Vlado Kristl setzt Begriffe wie „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ in seinen Filmen in faszinierend extremer Form um. Seine Bilder erinnern dabei häufig an schlecht gefilmte Amateurvideos, die wie in „Das Glück, nichts zu sein“ an Besuche bei Familienangehörigen oder Freunden erinnern und eigentlich Unscheinbares, Banales festhalten. Seine verstörende Wirkung bekommt der Film erst durch den Ton, der Filmen wie „Tod dem Zuschauer“ und „Die Gnade nichts zu sein“ eine äußerst extravagante Note verleiht, die es „in sich“ hat und neugierig macht.
Kristl nimmt innerhalb des „Neuen deutschen Films“ die Rolle eines „Anarchisten der Fantasie“ ein. Er beeinflusst die Diskussion um das neue Kino nicht nur mit Produktionen wie „Der Damm“ (1964) oder „Der Brief“ (1966), sondern nimmt unter allen Mitstreitern im Kampf gegen Kommerz und Konventionen auch die wahrscheinlich radikalste Position ein. Aber gerade diese enthusiastische Radikalität gegenüber „Papas Kino“, scheint das Gros des Publikums zu irritieren.
Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich mich zuerst einer grundlegenden Frage zuwenden, denn was kann man eigentlich prinzipiell unter „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ verstehen? Inwiefern passen Vlado Kristls Filme in diesen Zusammenhang: Welche künstlerischen, zeitgeistigen Strömungen könnten ihn inspiriert haben, gibt es vielleicht Parallelen zum Wiener Aktionismus? Welche Rolle teilt der Regisseur dem Zuschauer mit seinem Kunstverständnis zu? Last, but not least – wie reagierten Kollegen und Publikum auf Kristls anarchistische Filmkunst?
Im ersten Kapitel widme ich mich deshalb dem Definitionsversuch von „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ im Bezug auf deren Genese und im Hinblick auf Beispiele Bekannter Vertreter des Neuen Deutschen Films wie Alexander Kluge. Danach möchte ich mich explizit Vlado Kristl und seiner sehr besonderen Art des Filmschaffens zuwenden, die anhand von zwei Beispielen – „Tod dem Zuschauer“ und „Die Gnade nichts zu sein“ – unter verschiedenen Aspekten näher betrachtet werden soll.
Inhaltsverzeichnis
1. Prolog
2. Antidramaturgie und Bildkritik – Versuch einer Definition
2.1. Dramaturgie (gr. dramaturgia) und Antidramaturgie
2.2. Bildkritik
2.3. Sprachskepsis
3. Vlado Kristl – ein Leben im Kampf gegen ein konventionelles Kunstverständnis
3.1. Vlado Kristl – ein Anarchist der Fantasie
3.2. Vlado Kristls Empfinden für Antidramaturgie und Bildkritik – eine Suche nach den Wurzeln
3.2.1. Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ – eine Inspirationsquelle für Vlado Kristls Kunstverständnis?
3.1.2. Der Einfluss von Berthold Brechts V-Effekt auf Antidramaturgie und Bildkritik
3.2.3. Walter Benjamins „Aura“
3.2.4. Vlado Kristl und die Postmoderne
3.2.5. „Papas Kino ist tot“: Mittels Antidramaturgie und Bildkritik kommt frischer Wind in verkrustete Strukturen
3.2.6. Führen Spuren zum Wiener Aktionismus?
4.Vlado Kristls Spiel mit Antidramaturgie und Bildkritik: „Die Gnade nichts zu sein“
4.1. Antidramaturgische Elemente
4.2. Bildkritik
4.2.1. Wie wirken die Bilder?
Die „Signatur“ des Künstlers
Ländliche Idylle oder „Ende der Welt“?
Art und Rolle der Darsteller
Das Verhältnis zwischen Bild- und Tonebene
Rolle von Titel, Zwischentitel und Zeichnungen
5. Epilog
6. Appendix
6.1. Literaturverzeichnis
6.2. Abbildungsverzeichnis
6.3. Vlado Kristl – Filmographie
1. Prolog
Vlado Kristl setzt Begriffe wie „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ in seinen Filmen in faszinierend extremer Form um. Seine Bilder erinnern dabei häufig an schlecht gefilmte Amateurvideos, die wie in „Das Glück, nichts zu sein“ an Besuche bei Familienangehörigen oder Freunden erinnern und eigentlich Unscheinbares, Banales festhalten. Seine verstörende Wirkung bekommt der Film erst durch den Ton, der Filmen wie „Tod dem Zuschauer“ und „Die Gnade nichts zu sein“ eine äußerst extravagante Note verleiht, die es „in sich“ hat und neugierig macht.
Kristl nimmt innerhalb des „Neuen deutschen Films“ die Rolle eines „Anarchisten der Fantasie“[1] ein. Er beeinflusst die Diskussion um das neue Kino nicht nur mit Produktionen wie „Der Damm“ (1964) oder „Der Brief“ (1966), sondern nimmt unter allen Mitstreitern im Kampf gegen Kommerz und Konventionen auch die wahrscheinlich radikalste Position ein. Aber gerade diese enthusiastische Radikalität gegenüber „Papas Kino“, scheint das Gros des Publikums zu irritieren.
Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich mich zuerst einer grundlegenden Frage zuwenden, denn was kann man eigentlich prinzipiell unter „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ verstehen? Inwiefern passen Vlado Kristls Filme in diesen Zusammenhang: Welche künstlerischen, zeitgeistigen Strömungen könnten ihn inspiriert haben, gibt es vielleicht Parallelen zum Wiener Aktionismus? Welche Rolle teilt der Regisseur dem Zuschauer mit seinem Kunstverständnis zu? Last, but not least – wie reagierten Kollegen und Publikum auf Kristls anarchistische Filmkunst?
Im ersten Kapitel widme ich mich deshalb dem Definitionsversuch von „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ im Bezug auf deren Genese und im Hinblick auf Beispiele Bekannter Vertreter des Neuen Deutschen Films wie Alexander Kluge. Danach möchte ich mich explizit Vlado Kristl und seiner sehr besonderen Art des Filmschaffens zuwenden, die anhand von zwei Beispielen – „Tod dem Zuschauer“ und „Die Gnade nichts zu sein“ – unter verschiedenen Aspekten näher betrachtet werden soll.
2. Antidramaturgie und Bildkritik – Versuch einer Definition
Zu Beginn möchte ich mich kurz einer grundlegenden Frage zuwenden: Was kann man eigentlich prinzipiell unter „Antidramaturgie“ und „Bildkritik“ verstehen? In diesem Zusammenhang kehre ich zu den Wurzeln beider Begriffe zurück.
2.1. Dramaturgie (gr. dramaturgia) und Antidramaturgie
1) Lehre von der äußeren Bauform und den Gesetzmäßigkeiten der inneren Struktur des Dramas, besonders in Hinblick auf die praktische Realisierung
2) Bearbeitung und Gestaltung eines Dramas, Hörspiels, Films o. Ä.
3) Abteilung bei Theater, Funk, Fernsehen[2]
4) die Lehre von Wesen, Aufbau und Wirkung des Bühnenspiels, von Aristoteles begründet, insbesondere im Humanismus, im Barock und in der französischen und deutschen Klassik diskutiert.[3]
dramaturgisch:
1) die Dramaturgie betreffend
2) die Kunst der Gestaltung eines Stücks, einer Szene betreffend[4]
Regisseur Vlado Kristl versucht, sich von Gesetzmäßigkeiten in äußerem Aufbau und innerer Struktur zu lösen. Antidramaturgische Filme stehen der klassischen Spielfilmdramaturgie nicht nur konträr gegenüber, der Zuschauer kann wie bei Kluge auch ständig aus dem Erzählfluss herausgerissen und dazu gezwungen werden, die Handlungskontinuität selbst zu assoziieren[5]. Die Bedeutung eines chronologischen Kausalnexus bzw. einer konventionellen Dramaturgie wird infrage gestellt. Ein Beispiel hierfür ist der Nachspann, der bei Vlado Kristl – insbesondere in „Tod dem Zuschauer“ – diesen Namen eigentlich gar nicht „verdient“. Bereits 20 Minuten vor Ende des Films beginnt ein ungewöhnlicher Abspann, der mit einer herkömmlichen Nennung der Mitwirkenden eigentlich kaum mehr etwas zu tun hat. Kristl befreit „seinen Film“ überdies von der Abbild- und Erzählfunktion.
2.2. Bildkritik
Kritik (gr. kritike techne – Kunst der Beurteilung)
1) ( wissenschaftlich, künstlerische) Beurteilung, Begutachtung, Bewertung
2) Beanstandung, Tadel
3a) kritische Beurteilung, Besprechung einer künstlerischen Leistung, eines wissenschaftlichem, literarischen, künstlerischen Werkes
3b) Gesamtheit der kritischen Betrachter[6]
Vlado Kristl greift wie andere Vertreter des Neuen Deutschen Films – beispielsweise Alexander Kluge – zum Stilmittel der Bildkritik. Durch die Disharmonie zwischen Bild und Text/Ton wird der Rezipient zur kritischen Beurteilung der präsentierten Bilder animiert und soll in stärkerem Maße zum Nachdenken über die dargebotenen Inhalte angeregt werden. Mit Hilfe der „Tonebene“ kann überdies eine Atmosphäre geschaffen werden, die sich – wie bei Kristl – oft grundsätzlich von der „Bildebene“ unterscheidet, um die leichte Manipulierbarkeit derselben schonungslos aufzudecken. Amateurvideos (z. B. in dokumentarisch erscheinenden Fernsehserien) werden in den Neunzigerjahren schließlich zur Kehrseite des postmodernen Misstrauens gegen das Bild.[7] Interessanterweise greift Kristl dieses Phänomen einer Populärkultur etwa in „Die Gnade nichts zu sein“ (1995) wieder auf, indem er mit oftmals amateurhaft gefilmten Bildern sein Publikum verwirrt.
2.3. Sprachskepsis
Bereits Heinrich von Kleist beschäftigte sich in vielen seiner Briefe mit der Dissonanz zwischen individuellem Gefühl und dessen Ausdruck in der Sprache. In diesem Zusammenhang schickte Kleist am 20. August 1800 seiner Freundin Wilhelmine von Zenge folgende Worte: „(…) so will ich Dir denn mein Herz so gut ich kann auf dieses Papier malen, wobei Du aber nie vergessen musst, dass es bloße Kopie ist, welche das Original nie erreicht, nie erreichen kann.“ [8] Ähnlich sparsam und vielschichtig wie bekannte Vertreter des postmodernen Theaters (z. B. Robert Wilson) geht auch Vlado Kristl in „Die Gnade nichts zu sein“ mit dem Machtfaktor Sprache um. Er montiert wie Kluge Zeichnungen und Schrifttafeln ein, die leisen Originalton-Dialoge sind dagegen kaum verständlich.
3. Vlado Kristl – ein Leben im Kampf gegen ein konventionelles Kunstverständnis
„Wie kann man da noch etwas ändern und etwas umstürzen. Der Kampf um irgendwelche Freiheiten, der ist praktisch zu gewinnen und ist in jedem einzelnen Fall auch gewonnen, ist aber im Ganzen verloren eigentlich dadurch, dass die Obrigkeit diese Freiheiten nicht unterdrückt, sondern sie zum Zwang macht. Die Obrigkeit bleibt die Natur der Gesellschaft. Und so bleibt die Anarchie auch weiterhin der einzige Weg gegen diese Wände von Kerkern, Gefängnissen, KZs und Hinrichtungsstätten.“[9]
(Vlado Kristl, 1971)
3.1. Vlado Kristl – ein Anarchist der Fantasie
„Die Filme selbst sind nur der sichtbare Akt der Aggression, die das Versprechen einer noch nicht realisierten, nicht darstellbaren Anstrengung enthält. Das Ziel ist nicht Kino, nicht einmal Filme zu machen, sondern Zeugnis abzulegen für das beständige Zusammenpacken von einzelnen Ideen, Bildern, Einsichten und Informationen, was für die Medien typisch ist und wofür das Förderungssystem nur ein Beispiel von vielen ist.“[10]
Der, am 24.01.1923 in Zagreb geborene Künstler Vlado Kristl zeichnet sich bis zu seinem Tod im Juli 2004 sowohl durch seine Vielseitigkeit als auch durch sein ganz besonderes Kunstverständnis aus. Kristl, ein Absolvent der Zagreber Kunstakademie, arbeitet seit den Fünfzigerjahren als Maler und Schriftsteller.
Kristl führt bereits als junger Mann ein abenteuerliches Leben: Während des Zweiten Weltkrieges kämpft er von 1942 an als Partisan gegen die deutschen Invasoren, zwischen 1954 und 1959 zieht es ihn ins ferne Chile. Hier jobbt der junge Wilde einige Zeit als Taxifahrer.[11] Nach seiner Rückkehr nach Europa publiziert Kristl im Selbstverlag, veranstaltet Ausstellungen und kreiert Animationsfilme in Jugoslawien. Als Kristls Film „Der General und der erste Mensch“, in dem er auf seine Weise gegen Tito Stellung bezieht, in seiner Heimat beschlagnahmt wird, zieht er 1963 nach München. Erleichtert wird ihm die Entscheidung zur Emigration durch die Aktivitäten der jugoslawischen Geheimpolizei, die den Kultur-Anarchisten ins Gefängnis schickt. In Deutschland realisiert er nicht nur Kurzspielfilme und den Zeichentrickfilm „Prometheus“, sondern auch größere Spielfilmprojekte. In zahlreichen Filmen setzt sich Kristl auf spezifische Weise mit dem individuellen Überlebenskampf sowie einer geradezu radikal anmutenden Neudefinition des Kunstbegriffs auseinander. Kristl entwickelt eine „Theorie des Nichtfilms“, unterläuft sich aber selbst, weil er nichts Konstruktives schaffen möchte, sich aber dennoch auf unterschiedlichste Weise im Bereich Spiel- und Zeichentrickfilm, Malerei, Video und expanded video engagiert.[12] Vlado Kristl ist Preisträger von Knokke und erhält für seine Kunstfilme einige Male den Hauptpreis am Oberhausener Filmfestival. Er wird zudem zum aktiven Mitstreiter und radikalen Verfechter eines kompromisslosen Autorenfilms im Sinne des Oberhausener Manifests.[13]
Nachdem der Kunst-Bohemien für längere Zeit keinen Film dreht, bekommt er Schwierigkeiten mit der behördlichen „Obrigkeit“: Die Ausländerpolizei in Bayern will ihn 1979 als „Sozialfall“ ausweisen. Die Hamburger Hochschule für bildende Künste am Lerchenfeld verhindert jedoch die Ausweisung des extravaganten Künstlers, indem sie ihn mittels Professur an die Hochschule holte.[14] Das kompromisslose Kunstverständnis des „Erfinders des nicht mehr nachvollziehbaren Nichts“[15] erweist sich jedoch – zumindest im Umgang mit den Hamburger Studenten – als wenig produktiv: „1980 habe ich das Verbot ausgesprochen bekommen, an der Hochschule für bildende Künste Malerei zu lehren“ (Kristl)[16]. Nach seinem kurzen Intermezzo als Universitätsdozent setzt er seine Ideen wieder im Alleingang um. Speziell in den Neunzigerjahren gewinnt er mehrfach den Deutschen Kurzfilmpreis. 1996 erhält er für den Zeichentrickfilm „Als man noch aus persönlichen Gründen gelebt hat“ überdies das Filmband in Silber.[17]
3.2. Vlado Kristls Empfinden für Antidramaturgie und Bildkritik – eine Suche nach den Wurzeln
„Die Kunst ist keine Nachahmung des Lebens,
aber das Leben ist eine Nachahmung eines transzendenten Prinzips,
mit dem uns die Kunst wieder in Kommunikation bringt.“ [18]
Kristls Filme – darunter auch „Tod dem Zuschauer“ und „Die Gnade nichts zu sein“ – scheinen nur noch einen Bezugspunkt zu haben: sich selbst. Sie sind keine klassische Reproduktion der Wirklichkeit, sondern repräsentieren, interpretieren und kommentieren sich mittels Zwischentexten bzw. durch emotional irritierende Tonspuren in eigener Sache. In Bezug auf Kristls geradezu anarchistisch anmutende Filmkunst scheint Gunter Gebauers Ansatz überlegenswert: „(…) In letzter Konsequenz wird alles zu Kunst, zu einem Spiel von Bildern, die sich auf nichts mehr beziehen, die auch keine Vorbilder sind, sondern nur noch sich selbst gleichen. Der Abstand zwischen mimetischer und vorhergehender Welt, das Dazwischen, hört auf zu bestehen, wenn Mimesis allumfassend wird und die mimetische mit der anderen Welt zusammenfällt. Die totale Ausdehnung von Mimesis ist zugleich ihr Ende.“ [19]
3.2.1. Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ – eine Inspirationsquelle für Vlado Kristls Kunstverständnis?
Details wie die aufrüttelnden Schreie in „Die Gnade nichts zu sein“ bzw. die ständig wiederkehrenden Geräusche eines sich übergebenden Mannes in „Tod dem Zuschauer“ erinnern ein wenig an Antonin Artauds aktualitätsbezogenes „Theater der Grausamkeit“: „(…) Und deshalb schlage ich ein Theater der Grausamkeit vor. Bei der Manie, alles herabzusetzen, die wir heutzutage allesamt haben, hat das Wort ‘Grausamkeit’, als ich es in den Mund genommen habe, für jedermann sofort soviel wie ‘Blut’ bedeutet. Doch ‘Theater der Grausamkeit’ bedeutet zunächst einmal Theater, das für mich selbst schwierig und grausam ist. Und auf der Ebene der Vorführung handelt es sich nicht um jene Grausamkeit, die wir uns gegenseitig antun können, indem wir einander zerstückeln, (…) sondern um die sehr viel schrecklichere und notwendigere Grausamkeit, welche die Dinge uns gegenüber üben können.“ [20] Wie Artaud, der die Aufmerksamkeit des Publikums durch plötzliche Lichteffekte, schreckliche Geräusche, Symbole, Schreie oder ständige Umpositionierung der Schauplätze erhöht, spielt auch Kristl mit schnellen Schwenks, „unlogischen“ Schauplatzwechseln, gezeichneten Zwischentiteln und irritierendem Ton jenseits „normaler“ Dialoge. In Anlehnung an Artauds moderne Theaterinterpretation ist auch Vlado Kristl bemüht, seinen Kultur- und Kunstbegriff mit Hilfe einer eigenen, kreativen „Filmsprache“ umzusetzen.
3.1.2. Der Einfluss von Berthold Brechts V-Effekt auf Antidramaturgie und Bildkritik
„(…) Damit all dies viele Gegebene ihm als ebenso viel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müsste er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und verstünde es nicht von ihnen, wodurch er dann auf die Gesetzmäßigkeiten kam. Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muss das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren. Es muss sein Publikum wundern, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten (…)“[21]
Speziell die von Brecht postulierte „Zuschaukunst“[22] spielt auch bei Kristl eine große Rolle. In Brechts epischem Theater wird der Zuschauer gefordert, Kritik zu üben und selbstständig Sachverhalte zu hinterfragen, denn Brecht hasst ein passives „schlafendes“ Publikum.[23] Ohne kritisches Publikum ist die Mimesis eine Gefahr für Brecht, da sie aufgrund ihrer sozialen Determination nicht neutral ist.[24] Für Brecht war der Film die Kunst, die am ehesten der Realität nahe kommt wie „Kuhle Wampe“[25], ein Film der durch einen eher antiillusionistischen, distanzierten Darstellungsstil beeindruckt. Der Großteil der Schauspieler besteht aus Laien, die aus ihrem eigenen Lebensfundus schöpfen und den Film damit noch stärker zu einer politisch motivierten Milieustudie machen. Jahrzehnte später agieren Kristls Darsteller – mit Ausnahme einiger im Film dokumentierter Regieanweisungen – eigentlich noch autonomer. Auch in Kristls Filmen tritt dieses dokumentarische Element zum Beispiel in „Die Gnade nichts zu sein“ stark in den Vordergrund. Wie bei „Tod dem Zuschauer“ hört man Regieanweisungen aus dem Off, was dem Zuschauer den Eindruck nimmt, dass es sich bei „Die Gnade nichts zu sein“ um einen Dokumentarfilm handelt.
Nach Brecht soll sich der Zuschauer mit Hilfe des „Verfremdungseffekts“ nicht mehr der Illusion hingeben und beim Betrachten in das Geschehen eines Stückes versinken, sondern – ganz im Gegenteil – zum rationalen Betrachter werden. Durch Distanz soll die Aktivität des Publikums geweckt werden, statt Gefühle werden von ihm Entscheidungen verlangt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Brecht arbeitet dabei u. a. mit Projektionen, Plakaten und Spruchbändern sowie einer ausgefeilten Montagetechnik. Dabei kommt es zu einer Aneinanderfügung einzelner Bildfolgen und Szenen in räumlich und zeitlich verschiedenen Situationen, die gedanklich nicht verbunden sind – wodurch auch Kristls Filme aus der Masse der Filmproduktionen herausstechen. Wie Brecht versucht Vlado Kristl auf seine Weise zu dekuvrieren. „In der Beschreibung der Kopenhagener Uraufführung der »Rundköpfe und Spitzköpfe« [=Theaterstück von Brecht] schließlich führt Brecht an, dass bestimmte Vorgänge des Stücks durch »Inschriften, Geräusch- oder Musikkulissen und die Spielweise der Schauspieler als in sich geschlossene Szenen aus dem Bezirk des Alltäglichen, Selbstverständlichen, Erwarteten gehoben (verfremdet)« wurden.“[26]
3.2.3. Walter Benjamins „Aura“
Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) könnte vielleicht ebenfalls Kristls außergewöhnliche Art Filme zu machen, beeinflusst haben. [27] Kristl versucht durch sein spezifisches Kunstverständnis, wieder mehr „Echtheit“ in seine Filmproduktionen zu bringen. Wie Kluge scheint auch er überzeugt, dass die Wirklichkeit nur durch die Künstlichkeit darstellbar ist. Sein Filme stehen für Provokation und werden von ihm selbst als eine „Selbstschussanlage“ (siehe „Tod dem Zuschauer“) definiert, die nach ihrer Installation immer wieder eigenständig initiativ wird. Obwohl Kristls Filme technische Reproduktionen darstellen, gewinnen sie durch ihren speziellen, irritierenden semi-dokumentarischen Stil – wie „Die Gnade nichts zu sein“, der durch teilweise sehr lange unspektakuläre Einstellungen, schnelle Schwenks, absichtlich verwackelte Kameraeinstellungen und nicht herausgeschnittene, eingearbeitete Regieanweisungen an zumeist laienhaft agierende Darsteller eine ganz besondere Aura, etwas „Unnahbares“ erhält. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht aber auch künstlerische Intention Vlado Kristls: In vielen Passagen – auch in „Die Gnade nichts zu sein“ – spielt Kristl mit Ferne und Nähe, dem „Unnahbaren“. Die Aura des Films ist hier nicht von einem „Original“ abhängig, sondern entfaltet sich vor allem durch die Wirkung der Bilder auf einen aktiven Rezipienten.
Einen großen Anteil an dieser Aura besitzt Kristls „Klangdimension“. Ton ist nicht gleich Ton, denn über dem leisen Originalton befindet sich noch eine weitere wesentlich lautere Tonspur, die die Atmosphäre des Films stark beeinflusst. Wie einst schon von Walter Benjamin festgestellt, beeinflusst auch bei Kristl der Klang der Worte bzw. der Stimme die Wirkung nicht nur intellektuell und kognitiv, sondern in großen Maßen auch emotional und affektiv.[28]
[...]
[1] Roswitha Pross, Regisseur, Maler, Lyriker: Vlado Kristl tot (Quelle: dpa, 10.7.2004) In: http://www.welt.de/data/2004/07/10/303109.html (Zugriff: Wien, am 5.2.2007).
[2] Duden, Das große Fremdwörterbuch, ed. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Mannheim 2000) 358.
[3] Dramaturgie. In: Wissen Media Verlag, wissen.de (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).
[4] Duden, Das große Fremdwörterbuch, ed. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Mannheim 2000) 358.
[6] Ebd. 767.
[7] Linda Williams, Spiegel ohne Gedächtnisse. Wahrheit, Geschichte und der Neue Dokumentarfilm (Orig, 1993). In: Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, ed. Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Berlin 2003) 25.
[8] Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. (München 1993) 522.
[9] Vlado Kristl. In: http://www.viennale.at/cgi-bin/viennale/archiv/film.pl?id=1599&lang=de (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).
[10] Thomas Elsaesser über Kristel und seine Reflexion des Kinos als Akt des Widerstands In: Elsaesser, 124f.
[11] Dietrich Kuhlbrodt, Tod dem Zuschauer. epd Film 8 / 84. In: http://www.filmzentrale.com/rezis/toddemzuschauerdk.htm (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).
[12] Christine Noll Brinkmann, Experimentalfilm 1920-2003. In: Geschichte des Deutschen Films, ed. Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Helmut Prinzler (Stuttgart 2004) 472.
[13] Ebd. 472.
[14] http://www.viennale.at/cgi-bin/viennale/archiv/film.pl?id=1599&lang=de (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).Und: Kuhlbrodt, Tod dem Zuschauer. epd Film 8 / 84. In: http://www.filmzentrale.com/rezis/toddemzuschauerdk.htm (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).
[15] Thomas Brandlmeier. In Cinegraph. Zitiert nach: Noll Brinckmann 472.
[16] Kommentar Vlado Kristl. In: Kuhlbrodt, Tod dem Zuschauer. epd Film 8 / 84. In: http://www.filmzentrale.com/rezis/toddemzuschauerdk.htm (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).
[17] http://gallery.cyberday.de/galerie/kristl/bilder.php3?nummer=3 (Zugriff: Wien, am 20.2.2007).
[18] Antonin Artaud, Das Theater und sein Double (Frankfurt am Main 1979) 193.
[19] Gunter Gebauer, Mimesis (Reinbeck bei Hamburg 1992) 437.
[20] Antonin Artaud, Das Theater und sein Double 84f.
[21] Bertolt Brecht, kleines Organon für das Theater (Frankfurt am Main 1964).
[22] Bertolt Brecht, Werke. Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, ed. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlev Müller, 30 Bände (Frankfurt am Main 1988-1997) 191.
[23] Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater (Frankfurt am Main 1964) 26.
[24] Stefanie Hüttinger, Der Tod der Mimesis als Ontologie und ihre Verlagerung zur mimetischen Rezeption (Dipl. Arb. , Frankfurt am Main 1994) 66.
[25] Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (D 1932, R: Slatan Dudow)
[26] Hellmuth Karasek, Bertolt Brecht. Vom Bürgerschreck zum Klassiker (Hamburg: 1995) 107ff.
[27] „Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus. (…) Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen (…) Reproduktion.“. In: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Frankfurt am Main 1963) 12. Und: „(…) was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes verkümmert, das ist seine Aura.“[27] „(…) Aura (…) definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ In: E bd. 15. Und: „(…) Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes.“ Wolfgang Welsch, Unsere Postmoderne Moderne, zitiert nach Barbara Christ, Die Splitter des Scheins. Friedrich Schiller und Heiner Müller. Zur Geschichte und Ästhetik des dramatischen Fragments (Paderborn 1996) 176.
[28] Walter Benjamins Medientheorie, ed. Christian Schulte (Konstanz 2005) 51.
- Citar trabajo
- MMag. Silvia Kornberger (Autor), 2007, Antidramaturgie und Bildkritik am Beispiel von Vlado Kristls Film „Die Gnade Nichts zu sein“, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123621
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