Gewalt und Aggression sind zwei Begriffe, deren mediale Präsenz sich durch eine scheinbar zunehmende Anzahl an Übergriffen und darüber stattfindende Berichterstattung verstärkt.
Auch im Bereich Schule nahmen in der Abbildung der Medien die Gewalttaten in Qualität und Quantität zu. Ein Amoklauf wie an der Columbine Highschool in Littleton erschien in Deutschland undenkbar. Am 26. April 2002 überschlugen sich dann die Medienberichte über vergleichbar Schreckliches am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Schnell wurden von den Medien Computerspiele, Gewaltfilme und gewaltverherrlichende Musik als Antrieb zu solchen Taten ausgemacht. Dazu ist zu sagen, dass es bis heute keine Studie gibt, die einen Zusammenhang belegt – aber auch keine, die ihn widerlegt. Derartige Gewalttaten zeigen, dass nicht in jedem Menschen die Moral dominiert, nach der man Anderen keine physische und psychische Gewalt antut. Das Gewaltmonopol des Staates, nach dem allein staatliches Handeln die Anwendung physischer Gewalt legitimieren kann, wird damit ignoriert. Nun versucht der Staat, Gewalt durch ein weiteres Gesetz zu minimieren. In Folge der Diskussion um einen möglichen Zusammenhang zwischen Filmen/Computerspielen/Musik und Gewalt wird aktuell ein Gesetz auf den Weg gebracht, welches gewalthaltige Trägermedien für Kinder und Jugendliche verbietet. Das Gesetz zielt einerseits darauf ab, Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen, andererseits soll damit eine Ursache für Gewalt unter Heranwachsenden beseitigt werden.
Diese Examensarbeit möchte tiefergehend untersuchen, wie es zu Aggression und Gewalt bei Schülern kommt und welche Präventionsmodelle es gibt. Als zukünftige Lehrerin werden das Thema Aggression und Gewalt für mich aktuell bleiben, so dass ich mich vorab mit Ursachen und Symptomen sowie Interventions- und Präventionsmöglichkeiten beschäftigen möchte.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Einleitung
1 Begriffsdefinitionen
1.1 Aggression und Gewalt – definitorische Klärung der Begriffe
1.2 Erscheinungsformen von Aggression
1.3 Was ist Aggressivität?
1.4 Zur Unterscheidung der Begriffe Gewalt und Aggression
2 Empirische Befunde zu Ausmaß und Entwicklung der Opfererfahrungen von Hamburger Schülern
3 Erklärungspositionen aggressiven Verhaltens
3.1 Triebtheorien nach FREUD und LORENZ
3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
3.3 Lernpsychologische Theorien
3.3.1 Klassisches Konditionieren
3.3.2 Operantes Konditionieren
3.3.3 Lernen am Modell
3.4 Motivationstheorie
3.4.1 Aggression als Zwangsgewalt
3.5 Soziologische Theorien
3.5.1 Subkulturtheorie
3.5.2 Etikettierungsansatz
3.5.3 Anomietheorie
3.5.4 Aggression als Folge sozialer Wandlungsprozesse
3.5.5 Anomie und Schule
3.5.6 Resümee aus den Theorien zur Entstehung von Aggression und Gewalt
4 Sozialisationsfelder
4.1 Persönliches
4.2 Familie
4.3 Peer Groups
4.4 Medien
4.5 Schule
5 Begriffsbestimmungen
5.1 Aggressionsintervention
5.2 Aggressionsprävention
6 Konzepte zur schulischen Aggressionsprävention
6.1 Schulumfassende Programme
6.1.1 SchiLF (Schulinterne Lehrerfortbildung zur Aggressionsprävention)
6.1.2 Interventionsprogramm nach OLWEUS
6.1.3 „Konflikte positiv lösen“ nach ZITZMANN
6.1.4 Das FAUSTLOS-Curriculum
6.2 Maßnahmen für Schüler und/oder Lehrer
6.2.1 „Soziales Lernen“ nach LERCHENMÜLLER
6.2.2 Mediation
6.3 Am Sozialraum orientierte Kinder- und Jugendarbeit
7 Resümee
8 Verallgemeinerung der Erkenntnisse und Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Nolting, H.-P.: Lernfall Aggression. Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbek: Rowohlt 2002, S. 26
Abbildung 2: Nolting, H.-P.: Lernfall Aggression. Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbek: Rowohlt 2002, S. 132
Abbildung 3: Hanewinkel, R./Eichler, D.: Ergebnisse einer Interventionsstudie zur Prävention schulischer Gewalt. In: Schäfer, M./Frey, D. (Hrsg.): Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Göttingen, Bern, Toronto; Seattle: Hogrefe-Verlag 1999, S. 247
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Nolting, H.-P.: Lernfall Aggression. Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 2002, S. 151
Tabelle 2: Galtung, J.: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt 1975, basierend auf S. 9-16
Tabelle 3: Nolting, H.-P.: Lernfall Aggression. Wie sie entsteht – wie sie zu vermindern ist. Reinbek: Rowohlt 2002, S. 166 17
Tabelle 4: Holland und Skinner (1971), in: Selg, H./Mees, U./Berg, D.: Psychologie der Aggressivität. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe-Verlag 1997, S. 38
Einleitung
Gewalt und Aggression sind zwei Begriffe, deren Präsenz sich in den Medien durch eine scheinbar zunehmende Anzahl an Übergriffen und darüber stattfindende Berichterstattung verstärkt. Bereits in der Bibel ist Gewalt ein Thema. Erinnerungen aus meiner Kirchenkindergartenzeit umfassen u.A. die Szene, in der Kain seinen Bruder Abel erschlug. Ähnlich gut erinnere ich mich an die Erzählung, in der David mit einem gezielten Schuss den als unbezwingbar geltenden Goliath tötete.
Der Biologieunterricht vermittelte als Teil der Theorie DARWINs, dass eine Art sich im Kampf um Ressourcen durchsetzen muss, um ihr Überleben zu sichern (vgl. DARWIN, 1963, S. 120). Eine Untermalung fand in Form eines Filmes statt, in der zwei Affenherden unter Inkaufnahme von Toten Krieg gegeneinander führten. Um das Überleben zu gewährleisten, ist Gewalt ein häufig eingesetztes Mittel. DARWINs Theorien bezogen sich auf die Tierwelt, in der sich Mitglieder einer Art häufig bekämpfen. Damit ließe sich das Durchsetzen um jeden Preis auch auf Menschen übertragen. Gewalt ist ein Bestandteil menschlichen Verhaltens. Die Geschichte der Menschheit ist zu einem großen Teil auch eine Geschichte der Kriege, die sie gegeneinander führten und führen, was auch Politik mit anderen Mitteln genannt wird: "War is merely the continuation of policy by other means" (CLAUSEWITZ, 1976, S. 87). EIBL-EIBESFELDT nennt den Menschen gezähmte „Bestia Humana“, die ihren naturgegebenen Impuls bzw. ihre mörderische Veranlagung nur aus Einsicht und Vernunft unterdrücke. Und doch reihten sich in der Geschichte der Menschheit die blutigen Kapitel fast lückenlos aneinander, nur liefen wir heute bei kriegerischen Verwicklungen Gefahr, uns selbst zu vernichten. Wir wären uns selbst der größte Feind, wenn es uns nicht gelänge, unsere Aggressionen zu bezähmen (vgl. EIBL-EIBESFELDT, 1972, S. 11-12). Der Mensch verfüge über einen Zug zur Ungeselligkeit und Intoleranz, welcher nicht übersehen werden dürfe.
„Bei der weiten Verbreitung des Phänomens ist es ja von vorneherein höchst unwahrscheinlich, daß die Aggression nur ein funktionsloses Beiprodukt anderer Lebensäußerungen ist.“ (EIBL-EIBESFELDT, 1972, S. 78).
Aggressives Imponieren zeige in den verschiedensten Kulturen grundsätzlich gleiche Züge. Kopfschmuck mache einen größer und eindrucksvoller, betone die Muskulatur durch Schmuck und unterstreiche oft die Schulterbreite. Gelassenheit würde in angespannten Situationen demonstriert und eine verächtliche Miene zur Schau getragen werden. Droh- und Wutmimik wäre in allen bisher untersuchten Kulturen gleich – genau wie das Ballen der Fäuste. Narben würden mit Stolz getragen und auch bei Friedenskämpfern gälte Mut als Tugend. Es stelle eine hoffnungsvolle Entwicklung dar, dass Aggression zunehmend mit einem Tabu belegt werden würde (vgl. EIBL-EIBESFELDT, 1972, S. 88-89). So scheint die Disposition zur Aggression auf der gesamten Erde verbreitet zu sein, denn der Nachweis, dass es eine aggressionslose Kultur gäbe, wäre bisher laut EIBL-EIBESFELDT nicht erbracht worden. Jedoch ergab die ethologische Forschung, dass es aggressionsfreie Gesellschaften gab und gibt. EIBL-EIBESFELDT sagt zur Ursache von Aggression:
„Aber es sind natürlich eine ganze Reihe von Verhaltensdispositionen vorhanden, die problematisch sind. Sie sind das deshalb, weil das, was wir als stammesgeschichtliche Ausrüstung mitbekommen haben, sich in jener langen Zeit entwickelt hat, in der wir als altsteinzeitliche Jäger und Sammler gelebt haben - also in kleinen Verbänden, wo jeder jeden kannte, mit einer einfachen Technologie. […] In der Groß-Gesellschaft aber neigen wir - weil wir nicht so verbunden sind und wenn diese Verbundenheit nicht künstlich durch Erziehung gefördert wird – dazu, den anderen repressiv-dominant unterzubuttern und unseren eigenen Vorteil zu suchen.“ (EIBL-EIBESFELDT, Internetquelle).
Als Pädagoge sollte man die genetische Vorprogrammierung aus der Altsteinzeit in Frage stellen und überlegen, ob sie nicht nur eine Legitimation von Gewalt ist. So belegt die biogenetische Forschung, dass Gene ein Entwicklungspotenzial darstellen, das nur mit der ökologischen und sozialen Umwelt aktualisiert werden kann. Persönlichkeit wird natürlich auch durch die genetische Ausstattung bestimmt, jedoch nur in Wechselwirkung mit den Umständen der Sozialisierung. Zurückliegende Geschehnisse wie der Tod des Tessiner Ehepaares, welches anscheinend grundlos erstochen wurde (SPIEGEL, Internetquelle) lenkten den Blick der Allgemeinheit wieder verstärkt auf Gewalttaten Jugendlicher und erneut stoßen die Frage nach Ursachen und Prävention an. Auch im Bereich Schule nahmen in der Abbildung der Medien die Gewalttaten in Qualität und Quantität zu. Ein Amoklauf wie an der Columbine Highschool in Littleton erschien in Deutschland undenkbar. Am 26. April 2002 überschlugen sich dann die Medienberichte über vergleichbar Schreckliches am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Schnell wurden von den Medien Computerspiele, Gewaltfilme und gewaltverherrlichende Musik als Antrieb zu solchen Taten ausgemacht. Dazu ist zu sagen, dass es bis heute keine Studie gibt, die einen Zusammenhang belegt – aber auch keine, die ihn widerlegt. Derartige Gewalttaten zeigen, dass nicht in jedem Menschen die Moral dominiert, nach der man Anderen keine physische und psychische Gewalt antut. Das Gewaltmonopol des Staates, nach dem allein staatliches Handeln die Anwendung physischer Gewalt legitimieren kann, wird damit ignoriert. Nun versucht der Staat, Gewalt durch ein weiteres Gesetz zu minimieren. In Folge der Diskussion um einen möglichen Zusammenhang zwischen Filmen/Computerspielen/Musik und Gewalt wird aktuell ein Gesetz auf den Weg gebracht, welches gewalthaltige Trägermedien für Kinder und Jugendliche verbietet (SPIEGEL, Internetquelle). Das Gesetz zielt einerseits darauf ab, Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen, andererseits soll damit eine Ursache für Gewalt unter Heranwachsenden beseitigt werden.
Diese Examensarbeit möchte tiefergehend untersuchen, wie es zu Aggression und Gewalt bei Schülern kommt und welche Präventionsmodelle es gibt. Als zukünftige Lehrerin werden das Thema Aggression und Gewalt für mich aktuell bleiben, so dass ich mich vorab mit Ursachen und Symptomen sowie Interventions- und Präventionsmöglichkeiten beschäftigen möchte.
Diese Arbeit gliedert sich wie nachfolgend beschrieben:
Zuerst erfolgen die Klärungen der Begriffe Aggression, Gewalt und Aggressivität. Ich werde einen Überblick über die unterschiedlichen Arten von Aggression geben und darstellen, wie sich die Termini Aggression und Gewalt überschneiden.
Ausmaß und Entwicklungen von Aggression und Gewalt an Schulen werden stellvertretend für bundesweite Entwicklungen anhand der Erkenntnisse der dritten Hamburger Dunkelfeldstudie zur Gewalterfahrung und Kriminalitätsfurcht von Jugendlichen dargestellt.
Ihr folgt eine Begriffsklärung von Aggressionsintervention und Aggressionsprävention. Diese Begriffsklärungen leiten den folgenden Teil der Arbeit ein, welcher sich verschiedenen Maßnahmen zur schulischen Aggressionsprävention und -intervention, geordnet nach der Ausrichtung an Schüler und/oder Lehrer, an der gesamten Schule oder an einer Vernetzung mit dem Sozialraum, widmet.
Anschließend stelle ich ausgewählte psychologische und soziologische Theorien zur Erklärung von Aggression und Gewalt vor, bewerte diese hinsichtlich ihres Erklärungsgehalts für schulische Aggressionsprävention und leite aus ihnen Forderungen an die schulische Aggressionsprävention ab.
Die Arbeit beende ich mit einem Resümee und einer Verallgemeinerung der Erkenntnisse bzw. einem Ausblick.
1 Begriffsdefinitionen
Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich das Unterscheiden der Begriffe Gewalt und Aggression durchgesetzt, so dass ich in vorliegender Arbeit auch so verfahren werde.
1.1 Aggression und Gewalt – definitorische Klärung der Begriffe
Einführend kläre ich den Begriff der Gewalt, da dieser in der Alltagssprache verbreiteter ist als der der Aggression und zudem häufig synonym verwendet wird.
Gewalt ist in der deutschen Sprache ein mehrdeutiger Begriff. Es wird damit das Recht oder die Macht über etwas bezeichnet. Historisch geht der Begriff auf das Verb „walten“ zurück, welches die ordnende und gestaltende Funktion einer Macht beschreibt. Gewaltenteilung als staatstheoretischer Begriff steht für die Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Judikative, Exekutive und Legislative. Positive oder neutrale Assoziationen zum Begriff Gewalt oder walten wie Anwalt, Verwaltung, „Schalten und Walten“ oder auch „Gnade walten lassen“ werden zunehmend von negativen wie „rassistische Gewalt“, „Gewalt durch Unterlassung“, „Gewalt durch Linksterrorismus“ oder auch „Gewalt an Schulen“ verdrängt. Schwere Körperverletzung bis hin zum Mord ist das Alltagsverständnis von Gewalt. Häufig ließe sich statt Aggression auch Gewalt sagen. Insbesondere körperliche Formen von Aggression werden Gewalt genannt, andere Formen wie Ausgrenzen nicht. Verbale Gewalt führt nicht direkt zu sichtbaren Schädigungen, ist deswegen aber nicht weniger gefährlich. Aggression nonverbaler Form wie Mimik und Gestik werden weniger der Gewalt zugeordnet. Aggression ist also ein weiterer Begriff, Gewalt ein engerer. GALTUNG führte 1975 den Begriff der «strukturellen Gewalt» ein,
„mit der die stille Unterdrückung durch ein System sozialer Ungerechtigkeit gemeint ist. Als «Gewalt» kann man sie ansehen, weil sie ähnlich gravierende Beeinträchtigungen mit sich bringt wie schwere Aggressionsformen (= personale Gewalt bei GALTUNG): Menschen können an struktureller Gewalt sogar physisch und psychisch zugrunde gehen (Hunger, Slums usw.) Diese Schädigung wird aber nicht durch aktives, zielgerichtetes Verhalten sichtbarer Akteure herbeigeführt…“ (GALTUNG, 2002, S. 26).
Zielgerichtetheit ist ein Kriterium für aggressives Verhalten, weshalb man der Ordnung halber die strukturelle Gewalt nicht zur Aggression rechnen sollte. GALTUNG benennt mit Frieden die Negation von Gewalt und grenzt den Gewaltbegriff mit seiner weiten Definition ein:
„Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ (GALTUNG, 1975, S. 9)
Gewalt definiert sich nach GALTUNG also als Ursache für „den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen […]. Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen vergrößert oder die Verringerung zwischen beidem erschwert.“ (GALTUNG, 1975, S.9) Wenn sich Schüler nun aufgrund äußerer Umstände wie z.B. Unterrichtsausfall, zu großer Schulklassen und zu wenig Geld für Materialien nicht nach ihren potentiellen Fähigkeiten entwickeln können, so liegt nach GALTUNGs Ansatz strukturelle oder indirekte Gewalt vor. Eine Dimension des Gewaltbegriffs ist die Gewalt eines einzelnen Akteurs, welche personale oder indirekte Gewalt genannt wird. Nachfolgend eine Übersicht über die sechs Dimensionen von Gewalt auf Basis von GALTUNGs Ansatz (GALTUNG, 1975, S. 9-16), nach dem keine dieser sechs Dimensionen in Kombination a priori ausgeschlossen werden kann:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle1: Nolting, 2002, S. 151
Die Tabelle verdeutlicht, wie vielfältig die Erscheinungsformen von Gewalt sind. Da die Objekte personaler (direkter) Gewalt sich normalerweise gegen Gewalt wehren, fällt sie mehr auf als strukturelle (indirekte) Gewalt, die häufig als unveränderlich und naturgegeben hingenommen wird. Es wird keine direkte physische oder psychische Gewalt angewandt, und doch können die Objekte die gleichen Schäden erleiden wie durch personale Gewalt. Strukturelle Gewalt stellt eher eine „stille Gewalt“ dar, die sich schwach durch eine Ungleichverteilung der Ressourcen wie z.B. Arbeit, Wohnraum und Mitbestimmung zeigt. Die Ungleichverteilung wird durch mehrere Faktoren wie die lineare Rangordnung (statische Ordnung), das azyklische Interaktionsmuster (nur ein Weg ist „richtig“), die Kongruenz der Systeme und die Konkordanz der Ränge (steht ein Akteur in einem System hoch, so besteht die Tendenz, dass er auch in einem anderen System, an dem er partizipiert, hoch steht) aufrechterhalten.
GALTUNG stellte fest, dass personale und strukturelle Gewalt empirisch voneinander unabhängig sind, die eine setzt die andere nicht voraus. Es lässt aber sich bei genauer Überprüfung der Vorgeschichte feststellen, dass alle Fälle von struktureller Gewalt auf personale Gewalt und personale auf strukturelle Gewalt zurückzuführen sind.
„«Reine Fälle» gibt es nur solange, wie ihre Vorgeschichte oder gar ihr struktureller Zusammenhang außer acht gelassen werden“ (GALTUNG, 1975, S. 24-25).
SANER greift den 1969 von GALTUNG eingeführten Begriff der strukturellen Gewalt auf und ergänzt: „Zwar sind Strukturen durch Personen geschaffen worden und werden im Handeln durch sie vermittelt; aber, einmal etabliert, sind sie über Personen dominant, solange sie gelten.“ (SANER, 1982, S. 77). Er vertritt die Auffassung, dass die ethologische Gewalt die verbreitetste Form der strukturellen Gewalt ist. „Ethologisch“ meint nach SANER das „durchschnittliche, gewohnheitsmäßige Handeln betreffend“. Dieser Begrifflichkeit folgend ist ethologisches Handeln „das zur Gewohnheit, im Grenzfall zu Brauch und Sitte fixierte Handeln im Rahmen einer Gesellschaft.“(SANER, 1982, S. 83)
Von ethologischer Gewalt spricht SANER dann, wenn die „Macht der Gewohnheit“ zu messbaren Schädigungen führt. Gewohnheit, Sitte und Brauch entlasten menschliches Handeln permanent, können aber durch folgende Automatismen schädigen:
Die Subjekte der Handlung werden anonymisiert. Anstelle konkreter Menschen, die miteinander in Interaktion stehen, treten Neutra, reduziert auf das unbestimmte Subjekt „Man“. Zugleich werden Objekte klassifiziert: Man handelt z.B. Frauen, Kindern, Schülern oder Ausländern gegenüber so. Handlungen werden vom Zweck abstrahiert und ritualisiert, so dass Geschehen der Kritik entzogen werden. Folgen dieser Immunisierung sind Konformismus, Konventionalismus, gesellschaftliche Regel-Kontrolle und Legitimierung des Unrechts durch „Üblichkeit“. Ein so funktionierendes System wird durch die vorherrschende Kritiklosigkeit missbrauchbar für unüberprüfbare Zwecke. Angeregt durch BOURDIEU/PASSERONs „Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt“ nennt SANER (SANER, 1982, S. 77) das Zeichen als Subjekt von Gewalt. Symbole sind Zeichen (z.B. Sprach-Zeichen, Seh-Zeichen, Hör-Zeichen, Geruch-Zeichen u.a.m.) Alles, was in einem weiten Sinne „gelesen“ werden kann und eine Bedeutung trägt, ist ein Zeichen. Zeichen können Elemente ganzer Zeichensysteme sein, etwa Weltanschauungen, Ideologien, Theorien, Sprach-Systeme. Zeichen und Zeichensysteme können durch ihre Auswirkungen auf das Denken, Fühlen und Handeln die Subjekte einer schädigenden, symbolischen Gewalt sein. Im weiteren Sinne könnte symbolische Gewalt auch in der personalen Gewalt zu finden sein, etwa im Falle eines Anschreiens. Im engeren Sinne sollte nach SANER aber erst dann von symbolischer Gewalt gesprochen werden, wenn
„der Betrug, die Diskriminierung, die Verachtung schon im Zeichensystem selber liegen – etwa in einer Ideologie –, sodass [sic] jeder, der dieser Symbolwelt verfällt, unweigerlich betrügt, diskriminiert, die Wahrheit verbiegt, selbst wenn es in subjektiv redlicher Absicht geschieht.“ (SANER, 1982, S. 78)
Nach SANER würde also schon ein Lehrer, der in subjektiv redlicher, nicht manipulierender Art und Weise seinen Unterricht gestaltet, in diesem Sinne symbolisch gewaltvoll handeln, wenn seine wissenschaftliche Denkweise zur herrschenden wird und sich in den Schülern reproduziert.
Eine weitere Ausprägung der strukturellen Gewalt ist die bürokratische Gewalt. Es handelt sich um eine anonyme Gewalt, die den Einzelnen auf eine persönliche Nummer reduziert. Anonyme Befehle vermitteln den Eindruck der Führungs- und Verantwortungslosigkeit. Was immer die politische Gemeinschaft beschließt, es herrscht Unsicherheit darüber, was daraus auf dem Verwaltungsweg wird und drängt die Gemeinschaft zum Rückzug ins Apolitische und Private.
Neben der bürokratischen Gewalt ist lt. SANER (vgl. SANER, 1982, S. 81-82) die ökonomische Gewalt ein Element des Systems der organisierten Arbeit. Der Mensch muss sich neben seiner biologischen Existenz noch durch Arbeit hervorbringen und hat darum das Recht, einer befriedigenden Arbeit und Tätigkeit nachzugehen. Vor dem Hintergrund des Begriffes einer befriedigenden Arbeit erweist sich das primär ökonomisierende statt humanisierende Arbeitssystem als gewalttätig. Die Mittel der ökonomisch strukturellen Gewalt sind: Fremdbestimmung durch Trennung von Arbeit und Macht, Sinnentleerung durch Trennung von Arbeit und Denken sowie Trennung von Arbeit und Freiheit. Dieses manipulative, inhumane, sinn- und qualitätsarme Arbeitssystem führt zu manifesten, v.a. aber latenten Leiden.
Zum in der Alltagssprache weniger geläufigen Begriff Aggression haben Menschen verschiedenste Assoziationen, die aus unterschiedlichsten Bereichen stammen. Es werden körperliche Gewalt wie Handgreiflichkeiten, Quälen, Schlagen, Verletzen, Berauben bis hin zum Mord, verbale Gewalt wie Bedrohungen, Pöbeln, Demütigen, Provozieren bis hin zur Erpressung sowie sexuelle und seelische Gewalt, seltener Sachbeschädigungen oder unterlassene Pflege und Hilfe genannt. Einige Menschen denken erst bei lautem Streit und Zorn an Aggression, andere zählen bereits ein Vorenthalten von Informationen am Arbeitsplatz oder ein beim Lehrer Anschwärzen in der Schule und ungerechte Behandlung im Allgemeinen dazu. Manche Menschen ordnen auch starken Ehrgeiz oder aufdringliche Arten von Werbung in diesen Bereich ein. Zu Aggression gehört intensives Verhalten genauso wie subtiles. Dieses sind alles individuelle Meinungen. Um eine allgemeingültige Definition zu finden ist zu überlegen, „welche Phänomene so benannt werden sollten “ (NOLTING, 2002, S. 21). Die an der Aggressionsforschung beteiligten Wissenschaften vertreten in Teilen verschiedene Ansichten, arbeiteten aber zwei Aspekte der Aggression heraus, in denen sie übereinstimmen. MUMMENDEY/OTTEN (in STROEBE et al., 2002, S. 355) stellen fest:
„Zum einen bedeutet aggressives Verhalten, einer anderen Person oder einem anderen Lebewesen einen Schaden oder eine Verletzung zuzufügen. Zum anderen muss eine Definition, um eine zufällige Schädigung oder aversive Stimulierung, die in hilfreicher Absicht erfolgt, auszuschließen, auch die Absicht des Handelnden enthalten, beim Opfer negative Folgen hervorzurufen.“
Der weiter gefasste Aggressionsbegriff ist vom lateinischen Wort „aggredi“ oder „aggredior“ abzuleiten und bedeutet herangehen, sich an jemanden wenden, beginnen, angehen, unternehmen, versuchen. Im ursprünglichen Sinn bezeichnet Aggression also ein tatkräftiges Handeln. Nach diesem weiter gefassten Aggressionsbegriff sind viele – auch positive – Aktivitäten einer Person darunter einzuordnen, weshalb dieser weitere Begriff aufgrund seiner Unschärfe und damit Unbrauchbarkeit wenig genutzt wird. Aggression kann zum Beispiel als positiv bewertet werden, wenn sie einen positiven Zweck verfolgt. Aggression wird von BACH/GOLDBERG als ein Teil des Menschen verstanden, dessen Verdrängung negative Folgen hat wie z.B. die Befriedigung durch materielle Güter, Zynismus gegenüber anderen Menschen oder eine allgemeine Lebensmüdigkeit. Mit Aggression ist nach BACH/GOLDBERG (BACH/GOLDBERG, 1974, S. 14) „jedes Verhalten gemeint, das im wesentlichen das Gegenteil von Passivität und Zurückhaltung darstellt.“
Der Psychoanalytiker MITSCHERLICH (vgl. MITSCHERLICH, 1970, S. 12) geht mit seiner ebenfalls weiten Definition davon aus, dass „als Aggressivität alles gälte, was durch Aktivität – zunächst durch Muskelaktivität – eine innere Spannung aufzulösen suche.“
Dieser weite Aggressionsbegriff ist als Arbeitsgrundlage zu ungenau. HACKER geht ebenfalls von der Aktivität als Ursprung der Aggression aus, wird aber in seiner Aussage genauer (HACKER 1971; in NOLTING, 2002, S. 24):
„Aggression ist jene dem Menschen innewohnende Disposition und Energie, die sich ursprünglich in Aktivität und später in den verschiedensten individuellen und kollektiven, sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit ausdrückt.“
Disposition und Energie sind Erscheinungen, die etwas wie eine innere Bereitschaft und aggressive Impulse meinen. Hierfür wird manchmal auch der Begriff Aggressivität (vgl. Kapitel 2.3) genutzt, welcher sich auf die „individuelle Ausprägung bei einem einzelnen Menschen“ bezieht (NOLTING, 2002, S. 30). MUMMENDEY et al. nennen drei Merkmale, deren Vorhandensein dazu führen kann, dass Verhalten als aggressiv eingeordnet wird (vgl. MUMMENDEY/OTTEN; in STROEBE et al., 2002, S. 370):
- Schädigungsabsicht
- tatsächliche Schädigung
- Normverletzung
Die ersten beiden Bestimmungskriterien sind in den Definitionen des engeren Typs enthalten, in welchen Aggression mit Schaden, Verletzung, mit dem Zufügen von Schmerzen zu tun hat. Um Fälle auszuschließen, in denen man dieses nicht vermeiden kann, wurde die Intention in einige Definitionen mit aufgenommen. Definitionen dieser Art findet man z.B. bei MERZ, FÜRNTRATT und SELG et al. MERZ benennt
„jene Verhaltensweisen [als aggressiv,] mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums, meist eines Artgenossen, intendiert wird“ (MERZ, 1965; in NOLTING, 2002, S. 22).
FÜRNTRATT ordnet der Aggressivität Verhaltensweisen zu, die Individuen oder Sachen aktiv und mit Absicht schädigen, schwächen oder in Angst versetzen (vgl. FÜRNTRATT, 1974; in NOLTING; 2002, S.22). Diese Definitionen enthalten die Absicht der Handlung. SELG et al. sehen Schwierigkeiten bei dem Voraussetzen von „Absicht“ als Kriterium für Aggression und stufen „etwas“ unter folgender Gegebenheit als Aggression ein:
„Eine Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize“ (SELG et al., 1968; in SELG et al., 1997, S. 4).
Aggression bezeichnet nach SELG et al. ein Verhalten. Aggression meint keinen Affekt und keine Anspannung. Sie grenzen sich damit von den weiter formulierten Aggressionsbegriffen der Psychoanalytiker FREUD, PARENS und MITSCHERLICH ab, welche das Verhalten von Tier und Mensch je nach Erscheinungsform auf entweder den Eros oder die Aggressivität zurückführen. SELG et al. kritisieren den leichtfertigen und inflationären Gebrauch des Etiketts. So würde z.B. in Fußballreportagen das Spiel eines Fußballers aggressiv genannt, obwohl seine spritzige, kraftvolle Spielart gemeint wäre. Ein weiteres Beispiel ist das gelegentlich als „aggressiv“ bezeichnete Musizieren, das nicht das Stören der Nachbarn meint, sondern das gekonnte Spielen (vgl. SELG et al., 1997, S. 2-3). Diese Beispiele stehen für zu weite Auffassungen vom Begriff der Aggression. Andererseits gäbe es aber auch zu enge wie die von WERBIK, nach der man nur von Aggressionen sprechen dürfe, „wenn der Handelnde ausdrücklich aggressive Absichten zugibt“ (WERBIK, 1974; in SELG et al., 1997, S. 3).
Aggressionen im Rahmen von Straftaten oder von Kleinkindern würden damit aus der Forschung herausfallen. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch versucht Aggression anhand des Kriteriums „intendierte Schädigung“ zu identifizieren und als einen psychologischen Sachverhalt zu beschreiben. Der alltägliche Sprachgebrauch bewertet. Es kommt hier zur intendierten Schädigung die „Normabweichung bzw. Unangemessenheit“ hinzu (vgl. NOLTING, 2002, S.27). So bezeichnen nur wenige Menschen das Niederschlagen eines Einbrechers als aggressiv. Hier wird deutlich, wie subjektiv die Beurteilung möglicher aggressiver Handlungen ist. BANDURA berücksichtig das jeweilige Bezugssystem:
„Aggression als schädigendes und destruktives Verhalten (…), das im sozialen Bereich auf der Grundlage einer Reihe von Faktoren als aggressiv definiert wird, von denen einige eher beim Beurteiler als beim Handelnden liegen.“ (vgl. BANDURA, 1979, S.22) Es bleibt damit „verschwommen, welche Phänomene man eigentlich erklären und ggf. vermindern möchte“ (NOLTING, 2002, S. 25).
[...]
- Quote paper
- Sonja Carstens (Author), 2007, Gewalt in der Schule. Erscheinungsformen, Bedingungen und Präventionsmodelle, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124362
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.