Seit 2012 haben Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe leben, ein Recht auf Beschwerde. Im achten Sozialgesetzbuch, das die bundesgesetzlichen Regelungen zur Kinder- und Jugendhilfe enthält, wurde zudem im Juni 2021 durch eine Novellierung festgelegt, dass diese Einrichtungen ihren Betreuten die Nutzung eines internen und externen Beschwerdeverfahrens bieten müssen. Das Thema gewinnt also zunehmend an Bedeutung, denn seither sind die Einrichtungen verpflichtet, ein entsprechendes Konzept zu erstellen.
Doch wie gehen die Fachkräfte mit den neuen Verpflichtungen um? Warum sind versierte Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe notwendig? Wo liegen mögliche Risiken und Schwierigkeiten bei der Erstellung eines neuen Konzepts und wie kann eine missbräuchliche Nutzung von Beschwerden verhindert werden?
Tim Schneider entwirft in seinem Buch auf Basis des Case Managements ein Konzept für ein wirksames, niedrigschwelliges, lösungs- und ressourcenorientiertes Beschwerdeverfahren und diskutiert dabei dessen Möglichkeiten und Grenzen. Sein Entwurf dient als Handlungsempfehlung für die Umsetzung von Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe.
2 Theoretische Grundlagen und Heranführung
2.1 Kinder- und Jugendhilfesystem
2.2 Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe
2.3 Beschwerdeverfahren in den Hilfen zur Erziehung
2.4 Novellierung des achten Sozialgesetzbuches in Bezug auf die Beschwerdeverfahren
3 Notwendigkeit versierter Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe
3.1 Gegenwärtiger Forschungsstand der Beschwerdeverfahren für Minderjährige in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
3.2 Paradigmenwechsel: Intention der Novellierung des achten Sozialgesetzbuches in Bezug auf Beschwerdeverfahren aus drei Blickwinkeln
3.3 Konstruktive Betrachtung der Beschwerdeverfahren für Minderjährige in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
4 Umsetzung versierter Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe
4.1 Methode des Case Managements
4.2 Konzept eines versierten Beschwerdeverfahrens für Minderjährige in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe
5 Diskussion
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach § 2 SGB VIII
Abbildung 2: Familienunterstützende, -ergänzende und -ersetzende Hilfen zur Erziehung
Abbildung 3: Ansprechpersonen für formelle Beschwerden in der Einrichtung aus Sicht der Betreuten
Abbildung 4: Stufen der Beteiligung
Abbildung 6: Verfahrensweg einrichtungsinterner Beschwerden
1 Einleitung
„Beschwer dich doch!“ Diese oder ähnliche Aussagen sollten Betreute in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe (im Folgenden ‚Jugendhilfe‘ genannt) fortan häufiger hören. Kinder und Jugendliche, die in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe leben, haben gemäß Art. 2 XIII des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) seit 2012 ein Recht auf Beschwerde. Dieses Recht wurde im Juni 2021 durch die Novellierung des achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) durch das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen weiter konkretisiert, sodass Einrichtungen der stationären Jugendhilfe ihren Betreuten die Nutzungsmöglichkeit eines einrichtungsinternen und -externen Beschwerdeverfahrens bieten müssen (§ 45 II SGB VIII). Die Umsetzung von Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe führt bei Fachkräften aufgrund von negativen Assoziationen mit Beschwerden und Sorgen vor Einschränkungen des pädagogischen Handelns häufig zu Verunsicherungen (vgl. Urban-Stahl & Jann 2014: 18). Auch vor der Novellierung des achten Sozialgesetzbuches waren Beschwerdeverfahren in der stationären Jugendhilfe gesetzlich verankert, allerdings in einer weniger konkreten Form. Somit gewinnt das Thema der Beschwerdeverfahren in der stationären Jugendhilfe zunehmend an Bedeutung. Einrichtungen der stationären Jugendhilfe sind verpflichtet, sofern noch nicht erfolgt, ein Konzept zur Möglichkeit der Beschwerde inner- und außerhalb der Einrichtung zu erstellen (§ 45 II SGB VIII). In diesem Zuge sind desgleichen die Sensibilisierung und die Aufklärung der Mitarbeitenden relevant (vgl. Jann & von Oppen 2018: 1 f.).
Da Beschwerdeverfahren zunehmend an Relevanz gewinnen, jedoch noch immer zu Verunsicherungen führen, beschäftigt sich diese Arbeit mit der Frage, wie ein wirksames, niedrigschwelliges, lösungs- und ressourcenorientiertes Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe unter Berücksichtigung der Vorgaben des achten Sozialgesetzbuches umgesetzt werden kann. Dazu wird ein Konzept eines versierten Beschwerdeverfahrens entworfen, das den zuvor dargelegten Kriterien entspricht. Dieses Konzept kann eine Grundlage für Einrichtungen der stationären Jugendhilfe bei der Entwicklung von Beschwerdeverfahren und für weiterführende Forschungen, wie beispielsweise zur Implementierung dieses Beschwerdeverfahrens, bieten. Um auf Basis bestehender Forschungen und Modelle einen Verfahrensweg eines versierten Beschwerdeverfahrens zu entwickeln, wird die Methode der Sekundärforschung genutzt. Auf Basis bestehender einschlägiger Literatur werden bereits vorhandene Erkenntnisse zusammengetragen. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wird in einem weiteren Schritt das Konzept eines versierten Beschwerdeverfahrens entworfen. Die Literaturrecherche erfolgt über die von der Hochschule zur Verfügung gestellten Literaturdatenbanken sowie über Literaturdatenbanken anderer Hochschulen. Möglicherweise relevante Literatur wurde in digitaler oder analoger Form beschafft. Es wurde geprüft, ob die Literatur für diese Arbeit nachweislich von Bedeutung ist.
Im nachfolgenden Kapitel werden theoretische Grundlagen zur Jugendhilfe und deren Leistungen, zu Beschwerdeverfahren in den Hilfen zur Erziehung sowie zur Novellierung des achten Sozialgesetzbuches in Bezug auf die Beschwerdeverfahren dargestellt, um an das Thema dieser Arbeit heranzuführen. Im dritten Kapitel wird der aktuelle Forschungsstand zu Beschwerdeverfahren als Grundlage für die Entwicklung eines Konzeptes eines versierten Beschwerdeverfahrens dargestellt. Darauf folgt die Betrachtung der Notwendigkeit von Beschwerdeverfahren und der damit verbundenen Novellierung des achten Sozialgesetzbuches aus den drei Perspektiven Beteiligung, Kinderschutz und Qualitätssicherung, um die mögliche Intention der Novellierung darzustellen. Ferner werden Beschwerdeverfahren in der stationären Jugendhilfe konstruktiv diskutiert, um mögliche Risiken und Schwierigkeiten bei der Erstellung des Konzeptes eines versierten Beschwerdeverfahrens zu berücksichtigen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Umsetzung eines versierten Beschwerdeverfahrens in der stationären Jugendhilfe. Zunächst wird als Grundlage für die Konzeptentwicklung die Methode des Case Managements erläutert. Im Anschluss wird auf Basis eines Modells des Case Managements ein Konzept eines versierten Beschwerdeverfahrens für Einrichtungen der stationären Jugendhilfe entwickelt, das als Handlungsempfehlung für die Umsetzung von Beschwerdeverfahren in entsprechenden Einrichtungen dienen soll. Die Möglichkeiten und Grenzen dieses Konzeptes werden im fünften Kapitel diskutiert. Abschließend wird ein Fazit gezogen, das die Ergebnisse der Arbeit zusammenfasst und einen Ausblick auf weitergehende Forschungen gibt.
2 Theoretische Grundlagen und Heranführung
Dieses Kapitel befasst sich zur Heranführung an das Thema dieser Arbeit mit den Grundlagen der Jugendhilfe sowie mit den Beschwerdeverfahren in den Hilfen zur Erziehung. Dazu wird zunächst das Kinder- und Jugendhilfesystem erläutert und anschließend ein Überblick über die verschiedenen Leistungen und Aufgaben der Jugendhilfe gegeben. Ferner werden die Beschwerdeverfahren in den Hilfen zur Erziehung beschrieben. Abschließend erfolgt die Darstellung der Änderungen des achten Sozialgesetzbuches durch das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf die Beschwerdeverfahren in der Jugendhilfe.
2.1 Kinder- und Jugendhilfesystem
Das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland stellt die Familie unter einen „besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ (Art. 6 I GG). So dürfen Kinder „gegen den Willen der Erziehungsberechtigten […] nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“ (Art. 6 III GG). Die Erziehung ist demnach „das natürliche Recht [und die Pflicht] der Eltern […] [worüber] die staatliche Gemeinschaft [wacht]“ (Art. 6 II GG). Eltern haben somit einerseits ein Recht, ihre Kinder zu erziehen, und das ohne Eingriffe durch Dritte. Andererseits haben sie aber auch die Pflicht, ihr Kind zu erziehen. Kommen Eltern dieser Pflicht nicht oder nicht ausreichend nach, können sie sich im Falle eines staatlichen Eingriffs nicht auf ihr Erziehungsrecht berufen (vgl. Trenczek et al. 2018: 333 ff.).
Ebenso hat „jeder junge Mensch […] ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 I SGB VIII). Die Jugendhilfe fördert dazu junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung und trägt zum Abbau und zur Vermeidung von Benachteiligungen bei (§ 1 III 1 SGB VIII). Zudem soll die Jugendhilfe jungen Menschen „ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren“ (§ 1 III 2 SGB VIII). Des Weiteren berät und unterstützt die Jugendhilfe Eltern bei der Erziehung (§ 1 III 3 SGB VIII) und schützt Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen ihres Wohles (§ 1 III 4 SGB VIII). Zuletzt soll die Jugendhilfe „dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (§ 1 III 5 SGB VIII).
Das Kinder- und Jugendhilfesystem ist für die Wahrung der Rechte junger Menschen verantwortlich. Dazu verfügt die Jugendhilfe über ein Wächteramt. Dieses überwacht, ob die Rechte von Kindern und Jugendlichen umgesetzt werden (§ 1 II SGB VIII; Art. 6 II 2 GG), und greift ein, wenn diese Rechte gefährdet sind (§ 1 III 4 SGB VIII). Dieser Verantwortung kommt die Kinder- und Jugendhilfe in Form eines vielfältigen und differenzierten Leistungsangebotes nach (§ 2 II SGB VIII).
2.2 Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe
Die verschiedenen Aufgaben der Jugendhilfe sind in § 2 II SGB VIII aufgeführt. In der folgenden Abbildung 1 werden die Hauptaufgaben benannt, die im Anschluss genauer beschrieben werden. Die Jugendhilfe hat zudem weitere Aufgaben wie die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen oder die Mitwirkung in familiengerichtlichen Verfahren etc., die aufgrund der Vielzahl nicht benannt werden.
Abbildung 1: Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach § 2 SGB VIII
Quelle: Eigene Darstellung
Die Jugendarbeit bezieht sich auf die „Erziehung und Bildung außerhalb der Familie und […] Institutionen des schulischen und beruflichen Bildungswesens“ (Sturzenhecker & Deinet 2018: 693) und umfasst zwei große Arbeitsfelder – die Jugendverbandsarbeit und die offene Jugendarbeit. Charakteristisch für die Jugendverbandsarbeit sind Freiwilligkeit, Partizipation, Wertgebundenheit und Selbstorganisation. Jugendverbandsarbeit erfolgt mit Kindern und Jugendlichen in Vereinen oder Verbänden, die die Interessen der Kinder und Jugendlichen vertreten. Die Arbeit in den Jugendverbänden ist in der Regel auf ihre Mitglieder ausgerichtet. In der Jugendverbandsarbeit sind nur selten hauptamtliche Fachkräfte beschäftigt. Daher ist der Jugendverband auf ein hohes ehrenamtliches Engagement angewiesen (vgl. Sturzenhecker & Deinet 2018: 698 ff.). Die offene Jugendarbeit wird in verschiedenen Formen angeboten. Es gehören Jugendtreffs und -kulturzentren zu der offenen Jugendarbeit, überdies Abenteuerspielplätze oder Spielmobile. Ferner bieten selbstverwaltende Jugendzentren eine Form der offenen Jugendarbeit, die besonders auf die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist. Alle Formen der offenen Jugendarbeit haben die Aufgabe der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen (vgl. Sturzenhecker & Deinet 2018: 702 f.).
Die Jugendsozialarbeit unterstützt junge Menschen, die von sozialer Benachteiligung oder individuellen Beeinträchtigungen betroffen sind. Ferner fördert sie die schulische und berufliche Ausbildung der jungen Menschen und steht ihnen bei der Eingliederung in die Arbeitswelt und bei der sozialen Integration zur Verfügung (§ 13 I SGB VIII). Dies erfolgt durch verschiedene Formen der Beratung, Bildung und Begleitung in der Berufsorientierung sowie bei der Vorbereitung und dem Absolvieren der Ausbildung (vgl. Pingel 2018: 737 ff.). Während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen oder bei einer beruflichen Eingliederung ist auch eine Unterkunft in sozialpädagogisch betreuten Wohnformen möglich (§ 13 III SGB VIII). Teilweise bietet die Jugendsozialarbeit eigene Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungsangebote an, die sozialpädagogisch begleitet werden, wenn die Ausbildung nicht durch Maßnahmen anderer Organisationen gewährleistet werden kann (§ 13 II SGB VIII).
Die Schulsozialarbeit ist das zentrale Instrument für die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe. Sie soll dazu beitragen, vielfältige und anregende Bildungsgelegenheiten in der Schule zu bieten. Zudem vertritt die Schulsozialarbeit die Interessen der Schülerinnen und Schüler und unterstützt sie in schwierigen Situationen bei der Lösungsfindung. Die Schülerinnen und Schüler sollen dadurch zu einer eigenständigen Lebensführung befähigt und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden (vgl. Coelen et al. 2018: 484 f.). Inhalt und Umfang der Aufgaben der Schulsozialarbeit werden durch das jeweilige Landesrecht geregelt (§ 13a SGB VIII).
Der erzieherische Kinder- und Jugendschutz befähigt Eltern und junge Menschen durch Informations-, Aufklärungs- und Beratungsangebote zur Erkennung, Reflexion und Abwehr von Gefährdungen im öffentlichen Raum, wie beispielsweise den Suchtmittelkonsum. Dadurch sollen junge Menschen vor Gefährdungen ihres Entwicklungsprozesses geschützt werden (vgl. Nikles 2018: 771 ff.). Desgleichen fördert der erzieherische Kinder- und Jugendschutz die Kritikfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Eigenverantwortlichkeit und die Verantwortung gegenüber Mitmenschen (§ 14 II SGB VIII).
Die Förderung der Erziehung in der Familie umfasst ein vielfältiges Angebot an Unterstützungsmaßnahmen. Eltern können zur Wahrnehmung der Erziehungskompetenz und zur Vermittlung von Kenntnissen in lebenspraktischen Bereichen wie Erziehung, Gesundheit und Konfliktbewältigung unterstützt werden. Dies erfolgt durch Angebote der Familienbildung, -freizeit und -erholung oder durch Beratung in Fragen der Erziehung und Entwicklung (§ 16 SGB VIII). In konkreten Problemlagen können Eltern in den Bereichen Partnerschaft, Trennung, Scheidung sowie im Sorge- und Umgangsrecht Beratungsangebote wahrnehmen (§ 17 f. SGB VIII). Des Weiteren enthalten die Maßnahmen zur Förderung der Erziehung in der Familie stationäre Unterstützungsleistungen. Die Eltern haben die Möglichkeit eines stationären Aufenthaltes in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter oder Väter und ihre Kinder unter sechs Jahren, wenn die Eltern Unterstützung bei der Erziehung und Fürsorge für das Kind benötigen (§ 19 SGB VIII). In Notsituationen, wie beispielsweise ein gesundheitsbedingter Ausfall eines Elternteils, haben Eltern den Anspruch auf Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung des Kindes (§ 20 SGB VIII). Muss ein Kind zur Erfüllung der Schulpflicht untergebracht werden, haben Eltern ein Anrecht auf Unterstützung und Beratung (§ 21 SGB VIII). Diese Hilfen werden in Situationen gewährt, in denen noch kein Hilfebedarf für die Hilfen zur Erziehung (§ 27 ff. SGB VIII) vorliegt (vgl. Buschhorn 2018: 783 ff.).
Die Förderung in Tageseinrichtungen erfolgt in einer Einrichtung, in der Kinder bis zum Schuleintrittsalter einen großen Teil des Tages oder ganztägig betreut werden. Die Förderung in der Kindertagespflege findet im Haushalt einer Kindertagespflegeperson, im elterlichen Haushalt oder in anderen geeigneten Räumlichkeiten statt. Ziele dieser Förderungen sind die Entwicklung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, die Unterstützung der Erziehung und Bildung in der Familie und die Unterstützung der Vereinbarung zwischen Erwerbstätigkeit und Erziehung der Eltern (§ 22, 24 SGB VIII). Die Förderung in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege hat folglich die Aufgaben der Bildung, der Erziehung und der Betreuung (vgl. Kutscher 2018: 679 ff.).
Die Hilfen zur Erziehung stellen einen Schwerpunkt der Kinder- und Jugendhilfe dar. Sie sollen „junge Menschen und ihre Familien in besonderen Lebensschwierigkeiten und bei der Bewältigung von Erziehungsproblemen“ (Münder et al. 2020: 177) unterstützen. Dies erfolgt durch verschiedenste Hilfsangebote wie Erziehungsberatung, soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistände, sozialpädagogische Familienhilfen, Erziehung in Tagesgruppen, Vollzeitpflege, Heimerziehung oder durch eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 27 ff. SGB VIII). Adressatinnen und Adressaten dieser Leistungen sind primär die Personensorgeberechtigten (§ 27 I SGB VIII). Diese sollen dadurch in ihrer Erziehungsfähigkeit gestärkt und unterstützt werden, um nach erfolgreicher Beendigung der Hilfe in der Lage zu sein, eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung zu gewährleisten. Im Zuge dessen werden in den meisten Fällen zudem die Kinder und Jugendlichen gefördert und unterstützt (vgl. Hansbauer et al. 2020: 237 f.). Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – und somit auch die einzelnen Leistungen der Hilfen zur Erziehung – lassen sich in familienunterstützende, -ergänzende und -ersetzende Leistungen unterteilen (vgl. Böllert 2018: 6). In der folgenden Abbildung 2 werden den genannten Leistungsformen die einzelnen Leistungen der Hilfen zur Erziehung zugeordnet.
Abbildung 2: Familienunterstützende, -ergänzende und -ersetzende Hilfen zur Erziehung
Quelle: Eigene Darstellung
Familienunterstützende Leistungen sollen den Eltern
Hilfestellungen zur Herstellung einer selbstständigen und eigenverantwortlichen
Erziehungsfähigkeit bieten und umfassen die Erziehungsberatung nach § 28 SGB VIII,
die soziale Gruppenarbeit nach § 29 SGB VIII,
Erziehungsbeistände nach § 30 SGB VIII, die sozialpädagogische
Familienhilfe nach § 31 SGB VIII und in einigen Fällen die
intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII.
Diese Leistungen werden ambulant erbracht. Familienergänzende Hilfen werden
teilstationär geleistet und haben die Aufgabe, einen Teil der Erziehung mit zu verantworten,
sollen aber auch die Erziehungsfähigkeit der Eltern fördern. Diese
Leistungsform umfasst die Erziehung in einer Tagesgruppe nach § 32 SGB VIII.
Familienersetzende Leistungen übernehmen die ganzheitliche Erziehung des Kindes
und werden daher in stationären Einrichtungen erbracht. Sie sollen neben der
Übernahme der Erziehung und Fürsorge die Eltern bei der
(Wieder-)Herstellung der Erziehungsfähigkeit unterstützen. Zu dieser
Leistungsform gehören die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII, die
Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen nach § 34 SGB VIII
und in vielen Fällen die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII
(vgl. Oelkers 2018: 891 f.). Die Erziehungsberatung hilft bei
individuellen und familiären Problemen, bei Erziehungsfragen sowie bei Trennung
und Scheidung. Beratungsstellen sollen dazu Kinder, Jugendliche und Eltern
unter Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte aus verschiedenen Fachrichtungen mit
unterschiedlichen methodischen Ansätzen unterstützen und beraten und somit zur
Klärung und Bewältigung der Problemsituation beitragen (§ 28 SGB VIII).
Kinder und Jugendliche mit Entwicklungs- und Verhaltensschwierigkeiten werden
durch die soziale Gruppenarbeit bei der Überwindung dieser Schwierigkeiten unterstützt.
Dies erfolgt auf Basis eines gruppenpädagogischen Ansatzes durch soziales
Lernen in der Gruppe (§ 29 SGB VIII). Ein Erziehungsbeistand
soll Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen
unterstützen. Dieser arbeitet intensiv mit dem einzelnen Kind oder mit der bzw.
dem Jugendlichen und versucht gleichzeitig, das soziale Umfeld mit
einzubeziehen (§ 30 SGB VIII). Familien, die Schwierigkeiten in
der Erziehung, im Alltag oder in der Bewältigung von Konflikten haben, können
durch eine sozialpädagogische Familienhilfe begleitet werden. Diese steht dem
Familiensystem zur Verfügung, um es zur Bewältigung und Lösung dieser
Schwierigkeiten und Konflikte zu befähigen (§ 31 SGB VIII). Um
den Verbleib eines Kindes oder einer bzw. eines Jugendlichen in der Familie zu
sichern, begleitet die Tagesgruppe die Entwicklung des Kindes durch das soziale
Lernen in der Gruppe und durch eine schulische Förderung. Überdies wird durch
die Arbeit mit den Eltern die Erziehungskompetenz der Eltern gestärkt (§ 32 SGB VIII).
Die Vollzeitpflege soll dem Kind oder der bzw. dem Jugendlichen durch eine
zeitlich begrenzte, wenn nötig, durch eine dauerhafte Unterbringung in einer
anderen Familie eine dem Wohl des Kindes entsprechende Lebensform bieten, sofern
dies in der Herkunftsfamilie nicht gewährleistet werden kann. Gleichzeitig werden
die Eltern bei der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der
Herkunftsfamilie unterstützt, um eine Rückführung des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen
zu ermöglichen (§ 33 SGB VIII). Sowohl die Heimerziehung als
auch die Vollzeitpflege sollen dem Kind oder der bzw. dem Jugendlichen eine
nach Möglichkeit zeitlich begrenzte Lebensform bieten, in der das Kind oder die
bzw. der Jugendliche einen strukturierten Alltag erlebt. Ziel ist auch hier die
Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie für eine
Rückführung (§ 34 SGB VIII). Kinder und Jugendliche, die eine
intensive Unterstützung bei der sozialen Integration und der
eigenverantwortlichen Lebensführung benötigen, können Leistungen der intensiven
sozialpädagogischen Einzelbetreuung erhalten (§ 35 SGB VIII).
Diese Hilfeform ist nicht näher konkretisiert. Aus diesem Grund bietet diese
Leistung zahlreiche Möglichkeiten zur Ausgestaltung. In vielen Fällen erfolgt
die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung stationär. Eine ambulante Form
ist bei dieser Hilfeform ebenfalls möglich. Diese Einzelbetreuung wird den
individuellen Bedürfnissen des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen angepasst (vgl.
Hansbauer et al. 2020: 239 f.).
Kinder und Jugendliche, deren „seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht […] und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§ 35a I SGB VIII), haben einen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Diese kann bedarfsorientiert in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen oder in stationären Einrichtungen erfolgen (§ 35a II SGB VIII). Die Eingliederungshilfe ist bei Bedarf auch mit den Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII kombinierbar (§ 35a IV SGB VIII). Eltern haben bei Eingliederungshilfen durch Pflegepersonen und in stationären Einrichtungen einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung, um die Entwicklungs-, Teilhabe- oder Erziehungsbedingungen insoweit zu verbessern, als dass das Kind oder die bzw. der Jugendliche wieder bei den Eltern einziehen kann (§ 37 I SGB VIII).
Junge Volljährige bis zum vollendeten 21. Lebensjahr haben einen Anspruch auf Hilfen für junge Volljährige, wenn ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbstständige Lebensführung nicht gewährleisten kann (§ 41 I SGB VIII). Diese Hilfen umfassen Beratungsangebote, die soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistände sowie stationäre Wohnformen (§ 41 II SGB VIII). Zudem werden junge Volljährige nach Beendigung einer Hilfe bei der Verselbstständigung beraten und unterstützt (§ 41a I SGB VIII).
Vor der Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung oder einer Leistung der Eingliederungshilfe werden die Sorgeberechtigten und das Kind oder die bzw. der Jugendliche im Rahmen des Hilfeplanverfahrens hinsichtlich der Ausgestaltung und der möglichen Folgen der Hilfe beraten (§ 36 I SGB VIII). Im Zuge dessen haben die Leistungsberechtigten ein Wunsch- und Wahlrecht. Dieses berechtigt sie, Wünsche bezüglich der Einrichtung und der Ausgestaltung der Hilfe zu äußern. Den Wünschen wird entsprochen, sofern dadurch keine unverhältnismäßigen Mehrkosten entstehen (§ 5 SGB VIII). Für die Ausgestaltung der Hilfe wird ein Hilfeplan erstellt, der den Hilfebedarf, die Art der Hilfe und die notwendigen Leistungen umfasst. Dieser Hilfeplan ist in regelmäßigen Abständen auf Eignung und Notwendigkeit der Hilfe zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Die Entscheidung über die Gewährung einer Hilfe wird unter Mitwirkung mehrerer Fachkräfte getroffen (§ 36 SGB VIII). Am Hilfeplanverfahren ist das Kind oder die bzw. der Jugendliche unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes zu beteiligen (§ 8 I SGB VIII).
2.3 Beschwerdeverfahren in den Hilfen zur Erziehung
Betreute in den Hilfen zur Erziehung haben ein Recht auf Beschwerde (§ 45 II 4 SGB VIII). Dieses Recht auf Beschwerde wurde erstmals 2012 gesetzlich verankert (Art. 2 XIII BKiSchG). Bei der Umsetzung dieses Rechts haben die Betreuten verschiedene Möglichkeiten der Beschwerde.
Die für Kinder und Jugendliche einfachste Möglichkeit der Beschwerde ist der informelle Weg über Personen, denen sie vertrauen. Das können die Mitarbeitenden der Gruppe – sowohl pädagogische als auch hauswirtschaftliche Mitarbeitende oder Mitarbeitende in der Verwaltung –, andere Kinder und Jugendliche der Gruppe, Eltern, Verwandte, Freundinnen und Freunde, Lehrkräfte etc. sein. Eine solche informelle Beschwerde kann durch die Person des Vertrauens dem formellen Beschwerdeverfahren zugänglich gemacht oder mithilfe der Vertrauensperson informell geklärt werden (vgl. Urban-Stahl & Jann 2014: 21 f.).
Einige Einrichtungen setzen Vertrauenspersonen ein, die für formelle
Beschwerden als Ansprechpersonen dienen sollen. Die Erziehungs- und
Bereichsleitungen sowie die Einrichtungsleitung stellen weitere
Beschwerdemöglichkeiten dar. Diese Leitungen sind den Betreuten meist bekannt,
jedoch ist der Kontakt in der Regel beschränkt. Beschwerden müssen jedoch nicht
zwingend bei einer konkreten Person eingehen. In vielen Einrichtungen finden
regelmäßige Gruppenkonferenzen statt, in denen Betreute Beschwerden äußern
können. Die Beschwerde in der Gruppenkonferenz bietet zwar die Möglichkeit,
dass sich weitere Betreute melden, die möglicherweise das gleiche Problem
haben, allerdings besteht das Risiko, dass die Beschwerde von den anderen
Betreuten anders aufgefasst wird, was sich gegebenenfalls zum Nachteil der bzw.
des Beschwerenden auswirken kann. Viele Einrichtungen verfügen über Gremien wie
Heimvertretungen sowie Heimsprecherinnen und Heimsprecher oder über spezielle
Beschwerdegremien. Betreute können sich mit ihren Beschwerden ebenfalls an die Ansprechpersonen
dieser Gremien wenden
(vgl. Urban-Stahl & Jann 2014: 22 ff.).
Sind einrichtungsinterne Ansprechpersonen in den Konflikt der Beschwerde involviert oder trauen sich Betreute nicht, mit Ansprechpersonen der Einrichtung über ein Problem zu sprechen, sind einrichtungsexterne Beschwerdestellen von großer Bedeutung. Diese externen Beschwerdestellen können einzelne Personen sein wie ehemalige Mitarbeitende, die als Ombudsperson eingesetzt werden, oder ortsansässige Seelsorgende, öffentliche Stellen wie der Kinderschutzbund oder unabhängige Ombudsstellen. Bedeutend bei einrichtungsexternen Beschwerdestellen ist die Unabhängigkeit der Beschwerdestelle gegenüber der Einrichtung und anderen Trägern. Die Einrichtung sollte der Beschwerdestelle gegenüber nicht weisungsbefugt sein (vgl. Urban-Stahl & Jann 2014: 26).
2.4 Novellierung des achten Sozialgesetzbuches in Bezug auf die Beschwerdeverfahren
Das achte Sozialgesetzbuch wurde im Juni 2021 durch das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen novelliert. Dadurch sollen insbesondere die Kinder und Jugendlichen gestärkt werden, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Die Novellierung des achten Sozialgesetzbuches soll unter anderem den Kinder- und Jugendschutz verbessern und junge Menschen, Eltern und Familien mehr beteiligen (vgl. BMFSFJ 2021).
Die alte Fassung des achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII a. F.) schrieb vor, dass Einrichtungen zur Sicherung der Rechte von Betreuten geeignete Verfahren der Beteiligung und der Beschwerde nutzen sollen (§ 45 II 3 SGB VIII a. F.). Die Novellierung konkretisiert dies insoweit, als dass durch diese Verfahren neben den Rechten auch das Wohl der Kinder und Jugendlichen gesichert werden soll. Überdies sind Einrichtungen nun verpflichtet, ein Konzept zum Schutz vor Gewalt zu entwickeln, anzuwenden und regelmäßig zu überprüfen. Neben den Verfahren der Beteiligung steht fortan auch die Selbstvertretung im Vordergrund. Ferner müssen Einrichtungen nun Beschwerdemöglichkeiten inner- und außerhalb der Einrichtung gewährleisten (§ 45 II 4 SGB VIII), was in der alten Fassung nicht konkret verlangt wurde (§ 45 II 3 SGB VIII a. F.). Dies ist eine Voraussetzung für das Erteilen einer Betriebserlaubnis (§ 45 II 4 SGB VIII). Erfüllt eine Einrichtung mit bereits erteilter Betriebserlaubnis diese Voraussetzung nicht, kann die Betriebserlaubnis aufgehoben werden (§ 45 VII SGB VIII).
- Citation du texte
- Tim Schneider (Auteur), 2022, Beschwerdeverfahren für Minderjährige in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Konzept für ein wirksames Beschwerdeverfahren nach den Vorgaben des SGB VIII, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1240029
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