahmen dieses Kapitels werden die verschiedenen Teilprozesse beschrieben. Diese Teilprozesse werden in Vorlauferfahigkeiten, hierarchieniedere und hierarchiehohe Prozesse eingeteilt. Dabei geht die Modellvorstellung nicht davon aus, dass diese Prozesse immer linear ablaufen. Diese Prozesse finden parallel statt (Christmann und Groeben 2001, S. 148, Klicpera et al. 2007, S. 30). Der besseren Verstandlichkeit wegen, werden hier nun in folgender Reihenfolge Vorlauferfahigkeiten, hierarchieniedere und hierarchiehohe Prozesse erklart und die Verknupfungen bei Bedarf erlautert. Die Wechselwirkung zwischen Text und Leser wird ebenfalls betrachtet (Rosebrock und Nix 2014, S. 8). Um die Entwicklung des Leseverstandnisses zu erklaren, mussen auch diejenigen Merkmale untersucht werden, die die Leseleistung nachweislich determinieren. Denn nur so wird es moglich sein, Ansatzpunkte fur eine effiziente Forderung zu bestimmen.
4.2 Teilprozesse des Textverstandnisses
Abb. 2 zeigt die einzelnen Teilfertigkeiten des Leseerwerbs sehr genau. Christmann und Groben beschreiben in ihrem Essay „Die Psychologie des Lesens“ die Ebenen des Lesens auf Wort-, Satz- und Textebene.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 Teilprozesse des Lesens (Christmann und Groben 1999 nach Lenhard 2012, S. 15)
Beim Lesen entwickelt der Leser ein sog. Situationsmodell. Dieses Modell beruht nicht mehr auf rein textbasierten Reprasentanzen, sondern auf einer vom Leser auf Basis der Informationen gebildeten mentalen Reprasentanz (Nieding 2006, S. 23). Diese mentale Reprasentanz entsteht nicht etwa am Ende des Leseprozesses. Sie wird fortlaufend gebildet, aktualisiert und angepasst. Bereits auf der Satzebene werden Situationsmodelle entwickelt, vgl. Kap. 4.4.2.
Ob ein Leser in der Lage ist, ein dem Inhalt des Textes entsprechendes Situationsmodell zu entwickeln, hangt von den Teilfertigkeiten, die in Abb. 2 dargestellt und verknupft werden ab. Ebenfalls haben Alter, Entwicklung seiner schriftsprachlichen Fahigkeiten und Vorwissen Einfluss auf das Textverstandnis.
Im Folgenden werden die einzelnen Teilfahigkeiten genau erlautert. Dabei wird die Abhangigkeit des Leseverstandnisses, im weiteren Verlauf des Leseerwerbsprozesses, von diesen Teilfahigkeiten deutlich.
4.3 Allgemeine kognitive Voraussetzungen
Wie weiter unten in den Modellen zum Wortlesen erlautert, spielt das Arbeitsgedachtnis gerade im Leseprozess eine nicht unerhebliche Rolle.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3 Model of Working Memory nach Gathercole und Packiam-Alloway (Kelly und Phillips 2011 S.33)
Die Studie von Ennemoser et al., vgl. Abb.6, zeigt den Einfluss des Arbeitsgedachtnisses auf die phonologische Bewusstheit und die linguistische Kompetenz.
Das vereinfachte Modell des Arbeitsgedachtnisses von Gathercole und Packiam-Alloway erscheint in diesem Zusammenhang erwahnenswert, da am Lesen sowohl visuelle als auch auditive Prozesse beteiligt sind
In Abb. 3 werden die Bereiche visuelles Arbeitsgedachtnis und verbales Kurzeitgedachtnis (phonologische Schleife) erlautert. Beide Bereiche sind uber die zentrale Exekutive und das Langzeitgedachtnis miteinander verbunden, haben aber keine gemeinsame Verbindung. Bei Problemen mit der visuellen Verarbeitung kommen falsche Informationen im Langzeitgedachtnis an. Bei erneutem Abruf wird dann auf den falschen Speicher zuruckgegriffen. Ebenso ist es bei der auditiven Aufnahme, wird ein Wort falsch verarbeitet wird es falsch gespeichert. Probleme an dieser Stelle konnen evtl. dazu fuhren, dass Kinder langer brauchen, um Graphem-Phonem Zuordnungen dauerhaft zu speichern. Auch die korrekte Reproduktion von Buchstaben und das organisierte Schreiben von Geschichten konnen hier betroffen sein (Kelly und Phillips 2011, S.33ff).
Des Weiteren lasst sich folgern, dass solange das Arbeitsgedachtnis mit der muhsamen Speicherung der einzelnen Phonemfolgen oder mit einer Phonem- Graphem-Zuordnung ausgelastet ist, keine ausreichenden Kapazitaten fur hierarchiehohere Prozesse bereitstehen.
Daraus leitet sich ab, dass eine Automatisierung der hierarchieniederen Prozesse, die in Kap. 4.4 weiter erlautert werden, das Arbeitsgedachtnis entlastet und somit die Kapazitaten fur Leseverstandnis geschaffen werden. Die phonologische Bewusstheit (wahrnehmen und erkennen einzelner Segmente der Sprache (Klicpera et al. 2007, S.24) gehort ebenso zu den Grundvoraussetzungen einen gelungenen Leseprozess anzustoften wie die Benenngeschwindigkeit (Ennemoser et al. 2012, S.63). Beide Fahigkeiten werden im Kapitel Wortlesen naher betrachtet. Zu den Basisvoraussetzungen zahlen ferner Dinge, die nicht direkt am basalen Leseprozess beteiligt sind. Das Vorwissen des Lesers, sein Sprachverstandnis und sein Wortschatz sind im Leseprozess genauso von Bedeutung. Je besser diese Fahigkeiten ausgebildet sind, umso leichter gelingt Leseverstandnis. Die Uberprufung dieser Fahigkeiten durfen in einer gelungenen Forderdiagnostik (vgl. Kapitel 6.2) nicht ausgelassen werden. In der Studie, die Ennemoser et al. 2012 veroffentlicht haben, werden die Einflussgroften der Vorlauferfahigkeiten auf das Textverstandnis in der 4. Klasse untersucht. Die phonologische Bewusstheit und Benenngeschwindigkeit haben demnach einen signifikanten Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit in der 1. Klasse. Der Parameter Lesegeschwindigkeit in der 1. Klasse wiederum beeinflusst, neben der linguistischen Kompetenz, maftgeblich das Leseverstandnis in Klasse 4. Die Grundlagen fur ein gutes Textverstandnis werden somit sehr fruh gelegt. Eine effiziente Forderung in der ILT muss diesen Faktor berucksichtigen. Daher werden diese Parameter in Kapitel 6.2 Diagnostik wieder aufgenommen.
4.4 Hierarchieniedere Prozesse
Die hierarchieniederen Prozesse beschreiben die Kompetenzen, die in einem gelungenen Leseeingangsunterricht erlernt werden sollen. Hierzu zahlen zuallererst das schnelle fehlerfreie Erkennen der Grapheme und ihre Zuordnung zu den passenden Phonemen. Daraus entwickelt sich das Rekodieren, vgl. Abb. 2. Beim Rekodieren werden die Buchstaben einzeln gelesen und zusammengefugt. Es entwickelt sich im gunstigen Fall parallel das Dekodieren, bei dem Worter oder groftere Wortbestandteile als Einheit erkannt werden (Christmann und Groeben 2001, S. 148-149). Eine genaue Erlauterung der Wortleseprozesse findet sich in Kapitel 4.4.1. Ebenso wie das Wortlesen gehort das Erkennen von Satz und Satzinhalt zu den hierarchieniederen Prozessen. Modelle zum Satzverstandnis finden sich in Kapitel 4.4.2.
4.4.1 Modelle zum Wortlesen
Das Wortlesen gehort zu den grundlegenden Fahigkeiten, die am Anfang des Leseprozesses stehen. Es ist ein „visueller Verarbeitungsvorgang“ (Christmann und Groeben 2001, S. 148). Wie Abb. 2 zeigt konnen bereits hier Probleme auftreten.
In dieser Arbeit werden das Kompetenzentwicklungsmodell nach Klicpera et al. und das dual-route-model nach Coltheart eingefuhrt.
Die Wahl fiel auf diese zwei Modelle, da sich mit ihnen die didaktischen Ansatze und die Uberlegungen zur Forderung untermauern lassen. Zusatzlich geben sie einen guten Uberblick uber die Vielschichtigkeit, mit der Leseanfanger bereits auf der unteren Leseebene konfrontiert werden.
Zu Beginn des Leseerwerbsprozesses stehen bei allen Kindern das Erlernen von Buchstaben und das Lesen einzelner Worter. Diese Lernschritte sind eine Grundlage fur die nachsten Entwicklungsschritte zum Textverstandnis. Sind die einzelnen Grapheme als Reprasentanten der Phoneme verinnerlicht, wird das Zusammenschleifen der Phoneme zu Wortern erlernt. Dieser Prozess kann bereits sehr fruh beginnen, auch wenn nur einzelne Buchstaben bekannt sind. Somit verlaufen fur eine gewisse Zeit das Erlernen der Grapheme und das erste Wortlesen parallel.
Fur das Wortlesen gilt das dual-route-model nach Coltheart 1978 als gesichert (Marx 2007, S. 19; Klicpera et al. 2007, S. 48). Diese Theorie beschreibt zwei Zugangswege zu den zu erlesenden Wortern. Der erste Weg geht uber das muhsame Erlesen der Phonemfolgen. Er wird auch als indirekter Weg bezeichnet. In Abb. 2 findet man diesen Prozess unter dem Stichwort Rekodieren. Diesen Weg mussen Leseanfanger immer gehen, da sie noch keinen lexikalischen Speicher angelegt haben. Der Phonologischen Bewusstheit, wird hier eine bedeutende Wirksamkeit zugeschrieben. Der zweite Weg steht in der Regel nur geubten Lesern zur Verfugung. Hier kann auf einen angenommenen lexikalischen Eintrag zuruckgegriffen werden. Der Leser erkennt das Wort anhand der orthografischen Struktur. Diese Methode wird als direkter Zugriffsweg bezeichnet. In Abb.2 findet sich dieser Zugang unter dem Begriff Dekodieren. Jeder geubte Leser kennt das Phanomen, dass er Worter nicht erlesen muss, sondern sie auf den ersten Blick erkennt (Klicpera et al. 2007, S. 48). Je grower die Zahl dieser lexikalischen Eintrage, umso mehr Worter konnen schnell erfasst werden. Je mehr Ubung ein Leser hat, desto hoher die Zahl der lexikalischen Eintrage.
Fur das lexikalische Lesen ist auch die Geschwindigkeit, mit der aus dem Langzeitgedachtnis Objekte mit den dazugehorigen Wortern verknupft (Petermann und Daseking 2012, S.33) werden konnen, verantwortlich. Als Indikator fur diese Leistung kann die Benenngeschwindigkeit herangezogen werden.
Leseanfanger ohne Schwierigkeiten starten mit einem Vorteil gegenuber ihren Altersgenossen, die aus welchen Grunden auch immer, Probleme haben und deswegen weniger lesen, da ein kausaler Zusammenhang zwischen der Lesemenge und dem lexikalischen Speicher besteht.
Aber auch geubte Leser mussen auf das phonologische Rekodieren zuruckgreifen, wenn ihnen fremde Worter, Pseudoworter oder Worter in einer anderen Sprache dargeboten werden. Der versierte Leser greift wahrend des Leseprozesses ganz unbewusst auf beide Strategien zu.
Beim phonologischen Rekodieren ist das Arbeitsgedachtnis stark involviert. Jedes erlesene Graphem muss in ein Phonem umgewandelt werden. Solange muss die bisher gelesene Phonemfolge im Arbeitsgedachtnis gespeichert werden. Sind dann alle Phoneme eines Wortes erlesen, mussen sie zusammengesetzt werden und der Leser muss versuchen, ein sinnvolles Wort aus seinem semantischen Langzeitgedachtnis zuzuordnen (Marx 2007, S. 20).
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