Seit dem in der Literatur vielfach so betitelten “PISA-Schock”, hat die Lesekompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler verstärkt Aufmerksamkeit erhalten. Um zu erfahren, wie es wirklich um die Lesefähigkeit deutscher Grundschülerinnen und -schüler bestellt ist, soll im ersten Kapitel die Ergebnisse der internationalen Grundschul-
Lese-Untersuchung (IGLU) von 2006 dargestellt werden. Im Anschluss daran wird die Wichtigkeit einer individuellen Leseförderung hervorgehoben und der bildungspolitische Hintergrund erläutert. Damit einhergehend wird auf die Heterogenität der Schülerschaft und den, dieser Arbeit zugrunde liegenden, Heterogenitätsbegriff eingegangen werden.
Unstrittig ist die zentrale Bedeutung der Lesekompetenz für die schulische Bildung
(vgl. Schiefele et al. 2004, S. 9-10; vgl. Wrobel 2008, S.12). Sie kann als Schlüsselqualifikation für schulischen und beruflichen Erfolg3 angesehen werden. Auch für die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten (vgl. Schiefele et al. 2004, S.9-10)
und für das selbstständige Erschließen von Wissen (vgl. Schenk 1997, S. 39) wird
sie als bedeutsam angesehen. Was genau ist aber unter Lesekompetenz zu verstehen?
Dieser Frage wird im dritten Kapitel nachgegangen, wo Determinanten der
Lesekompetenz aufgeführt und Einflussfaktoren auf die Lesekompetenz von Schülerinnen
und Schülern genannt werden. Ziel ist es, alle Kinder entsprechend ihrer individuellen
Bedürfnisse zu fördern. Der Blick auf Unterschiede zwischen starken
und schwachen Leserinnen und Lesern soll Probleme beim Lesen verdeutlichen und
aufzeigen, wie weniger kompetente Leserinnen und Leser gefördert werden können
und welche Hilfestellungen diese benötigen. Auch Einflussbereiche auf die Entwicklung
der Lesekompetenz der Kinder sollen aufgeführt werden, um Kindern aus lesefernen
Elternhäusern angemessen fördern zu können.
Wird von guten und schlechten Leserinnen und Lesern gesprochen, bezieht sich dies
nicht auf Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Legasthenie
und auf Hochbegabte. Dies ist vor dem Hintergrund sinnvoll, dass auf Leseschwächen
durch Maßnahmen der inneren Differenzierung, wie sie in dieser Arbeit für
eine individuelle Förderung nahegelegt werden (vgl. Kap 5.3), nicht angemessen
eingegangen werden kann (vgl. Lehberger & Sandfuchs 2008, S.14). Auf individuelle
Fördermöglichkeiten für begabte Leserinnen und Leser kann im Rahmen dieser
Arbeit aus Gründen der Schwerpunktsetzung nicht eingegangen werden.
Inhalsverzeichnis
1. Einleitung
2. Über die Relevanz einer individuellen Leseförderung
2.1 Ergebnisse von IGLU 2006
2.1.1 Unterschiede in der Leseleistung von Jungen und Mädchen
2.1.2 Leseleistung von Kindern mit Migrationshintergrund
2.1.3 Resümee
2.2 Individuelle Förderung als Reaktion auf Heterogenität
2.2.1 Individuelle Förderung: Schulgesetz NRW und Lehrplänen
2.2.2 Was ist unter individueller Förderung zu verstehen?
2.2.3 Fördern in heterogenen Lerngruppen - eine nähere Bestimmung
3. Lesen und Lesekompetenz
3.1 Lesekompetenzbegriff
3.1.1 Klärung des Lesekompetenzbegriffs für diese Arbeit
3.2 Der Leseprozess
3.2.1 Prozesse und Ebenen des Lesens
3.2.2 Der Leseprozess und seine Einflussfaktoren
3.2.2.1 Leseanforderungen
3.2.2.2 Beschaffenheit des Textes
3.2.2.3 Aktivität des Lesers
3.2.2.4 Merkmale des Lesers/der Leserin und daraus resultierende Unterschiede
3.2.2.4.1 Vorwissen
3.2.2.4.2 Wortschatz und lexikalischer Zugriff (Worterkennung)
3.2.2.4.3 Wissen über Textmerkmale
3.2.2.4.4 Arbeitsgedächtniskapazität
3.2.2.4.5 Lernstrategiewissen
3.2.2.4.6 Lesemotivation, Leseinteresse und Selbstkonzept
3.3 Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Lesekompetenz
3.3.1 Unterschiede in den Vorläuferfähigkeiten
3.3.2 Unterschiede in der erlebten Sozialisation
3.3.3 Unterschiede in der Sprachentwicklung
4. Diagnose
4.1 Diagnosekompetenz
4.2 Diagnoseverfahren
4.2.1 Beobachten
4.2.2 Testverfahren
4.2.3 Testverfahren für weiter Bereiche
5. Differenzierung
5.1 Differenzierung von oben/unten
5.2 Differenzierung von außen/innen
5.3 Differenzierungsstrategien
6. Leseförderung
6.1 Was ist guter Leseunterricht?
6.2 Woran sich eine Leseförderung orientieren sollte
6.3 Förderung der Basisfertigkeiten durch den Einsatz individualisierter Fördermaßnahmen
6.3.1 Der Wochenplan
6.3.1.1 Mogliche Aufgaben im Wochenplan
6.3.2 Stationenarbeit
6.4 Förderung der Lesestrategien - Lesestrategien trainieren
6.4.1 Welche Strategien lassen sich unterscheiden?
6.4.1.1 Hintergrundwissen aktivieren
6.4.1.2 Fragen stellen
6.4.1.3 Informationen suchen
6.4.1.4 Inhalte zusammenfassen
6.4.1.5 Wissen (visuell) organisieren
6.4.1.6 Texte strukturieren
6.4.2 Die Rolle der Lehrkraft und die Vermittlung der Lesestrategien
6.4.3 Lesestrategietraining für schwache Schülerinnen und Schüler
6.4.4 Mögliche Umsetzungsmöglichkeiten des Lesestrategietrainings
6.4.4.1 Die Lesekonferenz
6.4.4.2 Das Leseatelier
6.5 Lesen erfahrbar machen - Lesen als kulturelle Praxis
6.5.1 Sinnhafte Texte von Anfang an
6.5.2 Die freie Lesestunde
6.5.2.1 Mehrsprachiges Lesen zulassen
6.5.2.2 Die freie Lesestunde als Vorleseerlebnis nutzen
6.5.2.3 Die freie Lesestunde mit neuen Medien verbinden
6.5.2.4 Möglichkeiten der Kontrolle: Das Leseportfolio
7. Leseförderung in einer veränderten Medienumgebung
8. Abschließender Gedanke
9. Literaturverzeichnis
10. Anhang
10.1 Worterkennungsmodell nach Scheerer-Neumann, 1997
10.2 Entwicklungsmodell des Lesen- und Schreibenlernens
10.3 Raster zur Beobachtung
10.4 Beispiel für einen Stationenplan mit Pflichtstationen
10.5 Lektüre-Begleitheft
1. Einleitung
Seit dem in der Literatur vielfach so betitelten “PISA-Schock”[1], hat die Lesekompe- tenz deutscher Schülerinnen und Schüler verstärkt Aufmerksamkeit erhalten. Um zu erfahren, wie es wirklich um die Lesefähigkeit deutscher Grundschülerinnen und -schüler bestellt ist, soll im ersten Kapitel die Ergebnisse der internationalen Grund- schul-Lese-Untersuchung (IGLU)[2] von 2006 dargestellt werden. Im Anschluss daran wird die Wichtigkeit einer individuellen Leseförderung hervorgehoben und der bil- dungspolitische Hintergrund erläutert. Damit einhergehend wird auf die Heterogeni- tät der Schülerschaft und den, dieser Arbeit zugrunde liegenden, Heterogenitätsbe- griff eingegangen werden.
Unstrittig ist die zentrale Bedeutung der Lesekompetenz für die schulische Bildung (vgl. Schiefele et al. 2004, S. 9-10; vgl. Wrobel 2008, S.12). Sie kann als Schlüssel- qualifikation für schulischen und beruflichen Erfolg[3] angesehen werden. Auch für die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten[4] (vgl. Schiefele et al. 2004, S.9-10) und für das selbstständige Erschließen von Wissen (vgl. Schenk 1997, S. 39) wird sie als bedeutsam angesehen. Was genau ist aber unter Lesekompetenz zu verste- hen? Dieser Frage wird im dritten Kapitel nachgegangen, wo Determinanten der Lesekompetenz aufgeführt und Einflussfaktoren auf die Lesekompetenz von Schüle- rinnen und Schülern genannt werden. Ziel ist es, alle Kinder entsprechend ihrer in- dividuellen Bedürfnisse zu fördern. Der Blick auf Unterschiede zwischen starken und schwachen Leserinnen und Lesern soll Probleme beim Lesen verdeutlichen und aufzeigen, wie weniger kompetente Leserinnen und Leser gefördert werden können und welche Hilfestellungen diese benötigen. Auch Einflussbereiche auf die Entwick- lung der Lesekompetenz der Kinder sollen aufgeführt werden, um Kindern aus lese- fernen Elternhäusern angemessen fördern zu können.
Wird von guten und schlechten Leserinnen und Lesern gesprochen, bezieht sich dies nicht auf Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS[5]) oder Legasthenie und auf Hochbegabte. Dies ist vor dem Hintergrund sinnvoll, dass auf Leseschwä- chen durch Maßnahmen der inneren Differenzierung, wie sie in dieser Arbeit für eine individuelle Förderung nahegelegt werden (vgl. Kap 5.3), nicht angemessen eingegangen werden kann (vgl. Lehberger & Sandfuchs 2008, S.14). Auf individuel- le Fördermöglichkeiten für begabte Leserinnen und Leser kann im Rahmen dieser Arbeit aus Gründen der Schwerpunktsetzung nicht eingegangen werden.
Es besteht Einigkeit darüber, dass das Lesen eine wichtige und zentrale Fähigkeit ist, die der Förderung bedarf. Infolge dessen gibt es eine Vielzahl von Fördermodellen, welche nach Kruse (2007) zwei Bereichen zugeordnet werden können: Unter dem Bereich „Gern Lesen“ (S. 177, Hervorheb. im Orig.) fasst er das Konzept der Lese- förderung[6], mit welchem Leserinnen und Leser zum Lesen motiviert werden sollen (vgl. ebd. S.177). Förderbemühungen die zum Ziel das „Gut Lesen“ (ebd. S.178, Hervorheb. im Orig.) haben, wollen entweder die Lesefähigkeit verbessern (Lese- training) oder das literarische Verständnis der Schülerinnen und Schüler verbessern (literarische Bildung).
In dieser Arbeit wird die Auffassung vertreten, dass es kein „entweder-oder“ zwi- schen diesen beiden Bereichen geben kann. Kinder sollen sowohl gut, als auch gerne lesen können (und dürfen). Ein guter Förderansatz muss also beide Bereiche berück- sichtigen. Der Schwerpunkt der Förderungsbemühungen wird dabei auf dem Lese- strategietraining (vgl. Kap. 6.4) liegen.
Auf Konzepte der literarischen Bildung kann dabei im Rahmen dieser Arbeit aus Platzgründen nicht eingegangen werden, wodurch die Wichtigkeit dieses Bereiches keinesfalls herabgesetzt werden soll.
Dem Gedanken folgend, dass jeder Unterricht fördernd sein sollte (vgl. Matthes 2006, S.123), werden Förderungsmöglichkeiten, die im Rahmen des Regelunter- richts erfolgen können, dargestellt werden[7].
Abschließend wird auf die Rolle der veränderten Medienlandschaft auf das Lesen eingegangen werden.
2. Über die Relevanz einer individuellen Leseförderung
Im Folgenden werden die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie IGLU 2006 vorgestellt und die Relevanz einer individuellen Leseförderung hervorgeho- ben.
2.1 Ergebnisse von IGLU 2006
International gesehen befindet sich Deutschland im oberen Viertel der getesteten Staaten und auch im europäischen Vergleich schneidet kein Land besser ab (vgl. Bos 2007d, S.7). Im Bereich der Leseleistung haben deutsche Schülerinnen und Schüler 2006 in allen Bereichen der Lesekompetenz bessere Werte als 2001 erzielt
(vgl. ebd. S.11; 21): Es finden sich mehr Schülerinnen und Schüler auf der obersten Kompetenzstufe[8] und weniger sind in der so genannten Risikogruppe vertreten (vgl. ebd. S.12). Zusätzlich weisen die Ergebnisse der Erhebungszeitpunkte 2001 und 2006 nur eine geringe Streuung auf: „Es gelingt der Grundschule in Deutschland, für einen Großteil der Kinder ein hohes Niveau in der Lesekompetenz zu erreichen und gleichzeitig die Differenz zw. lesestarken und leseschwachen Kindern relativ klein zu halten” (ebd. S.20-21).
2.1.1 Unterschiede in der Leseleistung von Jungen und Mädchen
Jungen und Mädchen weisen 2006 bessere Leistungen auf (vgl. Hornberg et al. 2007b, S. 217, Bos 2007d, S.21)[9]. Die Differenz zwischen den beiden Geschlech- tern, sowohl innerhalb der oberen Kompetenzstufen als auch im Bereich der soge- nannten „Risikogruppe“[10], ist in Deutschland am geringsten (vgl. Hornberg et al. 2007b, S.217)[11].
Resümierend kann festgehalten werden, dass Deutschland „in der Förderung der Geschlechter […] einen sehr guten Weg eingeschlagen“ (ebd. S.204) hat.
Betrachtet man jedoch die Aussagen zum Lesevergnügen der Mädchen und Jungen, so wird die Wichtigkeit einer geschlechtersensiblen Förderung, die an den Interessen der Kinder ansetzt, deutlich (vgl. Bos 2007d, S.22): 9 Prozent der Mädchen und 19 Prozent der Jungen gaben an, außerhalb der Schule nie zum Vergnügen zu lesen (vgl. Hornberg et al. 2007b, S.215; Valtin et al. 2007, S.333)
2.1.2 Leseleistung von Kindern mit Migrationshintergrund
Die Ergebnisse von IGLU 2006 haben die Dringlichkeit einer intensivieren Förde- rung für Kinder mit Migrationshintergrund verdeutlicht (vgl. Schwippert et al., 2007, S. 266):
[So verfügen][…] zwei Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund […] am Ende der vierten Jahrgangsstufe nicht über die Kompetenz im Lesen, die es ihnen erlaubt, sicher und selbstständig mit Texten weiterzulernen und sich eigenständig neue Lernbereiche zu erschließen. (Schwippert et al. 2007, S.266)
Das Leseverständnis von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund liegt mit einer Differenz von 48 Punkten deutlich unter dem von Kindern ohne Mig- rationshintergrund (vgl. Schwippert et al., 2007, S.266)[12]. Dabei bedingt nicht allei- nig der Migrationsstatus das Leseverständnis und den Bildungserfolg bzw. Misser- folg (vgl. ebd. S. 267). Es wird vielmehr ein „vielschichtiger Zusammenhang unter anderem zwischen Migrationsgeschichte, den Sprachkenntnissen und den Bildungs- abschlüssen der Familien […]” (ebd. S. 268) erkennbar. So gehören Familien mit Migrationshintergrund in fast allen Staaten häufiger zur sozialen Unterschicht als Familien ohne Migrationshintergrund (vgl. ebd. S. 264).
2.1.3 Resümee
Betrachtet man die Werte der einzelnen Erhebungszeiträume, so zeichnet sich ein positiver Trend ab (vgl. Bos et al. 2007d, S.12). IGLU 2006 hat allerdings auch wie schon vorherige Schulleistungsstudien deutlich gemacht, dass in Deutschland schu- lische Leistung stärker vom Bildungshintergrund und sozialen Status des Elternhau- ses abhängig ist, als dies im internationalen Mittel der Fall ist (vgl. ebd. S. 14).[13]
Der deutschen Schule gelingt es anscheinend nicht befriedigend, die vorhandenen sozialen Disparitäten angemessen auszugleichen (vgl. ebd. S.25; vgl. Hurrelmann 2004, S.37).[14] Eine Leseförderung muss also für Kinder mit Migrationshintergrund intensiviert werden und den geschlechtsspezifischen Interessen und Neigungen von Schülerinnen und Schülern Rechnung tragen.
2.2 Individuelle Förderung als Reaktion auf Heterogenität
Heterogenität ist ein „Schlüsselwort in der Diskussion um gute Bildung und sprach- liche Förderung“ (Bertschi-Kaufmann 2007, S.11). Die Herstellung homogener Gruppen wird dabei bis heute noch als Ideal in der deutschen Schule angesehen (vgl. Schneider 2008, S.18). Insbesondere die Annahme, dass homogene Gruppen besse- re Leistungen erzielen würden, als dies in heterogenen Gruppen der Fall wäre (vgl. Brügelmann 2002, S.35), führt und führte zur Bildung homogener Gruppen. Unter- suchungen dazu ergeben jedoch kein einheitliches Bild (vgl. Lehberger & Sandfuchs 2008, S.14). Helmke und Weinert (1997) resümieren, dass Homogenität nur mit positiven Effekten einhergeht, „wenn der Unterricht auf die spezifische Lernfähig- keit der Schüler in spezifischer Weise abgestimmt ist“ (S. 93). Eine Passung des Unterrichts an die Lernausgangslagen durch Differenzierung ist also auch in homo- genen Gruppen notwendig.
Im Zusammenhang mit Heterogenität wird eine „Wende in der Schulkultur prokla- miert” (Lehberger & Sandfuchs 2008, S.11): Weg von einer Homogenisierung der Schülerschaft[15] durch „Selektionsstrategien” (vgl. Brügelmann 2002, S.33) hin zur Anerkennung der Heterogenität.[16]
Im Folgenden soll dargestellt werden, wie bildungspolitisch bisher auf die Hetero- genität der Schülerinnen und Schüler eingegangen/wurde.
2.2.1 Individuelle Förderung: Schulgesetz NRW und Richtlinien und Lehrplänen
Die individuelle Förderung, die seit den 1970er Jahren gefordert wird (vgl. Lehber- ger & Sandfuchs 2008, S.15), ist in §1 des Schulgesetzes NRW verankert:
Recht auf Bildung, Erziehung und individuelle Förderung
(1) Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung. Dieses Recht wird nach Maßgabe dieses
Gesetzes gewährleistet. (SchulG, S.2)
Die individuelle Förderung bildet auch den Kern bzw. Leitgedanken der neuen Rich- tlinien und Lehrpläne vom 16.06.2008. Der Terminus „individuelle Förderung“ wird hier jedoch nicht klar definiert.
2.2.2 Was ist unter individueller Förderung zu verstehen?
Kinder sollen entsprechend ihrer persönlichen Bedürfnisse und Neigungen indivi- duell gefördert werden. Wichtig ist dabei, dass die angebotenen Aufgaben zu den Lernausgangslagen der Kinder passen, das heißt an ihr persönliches Vorwissen ank- nüpfen. Schülerinnen und Schüler sollen durch die jeweilige Förderung weder über- noch unterfordert werden. Mit den Worten Wygotskys (1974) gesprochen, soll eine individuelle Leseaufgabe bzw. –übung in der „Zone der nächsten Entwicklung “ (S.237, Hervorheb. im Orig.) des Kindes liegen. Diese beschreibt er als „[...] Diver- genz zwischen dem geistigen Alter oder dem aktuellen Niveau der Entwicklung [...] und dem Niveau, das das Kind bei der nicht selbständigen, sondern gemeinschaftli- chen, Lösung von Aufgaben erreicht [...]“ (S. 236-237) beschrieben werden. Durch Beobachtungen und Diagnoseverfahren (vgl. Kap. 4) können Lehrkräfte erkennen, wann sich der Leser bzw. die Leserin in der Zone der nächsten Entwicklung befindet und Unterrichtsangebote durch differenzierende Maßnahmen dem jeweiligen Ent- wicklungsstand des Kindes anpassen.
Insbesondere mit Hinblick auf die gestiegene Heterogenität der Schülerschaft ist dies eine anspruchsvolle Aufgabe, die an die Lehrkräfte gestellt wird (vgl. Bertschi- Kaufmann 2007, S.11).
2.2.3 Fördern in heterogenen Lerngruppen - eine nähere Bestimmung
Im Zusammenhang mit der neuen Schuleingangsphase und der Idee der flexiblen Verweildauer[17] soll als Ausgangspunkt der Überlegungen das Unterrichten in jahr- gangsübergeifenden Gruppen gewählt werden, wie es seit den 20er Jahren von Peter Petersen und Maria Montessori vertreten wird (vgl. Werner 2005, S.19).
Im Folgenden können nur die wichtigsten Argumente für einen jahrgangsübergrei- fenden Unterricht aufgeführt werden.
Unterricht in jahrgangsübergreifenden Gruppen[18] …
1. Langsamere Schülerinnen und Schüler können im bekannten sozialen Umfeld weiterlernen (vgl. Christiani 2005, S.9)
2. wird dem Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler gerechter, da diese ihrem individuellen Leistungsstand folgend Aufgaben aus unteren oder höheren Jahrgangsstufen bearbeiten können (vgl. ebd. S.9).
3. macht Formen der Differenzierung zwingend erforderlich (vgl. ebd. S13)
4. schafft durch den Alters- und Niveauunterschied der Kinder vielfältige Vorteile (vgl. Gobbin-Claussen, 2005, S.16): Kinder können gegenseitig voneinander lernen, wodurch sie sich weniger als Konkurrenz empfinden und selbstständiger werden (vgl. ebd. S.16). Insbesondere lernschwache Schülerinnen und Schüler können sich hierbei in einer neuen Rolle erleben (vgl. ebd. S.17) Dadurch dass die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Aufgaben bearbeiten kann zudem Interesse an Aufgaben höherer Klassen geweckt werden, was das Lernen insge- samt erleichtert (vgl. Werner 2005, S.19).
Es gibt mehrere Modelle für jahrgangsübergreifenden Unterricht: Angefangen mit dem Jena-Plan nach Peter Petersen[19], der die Schüler in Stammgruppen einteilt (vgl. Graumann 2002, S.149), über Modelle in denen die Jahrgangsmischung die ersten drei Klassen umfasst bis hin zum jahrgangsübergreifenden Unterricht, der alle Klas- senstufen umfasst (vgl. Werner 2005, S.21).
In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass alle vier Grundschulklas- sen gemeinsam unterrichtet werden. So kann mit dem schon über ein gewisses Maß an Lesefertigkeit verfügenden Teil der Klasse Lesestrategien geübt werden, die da- durch schon von jüngeren Schülerinnen und Schülern indirekt wahrgenommen wer- den können (vgl. Kap. 6.2).[20]
3. Lesen und Lesekompetenz
Bevor eine individuelle Leseförderung geplant werden kann, muss geklärt werden, wie Schülerinnen und Schüler beim Lesen vorgehen. Im Anschluss daran können Leistungen erst beobachtet bzw. diagnostiziert werden und die Ergebnisse für eine individuelle und differenzierende Leseförderung genutzt werden.
3.1 Lesekompetenzbegriff
Unstrittig ist in der Literatur die zentrale Bedeutung der Lesekompetenz (vgl. Kap. 1). Was genau ist aber unter Lesekompetenz zu verstehen? Die verschie- denen Studien zur Erfassung der Lesekompetenz weisen ihr teilweise unterschiedli- che Teilbereiche zu (vgl. Streblow 2004, S.275).
IGLU und PISA[21] orientieren sich bei ihrem Lesekompetenzkonzept an dem Litera- cy-Konzept aus dem angloamerikanischen Bereich (vgl. Hornberg et al. 2007a, S.23). PISA legt dabei folgende Definition zugrunde: Lesekompetenz „heißt, ge- schriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene
Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen” (Baumert et al. 2001, S.23).
IGLU geht primär auf das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler ein. Dabei werden vier Dimensionen des Textverstehens unterschieden[22](entn. aus Bos et al. 2007c, S.83-84):
Textimmanenten Verstehensleistungen
(1) Erkennen und Wiedergeben explizit angegebener Informationen in einem Text
(2) Einfache Schlussfolgerungen ziehen
Wissensbasierten Verstehensleistungen
(3) komplexe Schlussfolgerungen ziehen und begründen; Interpretieren des Gele- senen
(4) Prüfen und Bewerten von Inhalt und Sprache.
Neben der Unterscheidung dieser Verstehensprozesse erfasst IGLU auch noch die Leseintention (literarische Texte/informierende Texte[23]) und nicht kognitive Berei- che wie die Lesemotivation, das Leseverhalten und das Leseselbstkonzept (vgl. Bos et al. 2007c S. 83, vgl. dazu genauer Kap. 3.2.2.4.6).
Im Folgenden soll geklärt werden, welcher Lesekompetenzbegriff dieser Arbeit zu- grunde liegt.
3.1.1 Klärung des Lesekompetenzbegriffs für diese Arbeit
Der Kompetenzbegriff findet sich in der Literatur in vielfältigen Zusammenhängen. Wrobel (2008) spricht von einer „inflationären Verwendung des Kompetenzbe- griffs” (S.9). Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht den Kompetenzbegriff näher zu betrachten. Allgemein bezeichnet der Kompetenzbegriff, die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (Weinert 2002, S.27-28)
Neben der kognitiven Fähigkeit des Lesen spielen also auch noch motivationale, volitionale und soziale Komponenten in die Lesekompetenz mit ein, die je nach Schülerin bzw. Schüler unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Es ist daher sinnvoll, diese auch stärker zu berücksichtigen. Genau dies fordert auch Bettina Hurrelmann (2004), indem sie dafür plädiert, das kognitionstheoretisch fundierte Modell, wie es von internationalen Schulleistungsstudien wie PISA verwendet wird, durch „[M][m]otivationale, emotionale und interaktionsbezogene Komponenten der Lesekompetenz” (S.40)[24] zu ergänzen, da diese für die Entwicklung des Lesens entscheidend sind (vgl.S.40; vgl. Hurrelmann 2007 S.18)[25]. Diese Dimensionen be- trachtet das kulturwissenschaftliche Modell der Sozialisationsforschung (vgl. Hur- relmann 2004, S.40). Ziel ist hier nicht die Leistungsmessung, sondern eine Ein- sicht in die „Strukturen und Prozesse […], die an der Sozialisation von Lesekompe- tenz beteiligt sind“ (Hurrelmann 2007, S.19, 20; vgl. auch Hurrelmann 2004, S.38). Dementsprechend wird Lesen als „Instrument zur rationalen Selbstbestimmung, […] als Mittel der Persönlichkeitsbildung und als Erlebnisgenuss“ (Hurrelmann 2007, S.18) gesehen.
Bei der Lesekompetenz handelt es sich also nicht um eine allein kognitive Fähigkeit, sondern vielmehr um ein Bündel von Teilfertigkeiten, durch die sich ein kompeten- ter Leser bzw. eine kompetente Leserin auszeichnet. Um Lesekompetenz angemes- sen fördern zu können, muss das kognitionstheoretische Konzept daher im Sinne Hurrelmanns erweitert werden, wie es ja auch in IGLU 2006 umgesetzt wurde.
3.2 Der Leseprozess
Nachdem für eine Erweiterung des Konstrukts der Lesekompetenz plädiert wurde, ist es nun, insbesondere vor dem Hintergrund des Lernens in heterogenen Klassen und dem Ziel einer individuellen Leseförderung, die an den heterogenen Lernaus- gangslagen der Kinder ansetzt, wichtig aufzuzeigen, worin sich gute und schlechte Leserinnen und Leser unterscheiden. Zunächst soll daher der Leseprozess und Ein- flussfaktoren auf diesen erläutert werden.
Da neben den Leseleistungen auch „Bezüge zur subjektiven und sozialen Funktion des Lesens und, entstehungsgeschichtlich, zur individuellen Lesebiographie“ (Gold, 2007, S.14) berücksichtigt werden müssen, werden diese Aspekte zusätzlich aufge- führt. Nur wenn man sich verdeutlicht, welche Einflussfaktoren auf das Lesen und seine Entwicklung wirken, und wie sich Kinder unterscheiden können, kann eine individuelle Förderung erfolgen.
3.2.1 Prozesse und Ebenen des Lesens
Es wird zwischen der Lesefertigkeit bzw. -fähigkeit (Laut-Buchstaben-Zuordnung) und dem Leseverständnis[26]/ Textverständnis[27] (Interpretation/ Sinnerfassung) unter- schieden (vgl. Schenk 1997, S.11, 13; Wrobel 2008, S.63).
Das Lesen von Texten wird seit den 60er Jahren als „kognitiv-aktive (Re-) Kons- truktion von Information“ (Christmann & Groeben 2006, S.146) verstanden. Der Leser bzw. die Leserin muss die im Text enthaltene Information mit dem eigenen Vorwissen und dem Wissen über Sprache[28] in Verbindung setzen (vgl. ebd. S.146). Es kann also von einer „Text-Leser-Interaktion“ (ebd. S.146) ausgegangen werden.
Bei dieser Interaktion können zwei Prozesse voneinander unterschieden werden (entn. aus Christmann & Groeben, 2006, S.147 und Schründer-Lenzen 2007, S. 87):
1. textgeleitete „aufsteigende“ Prozesse (bottom up: von der Textinformation zum rezipierten Wissen) Ausgangspunkt bilden die für den Leseprozess basalen Prozesse wie der Wortaufbau.
2. Konzept- bzw. erwartungsgeleitete Prozesse (top down: vom Vorwissen zum konkreten Textverständnis)
Um das Lesen und Textverstehen zu beschreiben, wird meist auf Modelle zurück- gegriffen, die hierarchisch aufgebaut sind (vgl. Richter & Christmann 2002, S.27).[29] Grundannahme ist, dass sich das Lesen auf unterschiedlichen Ebenen vollzieht (vgl. Schenk 1997 S.12, Wrobel 2008, S.15).
Folgende drei Ebenen lassen sich dabei im Leseprozess unterscheiden (entn. aus: Schründer-Lenzen 2007, S.87 und Scheerer-Neumann & Hofmann 2005, S.45):
1. Wortebene: Ebene der Buchstaben- und Worterkennung mit basalen analyti- schen und synthetischen Teilprozessen (rekodieren/ dekodieren)
2. Satzebene: semantische Analyse von Wortfolgen, Aufbau einer propositionalen Textrepräsentation, lokale Kohärenzbildung, Textbasis, Mikrostruktur
3. Textebene: globale Kohärenzbildung (satzübergreifend) Bildung von Makropo- sitionen, mentales Modell, Situationsmodell, Makrostruktur
Dabei wird das Verhältnis der Ebenen zueinander unterschiedlich dargestellt. Es lässt sich zwischen modularen und interaktionistischen Modellen unterscheiden (vgl. Schründer-Lenzen S.87; vgl. Richter & Christmann, 2002, S.28), wobei in der Lite- ratur vorwiegend von einem interaktionistischen Verhältnis der Ebenen zueinander ausgegangen wird (vgl. Schründer-Lenzen 2007, S.88). Die Ebenen erfolgen dieser Annahme nach nicht nacheinander, sondern basale und hierarchiehöhere Ebenen[30] werden „parallel oder in zeitlicher Überlappung durchlaufen” (Richter & Christ- mann 2002, S.28; vgl. auch Christmann & Groeben 2006, S.147, Schründer-Lenzen 2007 S.88). Untere Ebenen müssen also nicht zwingend abgeschlossen sein, um zur nächsten Ebene aufsteigen zu können (vgl. Richter & Christmann 2002, S.28).
3.2.2 Der Leseprozess und seine Einflussfaktoren
Der Leseprozess vollzieht sich also auf unterschiedlichen Ebenen. Die Lesekompe- tenz der Schülerinnen und Schüler ist dabei, wie die Abbildung verdeutlicht, von vier Bereichen abhängig:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung entnommen aus: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 2007, S.12) Diese vier Determinanten können dahingehend unterschieden werden, ob sie leser- oder textbezogen sind (vgl. BMBF 2007, S.13). Sie beeinflussen sich dabei gegen- seitig und stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis (vgl. ebd. S.13). Ist ein Text bei- spielsweise zu schwer oder provoziert einen Strategieeinsatz nicht in ausreichendem Maße, wird der Leser bzw. die Leserin metakognitive Strategien nicht einsetzen (vgl. ebd. S.13; vgl. Kap. 6.4.1). Die Aktivität des Lesenden ist also neben den indi- viduellen Voraussetzungen für das Lesen, auch von dem jeweiligen Textniveau und der Textart abhängig (vgl. ebd. S.13).[31]
Im Folgenden soll der Fokus auf den Merkmale des Lesers bzw. der Leserin liegen, da dadurch individuelle Unterschiede sichtbar werden. Zunächst sollen jedoch die drei Bereiche Leseanforderungen, Beschaffenheit des Textes und Aktivitäten des Lesers/ der Leserin behandelt werden, auf die aus Platzgründen jedoch nur kurz ein- gegangen werden kann.[32]
3.2.2.1 Leseanforderungen
Die Leseanforderung ist abhängig von der Textsorte (literarische/informierende Tex- te[33]), dem Schwierigkeitsniveau des Textes, dem Leseziel und der Leseintention die verfolgt wird (vgl. BMBF 2007, S.20). Der Leser bzw. die Leserin muss sein/ihr Lesen also immer an den jeweiligen Text und die jeweilige Intention anpassen, d.h. er bzw. sie muss adaptiv lesen (vgl. ebd. S.20).
3.2.2.2 Beschaffenheit des Textes
Die Art des Textes kann den Aufbau des Situationsmodells (vgl. Kap.3.2.2.4.1) un- terstützen (vgl. Richter & Christmann 2002, S.32). Die Aktivierung von Vorwissen, beispielsweise durch einen Metakommentar vor dem Text erleichtert das Verstehen (vgl. BMBF 2007, S.28)[34]. Leserinnen und Leser wissen dann schon, worum es in dem jeweiligen Text geht, das heißt, sie haben bereits Erwartungen und können die Textinformation somit besser mit ihrem Vorwissen verbinden (vgl. ebd. S.28).
Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, einen Text an den Leser bzw. die Leserin anzupassen, wodurch man den individuellen Fähigkeiten der Kinder gerechter wer- den kann. Ein sehr kohärenter Text ist beispielsweise für schwache Leserinnen und Leser entlastend, wohingegen er starke unterfordert und hierarchiehöhere Prozesse nicht ermöglicht bzw. nicht erforderlich macht (vgl. ebd. S.28-29). Wenn ein Text verändert wird muss also immer das lesende Kind und sein spezifisches Können beachtet werden.
3.2.2.3 Aktivität des Lesers
Hierzu zählen kognitive und metakognitive Lesestrategien[35] (vgl. Kap. 6.4.1). Bei guten Leserinnen und Lesern ist Lesen ein bewusster, aktiver Prozess (vgl. Gold 2005, S.15):
Sie lesen einen Text unter bestimmten Lesezielen, wählen aus einem Repertoire verstehens- und behaltensfördernder Strategien geeignete aus und setzen diese si- tuationsangemessen ein, sie aktivieren ihr Vorwissen, sie überwachen, regulieren und überprüfen ihren Leseprozess und vergleichen das Lernergebnis mit ihrem Leseziel. (Rühl 2005, S.32-33)
Kompetente Leser und Leserinnen kennen also nicht nur die kognitiven und meta- kognitiven Strategien sondern können sie auch passend einsetzen, da sie ihre Wirk- samkeit einschätzen können (vgl. Gold 2007, S.52).
Weniger kompetente Leserinnen und Leser verfahren dagegen passiv (vgl. Rühl 2005, S.33): Sie lesen einzelne Wörter ohne deren Zusammenhang zu erkennen (vgl. ebd. S.33; vgl. Gold 2005, S.14). Die daraus resultierenden Verstehensprobleme erkennen sie nicht, da sie ihren Leseprozess nicht durch metakognitive Strategien überwachen (vgl. Rühl 2005, S.33)[36].
3.2.2.4 Merkmale des Lesers/ der Leserin und daraus resultierende Unterschiede
Im Folgenden wird der Merkmalsbereich des Lesers bzw. der Leserin beschrieben. Die jeweiligen Teilgebiete können bei den einzelnen Kindern unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Und auch innerhalb der Klasse werden sich Schülerinnen und Schü- ler darin unterschieden, wie sehr die einzelnen Merkmalsbereiche bereits vorhanden und ausgeprägt sind. Um alle Kinder individuell fördern zu können, ist es daher wichtig, Unterschiede zwischen starken und schwachen Leserinnen und Lesern auf- zuzeigen.
3.2.2.4.1 Vorwissen
Um einen Text verstehen zu können, müssen Leserinnen und Leser Kohärenz hers- tellen.[37] Verbinden Leserinnen und Leser das Gelesene mit ihrem Vorwissen, bauen sie ein Situationsmodell (Hervorheb. im Orig. van Dijk und Kintsch (1983) zit. n. BMB 2007, S. 14) des Textes auf.
[...]
[1] Vgl. u.a. Hurrelmann, 2007 S.19, Wrobel 2008, S.7
[2] Im Folgenden wird die Kurzform IGLU verwendet.
[3] Sie beeinflusst die Leistung in allen Schulfächern, da Informationen vielfach über Texte vermittelt werden (Schiefele et al. 2004, S.9-10 vgl. auch Schenk 1997, S.38 und Wrobel 2008, S.13).
[4] Vgl. Bertschi-Kaufmann 2007, S.8; Schenk 1997, S.36, BMBF 2007, S.6 u.v.m.
[5] Jungen finden sich in dieser Grppe häufiger (vgl. Hornberg et al. 2007b, S.198). Eine Aufführung, welche Basisfähigkeiten für das Lesen gegeben sein müssen findet sich bei Kunze 1996, S.159 Jun- gen finden sich in dieser Grppe häufiger (vgl. Hornberg et al. 2007b, S.198)
[6] Hierzu zählen „erlebnisorientierte Leseanimationsprojekte“ (Kruse 2007, S.177) in denen die Kin- der das Lesen erfahren (Lesenacht, Lesewettbewerb, Autorenlesungen etc.) Diese Animartionspraxis rief jedoch auch Kritik hervor, die eine Vernachlässigung der genauen Lesearbeit am Text zugunst der „Event-Kultur“ (entn. aus Kruse, S.178, nachzulesen bei Paefgen 2006, S.137-138)
[7] Die Möglichkeit ergänzender Stunden soll damit aber nicht dogamtisch von vornherein ausge- schlossen werden.
[8] Allerdings zählen nur 10,8 Prozent der Viertklässler zu den Spitzenlesern, was ein unbefriedigendes Ergebnis darstellt (Bos 2007d, S.9)
[9] Mädchen erreichen 6% mehr als in IGLU 2001, Jungen 11%
[10] Diejenigen Jungen und Mädchen, welche die Kompetenzstufe III nicht erreicht haben.
[11] In allen Staaten weisen Mädchen bezüglich der Leseleistung bessere Werte auf als Jungen. Dies verstärkt sich in der Sekundarstufe sogar noch (vgl. Honrberg et al. 2007b, S. 208). Jungen sind in der Risikogruppe auch in anderen Schulleistungsstudien deutlich überrepräsentiert (vgl. Artelt et al. 2001, S.117)
[12] Nur in Norwegen fällt diese Differenz größer aus. Auch der Unterschied zu den Ergebnissen von 2001 ist relativ klein (vgl. Schwippert et al. 2007, S.266).
[13] Diese Unterschiede werden auch an den Schullaufbahnpräferenzen deutlich (vgl. Bos et al. 2007d, S.25).
[14] Die bereits in der Grundschule vorhandenen Disparitäten verstärken sich im Sekundarbereich (vgl. Bos et al. 2007d, S.27).
[15]Beispielsweise durch eine Einteilung in Jahrgangsklassen, Sitzenbleiben, Zurückstellung bei Schul- eintritt und durch das dreigliedrige Schulsystem (vgl. Brügelmann 2002, S.33; vgl. Lehberger & Sandfuchs 2008, S.12; vgl. Schneider 2008, S.18).
[16] Im Zusammenhang mit der Anerkennung der Heterogenität der Schülerschaft und der Anforderung der individuellen Förderung jedes Schülers bzw. jeder Schülerin ergibt sich auch ein neues „Lehrer- leitbild” (Lehberger & Sandfuchs 2008, S.16). Um den vielfältigen Anforderungen gerecht werden zu können müssen Lehrkräfte vermehrt zusammen arbeiten und schulischen Arbeitsteilung betreiben (vgl. ebd. S.16). Der Bildungspolitik muss Lehrkräfte durch zusätzliches Personal und materielle Ressourcen unterstützen (vgl. ebd. S.16-17).
[17]Anstatt eine selektive Praxis des Sitzenbleibens zu verfolgen, zeichnet sich die neue Schulein- gangsphase durch eine fleible Verweildauer von ein bis drei Jahren aus. Schülerinnen und Schülern wird also unterschiedlich viel Zeit zugestanden um die ersten beiden Klassen zu durchlaufen (vgl. §11 des SchulG NRW). Der Heterogenität wird also nicht von vornherein in dem Bemühen einer Homogenisieriung reduziert, sondern zunehmend zugelassen und sogar noch erhöht.
[18] ergänzend: (Gobbin-Claussen, 2005, S.16); vgl. Petersen zit. nach Graumann, 2002 S.150)
[19] vgl. näher dazu Petersen 1927.
[20] Zu Vorteilen einer Jahrgangsmischung von der ersten bis vierten Klasse vgl. Heilmann 2005, S.55.
[21] Proramme for International Student Assessment (PISA)
[22]Deutschland weist in beiden Verstehensleistungen 2006 signifikant höhere Leistungen auf, wobei die Werte für textimmanente Verstehensleistungen höher ausfallen (vgl. Bos et al. 2007b, S.143).
[23]In Deutschland wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen informierenden und literari- schen Texten festgestellt (vgl. Bos et al. 2007b, S.121).
[24]Bedeutsame Prädikatoren der Leseleistung nach PISA (vgl. Artelt et al. 2001, S.127-131) sind die kognitive Grundfähigkeit, das Lernstrategiewissen, die Dekodierfähigkeit und das Leseinteresse.
[25] Die motivationale Komponente der Lesekompetenz wird daher in IGLU auch betrachtet (vgl. Lan- kes & Carstensen 2007, S.201).
[26] Wrobel (2008) führt auf, dass die Begrifflichkeiten Leseverständnis und Textverständnis nicht eindeutig voneinander abgegrenzt sind. Genauer zu den Begrifflichkeiten und zum Lese- und Text- verständnis vgl. S. 63 und 72.
[27]Ein Modell des Textverstehens findet sich bei Kintsch und van Dijk (1983) (Richter, Christmann, 2002, S.48). Schnotz und Dutke (2004) beziehen auch das Bild- und Diagrammverstehen mit in die Überlegungen ein, da dies im Zuge der neuen Medien zunehmend wichtiger wird. Die Verbindungen von Bild und Text, fordern vom Leser andere Verstehensleistungen und bewirken neue Kohärenzbil- dungen. Schnotz und Dutke (2004) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen intrarepräsio- naler (Kohärenzbildung innerhalb eines Mediums), und interrepräsionaler Kohärenzbil- dung,(Kohärenz zwischen zwei oder mehreren Medien) (vgl.S.64). Näher zum Diagramm- und Bild- verstehen vgl. S.64; S.74-75.
[28]Genauer zum sprachlich-prozeduralen Können vgl. Christmann & Groeben 2006, S.146.
[29] So ein Modell ist beispielsweise das von van Dijk und Kintsch (1983), welches in der Literatur vielfach herangezogen wird (vgl. Richter & Christmann 2002, S.27 und Streblow 2004, S.277).
[30] Es wird zwischen hierarchieniedrigen (sie umfassen die automatisierten Vorgänge beim Lesen (wie den Aufbau einer propositionalen Textrepräsentation und die lokale Kohärenzbildung ) und hierarchiehöheren Prozessen (globale Kohärenzbildung, Superstrukturen und rhetorische Strukturen) unterschieden (vgl. Richter & Christmann, S.30-31).
[31] Zu Wechselwirkungen zwischen Text-, Leser- und Aufgabenmerkmalen existieren eine Vielzahl von Arbeiten (vgl. BMBF 2007, S.13).
[32] Vertiefend vgl. BMBF (2007): Leseanforderungen: S.20-23; Beschaffenheit des Textes: S. 23-29; Aktivität des Leser bzw. der Leserin: S.29-32.
[33] Sachtexte und literarische Texten unterscheiden sich in der Art des Lesens, die angewandt wird (vgl. Wrobel 2008, S.13). So dient das Lesen von Sachtexten primär der Wissensvermittlung bzw. Informationsentnahme, wohingegen literarische Texte ästherische Erfahrungen zulassen (vgl. Wrobel 2008, S.13; Rosenbrock 2007, S.54).
[34]Weitere förderliche Bedingungen sind nachzulesen in BMBF 2007, S. 26-27.
[35] Metakognitive Kontrolle beinhaltet die Planung, Überwachung und Regulation des Leseprozesses (vgl. BMBF 2007, S.30).
[36]Auf eine detaillierte Darstellung der kognitionspsychologischen Studien zu den einzelnen Berei- chen muss an dieser Stelle aus Platzgründen verzichtet werden, Ich verweise auf Richter & Christ- mann 2002 und Christmann & Groeben 2006.
[37]Bei einfachen Texten müssen Leserinnen und Leser aufeinanderfolgende Sätze in Beziehung zuei- nander setzen (lokale Kohärenzbildung vgl. Schnotz & Dutke 2004, S.63-64; Richter & Christmann 2002, S.30-31; Streblow 2004, S.277). Handelt es sich um einen komplexeren Text müssen sie meh- rere Textabschnitte sinnhaft aufeinander beziehen (globale Kohärenz) (vgl. ebd.). Das durch die glo- bale Kohärenzbildung entstandene Endprodukt des Lesens (Makrostruktur) wird länger behalten und kann durch den Textaufbau unterstützt werden (vgl. Richter & Christmann 2002, S.32; vgl. Kap. 3.2.2.2). .
- Arbeit zitieren
- Daniela Schüller (Autor:in), 2008, Individuelle Leseförderung in heterogenen Lerngruppen der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123538
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