Um sich an den Themenkomplex von Fototexten anzunähern, wurden zunächst fototheoretische Schriften von u.a. Roland Barthes, Susan Sontag und John Berger herangezogen. Diese sollten klären, inwiefern die Behauptung zutrifft, Fotografie sei in diverser Weise mit Erinnerung und Gedächtnis verwoben. Dabei wurden auch medientheoretische Überlegungen von u.a. Sigmund Freud zum Verständnis der gedächtnisaffinen Struktur dieses Mediums zum Einsatz gebracht.
Alle Autoren, sagt Sartre, stimmen in der Feststellung überein, daß die Bilder, die die Lektüre eines Romans begleiten, armselig sind: bin ich von einem Roman in Bann geschlagen, entsteht kein Bild in mir. Dem BILD-MINIMUM der Lektüre entspricht das BILD-MAXIMUM des PHOTOS [...] Das photographische Bild ist voll, randvoll: es gibt keinen Platz mehr, nichts läßt sich hinzufügen. (Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, 1985).
Die Aussage Roland Barthes’ in seinem Essay Die helle Kammer scheint Bildern in Romanen wie W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn oder Extremely Loud and Incredibly Close von Jonathan Safran Foer nichts Gutes zuzusprechen. Nichtsdestotrotz lässt sich von Barthes Aussage ableiten, dass bei der Integration von fotografischen Aufnahmen, Grafiken und anderen visuellen Medien in literarische Texte ein Spannungsverhältnis entsteht. Das soll in dieser Arbeit untersucht werden, indem die Frage nach der Rolle von Fotografie für die Repräsentation von Erinnerungen in literarischen Texten gestellt wird. In der vorliegenden Arbeit wird die Frage analysiert, „[w]elches Bedeutungsspektrum [...] aus der Spannung zwischen fotografischen Abbildungen und schriftsprachlicher Erzählung innerhalb eines [...] Fototextes [erwächst]“ (Silke Horstkotte: Nachilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur, 2009).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fotografie als gedächtnisförmiges Bildmedium
3. Integration von Fotografie in Literatur
3.1. Fotografie und Text in Every Day is for the Thief
3.1.1. Kapitel
3.1.2. Kapitel
3.1.3. Kapitel
3.1.4. Kapitel
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Alle Autoren, sagt Sartre, stimmen in der Feststellung überein, daß die Bilder, die die Lektüre eines Romans begleiten, armselig sind: bin ich von einem Roman in Bann geschlagen, entsteht kein Bild in mir. Dem BILD-MINIMUM der Lektüre entspricht das BILD-MAXIMUM des PHOTOS [...] Das photographische Bild ist voll, randvoll: es gibt keinen Platz mehr, nichts läßt sich hinzufügen.1
Die Aussage Roland Barthes’ in seinem Essay Die helle Kammer scheint Bildern in Romanen wie W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn oder Extremely Loud and Incredibly Close von Jonathan Safran Foer nichts Gutes zuzusprechen. Nichtsdestotrotz lässt sich von Barthes Aussage ableiten, dass bei der Integration von fotografischen Aufnahmen, Grafiken und anderen visuellen Medien in literarische Texte ein Spannungsverhältnis entsteht. Das soll in dieser Arbeit untersucht werden, indem die Frage nach der Rolle von Fotografie für die Repräsentation von Erinnerungen in literarischen Texten gestellt wird. In der vorliegenden Arbeit wird die Frage analysiert, „[w]elches Bedeutungsspektrum [...] aus der Spannung zwischen fotografischen Abbildungen und schriftsprachlicher Erzählung innerhalb eines [...] Fototextes [erwächst]“2.
Um sich an den Themenkomplex von Fototexten anzunähern, wurden zunächst fototheoretische Schriften von u.a. Roland Barthes, Susan Sontag und John Berger herangezogen. Diese sollten klären, inwiefern die Behauptung zutrifft, Fotografie sei in diverser Weise mit Erinnerung und Gedächtnis verwoben. Dabei wurden auch medientheoretische Überlegungen von u.a. Sigmund Freud zum Verständnis der gedächtnisaffinen Struktur dieses Mediums zum Einsatz gebracht.
Auch wenn sich Silke Horstkotte in ihrer Studie auf die gegenseitige Bezugnahme von Fotografie und Schrift in Texten auseinandersetzt, in denen die Weitergabe von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zentrales Thema ist, sollen ihre Beobachtungen über die erinnerungskonstitutiven Funktionen der Fotografie dabei helfen, diese Form von Intermedialität in Every Day is for the Thief genauer zu verstehen. Sie deutet in ihrer Studie darauf hin, dass Fotografie in Literatur eingesetzt wird, um sowohl individuelle als auch kollektive Erinnerungen zu vermitteln und andererseits auch, um „imaginative Annäherungen“ (SH, S. 15) an das im Fokus stehende Thema bereitzustellen. Das Frage nach der kollektiven Erinnerung wird in der Analyse der Kapitel 14 und 23 eine bedeutende Rolle spielen. Dabei werden Arbeiten des französischen Soziologen Maurice Halbwachs herangezogen und mit Hilfe der Überlegungen von Jan Assmann in Bezug zu Coles Texten gestellt. Auch wenn die erinnerungskonstitutive Funktion der Fotografie in dieser Arbeit im Vordergrund stehen soll, wird die Darstellbarkeit mentaler Vorstellungen durch Schriftsprache in Wechselbeziehung zu in den Text integrierten Fotografien untersucht. Die Frage danach, „welcher ontologische Status den Fotografien durch die Erzählung zugewiesen wird“ (SH, S. 16), soll bei der Analyse dieser speziellen Form von Intermedialität immer mit berücksichtigt werden.
Da Teju Cole selbst bis zu seinem 17. Lebensjahr in Lagos aufwuchs und die Prosaerzählung Every Day is for the Thief aus Blogeinträgen entstand, die der Autor in New York schrieb, nachdem er von eine Reise nach Lagos zurückkehrte3, ist anzunehmen, dass die Texte als eine Form von literarischer Reportage verstanden werden können und die vom Autor angefertigten Fotografien dafür sorgen sollen, die beschriebenen Geschehnisse zu beglaubigen. An einigen Stellen des Textes kommt jedoch die Frage auf, warum Fotografien fehlen, obwohl beispielsweise das Fotografieren selbst in der Erzählung beschrieben wird oder Aufnahmen in den Text integriert werden, auf die der Autor nicht explizit oder gar nicht verweist. Immer wieder treten unterschiedliche Formen von Verbindung der Fotografien zur Erzählung auf, was im Laufe dieser Arbeit an exemplarischen Kapiteln untersucht werden soll.
2. Fotografie als gedächtnisförmiges Bildmedium
...fotografische Verfahren und Apparaturen wie die Kamera, die Dunkelkammer, die Entwicklung analoger Fotografien und auch das fotografische Bild selbst [dienen] im gesamten zwanzigsten Jahrhundert als privilegierte Metaphern für Speicherung und Abruf von Erinnerungen, während umgekehrt die Anfertigung und Entwicklung von Fotografien oftmals in Analogie zu Vorgängen der Erinnerung beschrieben wird. (SH, S. 10)
Bei Arbeiteten von Teju Cole scheint es durchaus berechtigt, medien- und kulturtheoretische Schriften zur Erklärung des Einsatzes von Fotografien in seinen Texten heranzuziehen. Sein wissenschaftlicher Hintergrund als Kunsthistoriker und seine regelmäßige journalistische Auseinandersetzung mit dem Thema der Fotografie in der New York Times und im New Yorker lässt vermuten, dass seine bimediale Arbeitsweise komplex strukturiert ist. Dass er selbst als Fotograf tätig ist, legt ein nicht nur wissenschaftliches Interesse an diesem Medium nahe.4 Inwiefern er seine schriftstellerische Arbeit mit der des Fotografierens kombiniert, soll vor allem anhand einer Analyse der gedächtnispragmatischen Funktion von Fotografien in der vorliegenden Erzählung betrachtet werden. Dazu erfolgt zunächst eine Untersuchung fotografietheoretischer- und philosophischer Schriften, die das Verhältnis von Fotografie und Erinnerung genauer beleuchten sollen.
In der aktuellen Gedächtnisforschung zur medienbedingten Abhängigkeit von Erinnerung und Gedächtnis wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass „erlebte Erfahrung [...] nicht nur in Medien codiert [wird] — und dadurch als Erinnerung weitergegeben —, sondern die Medien [...] auch in entscheidender Weise [prägen], was und wie erinnert werden kann.“ (SH, S. 116) Ein Vorgang kann demzufolge bei der Speicherung durch Medien nicht neutral aufgezeichnet werden, da die Medien selbst „aktiv an der Bedeutungskonstitution beteiligt [sind]“ (SH, S. 117).
Ein Beispiel dafür lässt sich in Eine andere Art zu erzählen finden , worin Jean Mohr den Arbeitsalltag eines Holzfällers wieder gibt, dessen Frau ihn bittet „Würden Sie ein Photo von meinem Mann machen? Ich hab’ keins, und wenn er getötet wird im Wald, habe ich kein Bild, um mich an ihn zu erinnern.“4 5 Dieser Wunsch deutet unübersehbar auf die Tatsache hin, dass der Fotografie eine „besondere Nähe zur Erinnerung“6 zugesprochen wird. John Berger vermerkt im gleichen Band, dass Fotografie zwar „einfacher als die meisten Erinnerungen“7 sei und ihre Reichweite beschränkter, allerdings beschreibt er, dass mit der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 „ein neues Ausdrucksmittel gewonnen [wurde], das der Erinnerung näher ist als jedes andere.“8 Berger erklärt weiter, dass sowohl die Fotografie als auch die Erinnerung abhängig vom Vergehen der Zeit seien und sich diesem Umstand entgegenstellen. Zudem bewahren beide, sowohl Fotografien als auch Erinnerungen, Augenblicke auf und bestehen in einer Form von Gleichzeitigkeit, die es möglich macht, dass alle Bilder beziehungsweise alle Erinnerungen synchron bestehen können. Scheinbar macht wohl das menschliche Gedächtnis, genauso wie ein privates Fotoalbum, grundsätzlich möglich, dass wir „simultan auf Ereignisse zugreifen, die in zeitlichem Abstand unabhängig voneinander statt gefunden haben.“9 Zudem sucht, laut Berger, sowohl die Erinnerung als auch die Fotografie nach Augenblicken der Offenbarung, um es möglich zu machen, dem „Strom der Zeit zu widerstehen“10. Diese Überlegungen erinnern an Walter Benjamins Beobachtungen in Kleine Geschichte der Fotografie, in der er passend anmerkt, es sei „eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht“11. Er beschreibt weiter, wie man als Beobachter eines gehenden Menschen sicherlich nichts von der Haltung dieser Person „im Sekundenbruchteil des ,Ausschreitens‘“12 weiß. Den Zugang zu diesem Wissen sieht er in der Fotografie, die „mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen“13 die Haltung einer Person in diesem Sekundenbruchteil dem Betrachter erschließt. „Von diesem Optisch- Unbewußten erfährt er [der Betrachter, Anm. d. Verf.] erst durch sie [die Fotografie, Anm. d. Verf.]“14 Roland Barthes unterscheidet in seinem Werk Die helle Kammer fünf verschiedene Formen von Überraschungen, die auf den Betrachter15 einwirken können und das Unbewusste enthüllen. In seiner Auflistung nennt er unter anderem die Darstellung einer Geste, die „genau in dem Moment ihrer Bewegung festgehaltenen wurde, in dem das normale Auge sie nicht fixieren kann“16. Dank der Sofortwirkung der Fotografie fixiere diese „einen raschen Ablauf in seinem entscheidenden Augenblick“17. Barthes begibt sich in seinem Essay auf die Suche nach fotografischen Aufnahmen, die das Wesen seiner verstorbenen Mutter übermitteln sollen, und stellt in einigen Kapiteln die Nähe der Fotografie zur Erinnerung fest, auch wenn er diese besondere Nähe zum Teil kritisch sieht und anmerkt, dass er sich nichts von Fotografien seiner Mutter verspricht und sich wohl in ihrer Gesamtheit „nie mehr [...] an ihre Züge erinnern [würde]“18. Doch nach weiterer Suche in alten fotografischen Aufnahmen denkt er, in einem Bild aus Kindertagen seine Mutter endlich gefunden zu haben. Er beschreibt, dass „dieses eine Mal [...] mir die Photographie ein ebenso starkes Gefühl der Gewissheit wie die Erinnerung [gab]“19 und gesteht somit ein, dass eine Fotografie durchaus einen ähnlich zuverlässigen Charakter haben kann, wie die Erinnerung. Abschließend notiert er zum Foto seiner Mutter, dass er dieses dem Leser nicht zeigen könne, da es ausschließlich für ihn existiere und für den Leser ein „belangloses Photo“20 sei. Diese Anmerkung kann gegebenenfalls bei der Analyse von Coles Every Day is for the Thief hilfreich sein, da an einigen Stellen keine Fotografie gezeigt wird, obwohl man als Leser, wegen der ausführlichen Schilderung der Situation, eine Abbildung erwarten würde. Diese Beobachtung wird im späteren Verlauf der Arbeit ausführlich besprochen. Weiter beschreibt Barthes, wie ...beim Anblick eines Photos [...] das Bewußtsein nicht unbedingt den nostalgischen Weg der Erinnerung [einschlägt], sondern, bei jedem überhaupt auf der Welt existierenden Photo, den Weg der Gewißheit.21
Er formuliert damit den Gedanken, dass das „Wesen der PHOTOGRAPHIE [...] in der Bestätigung dessen [bestehe], was sie wiedergibt.“22, sie würde nichts erfinden, sondern sei die Bestätigung selbst. Silke Horstkotte geht mit ihrer Überlegung einen Schritt weiter als Barthes und führt an, dass Fotografien selbst zu „materiellen Memorialobjekten“ (SH, S. 9) werden können und gegebenenfalls im öffentlichen Diskurs als Gedächtnisikonen dienen, um „eine bestimmte Version der Vergangenheit [zu] fixieren.“. (SH, S. 9) Ferner weist sie darauf hin, wie Fotografien wegen ihrer „unmittelbaren Evidenz“ (SH, S. 9), stärker als verschriftlichte Gedächtnistexte, „intuitive und affektive Zugänge zur Vergangenheit“ (SH, S. 9) eröffnen. Zudem deuten Fotografien darauf hin, dass die festgehaltenen Ereignisse und Umstände überhaupt erst erinnerungswürdig sind. Darüber hinaus kann der Fall eintreten, dass „Ereignisse, die nicht fotografisch dokumentiert sind, weit häufiger vergessen [werden] als solche, für die fotografische Beweise existieren.“ (SH, S. 9) Dieser Punkt wird im Hinblick auf einen Museumsbesuch des Protagonisten in der vorliegenden Erzählung von Teju Cole von Interesse sein.
3. Integration von Fotografie in Literatur
In ihren weiteren Überlegungen stellt sich Silke Horstkotte die Frage nach der „Darstellung und Darstellbarkeit mentaler Vorstellungen und kognitiver Prozesse“ (SH, S. 16) in intermedialen Texten und erklärt, dass diese grundsätzlich durch zwei Arten gegeben sind. Zum einen dient „verbale Deskription und Narration“ (SH, S. 16) der Darstellung von Erinnerungen, zum anderen können in den Text integrierte Fotografien als „Quelle von Erinnerungen“ (SH, S. 16) dienen, oder aber auch „als eine Form der unmittelbaren Präsentation von Nachbildern funktionalisiert werden.“ (SH, S. 16) Der Begriff der Nachbilder wird von Horstkotte in Anlehnung an Nachbilder als Nachwirkung des Netzhautbildes metaphorisch genutzt, indem sie den Begriff „Nachbild“ für das Nachwirken von Bildern in der Erinnerung einsetzt und damit mentale Erinnerungsbilder beschreibt. Genauer definiert sie diesen Begriff als „imaginative, mentale Vorstellungen, auf der Basis von visuellen Eindrücken, Bildern und Fotografien, typischerweise aus der zeitlichen Distanz der Erinnerungsperspektive heraus.“ (SH, S. 15) Daraus kann sich jedoch ergeben, dass sich Betrachter nicht mehr nur durch das Anschauen von Fotografien, beispielsweise in Familienalben, an Geschehnisse und Personen erinnern, sondern dass sie sich nur noch an diese Aufnahmen erinnern.
The Problem is not that people remember through photographs, but that they remember only the photographs. This remembering through photographs eclipses other forms of understanding, and remembering.23
Dadurch besteht die Gefahr, dass kein tatsächliches Gedenken mehr vor sich geht, sondern nur noch ein Bild aufgerufen wird. Eine Fotografie filtert aus einer kontinuierlichen Erfahrung einen kurzen Moment heraus, „der keinen Ersatz für eine wirkliche Erinnerung liefern kann.“24 Dadurch können fotografische Aufnahmen unter Umständen durch falsche Kontextualisierungen „(falsche) Gegen-Erinnerungen projizieren.“ (SH, S. 9) oder sogar „die aktive Erinnerungstätigkeit als solche verhindern.“25
Bei der Integration von Fotografien in literarische Texte, muss der ontologische Status, der den Aufnahmen durch die Erzählung zugewiesen wird, unbedingt beachtet werden. Hier ist es wesentlich zu berücksichtigen, ob es sich im jeweiligen Text um Reproduktionen von fotografischen Aufnahmen handelt, „die in der Erzählwelt als materielle Objekte vorliegen“ (SH, S. 16), um die Darstellung von flüchtigen visuellen Eindrücken oder um die „Inszenierung immaterieller mentaler Vorstellungen“ (SH, S. 16). Horstkotte spricht dann von Nachbildern, wenn Fotografien für die „Repräsentation ephemerer oder immaterieller Bilder genutzt“ (SH, S. 16) werden und so zum Einsatz gebracht werden, dass eine Erinnerungsperspektive entsteht.
Darüber hinaus führt sie an, dass Fotografien nicht nur für repräsentative Zwecke von Erinnerungen genutzt werden, sondern auch selbst „Quelle von Nachbildern“ (SH, S. 16) sein können. Dies kann geschehen, wenn affektiv aufgeladene Fotografien so auf den Rezipienten einwirken, dass dieser in die bimediale fotografische und literarische Inszenierung von Gedächtnisdiskursen mit einbezogen wird. Aus diesem Grund ist bei der Betrachtung von Fotografien in literarischen Texten immer auch die Frage zu klären, „welchen Effekt die Fotografien auf den Betrachter und auf dessen Wahrnehmungsperformanz haben“ (SH, S. 16), also welche Erinnerungen durch die Aufnahmen übermittelt oder sogar neu geschaffen werden. Zusammenfassend können Fotografien gedächtnispragmatische Funktionen sowohl als Produzent einnehmen als auch Erinnerungen blockieren oder ermöglichen.
Dass Fotografien physische Spuren ihrer Gegenstände bilden, führt dazu, dass diese vielen Betrachtern referentieller als Worte erscheinen. Wie schon Roland Barthes argumentierte, würden Fotografien das zeigen, was einmal da gewesen sein müsse und können daher als „Emanation des Referenten“ verstanden werden.26 Sie stellen also das „Es-ist-so-gewesen“27 dar. Demzufolge nehmen Fotografien innerhalb von Bildtheorien eine besondere Stellung ein, denn ...unter Bezugnahme auf den dreiteiligen Zeichenbegriff Peircescher Provenienz wird dabei meist argumentiert, Fotografien seien nicht nur ikonische Zeichen, deren Beziehung zum Referenten auf Ähnlichkeit beruht, sondern — im Unterschied zu Zeichnungen und Gemälden — zugleich auch indexikalische Zeichen, die in einer Ursachenbeziehung zum Referenten stehen. (SH, S. 31)
Roland Barthes legt zusätzlich dar, dass die Sprache ihrem Wesen nach Erfindung sei und im Gegensatz zur Fotografie keine Gewissheit über das geben kann, was einmal war.28 Das Fotografiekonzept der indexikalischen Interpretation wird jedoch von einigen Theoretikern angezweifelt. Diese argumentieren, dass eine Fotografie nicht das abgebildete Objekt selbst zeigt, sondern das von diesem reflektierte Licht, dessen Index wiederum die Fotografie darstellt. Vilém Flusser führt in seiner Schrift Für eine Philosophie der Fotografie an , dass „die visuelle Codierung der Fotografie bereits Spuren ihrer Erzeugung [trägt], noch bevor das erste Bild gemacht wurde, und die Werkzeuge zur Deutung fotografischer Bilder [...] folglich an die spezifisch technischen Formen ihrer Erzeugung angepasst werden [müssen].“ (SH, S. 32) Diesen Überlegungen zufolge zeigen fotografische Aufnahmen stets einen Ausschnitt der Wirklichkeit, der auf viele Arten nach Vervollständigung verlangt. Demnach ist es der Fotografie nicht möglich, eine Kopie der Realität darzustellen, da sie immer schon eine Interpretation derselben in sich trägt. Zudem benötigt eine Fotografie weiterhin diverse Deutungen des jeweiligen Betrachters, deren Ausgang vom Fotografen nicht verbindlich festgelegt werden kann.
Gleichzeitig steht das prätendierte ,Es-ist-so-gewesen‘29 von Fotografien in der Literatur in einem immer erst zu klärenden Verhältnis zur Konstruiertheit und (gegebenenfalls) Fiktionalität literarischer Texte. (SH, S. 33)
Trotz verschiedener Möglichkeiten von Montage- und Manipulationstechniken bei der Anfertigung und Nachbearbeitung von Fotografien, scheint die weitestgehend automatische Verbindung der Fotografie zum Referenten, zum Wirklichen und zum Authentischen schwer zu überwinden. Daraus resultiert bei Lesern literarischer Texte mit integrierten Fotografien eine Erwartung, die durch die Vorstellung der Indexikalität von Fotografien beeinflusst ist. Leser gehen also typischerweise davon aus, dass die Motive der Bilder „ihre Ursache in tatsächlich Geschehenem haben, und deshalb in der Lage sind, die Wahrheit des sprachlich Vermittelten zu garantieren.“ (SH, S. 33) Ikonische Darstellungen wie Zeichnungen oder Gemälde können, im Gegensatz zu Fotografien, diese Erwartungen nicht wecken. Die Analyse literarischer Texte mit integrierten fotografischen Aufnahmen bringt zwei Fragestellungen mit sich, die den Status von Fotoaufnahmen im Allgemeinen betreffen.30 Zum einen kommt die Frage nach der Manipulierbarkeit auf, die sich „gegen die scheinbare Authentizität und Evidenz der Fotografie“ (SH, S. 33) stellt. Hier gilt es sowohl die Manipulierbarkeit der Fotografie selbst zu hinterfragen, als auch mögliche Verfälschungen durch den Publikationsprozess.31 Als zweiter Punkt soll die Art und Weise der Konkurrenz von Fotografien zum gedruckten Wort hinterfragt werden. Diese Sachverhalte sollen in der folgenden Analyse der Erzählung mit berücksichtigt werden.
Der Begriff der Intermedialität soll bei der Betrachtung von Fototexten nicht ausgeklammert werden, da bimediale Texte, zu denen Fototexte zugeordnet werden können, im Rahmen der Intermedialitätsforschung untersucht werden. Dabei lassen sich im Grunde zwei Arten von Foto-Text-Intermedialität unterscheiden. Zum einen kann es sich um eine rein sprachliche Beschreibung von Fotografien handeln, die dem Leser nicht gezeigt werden, wobei das bildfremde Medium, die angesprochene Fotografie „sichtbar“ macht. Dabei wird von einer Form von verdeckter Intermedialität gesprochen, bei der Fotos als Plotelemente „innerhalb der schriftsprachlichen Erzählung beschrieben [werden], so daß sie paradoxerweise nur durch die Interpretationen sichtbar werden, die sie selbst erst ausgelöst haben sollen.“ (SH, S. 35)
Als zweite Form der Foto-Text-Intermedialität wird angeführt, dass Fotografien als Teil eines „bimedialen Gesamttextes“ (SH, S. 35) reproduziert werden. Hier werden die Fotografien zu einem eigenständigen Bestandteil der fiktionalen Welt, haben jedoch nicht die Aufgabe, einen Sachverhalt zu veranschaulichen oder visuell zu ergänzen, sondern übernehmen selbstständige Sinnstiftungsfunktionen, „die die Sinnangebote des verbalen Textes nicht allein ergänzen, sondern auch durchkreuzen und subvertieren können.“ (SH, S. 35) Hierdurch werden die Bilder, die in der Erzählung verhandelt werden, dem Leser zur eigenen Betrachtung vorgelegt, wodurch er „an der Produktion mentaler Nachbilder [...] aktiv beteiligt [wird].“ (SH, S. 35) Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass der Leser den Raum zwischen Text und Bild interpretativ überbrückt. Hierbei ergibt sich ein Spektrum von Möglichkeiten der Interpretation von Text und Bild, die ursprünglich unterschiedliche Codes aufwiesen und nun Deutungen „von einer nahtlosen Integration von Bildern in eine aus Bild und Text komponierte Gesamttextur bis hin zu einem
[...]
1 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1985, S. 99f.
2 Silke Horstkotte: Nachilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur, Köln/ Weimar/Wien 2009, S. 12. In der Folge zitiert als SH mit Angabe der Seitenzahl
3 Martin Zähringer: „Konzentrierte Prosamontage über Afrika“. In: Deutschlandfunk 2015. URL: http:// www.deutschlandfunk.de/teju-cole-konzentrierte-prosamontage-ueber-afrika.700.de.html?
dram:article id=314766 (23.03.18)
4 vgl. Teju Cole: „Bio“. URL: http://www.tejucole.com/about-2/ (02.02.2018)
5 John Berger, Jean Mohr: Eine andere Art zu erzählen, München/Wien 1984, S. 59
6 Anne-Kathrin Hillenbach: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses, Bielefeld 2012, S. 58f.
7 Berger/Mohr 1984, S. 280
8 ebd.
9 Hillenbach 2012, S. 59.
10 Berger/Mohr 1984, S. 280
11 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Texte zur Theorie der Fotografie, hg. von Bernd Stiegler, Stuttgart 2012, S. 252
12 ebd.
13 Benjamin, S. 252
14 ebd.
15 bei Barthes der spectator; im Gegensatz bezeichnet er den Fotografen als operator
16 Barthes 1985, S. 42
17 ebd.
18 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1985, S. 73
19 ebd., S. 80
20 ebd., S. 83
21 Barthes 1985, S. 95
22 ebd., S. 96
23 Susan Sontag: Regarding the Pain of Others. New York 2003, S. 70
24 Hillenbach 2012, S. 62
25 ebd.
26 vgl. Barthes 1985, S. 86ff.
27 Barthes 1985, S. 86ff.
28 ebd., S. 96
29 vgl. Barthes, 1985
- Arbeit zitieren
- Silvia John (Autor:in), 2018, Fotografie und Erinnerung in "Every Day is for the Thief" von Teju Cole, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1240170
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