Die folgende Arbeit stellt sich zur Aufgabe, den normativen Anspruch des Majoritätsprinzips auf Erfüllung dieser legitimitätstiftenden Prämissen mit der empirischen Wirklichkeit zu vergleichen, zu Tage tretende Diskrepanzen zwischen Ideal und Realität zu beleuchten und Kritik an der Begründung der Verbindlichkeit mehrheitlich gefasster Beschlüsse, speziell der unterlegenen Minderheit gegenüber, zu üben. Sie folgt in quantitativ nicht unbedeutenden Teilen der von Bernd Guggenberger und Claus Offe vorgetragenen Kritik an der Mehrheitsregel und bedient sich novellierender sozial- und politikwissenschaftlicher Literatur anderer Autoren, wie der detaillierten Auseinandersetzung mit dem Mehrheitsprinzip von Werner Heun.
An eine kurze inhaltliche Eingrenzung des zentralen Begriffs dieser Arbeit, „Mehrheitsprinzip“, schließt sich die Explikation der Majoritätsregel als effizientes Entscheidungsprinzip demokratischer Systeme an. Die darauf folgende, durch den gesetzten Rahmen der Arbeit beschränkt bleibende Kritik an den für die Legitimationsfähigkeit der Mehrheitsregel notwendigen Voraussetzungen, wird zum Ende der Arbeit durch mögliche Modifikationen des Majoritätsprinzips, die der Stärkung seiner legitimierenden Kraft dienen, ergänzt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition des Mehrheitsprinzips
3. Der Mehrheitsentscheid als Entscheidungsprinzip der Demokratie
4. Kritik am Mehrheitsprinzip und seinen legitimitätstiftenden Prämissen
4.1. Fiktion abstrakter Teilhabegleichheit
4.1.1. Diskrepanz zwischen Beteiligten und Betroffenen
4.1.2. Nichtberücksichtigung der Intensität politischer Voten
4.2. Chance des Mehrheitswechsels
4.2.1. Problem der Folgenirreversibilität
4.2.2. Permanente Mehrheiten durch Selbstbefestigung
4.3. Verwischung der Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Bereich
4.3.1. Eingriff von Mehrheitsentscheidungen in die Privatsphäre
4.3.2. Private Präjudizierung öffentlicher Entscheidungen
5. Modifikationen des Mehrheitsentscheids zur Stärkung seiner Legitimationskraft
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Dem gebräuchlichen und geläufigen Demokratiebegriff und -verständnis der Moderne nach gelten Entscheidungen dann als demokratisch legitimiert, wenn sie auf Grundlage des Majoritätsprinzips getroffen werden, „bzw.: autoritative Entscheidungen sind legitim, wenn von einer Mehrheit beschlossen“ (Fach 1975: 201). Entweder wird das Mehrheitsprinzip „zur notwendigen Konsequenz bestimmter demokratischer Grundwerte (Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität) erklärt“ (ebd.) oder dient wie selbstverständlich zur Produktion von Entscheidungen in demokratischen Ordnungen ohne als Verfahrensregel bei Wahlen oder Abstimmungen explizit Erwähnung finden oder sich sogar rechtfertigen zu müssen. Jedoch stellt das Majoritätsprinzip „kein voraussetzungsfreies, gleichsam selbstevidentes politisches Formprinzip“ (Guggenberger 1984a: 187) dar. Die scheinbar selbstverständliche Akzeptanz des Mehrheitsentscheids als demokratische „Bildung und Legitimierung eines Gesamtwillens“ (Scheuner 1973: 7) beruht auf der Supposition der Gültigkeit einer Vielzahl von ungeschriebenen, verfassungsrechtlich zum Teil nicht normierbaren Bedingungen, wie der Reversibilität der durch Mehrheitsregel produzierten Entscheidungen oder der Limitation der Reichweite dieser auf den öffentlichen Bereich.
Die folgende Arbeit stellt sich zur Aufgabe, den normativen Anspruch des Majoritätsprinzips auf Erfüllung dieser legitimitätstiftenden Prämissen mit der empirischen Wirklichkeit zu vergleichen, zu Tage tretende Diskrepanzen zwischen Ideal und Realität zu beleuchten und Kritik an der Begründung der Verbindlichkeit mehrheitlich gefasster Beschlüsse, speziell der unterlegenen Minderheit gegenüber, zu üben. Sie folgt in quantitativ nicht unbedeutenden Teilen der von Bernd Guggenberger und Claus Offe vorgetragenen Kritik an der Mehrheitsregel und bedient sich novellierender sozial- und politikwissenschaftlicher Literatur anderer Autoren, wie der detaillierten Auseinandersetzung mit dem Mehrheitsprinzip von Werner Heun.
An eine kurze inhaltliche Eingrenzung des zentralen Begriffs dieser Arbeit, „Mehrheitsprinzip“, schließt sich die Explikation der Majoritätsregel als effizientes Entscheidungsprinzip demokratischer Systeme an. Die darauf folgende, durch den gesetzten Rahmen der Arbeit beschränkt bleibende Kritik an den für die Legitimationsfähigkeit der Mehrheitsregel notwendigen Voraussetzungen, wird zum Ende der Arbeit durch mögliche Modifikationen des Majoritätsprinzips, die der Stärkung seiner legitimierenden Kraft dienen, ergänzt.
2 . Definition des Mehrheitsprinzips
Das Mehrheitsprinzip ist „ein Prinzip der Konfliktregelung, dem zufolge bei einer Abstimmung oder Wahl diejenige Alternative gewinnt und verbindlich für die Mehrheit und die Minderheit ist, die den zahlenmäßig größeren Teil der Stimmen […] auf sich vereint“ (Schmidt 1995: 593). Im Allgemeinen wird zwischen Teilnehmer-, Anwesenden- und Stimmberechtigtenmehrheit unterschieden. Ferner wird die Differenzierung zwischen absoluter Mehrheit, bei der die Alternative siegt, auf die mehr als die Hälfte der Stimmen entfallen, relativer Mehrheit, der zufolge gewinnt, wer im Vergleich mit den übrigen Abstimmungsalternativen die größte Stimmenanzahl erringt, und qualifizierter Mehrheit, die sich von der relativen und der absoluten Mehrheit durch höhere Konsensbildungsschwellen, z.B. Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit, unterscheidet, getroffen (Schmidt 2000: 285f.).
„Das Mehrheitsprinzip ist eine weit verbreitete Basisinstitution zur Herstellung von Kollektiventscheidungen“ (ebd.: 286). Scheuner sieht in ihm „ein allgemeines und formales politisches Formprinzip, das zwar stets eine bestimmte Geformtheit und Rationalität des politischen Verfahrens voraussetzt, aber in sehr verschiedenen Staatsformen und Regimen anwendbar ist“ (Scheuner 1973: 62). Entgegen anderen politischen Ordnungen fällt der Mehrheit in der Demokratie im Sinne von Stimmenmehrheit dem Majoritätsprinzip nach Entscheidungsbefugnis zu.
3. Der Mehrheitsentscheid als Entscheidungsprinzip der Demokratie
Das Majoritätsprinzip in der Demokratie wird mit der Auffassung, der Wille der Mehrheit verkörpere am ehesten den Willen der Gesamtheit, zu verteidigen versucht. Die unter Rekurs auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht zu fordernde Einstimmigkeit in Entscheidungsfragen sei in der politischen Realität nicht zu erreichen und daher nicht praktikabel (Helfen 1992: 417f.). Da sich ein demokratisches System jedoch nicht ausschließlich durch Garantie der Teilhabe an Herrschaft und der Begrenzung von Herrschaft legitimiere, müsse auch gewährleistet sein, dass überhaupt politische Entscheidungen produziert und durchgesetzt werden, folglich die Leistungs- bzw. Handlungsfähigkeit des Systems gesichert ist. Somit sei eine mehrheitlich gefasste Entscheidung als Kompromisslösung „das maximal erreichbare, […] die größtmögliche Annäherung an Freiheit und Gleichheit“ (Heun 1983: 100). Mit den Grundwerten der Demokratie unvereinbare Modi der Entscheidungsfindung wie dem Befehl, dem Los, dem Orakel oder dem qualifizierten Minderheiten- und Expertenvotum scheiden aus.
Die Mehrheitsregel besitze zudem den Vorteil, „jederzeit, kurzfristig und zuverlässig Entscheidungen produzieren zu können“ (Offe 1984: 152) und sei „insofern entscheidungstechnisch optimal […], als es ein Maximum an Gewißheit darüber, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen wird, mit relativ geringen Entscheidungskosten verknüpft“ (ebd.). Heun erkennt darüber hinaus als ihr Charakteristikum, „daß die Mehrheitsregel gegenüber den [zur Entscheidung stehenden] Alternativen neutral ist und sich insofern für beliebige Entscheidungsgegenstände eignet, ohne in irgendeiner Weise für bestimmte Alternativen vorteilhaft oder nachteilig zu sein“ (Heun 1983: 100). Das Abstimmungsergebnis werde somit stets unabhängig von der Streitfrage ermittelt. Die „Vorzüge mehrheitlicher Entscheidungsfindung: Schnelligkeit, Einfachheit, Durchsetzbarkeit, Klarheit und Praktikabilität“ (Helfen 1992: 67) blieben nach Helfen unübersehbar, doch „müssen Gründe für die Verbindlichkeit der Mehrheitsentscheidung angeführt werden“ (ebd.).
Der Ausschluss der definitorischen Gleichsetzung von mehrheitlichen mit „richtigen“ Entscheidungen, das Abschiednehmen „vom Mythos erkennbarer und politisch exekutierbarer Wahrheiten, von der Vision der volonté générale, die keinen Widerspruch duldet“ (Guggenberger 1984a: 193/194), ermöglicht es, der Majoritätsregel größere Legitimationskraft für alle von den durch sie produzierten Entscheidungen Betroffenen zuzusprechen. Dadurch, dass eine „Antwort darauf, ob etwas richtig oder falsch, gut oder schlecht, schön oder häßlich sei, […] außerhalb der Möglichkeit dessen, was durch Mehrheitsspruch entschieden werden kann“ (Varain 1964: 249), liegt und kein objektiv erkennbares Gemeinwohl im Sinne einer verpflichtenden Orientierungsinstanz existiert, sind die durch Majoritätsregel produzierten Entscheidungen durch Minderheiten, die ihnen nicht zugestimmt haben, kritisierbar und erhöhen folglich die Akzeptanz der Mehrheitsvoten für diese (Zippelius 1987: 8).
Nicht nur der Verzicht jedes Wahrheitsanspruchs, sondern auch auf Prätention eines größeren Maßes an Vernünftigkeit gegenüber anderen Entscheidungsfindungen, stärkt die Bindekraft von Mehrheitsbeschlüssen. Garantie einer höheren Vernünftigkeit der mehrheitlich gefällten Entscheidungen könne nicht die größere Zahl von Meinungen innerhalb einer Majorität gegenüber einer Minorität darstellen (Heun 1983: 86). Vielmehr werde eine mögliche Vernünftigkeit „in dem komplizierten Meinungsbildungsprozeß, der offenen Diskussion, dem gesamten Verfahren, das der abschließenden Mehrheitsentscheidung vorgelagert ist“ (ebd.), produziert. Die Betroffenheit der Herrschaftsunterworfenen und nicht die Vernünftigkeit des durch Mehrheitsregel erzielten Ergebnisses stelle die Begründung für die Teilhabe des Einzelnen an der politischen Entscheidung dar (ebd.: 90). Das Majoritätsprinzip könne demnach als Entscheidungsverfahren, das dem demokratischen Grundwert der Selbstbestimmung nach alle Entscheidungsbetroffenen zu Entscheidungsbeteiligten macht, verstanden werden. Es könne „keine gesellschaftliche Gruppe mit Aussicht auf Anerkennung den Anspruch erheben […], a priori über eine höhere Einsicht und Urteilsfähigkeit zu verfügen als irgendeine andere“ (Offe 1984: 153). Die Supposition einer größeren Vernünftigkeit oder Richtigkeit der Entscheidungen, die durch Mehrheiten getroffen werden, ließe den „[d]issentierende[n] Minderheiten […] den Charakter eines Hindernisses auf dem vorgezeichneten Weg zur objektiven Vernunft“ (Helfen 1992: 74) zuteil werden.
Die Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen wird demokratietheoretisch jedoch auch damit begründet, „daß die Minderheit von heute und ihre Meinungen die Chance haben, zur Mehrheit und Mehrheitsmeinung von morgen zu werden, was offensichtlich nicht heißen kann, daß Unvernunft zur Vernunft würde“ (Zippelius 1987: 3). Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie wird ausdrücklich nicht als permanente Herrschaft einer konsolidierten Majorität identifiziert, sondern soll den in Mehrheitsentscheidungen unterlegenen Minoritäten die Möglichkeit bieten, durch Einflussnahme auf den Meinungsbildungsprozess auf Änderung eines aktuellen Mehrheitsbeschlusses hinzuwirken. Eine sich im periodischen Wechsel ändernde Zusammensetzung der Majorität und damit die Verhinderung der Existenz „permanenter, struktureller oder identifizierbarer Minoritäten“ (Heun 1983: 196) ist wirkungsvolles Mittel gegen eine Tyrannei der Mehrheit und Voraussetzung für die Legitimität des Mehrheitsprinzips.
4. Kritik am Mehrheitsprinzip und seinen legitimitätstiftenden Prämissen
„The majority rule is bound to certain prerequisites. Only if they realize it can provide sufficient legitimation for the formation of political decisions“ (Scheuner 1973: 65). Ihre demokratische Legitimität ist notwendige Voraussetzung für die Akzeptanz der Mehrheitsvoten und die Anerkennung ihrer Verbindlichkeit durch alle von den gefällten Entscheidungen Betroffenen, insbesondere hinsichtlich der in Mehrheitswahl unterlegenen Minorität, und somit für das dauerhafte Funktionieren des Majoritätsprinzips. Sind die dem Mehrheitsprinzip immanenten Geltungsbedingungen nicht vollends gegeben, ist die Verpflichtungsfähigkeit des Prinzips geringer, so dass „die Folge- und Gehorsamsbereitschaft der Herrschaftsunterworfenen schwinden, die Motive der Fügsamkeit bei den Entscheidungsbetroffenen schrumpfen“ (Guggenberger 1984a: 184). Im Folgenden werden einige dieser politischen und soziokulturellen Prämissen, die den auf Grundlage des Mehrheitsprinzips hervorgegangenen Entscheidungen Legitimität verleihen sollen, aufgezeigt und ihre Verpflichtungsfähigkeit in Zweifel gezogen.
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- Jürgen Menze (Autor), 2003, Kritik am Mehrheitsprinzip als Legitimation demokratischer Entscheidungen , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123893
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