Die Lebenszeit des italienischen Autors Italo Calvino von 1923 -1985 fällt in eine Epoche, die sich zunehmend theoretisch und wissenschaftlich mit Literatur auseinandersetzt und sich im Zuge dessen viele verschiedene neue Denkrichtungen und Methoden herausgebildet haben, die zum Teil aufeinander aufbauen, sich zum Teil parallel entwickelten, doch fast alle intertextuell miteinander verbunden sind. Calvino interessierte sich für und experimentierte mit all diesen Ansätzen der Moderne und Postmoderne wie Strukturalismus, Hermeneutik, literarische und kulturelle Semiotik, Poststrukturalismus und Dekonstruktion. Auch sein literarisches Lebenswerk enthält Spuren von Denkan-sätzen vieler dieser Diskurse. Ein Roman Calvinos, der diese Vielschichtigkeit in der Literaturtheorie zum Thema macht, reflektiert und sie meisterlich verarbeitet, ist der 1979 erstmalig erschienene „Se una notte d’inverno un viaggiatore - Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ . In diesen Roman lässt Calvino viele der bereits genannten Strömungen und gleichzeitig die Kritik an ihnen einfließen. Er gilt vielen auch als ein herausragendes Beispiel der als postmodern bezeichneten Literatur .
Die folgende Arbeit kann die Analyse des Werks leider nur auf einen kleinen Bereich beschränken, da sonst der Rahmen gesprengt würde. Sie wird sich deshalb mit einer erzähltechnischen Form, welche die Verarbeitung von thematischer Vielschichtigkeit in besonderem Maße ermöglicht, beschäftigen, der Metafiktionalität. Dabei wird sie den Hauptfokus auf den metafiktionalen Kunstgriff der mis-en-abyme und deren Umsetzung und Funktion im Roman legen.
Der theoretische Teil wird also zunächst versuchen, den Begriff der Metafiktionalität im Allgemeinen zu umreißen, indem sie ihn historisch und definitorisch einordnet. Danach werden die erzähltheoretischen Charakteristika der Metafiktionalität und ihre Funktionen theoretisch erläutert. Das Hauptaugenmerk gilt dabei dem metafiktionalen, literarischen Kunstgriff der mis-en-abyme. Im darauf folgenden analytischen Teil werden exemplarisch einige Teile des Romans auf dieses besondere metafiktionale Element untersucht und es wird der Frage nachgegangen, welche Funktion der Kunstgriff im Roman hat.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Metafiktionalität
2.1. Historie
2.2. Definitionen
2.3. Charakteristika
2.4. Ebene, Metalepse, Mis-en-abyme
3. „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“
3.1. Kurze Inhaltsangabe
3.2. Funktion der mis en abyme
3.3. Umsetzung im Text
3.3.1. Gesamtstruktur, Kapitel VIII
3.3.2. Wenn ein Reisender in einer Winternacht
3.3.3. In einem Netz von Linien, die sich überschneiden
3.3.5. Rings um eine leere Grube
5. Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Lebenszeit des italienischen Autors Italo Calvino von 1923 -1985 fällt in eine Epoche, die sich zunehmend theoretisch und wissenschaftlich mit Literatur auseinander-setzt und sich im Zuge dessen viele verschiedene neue Denkrichtungen und Methoden herausgebildet haben, die zum Teil aufeinander aufbauen, sich zum Teil parallel ent-wickelten, doch fast alle intertextuell miteinander verbunden sind. Calvino interessierte sich für und experimentierte mit all diesen Ansätzen der Moderne und Postmoderne wie Strukturalismus, Hermeneutik, literarische und kulturelle Semiotik, Poststrukturalismus und Dekonstruktion. Auch sein literarisches Lebenswerk enthält Spuren von Denkan-sätzen vieler dieser Diskurse. Ein Roman Calvinos, der diese Vielschichtigkeit in der Literaturtheorie zum Thema macht, reflektiert und sie meisterlich verarbeitet, ist der 1979 erstmalig erschienene „Se una notte d’inverno un viaggiatore - Wenn ein Reisender in einer Winternacht“[1]. In diesen Roman lässt Calvino viele der bereits genannten Strömungen und gleichzeitig die Kritik an ihnen einfließen. Er gilt vielen auch als ein herausragendes Beispiel der als postmodern bezeichneten Literatur[2].
Die folgende Arbeit kann die Analyse des Werks leider nur auf einen kleinen Bereich beschränken, da sonst der Rahmen gesprengt würde. Sie wird sich deshalb mit einer erzähltechnischen Form, welche die Verarbeitung von thematischer Vielschichtigkeit in besonderem Maße ermöglicht, beschäftigen, der Metafiktionalität. Dabei wird sie den Hauptfokus auf den metafiktionalen Kunstgriff der mis-en-abyme und deren Umsetzung und Funktion im Roman legen.
Der theoretische Teil wird also zunächst versuchen, den Begriff der Metafiktionalität im Allgemeinen zu umreißen, indem sie ihn historisch und definitorisch einordnet. Danach werden die erzähltheoretischen Charakteristika der Metafiktionalität und ihre Funktionen theoretisch erläutert. Das Hauptaugenmerk gilt dabei dem metafiktionalen, literarischen Kunstgriff der mis-en-abyme. Im darauf folgenden analytischen Teil werden exem-plarisch einige Teile des Romans auf dieses besondere metafiktionale Element untersucht und es wird der Frage nachgegangen, welche Funktion der Kunstgriff im Roman hat. Das Fazit schließlich fasst die Ergebnisse zusammen.
2. Metafiktionalität
Der Begriff der Metafiktionalität hat in der Literaturwissenschaft in den letzten Jahren sehr an Popularität gewonnen. Durch den Diskurs innerhalb dieses Forschungsgebietes ist er jedoch in ständiger Bewegung und eine eindeutige Definition, die alle Facetten der Thematik berücksichtigt, kaum zu finden, da in jeder Erläuterung andere Schwerpunkte gesetzt werden. Die Arbeit wird deshalb in einem theoretischen Überblick zunächst die für sie relevanten Aspekte vorstellen.
2.1. Historie
Fiktionale Texte, die sich und/oder ihr Umfeld praktisch selbst zum Thema machen und in verschiedenster Weise über Genres, Literatur, Intertextualität, Fiktionalität und Faktualität, Autor und Leser reflektieren, „[this, d.V.] practice is as old (if not older) than the novel itself“[3]. Die im Zuge dieser Aussage meistgenannten, weil prägnantesten Beispiele dafür sind Miguel de Cervantes Don Quijote(1605-15) und Laurence Sternes Tristam Shandy(1759-67). Zu Beginn des letzten Jahrhunderts begann dann ein gesellschaftlicher Prozess, bei dem sich in allen künstlerischen Bereichen das Interesse sehr stark auf die Selbstreflexion fokussierte. In der Literatur und Literaturtheorie wird diese Zeit oft als Postmoderne[4] bezeichnet, die sich besonders ab der Jahrhundertmitte vermehrt, auch theoretisch, mit der Thematik auseinander setzte. Mit dem Ausdruck ‚metafiction’ titulierte dann erstmals 1970 der amerikanische Literat und Kritiker William H. Gass in einem Essay die stark autoreflexive Tendenz bei der als postmodern eingestuften Literatur[5]. Der Begriff setzte sich in der Literaturtheorie in den folgenden Jahren im Zusammenhang mit selbstreflexiver Schreibweise durch und es entstanden zahlreiche Studien innerhalb dieses Forschungsgebietes[6], die unter anderem auch frühere Texte wie die oben genannten im Fragehorizont der Metafiktionalität betrachteten. 11 Jahre zuvor hatte bereits Roland Barthes mit seinen Gedanken über ‚Metaliteratur’ in einer seiner Schriften die Grundlage für Gass’es Überlegungen gelegt.[7]
2.2. Definitionen
Am kürzesten und einfachsten, jedoch auch unpräzise, ist die Definition ‚Fiktion über Fiktion’ für den Begriff Metafiktion. Etwas genauer ist bereits die Aussage Christine Bohnet’s, die von „Fiktion, die sich selbst zum Objekt der Reflexion macht“[8] spricht. Die am häufigsten gebrauchte Definition ist die von Patricia Waugh deklarierte: “Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artifact in order to pose questions about the relationship between fiction and reality"[9].
In ihrem 1984 veröffentlichten Buch, das sich eingehend mit der Thematik beschäftigt, tritt jedoch auch das Problem der Zweideutigkeit zutage, welches trotz der scheinbar präzise formulierten Definitionen auch anderer Theoretiker bei der Begriffsfestlegung immer wieder für Verwirrung sorgt. Der Ausdruck wird nämlich für postmoderne, radikal selbstreflexive Werke ebenso verwendet wie für literarische Erzeugnisse, bei denen ein ‚Selbst-Bewusstsein’ nur in einigen Zeilen zu finden ist.[10]
Eine etwas andere Annäherung an die Thematik hat die Definition von Mark Currie. Bei ihm steht die immer selbstkritische Tendenz der Metafiktionalität im Mittelpunkt. Seiner Darstellung nach platziert sich diese Form des Erzählens in einer Art Grenzliniendiskurs genau auf der Linie zwischen Fiktion und Kritik, welche jedoch in der Rolle des Autors gleichzeitig untrennbar miteinander verbunden sind: „The writer/critic is thus a dialectical figure, embodying both the production and reception of fiction in the roles of author and reader in a way that is paradigmatic for metafiction.“[11]
Trotz der Unterschiede in den Herangehensweisen ist fast allen Überlegungen gemeinsam, dass sie Metafiktionalität nicht als eigenes Genre oder Sub-Genre begreifen, sondern vielmehr als Funktion oder „tendency within the novel which operates through exaggeration of the tensions and oppositions inherent in all novels“[12], ohne dabei zwischen zeitgenössischer Metafiktion und älteren Werken, die selbstreflektierende Techniken anwenden, zu unterscheiden.
2.3. Charakteristika
Metafiktionales Erzählen lenkt also durch verschiedene Techniken und Strategien die Aufmerksamkeit auf die Fiktionalität des Textes und betont damit das Künstliche, Prozessuale desselben, um damit auf die Ambivalenz zwischen Wirklichkeit und Fiktion hinzuweisen.
Allerdings gibt es unzählige Techniken und Merkmale, die, je nach Verfasser oder Theorie, als charakteristisch für Metafiktion angesehen werden. Trotzdem gibt es einige allgemein gültige Charakteristika, die sich überall wieder finden und die in als metafiktional deklarierten Werken sowohl einzeln als auch, was häufiger der Fall ist, in Kombination vorkommen.
Die zentralsten Merkmale, von denen zumindest immer eines als Grundlage inherent ist in allen Texten, die als metafiktional gelten, sind dabei das Selbst-Bewusstsein, die Intertextualität und die Selbstthematisierung der Narration.[13] Sie kommen zwar auch einzeln vor, bedingen sich jedoch oft gegenseitig und sind deshalb fast immer alle Teil eines solchen Romans. Im Zuge dessen spielen dann auch Selbstreflexion und -kritik nicht selten eine wichtige Rolle. Die inhaltliche Umsetzung kann dabei beispielsweise durch intertextuelle Verweise und Anspielungen wie etwa die Darstellung eines imaginären Schriftstellers und seiner Werke erfolgen, durch das Einbinden theoretischer Abhandlungen über Literatur in die Erzählung oder durch das Aufweisen narrativer Ebenen, indem sich der Erzähler zum Beispiel direkt an den Leser wendet usw. - kurz: „[…] they all explore a theory of fiction through the practice of writing ficition“[14], in denen allgemeine Fragen über die Beziehung zwischen Kunst und Leben, Realität und Fiktion verarbeitet werden.
Dadurch bricht metafikitonales Erzählen auf der einen Seite mit dem Realismus in der Literatur. Denn die klassische Erzählweise der Mimesis[15] hat die Intention, eine reelle Handlung möglichst naturgetreu und objektiv nach zu erzählen, um einen höchstmöglichen Realitätseffekt zu erzielen. So soll für den Leser eine hohe Identifikation mit Figuren und Handlung einer Erzählung ermöglicht werden. Durch die oben stehenden Merkmale und Techniken macht Metafiktion jedoch deutlich, dass die Wirklichkeit in der Kunst immer nur eine nachgebildete und vor allem subjektive, auf die außerkünstlerische Realität verweisende Wirklichkeit ist und schafft dadurch Distanz. Folglich lehnt sie das Konzept einer Literatur als naturgetreuen Spiegel der Welt ab.[16]
Auf der anderen Seite aber hinterfragt metafiktionales Erzählen auch die anscheinende Unvereinbarkeit und feste Grenze zwischen Fiktion und Realität, indem sie eben diese überschreitet. Mittels verschiedener Ebenen[17] kann Metafiktion nämlich innerhalb der Erzählung eine ‚fiktive’ Realität herstellen, indem sie eine zweite Ebene einschiebt, die der ersten untergeordnet ist, eine Fiktion in der Fiktion sozusagen. Treten dann diese beiden Welten wechselseitig miteinander in Verbindung wie zum Beispiel in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende[18], so wird gleichzeitig auch die Grenze zwischen tatsächlicher Wirklichkeit und Fiktion hinterfragt und Realität und deren Darstellung im Allgemeinen. „Die Wirklichkeit wird im Rahmen dieses Konzepts [..] als unüberschaubar und komplex verstanden [..] Die Fiktion soll gerade durch ihre Subjektivität eine authentischere Realität verkörpern, [..] die der Komplexität der Wirklichkeitserfahrung [entspricht, d. V.].“[19]
Bei metafiktionalen Erzählungen werden die Grenzen zwischen Autor und Leser und zwischen Fiktion und Realität also sowohl hervorgehoben und sichtbar gemacht als auch gleichzeitig in beide Richtungen überschritten und dadurch negiert oder zumindest in Frage gestellt.
Italo Calvino, von dem die Arbeit nun im Folgenden eines seiner Werke näher betrachten will, hat es so formuliert:
[...]
[1] Der Arbeit liegt folgende Ausgabe vor: Calvino, Italo: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Süddeutsche Zeitung GmbH, München 2004. Ital. Originalausgabe: Ders.: Se una notte d’ inverno un viaggiatore. Giulio Einaudi, Turin 1979.
[2] Eine einfache und gute Erläuterung des postmodernen Romanbegriffs findet sich hier: http://www.uni-essen.de/ literaturwissenschaft-aktiv/ Zur Postmoderne allgemein außerdem ausführlicher siehe Anmerkung 4.
[3] Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. Methuen. London and New York 1984, S. 5.
[4] Der Begriff der Postmoderne(n Literatur) ist schwierig, da bis heute unklar ist, ob es sich um die Bezeichnung einer Epoche, einer Lebenseinstellung oder einer bestimmten, jedoch nicht näher zu definierenden Theorie handelt. Vgl. dazu: McHale, Brian: Postmodernist Fiction. Methuen, London and New York 1987.; und Hempfer, K. W. (Hrsg.): Poststrukturalismus - Dekonstruktion – Postmoderne. Steiner, Stuttgart 1992.
[5] Vgl. ebd., S. 2
[6] Vgl. hierzu Waugh, Patricia: Metafiction; sehr gut auch: Currie, Mark (Hrsg.): Metafiction. Longmann, London u.a., 1995. Als Beispiel für eine gute Studie über das Werk eines Autors: Bohnet, Christine: Der metafiktionale Roman: Untersuchungen zur Prosa Konstantin Vaginovs. Sagner, München 1998.
[7] Vgl. Barthes, R.: „Littérature et méta-langage“. In: Goebel-Schilling, Gerhard: Mythos und Metaliteratur bei Italo Calvino. In: Ders. (Hrsg.): Anmerkungen zu Calvinos erzählersichem Werk. Materialis-Verlag, Frankfurt a. M., 1990. S. 48
[8] Bohnet: Der metafiktionale Roman, 1998. S. 15
[9] Waugh: Metafiction, 1984. S. 2
[10] Vgl. Jefferson, Ann: Patricia Waugh, Metafiction. The Theory and Practice of Self-conscious Fiction. In: POETICS TODAY. Duke Univ. Press, Durham NC, 1986, 7:3. S. 574
[11] Currie: Metafiction. 1995. Introduction. S. 3
[12] Waugh: Metafiction, 1984. S. 14. Vgl. auch Currie: Metafiction, 1995. S. 4f.
[13] Vgl. Hachmeister, Ina: Literarische Selbst-Reflexionen. Fiktive Schreiberfiguren und Schreibprozesse im Werk von Felisberto Hernández und Julio Cortázar. In: Arbeitspapiere zur Lateinamerikaforschung. Arbeitskreis Spanien-Portugal-Lateinamerika, Köln 2001. URL: http://www.uni-koeln.de/phil-fak/aspla/download/arbeitspapiere/hachmeister.pdf [15.03.2006] S. 7
[14] Waugh: Metafiction, 1984. S. 2
[15] Vgl. Gfrereis, Heike(Hrsg): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Metzler, Stuttgart 1999
[16] Vgl. Hachmeister: Literarische Selbst-Reflexionen, 2001. S. 8
[17] Ebenenkategorisierung nach Gérard Genette: siehe 2.4.
[18] Der Leser Bastian wird in die Geschehnisse des Buches, dass er gerade liest, hineingezogen; die Grenze zwischen ‚realem’ Leser und Erzählung verwischen
[19] Hachmeister: Literarische Selbst-Reflexionen, 2001. S. 9
- Quote paper
- Michaela Rhino (Author), 2006, Metafiktionales Erzählen in Italo Calvinos Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123733
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