EINLEITUNG***
„Jahr für Jahr werden in Deutschland rund 5.000 Tarifverträge zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerk-schaften neu verhandelt und unterschrieben. Charakteristisch für die auf Dauer angelegte „antagonistische Kooperation“ der Tarifpartner in Deutschland ist, dass die weit überwiegende Mehrheit ihrer Verhandlungen vergleichsweise „lautlos“, arbeitskampffrei, hinter verschlossenen Türen, fern öffentlichen Interesses und bar jeglicher Massenmedialer Aufmerksamkeit abläuft.“
Was aber geschieht, wenn, wie gerade in den letzten Monaten verstärkt zu beobachten, Tarifverhandlungen nicht mehr „lautlos“ über die Bühne gehen und es eben doch, von heftigem Aufsehen in den Medien begleitet, zu Arbeitskämpfen kommt? Die Streikthematik scheint gerade in den letzten paar Jahren an Aktualität gewonnen zu haben, obwohl Deutschland im europäischen Vergleich nach wie vor als ein sehr streikarmes Land gilt, was nach Analyse vieler Forscher sowohl auf Flächentarife als auf die „sozialpartnerschaftliche Einbindung“ durch die Mitbestimmung zurückzuführen ist.
Streik wird generell als ökonomisches Phänomen betrachtet. Es hat sich allerdings als schwierig erwiesen, gute theoretische wirtschaftliche Erklärungen für dieses Phänomen zu finden, da immer wieder auf die Irrationalität dieses Macht- und Durchsetzungsinstrumentes der Gewerkschaft hingewiesen wird. Eine passende Beschreibung für das Problem der Streikanalyse hat Hicks 1963 mit seinem sog. „Hicks Paradox“, auf den sich die traditionelle ökonomische Streiktheorie zumeist beruft, bereits frühzeitig geliefert:„ If one has a theory which predicts when a strike will occur and what the outcome will be, the parties can agree to this outcome in advance, and so avoid the costs of a strike. If they do this, the theory ceases to hold.”[...]
Inhalt
1 GLIEDERUNG NACH SOZIOLOGISCHEM E RKLÄRUNGSMODELL
2 STREIK : DEFINITION UND HINTERGRÜNDE
2.1 STREIK
2.2 GEWERKSCHAFTEN
3 SOZIOLOGISCHE HANDLUNGSTHEORIE : AKTEURSMODELLE
3.1 HOMO OECONOMICUS
3.2 HOMO SOCIOLOGICUS
3.3 EMOTIONAL MAN
3.4 IDENTITÄTSBEHAUPTER
3.5 FAZIT AKTEURSMODELLE
4 AKTEURSTHEORETISCHE ERKLÄRUNG VON STREIKVERLAUF
4.1 HANDLUNGSMOTIVE
4.2 SCHWELLENWERTMODELL
4.3 ANWENDUNG DES SCHWELLENWERTMODELLS
5 ILLUSTRIERENDE FALLBEISPIELE
5.1 GATE GOURMET - MENSCHENWÜRDIGERE ARBEITSBEDINGUNGEN & MEHR LOHN
5.2 OPEL - STANDORTVERTEIDIGUNG DEUTSCHLAND
5.3 FAZIT FALLBEISPIELE
6 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
6.1 ZUSAMMENFASSUNG
6.2 AUSBLICK
7 LITERATURVERZEICHNIS
8 ANHANG
EINLEITUNG
„Jahr für Jahr werden in Deutschland rund 5.000 Tarifverträge zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerk-schaften neu verhandelt und unterschrieben. Charakteristisch für die auf Dauer angelegte „antagonistische Kooperation“ der Tarifpartner in Deutschland ist, dass die weit überwiegende Mehrheit ihrer Verhandlungen vergleichsweise „lautlos“, arbeitskampffrei, hinter verschlossenen Türen, fern öffentlichen Interesses und bar jeglicher Massenmedialer Aufmerksamkeit abläuft.“1
Was aber geschieht, wenn, wie gerade in den letzten Monaten verstärkt zu beobachten, Tarif-verhandlungen nicht mehr „lautlos“ über die Bühne gehen und es eben doch, von heftigem Aufsehen in den Medien begleitet, zu Arbeitskämpfen kommt? Die Streikthematik scheint gerade in den letzten paar Jahren an Aktualität gewonnen zu haben, obwohl Deutschland im europäischen Vergleich nach wie vor als ein sehr streikarmes Land gilt,1 was nach Analyse vieler Forscher sowohl auf Flächentarife als auf die „sozialpartnerschaftliche Einbindung“ durch die Mitbestimmung zurückzuführen ist.2
Streik wird generell als ökonomisches Phänomen betrachtet. Es hat sich allerdings als schwie-rig erwiesen, gute theoretische wirtschaftliche Erklärungen für dieses Phänomen zu finden, da immer wieder auf die Irrationalität dieses Macht- und Durchsetzungsinstrumentes der Ge-werkschaft hingewiesen wird. Eine passende Beschreibung für das Problem der Streikanalyse hat Hicks 1963 mit seinem sog. „Hicks Paradox“, auf den sich die traditionelle ökonomische Streiktheorie zumeist beruft3, bereits frühzeitig geliefert:„ If one has a theory which predicts when a strike will occur and what the outcome will be, the parties can agree to this outcome in advance, and so avoid the costs of a strike. If they do this, the theory ceases to hold.”4
Wenn man nur, wie in ökonomischen Theorien üblich, von rational handelnden Menschen ausgeht, ist es schwierig zu erklären, wieso sie ihr pareto optimales5 Ergebnis in einem Ar-beitsverhältnis durch Streiks verschlechtern (durch die Streikkosten wird die Verteilungsmas-se im Umfang kleiner), wenn es doch sinnvoller wäre sich ex ante zu einigen und den Streik zu vermeiden. Zur Analyse von Streiks werden in der Ökonomie hauptsächlich zwei Ansätze verwendet: die einfachen Verhandlungsmodelle (vgl. Ashenfelter und Johnson 1969) oder Modelle mit privaten Informationen (vgl. bspw. Hayes 1984), von denen im Großen und Gan-zen aber bekannt ist, dass Streiks mit verschiedenen ökonomischen Variablen in Zusammen-hang stehen, aber diese Zusammenhänge noch nicht genau verstanden werden können.6
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, die Erklärungslücke der Ökonomie durch Zuhilfe-nahme eines soziologischen Erklärungsmodells zu schließen und letztendlich zu (er-)klären versuchen, wie und warum Streik entsteht. Um dem Phänomen Streik analytisch gerecht zu werden - viele Menschen mit „unterschiedlichster Herkunft, Hintergründen, Temperamenten, Fähigkeiten, Wünschen, Abneigungen, mit den verschiedensten Meinungen“7 agieren im Kol-lektiv –, erscheint eine handlungstheoretische Erklärung durch Anwendung der Akteurstheo-rie sinnvoll: Streik ist demnach zu begreifen als Interaktion von ökonomischen (Homo Oeco-nomicus) und soziologischen (Homo Sociologicus, Emotional Man und Identitätsbehaupter) Akteursmodellen.8
1 GLIEDERUNG NACH SOZIOLOGISCHEM ERKLÄRUNGSMODELL
Die Gliederung dieser Arbeit vollzieht sich nach dem soziologischen Erklärungsmodell von James S. Coleman, auch als Coleman`schen Badewanne bezeichnet. Das Modell erfordert auf Makro-Mikro-Makro-Ebene drei unterschiedliche Analyseschritte], denen jeweils eins der fol-genden Kapitel gewidmet wird (vgl. untenstehende Abbildung 1).
Colemans soziologisches Erklärungsmodell soll die Wirkung von gesellschaftlichen Phäno-menen (Kap. 2 - Makro), auf das Verhalten der Akteure (Kap. 3 - Mikro) und von dort aus wieder zurück auf die Gesellschaft (Kap. 4 - Makro) erklären. Im Zentrum des Interesses die-ses Modells steht die Erklärung von Makrosachverhalten, also von überindividuellen sozialen Gegebenheiten, wie sozialen Strukturen bzw. Formen sozialen Zusammenhandelns, weshalb es hier zur Erklärung von Streik angewendet werden soll.
Das Modell wird in der Regel von einer auf Max Weber zurückgehende methodologisch-individualistischen Position aus gedacht, d.h., dass zur Erklärung kollektiver Phänomene im-mer vom einzelnen Menschen, vom Individuum aus argumentiert wird und die Entstehung kollektiver Phänomene auf dessen individuellen Orientierungen und Handlungen zurückzu-führen sind.9 Diese, nach Weber anzuwendende Methode, ist die des „erklärenden Verste-hens“. Dabei heißt Erklären nichts anderes als das Verstehen jener Motive, die den Handlun-gen zugrunde liegen, die auf Phänomene wirken. Balog erläutert diese Vorgehensweise mit einem Zitat Webers weiter: „Es gelte daher Motivationsabläufe zu rekonstruieren, die Glieder der Kausalkette bilden.“10,11
Harmut Esser unterscheidet, an Colemans Überlegungen anknüpfend, in seinem Grundmodell soziologischer Erklärung „in Anlehnung an die drei Elemente des deutenden Verstehens, des ursächlichen Erklärens des Ablaufs und des ursächlichen Erklärens der Wirkung sozialen Handelns“12 drei Logiken, deren Zusammenwirken Sozialität ausmacht. Seine vereinfachende Modellierung sozialer Prozesse beginnt auf der Makro-Ebene mit der „Logik der Situation“, deren Annahmen die „Beziehung zwischen Situation und Akteur über die beschreibende Brü-ckenhypothese modellieren.“13 So beginnen die Ausführungen dieser Arbeit in Kapitel 2 mit einer Beschreibung der Rahmenbedingungen zur Streikentstehung über den Weg einer allge-meinen, hin zu einer konkreteren Streikdefinition im Sinne des hier betrachteten Arbeits-kampfes. Zudem werden weitere Streikformen genannt und Hintergrundinformationen über das Deutsche Gewerkschaftssystem geliefert.
Gemäß Essers Modells schließt daraufhin die „Logik der Selektion“, deren Annahmen den „nomologischen Kern der soziologischen Erklärung betreffen“ an, so dass in Kapitel 3 durch eine Tiefenerklärung über die Mikro-Ebene und damit auf Basis von Handlungsentscheidung der Akteure eine Interaktion von Ökonomie, durch das eher ökonomische Akteursmodell des Homo Oeconomicus und Soziologie durch Home Sociologicus, Emotional Man und Identi-tätsbehaupter angestrebt wird, um die vorhandene Erklärungslücke wirtschaftlicher Theorien zu Streikentstehung zu schließen.
Abschließend findet in einem dritten Schritt (im Kapitel 4) durch die „Logik der Aggregation“ die „aggregierende Transformation der individuellen Effekte des Handelns der Akteure zu dem jeweiligen kollektiven Explanandum“14 statt. Dort, wieder auf der Makro-Ebene des so-ziologischen Erklärungsmodells angelangt, erfolgt eine Beschreibung der Entstehung von Streik durch das Zusammenwirken dieser vier Modelle bei kollektiver Mobilität mit Hilfe eines Schwellenwertmodells.
In Kapitel 5 soll eine praktische „Anwendung“ durch zwei illustrative Fallbeispiele bedeuten-der Streiks der letzten Jahre das Erklärungsvorgehen durch Rekonstruktion der Streikabläufe bestätigen. Abschließend erfolgen eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse und ein Fazit der Arbeit mit Ausblick.
Abb_1: Vorgehen der Arbeit analog zu soziologischem Badewannenmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2 STREIK: DEFINITION UND HINTERGRÜNDE
Im ersten Schritt einer soziologischen Erklärung soll gemäß der „Logik der Situation“ die soziale Situation der Streikenden rekonstruiert werden. Dazu beginnen diese Ausführungen mit einer Definition von Streik und Hintergrundinformationen über das deutsche Gewerk-schaftssystem zur Beschreibung der Rahmenbedingungen, denen die Akteure ausgesetzt sind.
2.1 STREIK
Definition Unter Streik wird im weiteren Sinne „die zeitweilige Verweigerung eines geschul-deten oder üblichen Verhaltens als Mittel des zivilen Ungehorsams zur Durchsetzung einer Forderung oder als Ausdruck eines Protests“15 verstanden.16 Im engeren Sinn des Arbeits-rechts, um das es im Rahmen der weiteren Ausführungen dieser Arbeit geht, ist Streik als Form des Arbeitskampfes die vorübergehende kollektive Arbeitsniederlegung (Ausstand) durch Arbeitnehmer zur Durchsetzung, der im Rahmen des Arbeitskampfes erhobenen Forde-rungen, die sich auf Entlohnung oder Arbeitsbedingungen beziehen, zu verstehen und ist ge-genüber anderen Arbeitskampfmaßnahmen wie z. B. Sabotage abzugrenzen.17
Merkmale Zentrale Merkmale des Streiks sind demnach zeitliche Befristung, Kollektivität und Ereignishaftigkeit.18 Die Dauer eines Streiks hängt von der jeweiligen Streikform ab, zeichnet sich aber immer durch zeitliche Befristung aus. Das den Streik konstituierende Krite-rium der Kollektivität, welches im dritten Kapitel dieser Arbeit einen zentralen Stellenwert einnimmt, wird üblicherweise als eine gemeinsame Verabredung und planmäßige Durchfüh-rung interpretiert. Das Moment der Ereignishaftigkeit verweist darauf, dass es sich beim Streik um Koalitionen handelt, die an bestimmte Forderungen und ihre konkrete fallbezogene Durchsetzung gebunden sind. Zudem betont es den Ausnahme- und „Eventcharakter“ einer Streiksituation für die Streikenden. Boll weist auch darauf hin, dass gemäß früheren Auffas-sungen die Freiwilligkeit der Teilnahme als entscheidendes Kriterium gesehen wurde, was allerdings heute aufgrund anderer Beobachtungen (vgl. Kapitel 3 zur Streikentstehung) nicht mehr so relevant erscheint.19 Zwar enthält die allgemeine Praxis der Urabstimmung (im Fol-genden erläutert) das Moment der demokratischen Entscheidung, jedoch sehen sich auch die-jenigen, die gegen die Aufnahme des Streiks votiert haben, im Falle der kollektiven Arbeits-niederlegung zur Solidarität mit den Streikenden gedrängt (Gründe für dieses beobachtbare Phänomen werden in Kapitel 3 und 4 erörtert). Müller-Jentsch betrachtet Streiks zusammen-fassen als systemkonformes „Hilfs- und Konfliktlösungsinstrument der Tarifautonomie.“20
Voraussetzungen Mit der Verankerung der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz im Jahr 1949 wurde ein wichtiger Grundstein für eine freie und autonom von den Tarifvertragsparteien ges-taltete Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf Betriebs- bzw. Branchenebene geschaffen.21 Voraussetzung für die gesetzliche Zulässigkeit eines Streiks im arbeitsrechtli-chen Sinne ist, dass er erstens von einer tariffähigen Vereinigung d.h. einer Gewerkschaft durchgeführt wird, zweitens ein durch Tarifvertrag regelbares Ziel verfolgt, drittens nicht ge-gen die Friedenspflicht verstößt und viertens den Gegner nicht unangemessen schädigt (vgl. dazu Abbildungen 12 und 13 im Anhang).
Ablauf Vor Beginn eines Streiks ist zunächst eine Urabstimmung der betroffenen Gewerk-schaftsmitglieder vorgesehen, zu der erst aufgerufen werden darf, wenn die Möglichkeiten für eine gütliche Einigung ausgeschöpft und die Verhandlungen für gescheitert erklärt sind. Noch während der Laufzeit des Vertrages beziehungsweise während der Verhandlungen sind kurze (in der Regel bis zu zwei Stunden) Warnstreiks zulässig.
Formen Es werden folgende Streikformen, gestaffelt nach ihrer Beteiligung bzw. ihrer Mo-tivlagen, unterschieden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auswirkungen für Arbeitnehmer Während des Streiks ruhen die Arbeitsverhältnisse der Streikteilnehmer.22 Der Streikende hat keinen Anspruch auf Lohn oder Gehalt, auch nicht auf Arbeitslosengeld. Gewerkschaftsmitglieder erhalten Streikunterstützung von der Gewerk-schaft. Auch enthalten die Satzungen der meisten Gewerkschaften die Regelung, dass nach der satzungsmäßigen Befragung (Urabstimmung) mindestens 75% der Mitglieder dem Streik zustimmen müssen.23 Demnach sind ohne Gewerkschaft von Arbeitnehmen unmittelbar durchgeführte Arbeitsniederlegungen (sog. wilde Streiks oder auch nicht wertend als selbst-ständiger Streik betitelt) unzulässig,24 weshalb es im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll ist, eine kurze Betrachtung der deutschen Gewerkschaften vorzunehmen.
2.2 GEWERKSCHAFTEN
Definition Gemäß Balog handelt es sich bei einer Gewerkschaft um eine „strukturierte Organisation, in der Vertreter der Arbeitnehmer die Interessen der von ihnen Vertretenen artikulie-ren, koordinieren und nach außen vertreten.“25 Des Weiteren beschreibt Müller-Jentsch Ge-werkschaften als freiwillige Organisationen, „die überdies auf die unbezahlte Mitarbeit zu-mindest eines Teils der Mitgliedschaft angewiesen sind.“26 Zudem charakterisiert er die Be-ziehung zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern als ein ökonomisches Austausch-verhältnis, durch das die Loyalität der Mitglieder gewährleistet wird. Dies gilt vorrangig für die passiven Mitglieder; „für die Minderheit der Aktivisten und Engagierten muss jedoch, über einen solchen Leistungsaustausch hinaus, eine normative Integration durch Beteiligung am Organisationsgeschehen erfolgen.“27
Hintergrundinformationen- Gewerkschaften in Deutschland (vgl. Abb. 14, im Anhang)
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist die größte Dachorganisation von Mitgliedsgewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland und versteht sich als „die Stimme der Gewerkschaften gegenüber politischen Entscheidungsträgern auf den einzelnen Ebenen, um durch die in ihm vertretenen Gewerkschaften mit den Arbeitgebern über tarifpolitische Verbesserungen zu verhandeln und ihre Mitglieder in den Betrieben zu vertreten.“ Dem DGB gehören die acht Mitgliedsgewerkschaften IG Metall; IG Bergbau, Chemie, Energie; Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di); IG Bauen-Agrar-Umwelt; Gewerkschaft Transnet; Gewerk-schaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG); Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Gewerk-schaft der Polizei (GdP) an. Sie decken alle Branchen und Wirtschaftsbereiche ab. Der DGB vereinte 2001 rund 84 % aller deutschen Gewerkschaftsmitglieder. Er hatte 2006 rund 6,6 Mio. Mitglieder. 1 Als weitere Gewerkschaften, die nicht zum DGB gehören gibt es den DBB Beamtenbund und Tarifunion im Bereich des öffentlichen Dienstes mit über 1,25 Mio. Mitgliedern, mit dem Schwerpunkt der Beamtenvertretung, den Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) mit 18 kleinen Einzelgewerkschaften und Tarifgemeinschaften, so-wie kleinere Gewerkschaften vornehmlich in den Bereichen Gesundheit und Pflege, im öffentlichen Dienst, bei Fluglinien und Flughäfen und mit branchenübergreifenden Anliegen.
(vgl. Homepage des DGB und Wikipedia.de)
Historie & Aufgaben Die deutschen Gewerkschaften sind zumeist aus der europäischen Ar-beiterbewegung hervorgegangen und setzen sich seit ihrem Bestehen (ab 1840er Jahre) für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Mitbestimmung, für Arbeitszeitverkürzun-gen und teilweise auch für weitergehende Gesellschaftsveränderung ein. Sie schließen gemäß der deutschen Tarifautonomie als Verhandlungspartner von Arbeitgeberverbänden u.a. über-betriebliche Tarifverträge ab und führen dazu Lohnkämpfe, gegebenenfalls auch mit Hilfe von Streiks und Boykotts, durch.28
Probleme Gewerkschaften sehen sich mit zwei wesentlichen Problemen konfrontiert. Erstens leiden sie, wie andere gesellschaftliche Großorganisationen auch, in den letzten Jahrzehnten an erheblichem Mitgliederschwund.29 Häufig genannte Gründe hierfür sind m. E. u. a. die gesellschaftlichen Tendenzen zur Individualisierung, die kleiner werdenden Betriebsstruktu- ren, dass sich die Anzahl der Arbeitsplätzen in der Industrie zu Gunsten der des Dienstleis-tungsbereichs verringern, eine Kritik an der Führung der Gewerkschaften verbunden mit zu geringen Erfolgen bei den erwarteten Lohnerhöhungen und die gegen die Gewerkschaften gerichteten Kampagnen. Zweitens erschwert das Problem der Mitgliederrekrutierung und - bindung durch das erstmals von Olson benannte „Kollektivgut“-Problem bzw. das damit ver-bundene Phänomen des „Trittbrettfahrens“ für Nicht-Mitglieder, die auch ohne gewerkschaft-liche Zugehörigkeit von den Erfolgen der Gewerkschaften profitieren30, das dauerhafte Fort-bestehen dieser Organisationen. Trotz sinkender Mitgliederzahlen der Gewerkschaften fällt in Deutschland gerade in den vergangenen fünf Jahren eine erhöhte Streikbereitschaft auf. In den Medien wird derzeitig von einer wahren „Streiklust“31 gesprochen (vgl. dazu auch Abbildung 9 im Anhang). Wie lässt sich diese gesteigerte Streikbereitschaft erklären? Eine Antwort der „Theorie des gesunden Menschenverstandes“, die man wohl auch auf die derzeitigen deut-schen Arbeitsverhältnisse übertragen kann, lautet, „wenn es vielen Menschen in einer Region allzu schlecht geht, dann protestieren sie und im Extremfall kommt es zu Aufständen.“32 Dar-an anknüpfend argumentiert die „Theorie der relativen Benachteiligung“, dass Menschen vor allem Widerstand leisten, wenn es ihnen nach einer Phase schlechter Lebensbedingungen bes-ser geht (derzeitiger Konjunkturaufschwung), diese Besserung jedoch zum Stillstand kommt. Besonders relevant wird dieses Verhalten, wenn es „den Nachbarn“ – in diesem Fall anderen Berufsgruppen – im Vergleich zur eigenen Entwicklung immer besser geht (höhere Tarifab-schlüsse, Rentenerhöhung der Politiker. Dies steht in Einklang mit der Erklärung nach Feldmann, der als zentrale Ursache der Entstehung von sozialen Bewegungen33 (als deren mögli-chen „Vorläufer“ soll hier Streik betrachtet werden) „die Wahrnehmung von als ungerecht empfundener Benachteiligung, starke Erwartungsenttäuschung und die Bereitschaft einer grö-ßeren Zahl von Personen, aktiv und auch gegen Widerstand die sozialen Probleme zu lösen“34 nennt.
3 SOZIOLOGISCHE HANDLUNGSTHEORIE : AKTEURSMODELLE
Nachdem die Rahmenbedingungen gemäß der „Logik der Situation“ auf der Makro-Ebene im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurden, soll nun durch eine sog. Tiefenerklärung über die Mikro-Ebene erörtert werden, unter welchen Bedingungen die Akteure die eine oder die andere der jeweils relevante Handlungsalternativen wählen. Es erfolgt also über die „Logik der Selektion“ ein handlungstheoretischer Zugang (vgl. Abbildung 1). Ziel dieser Erklärung ist es, soziales Handeln als ein Ergebnis des Zusammenspiels individuellen Handelns (s. Kap. 4) zu erklären. So bildet gemäß Balog „das handlungsbegriffliche Verständnis die Grundlage, vor dessen Hintergrund es möglich ist, die Identität sozialer Phänomene in einer nachvoll-ziehbaren Weise zu definieren.“35
Ausgangspunkt gegenwärtiger soziologischer Überlegungen zur Handlungstheorie ist die klassische Definition „ sozialen Handelns“ von Max Weber: „Soziales Handeln (...) soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“36 Beken-nende Vertreter von Handlungstheorien und damit sog. akteurszentrierter Paradigmen sind u.a. Talcott Parsons, Emile Durkheim, Wilfredo Pareto, Alfred Marshall und Alfred Schütz. Gabriel beschreibt die Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie allgemein nach folgen-den Kriterien37 : „Entweder werden soziale Phänomene aus der Handlungsperspektive be-trachtet, also Struktur als unabhängig oder sogar als -intendiertes oder nicht-intendiertes- Re-sultat von Handlungen begriffen oder man betrachtet Handlungen als strukturbestimmt bzw. strukturgeleitet.“38 Da hier Handlungswahlen erörtert werden, ist in diesem Wechselspiel v. a. die Komponente des strukturbestimmenden Handelns von Bedeutung. Beim strukturbestim-menden Handeln betonen Pareto und Marshall gemäß der neoklassischen Ökonomik die vo-luntaristischen Aspekte des Handelns, während Schütz in Anschluss an Weber mit Sinnzu-schreibung argumentiert.
In dieser Arbeit wird zur Erklärung von Handlungswahlen die Akteurstheorie von Uwe Schi-mank, einem jüngeren Vertreter der Handlungstheorie, verwendet. Diese Theorie ist m. E. am besten dazu geeignet die Frage „Was veranlasst Menschen an Streiks teilzunehmen oder es (wieder) bleiben zu lassen?“ zu beantworten39, da sie die verschiedenen "typusabhängigen" Motive einer Entscheidung zur Streikteilnahme berücksichtigt. Dies ist v.a. wichtig vor dem Hintergrund der Hypothese, dass Streikverläufe vom „Zusammenspiel“ unterschiedlich hand-lungsmotivierten Akteurstypen bestimmt werden. Schimank versucht mit seinen vier Ak- teursmodellen, welche Grundmuster zur Erklärung von Handeln bereitstellen40, eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wie wählen Handelnde aus den ihnen situativ verfügbaren Hand-lungsalternativen diejenige aus, die sie dann auch tatsächlich ausführen - wobei der Alternati-venraum strukturell bestimmt ist“41, zu finden. Zur Beantwortung dieser Frage wird auf vier soziologische Akteursmodelle, erstens den rational eigennutzmaximierenden Homo Oecono-micus, zweitens den normorientierten Homo Sociologicus, drittens den emotionsgetriebenen Emotional Man und viertens den nach Selbstverwirklichung strebenden Identitätsbehaupter zurückgegriffen. Diese Akteursmodelle werden im Folgenden priorisiert nach ihrer theoreti-schen Bedeutsamkeit und in Abgrenzung zueinander beschrieben. Dabei werden sich die Aus-führungen zu den vier Modellen, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, auf die für das Erklärungsproblem wichtigsten Inhalte beschränken. Daran anknüpfend wird im nächsten Kapitel (4) das Zusammenwirken dieser vier Modelle bei kollektiver Mobilisierung in Form von Streik mit Hilfe von Granovetters Schwellenwertmodell erläutert.
3.1 HOMO OECONOMICUS
Der Homo Oeconomicus entstammt der sog. Rational Choice Theorie (RCT), die mittlerweile als Sammelbezeichnung verschiedener Ansätze einer Handlungstheorie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gilt. Die RCT hat sich als individualistisches Paradigma ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Konkurrenz zum normativen und interpretativen Paradigma (vgl. die folgenden Ausführungen zum Homo Sociologicus) entwickelt und sich (zumindest gemäß Schimank) als dominierendes Paradigma der soziologischen Theorie gegenüber Sys-temtheorie und Interaktionismus durchgesetzt.42 Dieses Paradigma umfasst unterschiedliche Theorietraditionen und wird u.a. von Raymond Boudon, James S. Coleman, Anthony Downs, Hartmut Esser, Siegwart Lindenberg, Mancur Olson und Karl-Dieter Opp vertreten, gleichzei-tig aber auch u.a. von Alfred Schütz und Norman Denzin heftig kritisiert.43 Historisch orien-tieren sich die Theorien der rationalen Wahl an der klassischen Ökonomie Adam Smiths und berufen sich auf Max Webers Programm einer verstehenden Soziologie. Sie versuchen, kom-plexe soziale Handlungen mit Hilfe möglichst einfacher Modellannahmen zu fassen. Erklä-rungsmodelle der rationalen Wahl reichen vom klassischen Homo Oeconomicus, wie hier im Folgenden beschrieben, bis zum RREEMM (Restricted Resourceful Expecting Evaluating Maximising Man) von Lindenberg der modernen Soziologie.44 Der Homo Oeconomicus gilt aber in „reiner“ Form vorrangig als das Akteursmodell der Wirtschaftswissenschaft und wird dort als idealer ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und han-delnden Akteur charakterisiert. Über den Rationalitätsbegriff des so gekennzeichneten Indivi-duums, der den Ausgangspunkt dieses Modells darstellt, gibt es, ebenso wie über die Gewich-tung und Entstehung der Präferenzen bei Handlungswahlen, keine Einigkeit. Einigkeit besteht aber wiederum bei der Ansicht, die RCT als Bestandteil des strukturell- individualistischen Ansatzes zu verstehen, der postuliert, dass alle soziologischen Analysen im Sinne des nach Coleman benannten Methodologischen Individualismus letztlich auf individuelle Handlungen zurückführbar sind.45 Max Webers zweckrationales Handeln, dass er als „Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwe-cke gegeneinander rational abwägt“46 beschreibt und seine anderen drei Handlungstypen (wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln), die er als „Ablenkungen“47 dieses Typus einordnet, unterstützen nach Meinung der meisten Experten diesen Ansatz. Miebach weist aber auch mit Blick auf Weber darauf hin, dass diese „rationalistische“ Ausrichtung der verstehenden Soziologie eine Forschungsstrategie ist und nicht als Bewertung der sozialen Phänomene durch den Soziologen missverstanden werden darf.48
Gemäß diesen Modells nutzt der Homo Oeconomicus die Weltoffenheit zur Verfolgung seiner ökonomischen Ziele49 und wird im neoklassischen Sinne besonders durch Eigenschaften wie rationales Verhalten, dem Streben nach größtmöglichem Nutzen (Nutzenmaximierung), eingeschränkt durch knappe Ressourcen, der vollständigen Kenntnis seiner wirtschaftlichen Entscheidungsmöglichkeiten und deren Folgen sowie die vollkommene Information über alle Märkte und Eigenschaften sämtlicher Güter (vollständige Markttransparenz) charakterisiert. Das Ideal des Homo Oeconomicus dient dazu, elementare wirtschaftliche Zusammenhänge in der Theorie durchsichtig und ohne praktische Unzulänglichkeiten beschreiben zu können. So wird für die allermeisten Handlungsziele vom abnehmenden Grenznutzen ausgegangen, der dafür sorgt, dass die zu verfolgenden Ziele immer wieder wechseln. Des Weiteren stellt man bei der Verfolgung eines bestimmten Ziels sog. Opportunitätskosten in Rechnung, die am entgangenen Nutzen der Verfolgung anderer Ziele gemessen werden. Diese Kosten-Nutzen-Kalkulation des Akteurs erfolgt immer aufgrund subjektiver Erwartungen, so dass bei unter-schiedlichen Akteuren trotz gleichen Handlungsziels die Art der Zielverfolgung ganz unter-schiedlich ausfallen kann und auch die erwartete Eintrittswahrscheinlichkeit stark variiert. Dabei tritt allerdings bei fast allen Akteuren das Phänomen der Diskontierung der Zukunft, also Handlungswirkungen umso geringer einzustufen, je weiter in der Zukunft deren Eintreten erwartet wird, auf.
Schimank fasst das Handeln des Homo Oeconomicus abschließend zusammen als „durch Zielverfolgung mittels in der Regel knapper Ressourcen, Kosten- Nutzen-Bilanzierung von Handlungsalternativen bei zumeist starker Diskontierung der Zukunft und die Wahl derjeni-gen Handlungsalternative, die den subjektiv erwarteten Nutzen bei abnehmendem Grenznut-zen maximiert, charakterisiert.“50
Der Homo Oeconomicus lässt sich nicht nur auf das Handeln individueller Akteure anwen-den, sondern ist auch auf das Handeln kollektiver und korporativer Akteure übertragbar. In der neoklassischen Wirtschaftstheorie (Mikroökonomik) wird beispielsweise eine Firma als rational nutzenverfolgender Akteur betrachtet und ebenso weitere Annahmen im Sinne des Homo Oeconomicus Modells, wie bereits geschildert, getroffen. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass Schimank bei seiner Beschreibung des Homo Oeconomicus darauf hinweist, dass bei diesem Modell auch Kritik in Form von Annahmen begrenzter Rationalität, rationalen Routinen und Rationalitätsfiktion, die Unterscheidung von sog. „Niedrig-„ und „Hochkostensituationen“ sowie gesellschaftsstruktureller Rahmung von Nutzenorientierung und reflexiven Interessen zu berücksichtigen sei.51
Trotz und wegen der restriktiven Voraussetzungen kann mit Hilfe dieses neoklassischen Handlungsmodells Esser zufolge mitunter „eine präzise, allgemein und –vergleichsweise- gut bestätigte“52 Erklärung gegeben werden. Die zahlreichen Abwandlungen und Ergänzungen des Modells lassen allerdings erkennen, dass Menschen auch von anderen Handlungsmotiven als der rationalen Eigennutzmaximierung geleitet sind. Welche das sein können, soll mit Hilfe der drei folgenden soziologischen Akteursmodelle deutlich werden.
3.2 HOMO SOCIOLOGICUS
Der Homo Sociologicus gilt als das vorherrschende Modell der Sozialwissenschaft, über das sich gemäß Schimank „die disziplinäre Profilierung der Soziologie seit dem Ende des letztens Jahrhunderts entscheidend (...)vollzogen hat.“53 Dieses Akteursmodell wird in vielen Theo-riediskussionen zwischen Vertretern beider Seiten in direkter Konkurrenz zum Homo Oeco-nomicus betrachtet. Den analytischen Kern dieses Modells bilden die theoretischen Beiträge von Emile Durkheim und Talcott Parsons zum sog. „normativen Paradigma“, welches in ho-hem Maße Webers Typus des traditionalen Handelns entspricht. Durkheim beschreibt in sei-nem Konzept der „soziologischen Tatbestände“ soziale Erscheinungen als „weit davon ent-fernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein“, und betrachtet sie Stattdessen aus „Gussfor-men“ bestehend, „in die wir unsere Handlungen gießen müssen.“54 Durkheim bringt mit die-ser Formulierung das Akteursmodell des Homo Sociologicus gemäß Schimank genau auf den Punkt, in dem er dem einzelnen Akteur eine Wahl seiner Handlungen in Orientierung an vor-gegebene soziale Normen unterstellt. An die Vorstellung knüpfend, entwickelte Parsons sein Konzept des „unit act“, in dem sozialen Normen ebenfalls herausragende Bedeutung beige-messen wird, mit dem Ziel, die damals vorherrschende utilitaristische Denktradition mit der von ihm als zur Handlungserklärung unerlässlichen normativen Orientierung des Handelns zu ergänzen und so zugleich zu überwinden.
In der strukturfunktionalistischen Rollentheorie wurde das normative Paradigma dann weiter von Parsons ausgearbeitet und später von Ralf Dahrendorf als „Homo Sociologicus“ betitelt, der damit gemäß Schimank ein „verbreitetes soziologisches Verständnis von sozialem Han-deln auf den Begriff gebracht hat.“55 In der Rollentheorie wird davon ausgegangen, dass jede soziale Position einer Person mit einer sozialen Rolle verbunden ist, die von Dahrendorf als „Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Trä-ger von Positionen knüpfen“ definiert ist. Die Rollenerwartungen, die an den Träger dieser Rolle geknüpft sind, kategorisiert Dahrendorf als „Muss-“, „Kann-“ und „Sollerwartungen“ und trifft damit Aussagen über die jeweiligen Verbindlichkeiten dieser Erwartungen von der sog. Bezugsgruppe. Diese „überwacht“ (notfalls auch mit Sanktionen) neben dem eigenen Über-Ich (vereinfacht: Gewissen) des Akteurs die sozialen Erwartungen, die laut jeweiligem „Rollen-Set“ an den Akteur gestellt werden. Im „normativen Paradigma“, „für das die Person als Gesellschaftsmitglied nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Ensemble von sozialen Positionen und dazugehörigen Rollen darstellt“56, wird behauptet, dass die Person, nur in dem Maße, wie sie durch Sozialisierungsvorgänge zu solch einem Rollenhandelnden wird, sozial-verträglich ist.57 Durkheims Gussformen werden benötigt, um den „potentiellen Störenfried“ Mensch in der Sozialwelt in seine Schranken zu weisen. Von philosophischer Seite wird e-benfalls anthropologisch argumentiert, dass soziale Normen einen Instinktersatz liefern und somit dem „hilflosen“ Menschen als Orientierungssicherheit beim Umgang mit anderen die-nen.
Obwohl die strukturfunktionalistische Rollentheorie ihr Augenmerk vorrangig auf individuel-le Akteure gelegt hat, kann man auch kollektiven und korporativen Akteuren normkonformes Handeln zugestehen. Zudem sind diese überindividuellen Akteure vor allem Bezugsgruppen, die Normkonformität überwachen und ggf. sanktionieren.
Da die Voraussetzungen dem Homo Sociologicus des „normativen Paradigma“, den an ihn gerichteten Rollenerwartungen so komplikationslos gerecht zu werden, nicht immer gegeben sind, wurde es durch das sog. „interpretative Paradigma“ u.a. von Alfred Schütz in den Folge-jahren kritisch betrachtet. Dieses Paradigma ergänzt mit der Dimension des „role making“ neben dem „role taking“ des normativen Paradigmas das Modell des Homo Sociologicus. Komplikationen, die „role making“, also situative kreative Eigenleistungen vom Akteur ver-langen, sind der Intra-Rollenkonflikt, d.h. dass der Akteur mit unterschiedlichen Bezugsgrup-penerwartungen, die an eine seiner Rollen geknüpft ist, zu kämpfen hat oder der Inter-Rollenkonflikt, der Widersprüche zwischen Erwartungen, die an verschiedene Rollen gerich-tet sind, die die Person innehat, bezeichnet. Des Weiteren sorgen ein defizitäres Rollenwissen, über das, was den Akteur erwartet, Ressourcenmangel, der ihn am komplikationslosen Aus-führen seiner Rolle hindert und der Person-Rolle-Konflikt, der es dem Akteur aufgrund wi-dersprechender persönlicher Bedürfnisse, Einstellungen, Charakterzüge etc. unmöglich macht, sich auf seine Rolle einzulassen und gemäß dieser zu handeln für Konflikte und ver-hindern das einfache „role-taking“. Der hier gemäß Schimank benötigte „findige Akteur“ ist die analytische Leitvorstellung des „interpretativen Paradigmas“, die „es der Marionette des strukturfunktionalistischen Rollenmodells gegenüberstellt“58 und gerade um den Ansprüchen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, immer häufiger sichtbar wird.
Mit dem Homo Oeconomicus und dem Homo Sociologicus wurden bereits die beiden bedeu-tendsten Akteursmodelle vorgestellt, die bis heute, gerade auch im ständigen Gegeneinander, die Theoriediskussion beherrschen. Im Folgenden werden zwei weitere, auf dem Konzept des Homo Sociologicus aufbauende Modelle zur soziologischen Erklärung von Handlungswahlen erläutert, denen besonders im Bezug auf das in dieser Arbeit thematisierten „Streikphänomen“ große Bedeutung zukommen wird.
3.3 EMOTIONAL MAN
Beim Akteursmodell des Emotional Man handelt es sich um ein Modell, welches vor allem in den letzten 20-25 Jahren an größerer theoretischer Bedeutung gewonnen hat und so als eigen-ständigen Akteursmodell ausgearbeitet wurde, um von der Handlungswahl des Homo Socio-logicus ausgeblendete Phänomene komplementär zu beleuchten. Die Fragen, die mit Hilfe dieses Modells beantwortet werden sollen, lauten: Was sind Emotionen und wie wirken sich diese auf das Handeln eines Akteurs aus? Und: Welche Faktoren der Handlungssituation lö-sen Emotionen des Akteurs als Handlungsantriebe aus?59 Auch Max Weber hat die emotiona-le Dimension des Handels in seiner Typisierung mit dem Begriff des „affektuellen Han-delns“60 erwähnt und meint damit die aktuelle Befriedigung eines Gefühls durch bestimmtes Handeln. Schimank stuft emotionales Handeln in Anlehnung an Weber zwischen instinktivem Verhalten auf der einen und norm- bzw. nutzenorientiertem Handeln auf der anderen Seite ein.
Um Emotionen als Antriebe sozialen Handelns zu beurteilen, konzentriert Schimank sich auf solche, „die sich auf Inhalt und Form sozialer Beziehungen richten.“ Er bezeichnet z.B. Liebe und Mitgefühl als positive, bzw. Hass und Neid als negative beziehungsorientierte Emotio-nen. „Quer zu diesem Kontinuum verschiedener Ausprägungen von Sympathie und Antipa-thie steht das Kontinuum von Verlust und Gewinn als emotional bewertetem Handlungsresul-tat“61, welche dann zusammen ein mögliches Klassifikationsschema für beziehungsorientierte Emotionen liefern.
Helena Flam unterscheidet dann analytisch den sog. „pure emotional man“ als „einen in der Wirklichkeit kaum einmal rein vorkommenden theoretisch konstruierbaren Grenzfall“, wie bspw. einem spontanen Wutausbruch als ausschließlich emotionsgetriebenen und somit un-willkürlichen, maßlosen, inkonsistenten, schwankenden und schwer voraussagbaren Hand-lungsantrieb vom sog. „constrained emotional man“. „Dies ist ein Akteur, dessen Handeln in starkem Maße emotional bestimmt ist; doch diese Emotionalität ist erheblich durch normative oder rationale Handlungsantriebe mitbestimmt.“62
Ein emotionsgetriebenes Handeln stellt laut Schimank „ein permanentes Störrisiko für die soziale Ordnung dar“63, welches sich z.B. auch in einer Streikbereitschaft dieser so geleiteten Akteure widerspiegelt. Gemäß Flam können auch kollektive und sogar korporative Akteure, wie die für einen Streik verantwortliche Gewerkschaft, emotionsgesteuert handeln. Sie geht sogar so weit zu behaupten, dass diese überindividuellen Akteure „Brutstätten bestimmter Emotionen darstellen, die die involvierten Individuen (...) für sich nicht unbedingt ausgebil-det hätten.“64 Schimank hält es für möglich, „dass eine Gewerkschaft lediglich die massenhaft vorhandenen gleichgerichteten Emotionen ihrer Mitglieder bündelt und allenfalls weiter ver-stärkt.“ Zudem kann aber auch die Organisation selbst der Entstehungsgrund der emotionalen Handlungsantriebe sein, indem sie erst durch „die diskursiven Verständigungsprozesse inner-halb der Gewerkschaft als Organisation diese Gefühlslage produziert haben“65 und damit z. B. ein Neidgefühl entfachen kann, das bei ihren Mitgliedern vorher nicht unbedingt vorhan-den war, deren Handeln als Organisationsmitglieder aber fortan bestimmt. Durch Gespräche unter Gewerkschaftsmitgliedern auf Versammlungen oder anderen gemeinsamen Aktivitäten über ihre Lage, können kollektive Lernprozesse angestoßen werden, die ein gemeinsames Bewusstsein erzeugen, welches sich neben dem Erkennen ihrer Interessen auch im gemein-samen Ausleben der entstanden Emotionen z.B. durch nun entfachte Streikbereitschaft mani-festiert. Gemäß der soziologischen Erklärung dieses sozialen Phänomens folgt also die so entstandene Streikbereitschaft der oben beschriebenen „Logik der Aggregation“ (vgl. Kapitel 4). Häufig ist dann in der Realität auch der Fall zu beobachten, dass die Gewerkschaft als korporativer Akteur die eigenen Emotionen, mit denen er seine Mitglieder infiziert hat, wie-der zügeln muss, um zu effektivem Handeln fähig zu sein. Schimank bezeichnet das von der Gewerkschaft erwartete Auftreten als „maßvoller“, als das ihrer emotional angestachelten Mitglieder.
Aber was kann überhaupt der Auslöser bestimmter Emotionen als Handlungsantrieb sein? Der „emotional man“ tritt im Vergleich zu den beiden bereits genannten Akteursmodellen in rei-ner Form zwar nur selten und kurz auf, dafür können diese Emotionsausbrüche, aber dann auch entscheidenden Einfluss auf das weitere Geschehen nehmen. Schimank konzentriert sich vor allem auf „soziale Auslöser“ bestimmter Emotionen. Er unterscheidet erstens emotionale Handlungsantriebe, die durch positive aber insbesondere negative Erwartungsenttäuschung normativer, evaluativer oder kognitiver Art ausgelöst werden, zweitens sog. Emotionen der Routinisierung und drittens inszenierte Emotionen.
Damit soll die Darstellung des Emotional Man an dieser Stelle beendet sein. Deutlich gewor-den ist, dass die Soziologie auch dieses Akteursmodell benötigt, wenn sie nicht einen Teil der Handlungswahlen unerklärt lassen will.
3.4 IDENTITÄTSBEHAUPTER
Das Konzept des Identitätsbehaupters, vor allem von Erving Goffman vorangetrieben, erlang-te erst vor kurzem – ähnlich wie der Emotional Man - größere Aufmerksamkeit der Hand-lungstheoretiker als ein vom Homo Sociologicus isoliert zu betrachtendes Akteursmodell. Zur Erklärung von Handlungswahlen, explizit der hier zu erklärenden Streikbereitschaft von Ak-teuren, wird dem Identitätsbehaupter, wie sich im Folgenden zeigen wird, allerdings große Bedeutung beigemessen. Dieses Akteursmodell soll Antworten auf die Fragen liefern: „Was ist die Identität eines Akteurs und welche Faktoren der Handlungssituation lösen die Identität des Akteurs als Handlungsantrieb aus?“66
Die Identität einer Person ist gemäß Schimank deren Bild von sich selbst - also die Beantwor-tung der Frage „Wer bin ich?“. Die Antworten auf diese Frage lassen sich in evaluative und normative Selbstansprüche sowie kognitive Selbsteinschätzungen unterteilen. Evaluative Selbstansprüche, sprich: zukunftsweisende Vorstellungen der Person darüber, wer sie sein und wie sie leben will, stehen dabei im Fokus der Aussagen. Diese werden von den normati-ven Selbstansprüchen nämlich ihrem Gewissen (Sollensvorgaben für das eigene Handeln) eingegrenzt. Die kognitive Selbsteinschätzung relativiert diese beiden Selbstansprüche, da sie das faktische "So-Sein" im Vergleich zum "Sein-Wollen" und "Sein-Sollen" darstellen.67 Die Identität einer Person ist also vergangenheits- und gegenwartsbezogen auf ihre Zukunft aus-gerichtet und kann nur selektierte Ausschnitte (Selbstsimplifikation) aus den drei Selbstein-schätzungen widerspiegeln. Sie wird aufgrund ihrer geringeren Vollständigkeit und Viel-schichtigkeit im Vergleich zur Persönlichkeit von Schimank als eine „mit wenigen, aber mar-kanten Strichen gezeichnete Skizze“68 beschrieben. Parsons zufolge stellt die Identität, in der Person als kybernetisches System, den obersten Steuerungsmechanismus dar, mit dem sie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann.
Auch dieses soziologische Akteursmodell kann sowohl auf kollektive als auch auf korporative Akteure angewendet werden und eignet sich somit ebenfalls dazu, Aussagen über die Streik-bereitschaft von Akteuren im Kollektiv zu machen. Im Kontext formaler Organisationen hat die sog. „corporate identity“ und auch die Identitätsarbeit innerhalb einer Organisation an immer größerer Bedeutung gewonnen und markiert z.B. auch die Grenzen zwischen Gewerk-schaften derselben Branche. Durch gewerkschaftliche Organisation beim Aufruf zum Streik führt das abgestimmte gemeinsame Handeln der involvierten individuellen Akteure zu einer gemeinsam empfundenen Identität der Gewerkschaftsmitglieder.
Die Identität, egal um welche Art von Akteur es sich handelt, ist auf soziale Bestätigung an-gewiesen, um sich (re)produzieren zu können. Diese Bestätigung (oder auch Nichtbestäti-gung) muss als Reaktion auf die identitätsgesteuerte Selbstdarstellung des Akteurs erfolgen und kann so die Identität einer Person immer wieder formen und ggf. verändern. Akteure sind also in ihrer sich im Laufe ihres Lebens immer wieder wandelnden Identität auf eine wider-spiegelnde soziale Umwelt angewiesen.69
Als wichtigster Auslöser für ein identitätsbehauptendes Handeln gilt aktuelle oder antizipierte Identitätsbedrohung. Als Identitätsbedrohungen werden „massive und dauerhafte, also nicht bloß vorübergehende Infragestellungen der evaluativen und normativen Selbstansprüche eines Akteurs“ bezeichnet.70 Schimank unterscheidet drei Typen von Identitätsbedrohung, nämlich die spezifische substantielle, die sich in nachhaltiger Nichtbestätigung einzelner Bestandteile des Selbstbildes eines Akteurs manifestieren und somit im Vergleich zur indirekten Identi-tätsbedrohung durch Existenzgefährdung und der Identitätsbedrohung durch Entindividuali-sierungserfahrungen als weniger schwerwiegend eingestuft werden kann. Bei kollektiven und korporativen Akteuren ist die Identität durch Existenzgefährdung bedroht, wenn z.B. eine Gewerkschaft immer größeren Mitgliederschwund zu verzeichnen hat71 und somit immer mehr Machteinbußen bei Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden bzw. - wie ja auch vielfach geschehen - die unfreiwillige Eingliederung in eine andere Gewerkschaft hinnehmen muss (vgl. Abbildung 14, Struktur des DGB, im Anhang). Die dritte Form der Identitätsbe-drohung durch Entindividualisierung kann im Kontext dieser Arbeit unberücksichtigt bleiben.
Insgesamt soll hier festgehalten werden, dass meistens jede Art der Identitätsbedrohung, eine Identitätsbehauptung als Handlungsantrieb auslöst, um Phänomene erklären zu können, die vom Homo Oeconomicus, Homo Sociologicus und Emotional Man hervorgebracht wurden. In den verschiedenen Praktiken der Identitätsbehauptung, die jeweils zu bestimmten Arten der oben genannten Identitätsbedrohungen passen, hier aber nicht weiter relevant sind, zeigt sich, in welchen Erscheinungsformen sich Identitätsbehauptung als Handlungsantrieb manifestie-ren kann und immer wieder, ähnlich wie beim Emotional Man , Normkonformität und rationa-le Nutzenverfolgung episodisch in den Hintergrund drängt.72
3.5 FAZIT AKTEURSMODELLE
In Kapitel 3 sollte klargeworden sein, dass sich emotionales und identitätsbehauptendes Han-deln weder im Homo Sociologicus noch im Homo Oeconomicus (vollständig) integrieren lässt, also gemäß Schimank „eigene Akteursmodelle" benötigt werden, "wenngleich sicherlich zutrifft, dass die soziale und damit auch die soziologische Bedeutung dieser beiden Hand-lungsarten weniger groß ist als die des norm- bzw. des nutzenorientierten Handelns.“73
Zuletzt sei hier noch angemerkt, dass die vier beschriebenen Akteursmodelle idealisiert sind, d.h. in der Realität in dieser „reinen Form“ nicht bzw. sehr selten vorzufinden sind, sondern immer von Mischformen der Modelle mit stärkerer Ausprägung zur ein oder anderen „hand-lungsleitenden“ Motivation ausgegangen wird.
4 AKTEURSTHEORETISCHE ERKLÄRUNG VON STREIKVERLAUF
Nachdem im Rahmen der angewandten soziologischen Erklärung (Badewannenmodell, vgl. Abb. 1) die Rahmenbedingungen (Kapitel 2) und die individuellen Handlungsmotive (Kapitel 3) analysiert wurden, stellt dieses Kapitel das kollektive Zusammenspiel dar: Gemäß Essers "Logik der Aggregation" findet ein „Übergang von individuellen Handlungen zu sozialen Tatsachen auf der Kollektivebene“74 statt. Solche "aggregierenden Verknüpfungen von Mik-ro- und Makroebene werden auch Transformationsregeln genannt.“75 Hierzu werden die strukturellen Effekte, die das handelnde Zusammenwirken mehrerer Akteure hat, aufgezeigt, wobei die historische Einmaligkeit eines soziologischen Problems berücksichtigt werden muss, die häufig das Aufstellen einfacher und allgemeiner Regeln unmöglich macht.
4.1 HANDLUNGSMOTIVE
Ausgangspunkt bei der Regelfindung sind hier die Handlungsmotive der vier Akteursmodelle, nämlich dass Akteure nutzenverfolgend, normkonform, emotionsgetrieben oder identitätsbe-hauptend handeln. Die spezifischen Ausprägungen dieser vier Arten von Handlungsantrieben bilden die situativen Intentionen der Akteure auch im Streik ab.76 Um das kollektive Phäno-men des Zustandekommens eines Streiks erklären zu können, wird, wie bei soziologischen Erklärungen dieser Art üblich (vgl. Abbildung 1), ein Mikro-Modell der Teilnahmeentschei-dung an einem Streik entwickelt.
Hier wird nun - in bewusster Vereinfachung und in Anlehnung an Hartmut Essers Erklärung der Leipziger Montagsdemonstrationen77 - angenommen, dass die individuelle Teilnahme an einem Streik („grob“ betrachtet ähnlich wie bei einer Demonstration) von drei Faktoren ab-hängig sei: „erstens von einem mit dem Streik verbundenen inhaltlichen Interesse, zweitens von der Erfolgserwartung, die sich an den Streik bezüglich dieses Interesse knüpft und drit-tens von den befürchteten negativen Folgen, die sich aus einer Teilnahme ergeben.“78 Mit diesen Annahmen alleine kann man faktisch abgelaufene Streiks (vgl. folgende Fallbeispiele) allerdings noch nicht vollständig erklären. Sie dienen Esser zufolge viel mehr dazu, Hypothe-sen darüber zu entwickeln, welche Umstände zu einer Beeinflussung dieser drei Faktoren füh-ren und somit (indirekt) die Teilnehmerzahlen bedingen.
Der Einfachheit halber werden konstante Interessen der Streikteilnehmer während der Streik-dauer angenommen, d.h., dass sich ihre Interessen nicht wesentlich durch den Prozessverlauf selbst änderten. Zudem wird von davon ausgegangen, dass sich das allgemeine Interesse des gesamten Streikkollektivs in den jeweiligen Forderungen der Gewerkschaft (siehe Kapitel 2) widerspiegelt und somit grob bei allen Streikenden gleich zu sein scheint.
4.2 SCHWELLENWERTMODELL
Die Grundannahme dieser Arbeit, die die bereits beschriebene Vorgehensweise der Argumentation mit Hilfe der Akteurstheorie (vgl. Kap. 3) rechtfertigt, ist, dass sich die potentiellen Streikteilnehmer systematisch in dem Grad unterscheiden, in dem sie bereit sind, an einem Streik teilzunehmen, auch wenn der Erfolg (noch) ungewiss und das Risiko (noch) hoch ist. Esser greift in diesem Zusammenhang zur Interaktionsanalyse auf Mark Granovetters Schwel-lenwertmodell zurück, mit dem auch hier das Verlaufs-Muster der Entwicklung von Teilneh-merzahlen bei Streiks erklärt werden soll. Schmid bekräftigt, dass sich „die Wahrscheinlich-keit einer kollektiven Bewegung, einer Rebellion oder eines Aufstandes aus der durchaus wechselhaften Verteilung der Motivationsstärke der potentiellen Beteiligung“79 erklärt. Zu-dem hat das Schwellenwertmodell, durch die Befolgung eines „einfachen, leicht formalisier-baren Algorithmus“80, den Vorteil, „überkommene theoretische Vorstellungen über Prozesse kollektiven Handelns zu konkretisieren und damit zu verbessern“ und zudem „heuristisch ausbaufähig“ zu sein. So dient diese Art der Vorgehensweise, wenn nicht zur Prognose, doch (wie bei Prosch und Abrahams „strukturelle-individualistischer Erklärungsskizze der Revolution in der DDR“) zur empirisch kontrollierten Rekonstruktion historischer Prozessverläufe.
Hierbei genügt es laut Granovetter jedoch nicht, nur die Präferenzen der Akteure zur Vorher-sage kollektiver Phänomene zu addieren („Labilität des Dominoeffekts“). Vielmehr sollte eine geeignete Verknüpfungsregel dieser Präferenzen gefunden werden, welche sich in einem Schwellenwertmodell bezüglich der Erwartungswerte der Akteure rekonstruieren lässt.81 So kann man sich „diese - bei jedem Akteur im Prinzip zunächst konstante - Bereitschaft zur Teilnahme (...) als eine Art von Schwellenwert bei jedem potentiellen Akteur vorstellen, der die Mindestanzahl von anderen Streikenden82 bezeichnet, ab der der betreffende potentielle Teilnehmer auch selbst zu streiken beginnt.“83
Das Problem für die potentiellen Beteiligten besteht gemäß Schmid „in der Unsicherheit, ob andere sich an dem kollektiven Versuch, die soziale Situation zu verändern, beteiligen und mit welchen Sanktionen sie rechnen müssen, wenn die Beteiligung zu gering ist, um Erfolg zu haben.“84 Personen mit sehr niedrigem Schwellenwert, d.h. die, die auch bei geringer Er-folgswahrscheinlichkeit und hohem Risiko demonstrieren, gelten als die „Pioniere“ einer so-zialen Bewegung. Des Weiteren gibt es Personen mit mittleren Schwellenwerten, die erst nach einer gewissen Streikdauer als „Mitläufer“ in den Streik einsteigen. Und als letzte grob zu unterscheidende Gruppe gibt es die laut Essers Bezeichnung „Vorsichtigen, die – wenn überhaupt – erst dann auch selbst streiken85, wenn dies bereits (fast) alle anderen auch tun.“86 Zudem gibt es auch noch die sog. Streikbrecher, die z.B. aus Angst vor Sanktionen nicht am Streik teilnehmen, bei denen also der Schwellenwert gemäß diesem Model gleich unendlich hoch wäre. Esser geht davon aus, dass Akteure mit „unmittelbaren moralischen Motiven“ (vgl. Emotion/Identität) insgesamt die geringeren Schwellenwerte aufweisen, während für rational (ökonomisch) oder normorientierte Personen die höheren Schwellenwerte konstatiert werden, es allerdings aufgrund der Überlappung der Schwellenwerte dieser beiden Teilpopu-lationen zu einer Anschlussmöglichkeit der Mobilisierung der zweiten durch die erste „Pio-niersgruppe“ kommen kann.87
[...]
1 Vgl. Abbildungen 9 und 10 im Anhang
2 http://www.boeckler.de/pdf/pm_ta_2007_05_31_tabelle.pdf
3 Althammer, S. 198 und Goerke, S. 16
4 Hicks, S. 137
5 Pareto-optimal bedeutet hier, dass keiner der beiden Verhandlungspartner (Arbeitgeber und Arbeitnehmer ) mehr besser zu stellen ist, ohne den anderen schlechter zu stellen
6 Goerke, S. 19ff
7 Flying Pickets, S. 28
8 Eine andere Herangehensweise der Streikerklärung liefern die Bielefelder Sozialpsychologen Mielke und Schreiber mit Hilfe des „Fishbein-Modells“, in dem auf Grundlage der Arbeitszufriedenheit Aussagen über die Vorhersagbarkeit von Streikverhalten getroffen werden (siehe Angaben im Literaturverzeichnis).
9 Miebach, S. 397
10 Balog (2006), S. 202
11 Balog übt aber auch Kritik an dieser Auffassung des erklärenden Verstehens, da sie zu eng sind und die notwendige Be-zugnahme auf umfassende Phänomene, in die Handlungen immer integriert sind, verdecken. Gemäß Balog bilden die Er-klärungen der Handlungen für die zu erläuternden sozialen Phänomene nur einen Teil des Erklärungszusammenhanges, „der indirekt auch auf Faktoren und Mechanismen verweist, die den Akteuren nicht bekannt sind und die daher in ihren Motiven keine Rolle spielen.“
12 Esser (1993), S. 93
13 Esser (1993), S. 120
14 Esser (1993), S. 96
15 http://lexikon.meyerS. de/meyers/Streik
16 Bsp.: Hungerstreik/Essensverweigerung; Sitzstreik-untätiges Verbleiben am Arbeitsplatz; auch in Form von Straßenblocka-den, um für politische Ziele zu demonstrieren; Verbraucherstreik-Form des Boykotts von Waren/Dienstleistungen; Steuer-streik-Revolte der Steuerzahler gegen Einnahmepolitik oder Schüler-/ Studentenstreik-Boykott von Lehrveranstaltungen,
17 Vgl. Müller-Jentsch bzw. Abbildung 11 im Anhang und http://www.sociologicuS. de/lexikon/
18 Boll, S. 478
19 Boll, S. 478
20 Müller-Jentsch (1997), S. 212
21 http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/SID-3D0AB75D-C33B0634/hbs/hS. xsl/564.html
22 http://de.wikipedia.org/wiki/Streik
23 Das Lexikon der Wirtschaft., S. 211
24 Siehe Fußnote 1
25 Balog (1998), S. 32
26 Müller-Jentsch (1997), S. 149
27 S. o.
28 http://de.wikipedia.org/wiki/Gewerkschaft
29 Müller-Jentsch (2007), S. 34
30 Olson, S. 75ff
31 http://www.sueddeutsche.de/,tt1m3/reise/special/390/117273/index.html/wirtschaft/artikel/622/121463/article. html
32 Feldmann, S. 349 und vgl. auch Scharpf, S. 103
33 Vgl. hierzu Abbildung 8 „Entstehung einer sozialen Bewegung“ im Anhang
34 Feldmann, S. 349
35 Balog (1998), S. 33
36 Weber, S. 19
37 Gabriel, S. 15
38 Vgl. hier auch Giddens „duality of social structure“-vereinfacht: Wechselspiel von sozialem Handeln und sozialen Struktu- ren
39 Hierzu ist anzumerken, dass sich allerdings durch diese Tiefenerklärung nicht vollständig verklären lässt, „welche kollekti-ven Folgen transintentional nach und nach aus individuellen Geschehnissen resultieren.“ Dazu ist es gemäß Greshoff notwendig „durch eine Analyse des Wissens von den diversen Mikro-Mechanismen (...) Hypothesen darüber zu entwi-ckeln, aus welchen Stadien sozialer Situationen- etwa: Anfangsstadium, Folgestadien- welches soziale Gebilde als (vorläu-figes) Endstadium resultiert.“ (Rainer Greshoff: „Sozilogische Grundlagen kontrovers diskutiert“, In: Schimank (2005), S. 84f). Leider konnten darüber im vorangegangenen Kapitel 1 keine allgemeingültigen theoretischen Aussagen gemacht werden. Diese Unzulänglichkeit soll allerdings in Kapitel 4 bei der praktischen Anwendung durch die Fallbeispiele wieder ausgeglichen werden.
40 Vgl. Schimank (2000), S. 17
41 Schimank (2000), S. 20
42 Miebach, S. 29
43 Esser (2004), S. 79
44 Miebach, S. 29ff
45 Vgl. Opp: „Die Theorie des rationalen Handelns im Vergleich mit alternativen Theorien“, In: Gabriel, S. 43
46 Weber, S. 45
47 S. o., S. 21
48 Miebach, S. 31
49 Vgl. Schimank (2000), S. 73
50 Schimank (2000), S. 79
51 Schimank (2000), S. 87ff
52 Esser (2004), S. 81
53 Schimank (2000), S. 37
54 S. o., S. 39
55 S. o., S. 45
56 Schimank (2000), S. 52
57 S. o., S. 52
58 S. o., S. 64
59 Vgl. Schimank (2000), S. 107
60 Weber, S. 44
61 Schimank (2000), S. 111
62 S. o.
63 S. o., S. 113
64 S. o., S. 118
65 S. o.
66 Vgl. Schimank (2000), S. 107
67 S. o., S. 123f
68 S. o., S. 125
69 Vgl. Schimank (2000), S. 128f
70 Schimank (2000), S. 133
71 Vgl. Abbildung 9 im Anhang
72 Schimank (2000), S. 143
73 S. o., S. 21
74 Miebach, S. 188
75 Esser (1993), S. 97
76 Schimank (2000), S. 173
77 Vgl. Esser (1993), S. 79
78 S. o., S. 79, hier gemäß Kontext „Streik“ statt wie im Original von Esser “Demonstrationen“
79 Schmid, S. 76
80 Schmid, S. 77
81 Vgl. Granovetter, S. 1421
82 Hier gemäß Kontext „Streikenden“ statt wie im Original von Esser S. 79 „Demonstranten“; vgl. auch „streiken“ statt „de-monstrieren“
83 Esser (1993), S. 79
84 Schmid, S. 76
85 Vgl. Fußnote 82
86 Vgl. dazu auch Scharpf, S. 99
87 Esser (1993), S. 80
- Quote paper
- Martina Jansen (Author), 2008, Akteurstheoretische Erklärung von Streik - Illustriert an zwei Fallbeispielen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124061
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