Als die Ergebnisse der PISA-Studie bekannt wurden, ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Deutschland liegt bei den naturwissenschaftlichen, mathematischen Kompetenzen und in der Lesekompetenz im internationalen Vergleich klar unter dem Durchschnitt. Vor allem der enorme Unterschied zwischen den leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern ist gravierend. Daraus folgte eine große Anzahl von verschiedenen Reformen bzw. Reformansätzen. Schon in den 60er und 70er Jahren fand man als Antwort auf internationale Wettbewerbsangst nur die „Leistungsschule“. Diesen Fehler sollte man heute nicht mehr machen, sondern man sollte nach dem pädagogischen Zweck der Schule fragen bzw. sich darüber verständigen, was Schule ist, was sie sein kann und was sie sein soll. Die jüngere Diskussion greift verstärkt auf die pädagogischen Grundgedanken und Schulmodelle der so genannten Reformpädagogik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Dieser Meinung nach müsse die Schule bei den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Kindes ansetzen. Man darf nicht vergessen, dass die Schule die Heranwachsenden in erster Linie mit jenem Wissen, mit jenen Kenntnissen und mit jenem kritischen Denken auszustatten hat, die sie zur Orientierung in einer immer komplizierter werdenden Welt bedürfen (vgl. Böhm/Grell 2000, S. 10). Auch der Deutschunterricht wurde sehr stark unter die Lupe genommen. Bei vielen Untersuchungen ist in der letzten Zeit erkannt worden, dass der klassische analytische Literaturunterricht vielen Schülern nicht gerecht wird. Die Schüler empfinden den Unterricht als langweilig und die Literatur als wenig ansprechend...
Inhaltsverzeichnis
1. Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht theoretisch
1.1 Geschichtlicher Abriss
1.2 Theorie und Ziele
1.2.1 Begriffe
1.2.2 Ziele
1.3 Vertreter des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts
1.3.1 Gerhard Haas
1.3.2 Günter Waldmann
1.3.3 Kaspar H. Spinner
1.4 Kritik an handlungs- und produktionsorientiertem Literaturunterricht
2. Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht praktisch
3. Bewertung des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht theoretisch
Als die Ergebnisse der PISA-Studie bekannt wurden, ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Deutschland liegt bei den naturwissenschaftlichen, mathematischen Kompetenzen und in der Lesekompetenz im internationalen Vergleich klar unter dem Durchschnitt. Vor allem der enorme Unterschied zwischen den leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern ist gravierend. Daraus folgte eine große Anzahl von verschiedenen Reformen bzw. Reformansätzen. Schon in den 60er und 70er Jahren fand man als Antwort auf internationale Wettbewerbsangst nur die „Leistungsschule“. Diesen Fehler sollte man heute nicht mehr machen, sondern man sollte nach dem pädagogischen Zweck der Schule fragen bzw. sich darüber verständigen, was Schule ist, was sie sein kann und was sie sein soll. Die jüngere Diskussion greift verstärkt auf die pädagogischen Grundgedanken und Schulmodelle der so genannten Reformpädagogik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Dieser Meinung nach müsse die Schule bei den individuellen Bedürfnissen des einzelnen Kindes ansetzen. Man darf nicht vergessen, dass die Schule die Heranwachsenden in erster Linie mit jenem Wissen, mit jenen Kenntnissen und mit jenem kritischen Denken auszustatten hat, die sie zur Orientierung in einer immer komplizierter werdenden Welt bedürfen (vgl. Böhm/Grell 2000, S. 10). Auch der Deutschunterricht wurde sehr stark unter die Lupe genommen. Bei vielen Untersuchungen ist in der letzten Zeit erkannt worden, dass der klassische analytische Literaturunterricht vielen Schülern nicht gerecht wird. Die Schüler empfinden den Unterricht als langweilig und die Literatur als wenig ansprechend.
„Sie empfinden die herkömmliche schulische Beschäftigung als ein Zerreden der Texte, das ihnen jede Lust am Lesen nimmt. Vor allem die langsamen Lerner (die von der rein auf kognitive Ziele ausgerichteten Schule rasch als ‘schwach’ und ‘unbegabt’ abqualifiziert werden) und die mehr praktisch als intellektuell Begabten verlieren meist schon in der Primarstufe den Anschluß an den unterrichtlichen Diskurs. Man kann die Augen nicht davor verschließen, dass der Literaturunterricht bei vielen Kindern und Jugendlichen genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er erreichen will: Statt die Heranwachsenden zu Lesern zu machen, schafft er Antipathie gegenüber dem geschriebenen Wort“ (vgl. Haas/ Menzel/ Spinner 1994, S. 17).
Genau bei diesem Problem setzt der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht an. Er will, dass die Schüler nicht nur rezeptiv (hörend und lesend) und analysierend- interpretierend mit Literatur umgehen, sondern selbst gestaltend tätig werden, indem sie Texte ergänzen, umschreiben, zu ihnen malen, sie spielen u.ä. und sich gern und erfolgreich mit Literatur beschäftigen (vgl. Spinner 1999, S.33).
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit diesem Ansatz auseinander. Dazu werden im theoretischen Teil die Entwicklung des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts nachgezeichnet und seine heutigen Ziele herausgearbeitet. Außerdem erfolgt eine Vorstellung der didaktischen Diskussion um diese Methode durch die Darstellung der Konzepte einiger wichtiger Vertreter (Haas, Waldmann, Spinner) und des schärfsten Gegners (Kügler). Der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht ist Gegenstand vieler Kontroversen, und auch seine Verfechter setzen zum Teil ganz unterschiedliche Schwerpunkte.
Um sich ein besseres Bild machen zu können, wessen Argumente und Vorstellungen stichhaltig sind, werden im praktischen Teil einige Beispiele für handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben im Unterricht dargestellt, die man im Rahmen einer Unterrichtssequenz zum Thema Märchen durchführen kann.
Abschließend erfolgt eine Bewertung des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts auf der Grundlage der didaktischen Diskussion und der konkreten Beispiele.
1.1 Geschichtlicher Abriss
Schon zur Zeit der Aufklärung gab es entsprechende Formen des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts. Bis Ende des 18. Jahrhunderts wurde an Gelehrtenschulen und Gymnasien geübt, klassische literarische Muster nachzuahmen. Der Sprachunterricht (Latein, Deutsch) war rhetorisch geprägt; poetische Übungen zu literarischen Texten spielten dabei eine hervorgehobene Rolle. Diese Reproduktion alter Meister und ihrer Stile wurde noch etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert. Das 19. Jahrhundert folgte nicht der Anregung Lessings. Produktive Formen des Umgangs mit Literatur spielten kaum noch eine Rolle (vgl. Bogdal 2002, S. 248).
Mit Beginn der Reformpädagogik im 20. Jahrhundert rückte die eigene Produktivität der Schüler immer mehr in den Blickpunkt und betonte in neuer Weise das Schöpferische im Kind und Jugendlichen (vgl. ebd., S. 249).
Während der Zeit des Nationalsozialismus und auch noch danach geriet der produktive Umgang mit Literatur in Verruf, da sie als etwas Unantastbares angesehen wurde. Es fand eine Rückbesinnung auf die Genieästhetik statt, wonach Dichtung nur von begabten, eben ‘genialen’, Dichtern vorgenommen werden konnte (vgl. Waldmann 1999, S. 44-46). Außerdem waren eher Unterordnung und Gefolgschaft statt Erziehung zur Selbstständigkeit gefragt.
In der Nachkriegszeit wird Robert Ulshöfer zum Vorbereiter der handlungs- und produktionsorientierten Literaturdidaktik. „Ulshöfer greift ausdrücklich auf die „Tradition der Gelehrtenschule“ zurück, die durch den literaturgeschichtlichen Unterricht des 19. Jahrhunderts und das Interpretieren im 20. Jahrhundert verloren gegangen sei (vgl. Bogdal 2002, S. 219). Nach einiger Zeit kehrten viele Didaktiker wieder zur aktiven Beschäftigung mit der Literatur zurück. Erste Vorstöße in diese Richtung erfolgten Ende der 60er Jahre, in den 70ern setzte sich die Entwicklung fort und wurde auch wieder stärker beachtet und als sinnvolle Ergänzung eines analytischen Literaturunterrichts angesehen (vgl. Paefgen 1999, S. 126). Die pädagogische Diskussion über die Kreativität brachte neue Impulse für spielerische, experimentelle Formen des Umgangs mit Sprache und Texten. In diese Zeit lassen sich auch die Gedanken der neuen Lernkultur einordnen. Die Reformpädagogen forderten eine Schule, die einen wesentlichen Beitrag zur Vervollkommnung des Einzelnen beiträgt. Sie entwickelten ein neues Lernverständnis, das den Schwerpunkt auf das Erlernen von Kompetenzen legte, die es den Schülern ermöglichen, ihr Leben lang selbstgesteuert erfolgreich zu lernen. Hartmut von Hentig hat in den Pädagogischen Leitlinien, die er für die Bielefelder Laborschule festschrieb, geschrieben, dass die Schule ein Lebens- und Erfahrungsraum sein soll, in dem die Kinder und Jugendlichen gern lernen und die wichtigsten Grunderfahrungen machen können. Immer mehr Kinder verbleiben die meiste Zeit des Tages in der Schule, und so muss die Schule ein offenes Haus werden, welches neben dem Lernen im eigentlichen Sinne auch Lernumwelten bietet, in denen die Kinder neue Erfahrungen machen und sich entfalten können und ihren eigenen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen nachgehen können. Offenheit soll den Schülern den „Wohlfühlraum“ zum Lernen und Leben geben. Diese Ziele (Individualität, Vernetzung, Selbststeuerung, selbstständiges Arbeiten) der neuen Lernkultur münden in verschiedene Unterrichtsmethoden, wie z.B. den Offenen Unterricht.
In diesem Rahmen kam der handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht wieder auf. „Neue Entdecker“ waren unter anderem Rumpf, Müller-Michaels, Waldmann und Ulshöfer. Es wurde beklagt, dass zuviel Interpretation und zuwenig eigenes Gestalten praktiziert würden (vgl. Waldmann 1999, S. 44f.). Die Didaktiker dieser Zeit forderten wieder mehr Kreativität für den Umgang mit Literatur in der Schule. Ende der 70er Jahre gab es in Deutschland wieder zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema „Handlungs- und Produktionsorientierung im Literaturunterricht“ bzw. überhaupt zum Thema „Kreativität“ (vgl. ebd., S. 45). Während diese Veröffentlichungen noch verschiedenste Begrifflichkeiten und Vorstellungen mit dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht verbanden, wurden in den 80er Jahren erstmals praktisch und theoretisch fundierte Modelle eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts ausgearbeitet (vgl. Paefgen 1999, S. 126). Diese verstanden die neue Form des Literaturunterrichts als Gegenprogramm zu den steifen, von oben organisierten Interpretationsritualen der analytischen Verfahren und breiteten sich schnell, vor allem durch die Publikationen von Kopfermann, von ihren Anfängen in der Grundschuldidaktik auf die Sekundarstufen I und II aus (vgl. ebd.). Entscheidend für die endgültige Ausformung des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes wurde die Rezeptionsästhetik. „Der Text wurde gesehen als eine Partitur, die in der Vorstellung des Lesenden zur Entfaltung gebracht werden muss. Dies bedeutete zunächst, dass die subjektiven Rezeptionen der Schülerinnen und Schüler ernst genommen wurden. Um darüber hinaus das produktive Verhalten zum literarischen Text gezielt zu unterstützen und die subjektiven Konkretisationen sichtbar zu machen, wurden in der Weiterentwicklung des rezeptionsästhetischen Ansatzes die produktionsorientierten Verfahren eingesetzt“ (vgl. Bogdal 2002, S. 250).
Die Bezeichnung ‘handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht’ wurde erst zu dieser Zeit geprägt, und zwar 1984 von Waldmann (vgl. ebd., S. 127). Im Zusammenhang mit der Entwicklung von einer früher überwiegend textorientierten zu einer mehr leser- und rezeptionsorientierten Didaktik seit den 70er Jahren rückte nun der jugendliche Leser mit seinen spezifischen Interessen und Bedürfnissen in das Zentrum (vgl. Daubert 1999, S. 43).
1.2 Theorie und Ziele
1.2.1 Begriffe
Die produktiven Verfahren des Literaturunterrichts gelten als die wesentlichen methodischen Neuerungen in der Literaturdidaktik. Mit dem Begriff des handlungs- und produktionsorientieten Literaturunterrichts sind nicht länger die traditionellen, sachlichen Arbeiten – interpretierendes Unterrichtsgespräch, Referat, Hausarbeit – gemeint, sondern dass die Schüler im Literaturunterricht im weitesten Sinne “ästhetisch-künstlerisch“ tätig werden. Beschrieben werden mit diesem Begriff Schüleraktivitäten, die nicht in den traditionellen Rahmen des Interpretierens passen, sondern ästhetische “Produkte“ herstellen bzw. “Handlungen“ ausführen (vgl. Paefgen 1999, S. 126). Der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht geht davon aus, dass das eigene Tun intensivere Lernprozesse ermöglicht als die bloße Instruktion und das Unterrichtsgespräch. In diesem Zusammenhang wird der Begriff Erfahrung wichtig. In der Pädagogik ist das Prinzip des „lerning by doing“ (Dewey), das Konzept des ´Lernens durch Erfahrung´, seit langem fest etabliert. Erfahrung hat man und man kann sie nur aktiv und produktiv machen. „Ein Literaturunterricht, der Erfahrungen vermitteln will, vermag das nicht dadurch, dass er Informationen über sie gibt und diese lernen lässt, […] (sondern sie) können nur vermittelt werden, wenn sie handelnd, in eigenem Tun, gemacht werden“ (vgl. Waldmann 1998, S. 39). Im handlungs- und produktionsorientierten Unterricht kann der Schüler selbst Erfahrungen mit Literatur machen, seine eigenen Lebenserfahrungen an Literatur heranbringen und unmittelbare Erfahrungen der Sinnaktualisierung, Konkretisierung und Aneignung von Literatur machen (vgl. ebd.). Der Sammelbegriff ‘handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht’ umfasst somit drei Komponenten: Produktionsorientierung, Handlungsorientierung und auch das Kreative Schreiben.
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- Franziska Wilhelm (Autor), 2008, Erschließung von Grimms Märchen durch einen handlungs- und produktionsorientierten Unterricht in einer 5. Klasse, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124285
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