In seinem 1993 erschienenem Werk „Vorlesungen über Ethik“ (fortan VüE), stellt der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat das Problem der Begründung der Moral in den Mittelpunkt. Tugendhat ist auf der Suche nach einer Antwort auf die Fragen: „Warum Ethik?“ und „was ist Ethik?“ . Er sucht nach einer Möglichkeit, Verbindlichkeit in der Moral zu finden, ohne dabei auf religiöse Traditionen zurückgreifen zu müssen. Dabei spielt für ihn die Aktualität einer Auseinandersetzung über Moral und Ethik eine große Rolle, angepasst an Problemstellungen unserer Zeit. Für Tugendhat sind, heute wie früher, Gefühle wie Groll und Entrüstung oder Mitleid die Voraussetzung für moralische Urteile , ein Aspekt, der sich, wie wir noch sehen werden, gänzlich von der Auffassung Kants unterscheidet.
Zwei Kapitel seines Buches, die sechste und die siebente Vorlesung, hat Ernst Tugendhat allein der kritischen Auseinandersetzung mit der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (fortan GMS) Immanuel Kants von 1785 gewidmet. Aber auch schon in den vorangehenden Abschnitten entwickelt er grundlegende Einwände gegen das Modell Kants. Dabei konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei vermeintliche Schwachstellen des Kantschen Ansatzes: den Gebrauch des Begriffs des „Guten“ als gleichwertig mit „vernünftig“ und den aus der Vernunft abgeleiteten absolut verpflichtenden Charakter moralischer Normen. Auch die Kantische Begründung des kategorisch verpflichtenden Charakters moralischer Gebote lehnte er ab. Es gebe keine, im Kantschen Sinne, absolute Vernunft; die Idee einer absoluten Begründung von praktischen Regeln sei sogar sinnwidrig und entspräche einer Säkularisierung und Naturalisierung des Gottesbegriffs. Eine apriorische Begründung sei letztendlich nichts anderes als eine pseudoreligiöse Begründung .
In der vorliegenden Arbeit möchte ich auf zwei Fragen im Detail eingehen: 1)Welche kritischen Argumente hat E. Tugendhat gegen Kants „Vernunftmoralprojekt“? 2) Wie reintepretiert Tugendhat Kants drei Formeln des kategorischen Imperativs?
Zunächst möchte ich aber das Moralkonzept Immanuel Kants skizzieren.
Inhalt
Einleitung
Die kopernikanische Wende nach Immanuel Kant
Der gute Wille
Welche kritischen Argumente hat E. Tugendhat gegen Kants „Vernunftmoralprojekt“?
Wie reintepretiert Tugendhat Kants drei Formeln des kategorischen Imperativs?
Kant und Tugendhat im Vergleich
Literaturverzeichnis
Einleitung
In seinem 1993 erschienenem Werk „Vorlesungen über Ethik“ (fortan VüE), stellt der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat das Problem der Begründung der Moral in den Mittelpunkt. Tugendhat ist auf der Suche nach einer Antwort auf: „Warum Ethik?“ Und „Was ist Ethik?“[1]. Er sucht nach einer Möglichkeit Verbindlichkeit in der Moral zu finden, ohne dabei auch religiöse Traditionen zurückgreifen zu müssen. Dabei spielt für ihn die Aktualität einer Auseinandersetzung über Moral und Ethik eine große Rolle, angepasst an Problemstellungen unserer Zeit. Dennoch sind für Tugendhat, heute wie früher, Gefühle wie Groll und Entrüstung oder Mitleid die Voraussetzung für moralische Urteile[2], ein Aspekt, der sich wie noch wir sehen werden gänzlich von der Auffassung Kants scheidet.
Zwei Kapitel seines Buches, die sechste und die siebente Vorlesung, hat Ernst Tugendhat allein der kritischen Auseinandersetzung mit der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (fortan GMS) Immanuel Kants von 1785 gewidmet. Aber auch schon in den vorangehenden Abschnitten entwickelt er grundlegende Einwände gegen das Modell Kants. Dabei konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei vermeintliche Schwachstellen des Kantschen Ansatzes: den Gebrauch des Begriffs des „Guten“ als gleichwertig mit „vernünftig“ und den aus der Vernunft abgeleiteten absolut verpflichtenden Charakter moralischer Normen. Auch die Kantische Begründung des kategorisch verpflichtenden Charakters moralischer Gebote lehnte er ab. Es gebe keine, im Kantschen Sinne, absolute Vernunft; die Idee einer absoluten Begründung von praktischen Regeln sei sogar sinnwidrig und entspräche einer Säkularisierung und Naturalisierung des Gottesbegriffs.
Eine apriorische Begründung sei letztendlich nichts anderes als eine pseudoreligiöse Begründung[3].
Die kopernikanische Wende nach Immanuel Kant - ein neues Moralkonzept entsteht
Vor Immanuel Kants Moralkonzept lag der Ursprung von Moral und Sittlichkeit unumstößlich im Willen Gottes, der immanenten Ordnung der Natur oder dem aristotelischen Verlangen nach Glück. Kant unterzog diese Moralkonzepte einer gründlichen Kritik und zielte auf eine Neubegründung von Moral bzw. Sittlichkeit ab. Statt Gott oder die Natur setzte Kant nun das Subjekt und dessen Autonomie des Willens in den Mittelpunkt und schaffte so ein Moralsystem welches sich auf die Vernunft, den guten Willen und letzten Endes auf den kategorischen Imperativ a priori gründete. Dieser gebietet, Handlungen zu vollbringen, die nicht nur Mittel zu einem Zweck, sondern gut an sich sind.
Das Werk „Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hat „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ zum Ziel. Kant trieb das Bestreben eine Moralphilosophie zu entwickeln, „[…] die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert [werden müsse]…“[4]. Seine Untersuchung der Moral sollte ausschließlich rational sein. Der erste Abschnitt in der Grundlegung beschäftigt sich mit dem Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunftserkenntnis zur philosophischen. Eine Begründung für ein Handeln, das Sollen, kann also nicht aus dem Sein abgeleitet werden, das bedeutet nicht aus Erfahrung entstehen. Kants Moral ist eine unbedingte und strenge, allgemein gültige Verbindlichkeit. Das moralische Handeln muss frei von Neigungen und ausschließlich auf Vernunft gebaut sein, denn ein moralisches Gesetz trägt eine absolute Notwendigkeit in sich.
Der kategorische Imperativ ist hierbei keine inhaltliche Norm, sondern eine Art Handlungs- und Normenprüfkriterium. Wer wissen will, ob eine Handlung moralisch richtig ist, muss zunächst ein Gedankenexperiment durchführen und prüfen ob die jeweilige Handlungsbeschreibung von den involvierten Personen losgelöst in eine allgemeine Regel verwandelt werden könnte und dann beurteilen, ob diese Anwendung der Regel gewollt werden könnte. Kant zufolge erkennt man nicht moralisches Verhalten an Widersprüchlichkeiten: wenn man z.B. aus Eigeninteresse ein Verspechen bricht und diese Handlung zu einer allgemein gültigen Maxime machen würde, dann wäre die Institution des Versprechens ad absurdum geführt, da man einem Versprechen grundsätzlich nicht mehr trauen könnte. Sehr grob vereinfacht könnte man den kategorischen Imperativ also mit dem Sprichwort: „was du nicht willst was man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“ umschreiben.
Diese Aussage ist im kategorischen Imperativ nicht willkürlich aus empirischen Erkenntnissen entstanden, sondern vielmehr, wie Kant erklärt, der praktischen Vernunft a priori entsprungen[5]; also einem jeder Moral vorhergehendes Grundprinzip, das Moral überhaupt erst möglich macht, und das im Menschen selbst natürlicherweise vorhanden ist. Kant folgert daraus, dass der kategorische Imperativ absolut ist und für jedes vernunftbegabte Wesen gilt, ohne einen Unterschied zu machen zwischen verschiedenen Völkern und Kulturen. Seine Form der Ethik ist eine deontologische, d.h. im Gegensatz zum Utilitarismus oder Konsequenzialismus, konzentriert sie sich nicht auf die tatsächlichen Folgen einer Handlung, sondern auf ihre Absichten. Eine Handlung ist dann als moralisch gerechtfertigt, wenn der Wille gut ist.
Der gute Wille
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkungen für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“[6]
Nach Kant gibt es nur eine Tugend, da nur ein Moralprinzip herrscht, nämlich eine entsprechende Willensdisposition oder auch Charakter. Auch wenn der „gute Wille“ das höchste Gut ist, so ist es dennoch „nicht das einzige und ganze Gut“, sondern zusammen mit der Glückseligkeit ein Teil eines umfassenden Guts, des so genannten summum bonum. Kants Postulat lautet: der Ursprung von Moral liegt in der Autonomie des Willens. Es wird hier also ein völlig neues philosophisches Fundament angewandt: das der Freiheit. Unter Autonomie versteht Kant das Handeln nach einer Regel, die wir uns selbst vorgeben. Der Wille ist die Bereitschaft und Fähigkeit sich von den vorgegebenen Gesetzen der Natur zu lösen und sie als den letzten Bestimmungsgrund für eine Handlung aufzugeben. An die Stelle der Naturgesetze tritt stattdessen die reine Vernunft, die Kants Ausführungen zufolge ein Produkt der Natur ist, denn diese ist es, die uns mit einer belastenden Vernunft ausgestattet und somit die Moral ermöglicht hat.[7]
Wie bereits oben erwähnt, orientiert sich die moralische Beurteilung einer Handlung nach dem Willen, nicht nach dem Erfolg. Wenn jedoch trotz Aufbietung aller Mittel - eine unbedingte Voraussetzung in Kants Theorie - die gewollte Konsequenz sich nicht einstellen kann, so wird die Handlung dennoch als moralisch bezeichnet, denn der gute Wille leuchtet schon alleine wie ein Juwel für sich selbst, da er seinen Wert in sich hat.[8] Das Wollen wird nicht durch einen Zweck bestimmt, sondern durch ein Regelwerk: den kategorischen Imperativ.
Selbstverständlich lässt Kant jedoch die Realität nicht außer acht. Tatsächlich ist es doch so, dass Menschen nicht immer vernünftig, d.h. moralisch richtig, agieren. Die Erklärung hierfür ist nach Kant, dass der Mensch nicht völlig von der Vernunft bestimmt wird, sondern ebenso von seinen Gefühlen und Neigungen. Diese stellen die körperliche Lust und Unlust dar, welches sich unterscheidet vom Willen. Diese Diskrepanz zwischen der vernünftigen und sinnlichen Veranlagung führt zu moralisch falschen Handlungen. Der Mensch soll sich weitest möglich an dem kategorischen Imperativ orientieren und vernünftige Entscheidungen treffen. Das gilt auch für die Motivation einer Handlung. Diese darf auch nicht um einer positiven Neigung willen geschehen, wie z.B. Freundschaft, Mitleid oder Familienband. Das Prinzip des guten Willens ist weder von Neigungen vorgegeben, noch als eine „ausgezeichnete Neigung“[9] zu verstehen. Eine moralische Handlung kann bei Kant nur moralisch sein, wenn sie aus moralischen, also vernünftigen Motivationen entsteht und von Neigungen völlig frei ist. Anders gesagt: Handlungen können nur gut sein, wenn sie aus Pflicht d.h. um des Guten willen geschehen.[10] Der Begriff der Pflicht ist für Kant eine moralische Verbindlichkeit, die mit dem Guten verbunden ist. Er definiert den Begriff der Pflicht folgendermaßen: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ und setzt einen deutlichen Unterschied zwischen der Handlung aus Pflicht und der pflichtmäßigen Handlung. Erstere ist eine Handlung um des Guten willen, während eine pflichtmäßige Handlung in eigennütziger Absicht geschieht, z.B. als Geschäftsmann ehrlich erscheinen, damit mehr Kunden Vertrauen schließen. Unsere Vernunft ermöglicht es, das Sittengesetz zu erkennen. Im zweiten Abschnitt der Grundlegung erläutert Kant zusätzlich: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.“[11]
Welche kritischen Argumente hat E. Tugendhat gegen Kants „Vernunftmoralprojekt“?
In seinen Ausführungen zu Immanuel Kants Werk „Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hat Tugendhat, trotz aller Bewunderung für Kants Gesamtleistung, wesentliche Kritikpunkte an seiner Moralphilosophie. Es handelt sich jedoch nicht unbedingt um inhaltliche Diskrepanzen, sondern vielmehr um eine teilweise Zurückweisung von Kants Begründungskonzept[12]. Tugendhat verfolgt und kommentiert die Erläuterungen in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (GMS) Schritt für Schritt und findet auf diesem Wege Widersprüche und Verwicklungen in Kants Gesamtkonzept.
Die Vorrede Kants hat seiner Auffassung nach zwei Aufgaben, die Erläuterung des Titels und der angewandten Methode um zum obersten Prinzip der Moral zu gelangen. Die Metaphysik ist laut Kant eine Erörterung eines Gebiets aus Prinzipien a priori und seine Hauptthese lautet, dass das ebenfalls für die Moral möglich und notwendig ist. Sie ist entnommen aus der „gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze“[13] welche a priori sind. Kant begründet seine These folgendermaßen: „Jedermann muss eingestehen, dass ein Gesetz, wenn es auch moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse“- und eine solche Notwendigkeit könne nur a priori, lediglich im Begriffe der reinen Vernunft“ gefunden werden.
[...]
[1] VüE, siehe S.11
[2] VüE, siehe S.11
[3] VüE, siehe S.15
[4] GSM, S. 13
[5] Siehe 1. Abschnitt GMS
[6] 1. Satz aus 1. Abschnitt GMS
[7] VüE, S.109
[8] GMS, S.19: „Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.“
[9] VüE S. 118
[10] VüE, S. 112
[11] 2. Abschnitt GMS, S. 41
[12] VüE, S.98
[13] VüE, S.99
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- Marta-Laura Suska (Autor), 2009, Reflexion zu Ernst Tugendhats Kritik an Immanuel Kants Moralkonzept, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123549
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