Die Begleitung von Menschen mit Demenz wird zu einer der größten Herausforderungen für die Sozial- und Gesundheitssysteme der Zukunft, nicht nur in Deutschland. Während hierzulande die öffentliche Diskussion über viele Jahre nahezu ausschließlich von der Medizin geprägt wurde (vgl. Wetzstein, 2005: 12) und zu einem naturwissenschaftlichen Demenzkonzept führte (vgl. Wetzstein: 15), sind die Grenzen dieser Betrachtung nicht zu übersehen. Alternative Ansätze, die ein anderes Menschenbild und daraus folgernd ein erweitertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit beinhalten, sind gefordert. Eine besondere Bedeutung bei dem sich abzeichnenden Paradigmenwechsel kommt dabei, auf unterschiedlichen Ebenen, der Profession Pflege zu. Grundvoraussetzungen (vgl. Remmers, 2004/1: 4) sind Sachkompetenz, im Sinne einer Beherrschung wissenschaftlich fundierten Wissens sowie soziale und persönlichkeitsbezogene Kompetenzen. Eine wachsende Aufmerksamkeit (vgl. ebd.) bekommt die Fähigkeit der ethischen Urteilsbildung, wenn es darum geht, nicht nur sachbezogene, sondern auch sinnbezogene Entscheidungen zu treffen. Die Frage nach dem „guten und richtigen“ Handeln im beruflichen Alltag (vgl. Höffe, 1997, S. 66), in ganz konkreten zwischenmenschlichen Situationen beinhaltet immer auch eine moralische Dimension (vgl. Fahr, 2006: 31). Dieser muss bei der Beurteilung und Entwicklung von Konzepten zur Begleitung von Menschen mit Demenz zentrales Interesses zukommen.
In dieser Arbeit werden, ausgehend von der Praxis, ethischen Anforderungen an die Begleitung von Menschen mit Demenz formuliert. Darauf aufbauend wird ein Untersuchungsinstrument zur Evaluation von diesbezüglichen Konzepten entwickelt. Exemplarisch werden die beiden Ansätze, die in Deutschland die größte Verbreitung finden, die Validation nach Feil und das Psychobiographische Pflegemodell nach Böhm, untersucht und bewertet. Entgegen den, durch die Akzeptanz in der Praxis geweckten Erwartungen, wird im Ergebnis deutlich, dass beide Konzepte sowohl aus wissenschaftlicher, als auch aus moralphilosophischer Sicht sehr fragwürdig sind.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
1 Ausgangslage
2 Menschenbilder in der Begleitung von Menschen mit Demenz
3 Das naturwissenschaftlich – medizinische Menschenbild in der Begleitung von Menschen mit Demenz
4 Pflegepraxis
4.1 Praxisbeispiele
4.2 Diskussion der Praxisbeispiele
4.3 Fazit
5 Grundlagen einer ethischen Reflexion für die Begleitung von Menschen mit Demenz
5.1 Zum Stand der ethischen Diskussion in der Begleitung von Menschen mit Demenz
5.2 Fürsorge als Leitgedanke für die Begleitung von Menschen mit Demenz
5.2.1 Fürsorgebegründete Anforderungen an die praktische Begleitung von Menschen mit Demenz
5.3 Autonomie als Leitgedanke für die Begleitung von Menschen mit Demenz
5.3.1 Autonomiebegründete Anforderungen an die praktische Begleitung von Menschen mit Demenz
5.4 Verantwortung als Leitgedanke für die Begleitung von Menschen mit Demenz
5.4.1 Verantwortlichkeitsbegründete Anforderungen an die praktische Begleitung von Menschen mit Demenz
5.5 Zusammenfassung
6 Grundlagen der Konzeptevaluation
6.1 Entwicklung und Begründung eines Untersuchungs- instrumentes für die Evaluation von Konzepten in der Begleitung von Menschen mit Demenz
7 Konzeptauswahl und Begründung
8 Validation nach Feil
8.1 Ursprung und theoretischer Hintergrund
8.2 Zentrale Aussagen
8.2.1 Zusammenfassung der zentralen Aussagen
8.3 Menschenbild und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit
8.3.1 Quellenkritik
8.3.2 Inhaltliche Kritik
8.4 Philosophische Ausrichtung und ethische Positionen
8.5 Anforderungsprofil
8.6 Zusammenfassung
9 Das psychobiographische Pflegemodell nach Böhm
9.1 Ursprung und theoretischer Hintergrund
9.2 Zentrale Aussagen
9.2.1 Zusammenfassung der zentralen Aussagen
9.2.2 Kritik
9.3 Menschenbild und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit
9.4 Philosophische Ausrichtung und ethische Positionen
9.5 Anforderungsprofil
9.6 Zusammenfassung
10 Diskussion und Vergleich
10.1 Theoretische Haltbarkeit
10.2 Praktische Brauchbarkeit
11 Zusammenfassung
12 Ausblick
12.1 Persönliche Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Anhang 1 Zusammenfassung Studie Ergebnisqualität
Anhang 2 Zur Diskussion: Überlegungen zu einem neuen Verständnis von demenziellen Verhaltensweisen
Abstract
Vorwort
„Demente Menschen, für die das Leben der Emotionen oft intensiv und ohne die üblichen Hemmungen verläuft, haben dem Rest der Menschheit unter Umständen etwas Wichtiges zu lehren. Sie bitten uns sozusagen, den Riß im Erleben, den die westliche Kultur hervorgerufen hat, zu heilen und laden uns ein, zu Aspekten unseres Seins zurückzukehren, die in evolutionärem Sinne viel älter sind, stärker mit dem Körper und seinen Funktionen im Einklang stehen und dem Leben aus dem Instinkt heraus näher sind..“ (Kitwood, 2005: 23)
Dieser Aussage von Tom Kitwood schließe ich mich an. Die Begleitung von Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen und Professionellen war und ist für mich eine Bereicherung. Sie lässt keinen Stillstand zu und eröffnet ständig neue Perspektiven des Mensch - Seins, die in einer normierten Welt zu kurz kommen. Das Leben im Augenblick lässt keine Verstellung, keine Konzessionen an implizite Regeln und Erwartungen zu. Es ist ganz einfach ehrlich, kongruent und emotional. Wenn wir die Chance wahrnehmen, situativ daran teilzunehmen, uns darauf einlassen und den ein oder anderen Schritt mitgehen, eröffnen sich auch Perspektiven für die eigene Reflektion. Voraussetzung dafür ist eine professionelle Gelassenheit mit der Bereitschaft, das eigene Verhalten, die eigene Haltung immer wieder in Frage zu stellen.
Mein Dank gilt Frau Prof. Dr. Großklauß-Seidel und Herrn Prof. Dr. Michael Schilder, die es auf sich genommen haben, mich zum zweiten Mal bei einer wissenschaftlichen Arbeit zu begleiten. Nicole Peter hat dazu beigetragen, dass stilistische Unebenheiten und Rechtschreibefehler minimiert wurden. Sollten dennoch welche auftreten, so liegt dies am Verfasser und nicht an ihr. Jürgen Georg und dem Huber Verlag gilt mein Dank für die Hilfe bei der Literaturrecherche und Beschaffung. Michael Herrmann für seine Übersetzungshilfen. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner Familie, sie hat mich über drei Monate nur zu den Mahlzeiten gesehen und selbst dort war ich nur körperlich präsent.
Einleitung
Professionelles Handeln in personenbezogenen Dienstleistungsberufen wie der Pflege wird durch bestimmte Kompetenzmerkmale gekennzeichnet (vgl. Remmers, 2004/1: 4). Dazu gehört einerseits die Sachkompetenz, im Sinne einer Beherrschung wissenschaftlich fundierten Wissens, andererseits aber auch soziale und persönlichkeitsbezogene Kompetenzen. Eine wachsende Aufmerksamkeit (vgl. ebd.) bekommt die Fähigkeit der ethischen Urteilsbildung, wenn es darum geht, nicht nur sachbezogene, sondern auch sinnbezogene Entscheidungen zu treffen.
Die Frage nach dem „guten und richtigen“ Handeln im beruflichen Alltag (vgl. Höffe, 1997: 66), in der Gestaltung therapeutischer Beziehungen und in ganz konkreten zwischenmenschlichen Situationen beinhaltet immer auch eine moralische Dimension (vgl. Fahr, 2006: 31). Die Bedeutung einer ethischen Reflektion des Denkens und Handelns steigt mit dem Grad der Abhängigkeit der Hilfebedürftigen und dem damit verbundenen Machgefälle in der Helfer - Klientenbeziehung. In der Begleitung von Menschen mit Demenz, die in der Regel durch zunehmende Abhängigkeit der Betroffenen, ohne dass diese als solche von ihnen selbst wahrgenommen wird, gekennzeichnet ist, bekommt der „ethische Blickwinkel“ (v.d.Arend, 1998: 16) eine besondere Bedeutung. Helfende treffen auf Hilfebedürftige, deren Selbstwahrnehmung diametral zur Fremdwahrnehmung steht. Die Ersten sehen einen Menschen, der in allen Lebensaktivitäten auf Hilfe angewiesen ist, die anderen erleben sich als jung, gesund, leistungsfähig und kompetent (vgl. Wojnar, 2001/2). Hilfsangebote werden nicht als solche verstanden und wahrgenommen, als bedrohlich erlebt und nicht selten auch massiv abgewehrt. Unterschiedliche Interessen, Vorstellungen und Erwartungen treffen aufeinander und konkurrieren miteinander. Sie betreffen nicht nur die direkte Pflege – Klient – Beziehung sondern beinhalten vielfältige und allzu häufig auch in sich widersprüchliche Dimensionen. Dazu gehören u.a. gesellschaftliche Vorstellungen, rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen, individuelle Erwartungen von Angehörigen und BetreuerInnen sowie Anforderungen anderer Berufsgruppen. Nicht zuletzt bestehen auch große Unterschiede in Bezug auf Kenntnisse, Einstellungen und Haltungen bei den beruflich Pflegenden, in der Betrachtung von dem, was in der Begleitung von Menschen mit Demenz gut und richtig ist. Letzteres wird auch dadurch verstärkt, dass die Mehrzahl derer, die im stationären Bereich in der Begleitung von Menschen mit Demenz tätig sind, in Folge der Heimpersonalverordnung (HeimPersV, 1993/1998), noch nicht einmal über eine pflegerische, geschweige denn eine zielgruppenspezifische, gerontopsychiatrische Ausbildung verfügt.
Fehlendes fachliches Wissen wird durch Lebenserfahrung, Routine und subjektive Theorien kompensiert. Die Orientierung auf die körperliche Pflege oder hauswirtschaftliche Tätigkeiten (vgl. Schilder, 2007: 122f), als sichtbare, dokumentierbare und damit abrechenbare Leistungen tritt in den Vordergrund und bestimmt den Alltag. Subjektives Wissen und Alltagstheorien treffen auf vielfältige, teilweise widersprüchliche, theoretische Ansätze und Konzepte, die dann, oft sehr verkürzt, in der Aus-, Fort- und Weiterbildung vermittelt werden und zu Verunsicherungen und Widerständen führen. In der Praxis werden diese Ansätze dann, reduziert auf pragmatische und öffentlichkeitswirksame Elemente (vgl. Meyer, 2005/1) und bestenfalls fragmentarisch umgesetzt, wie nachfolgende Beispiele verdeutlichen.
- Das zentrale Qualitätsmanagement eines großen Pflegekonzerns bestimmt, dass montags und mittwochs in seinen 21 stationären Einrichtungen von 14.00 bis 16.00 Uhr Validation im Speisesaal stattzufinden hat.
- Die „Umsetzung“ des psychobiographischen Modells nach Böhm (2004) besteht darin, dass die Einrichtung mit Mobiliar aus den sechziger Jahren ausgestattet wurde.
- Kitwoods (2000) personenzentrierter Ansatz, nach dem 16 Einrichtungen eines Unternehmens der stationären Altenhilfe (laut Informationsbroschüre) arbeiten, begrenzt sich darauf, dass in jedem Heim eine Mitarbeiterin zwar im DCM – Verfahren geschult wurde, aber keine zeitlichen Ressourcen für die Umsetzung zur Verfügung stehen.
In vielen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen, in Gesprächen mit PraktikerInnen und Beobachtungen in der Praxis wird deutlich, dass neben unzureichenden organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen (vgl. Edberg, 2005; Wolf, 2008), insbesondere das Berufsverständnis und der berufliche Wertekonsens einer Umsetzung im Wege stehen.
Hier sind besonders auch die Verantwortlichen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung gefordert, nicht nur die „technischen“ Aspekte der Konzepte zu vermitteln, sondern insbesondere die zugrunde liegenden Philosophien in den Vordergrund zu stellen.
Mit dieser Arbeit will ich:
- Lehrenden und Lernenden die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen, insbesondere aus ethischer Sicht, erleichtern.
- dazu beitragen, die Begleitung demenziell erkrankter Menschen einer multiperspektiven Sichtweise und dazu gehört unabdingbar auch der „ethische Blickwinkel“ (Klie, 2004: 54), zu zuführen.
- eine Hilfestellung für Unterricht und Praxis anbieten, indem ein Untersuchungsinstrument für die Evaluation von Konzepte zur Begleitung demenziell erkrankter Menschen vorgestellt und
- exemplarisch zwei Konzepte (Feil und Böhm) danach evaluiert werden.
Im Zentrum der Betrachtung steht dabei das in den Konzepten zur Begleitung von Menschen mit Demenz zugrunde liegende Menschenbild, das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und damit verbundenen Aussagen zur Ethik, welche die Haltung und damit die Handlungen in der Begleitung demenziell erkrankter Menschen maßgeblich beeinflussen.
- Ausgehend von wesentlichen Aspekten einer alternden Gesellschaft, mit einem steigenden Anteil von Menschen mit Demenz, wird auf die sich daraus ergebenden Herausforderungen eingegangen. Näher betrachtet wird das Deutungsmonopol der Medizin, seine Auswirkungen und der seit einigen Jahren sich abzeichnende Paradigmawechsel in der Diskussion zur Thematik Demenz.
- Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zu Menschenbildern in der Begleitung demenziell erkrankter Menschen folgt im dritten Abschnitt eine Auseinandersetzung mit dem, in Medizin und Pflege vorherrschenden, naturwissen- schaftlich – medizinischen Menschenbild und dem darin beinhalteten Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Deren Auswirkungen werden an exemplarischen Beispielen aus der beruflichen Praxis der ambulanten und stationären Altenhilfe im vierten Abschnitt dargestellt und diskutiert. Auf eine tiefergehende und intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Menschenbildern und Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit wird hier verzichtet. Eine grundlegende Diskussion würde den Rahmen der Arbeit sprengen, stattdessen wird dort auf die entsprechende Literatur verwiesen.
- Im fünften Abschnitt werden allgemeine Grundlagen für eine ethische Reflexion in der Begleitung von Menschen mit Demenz und die daraus sich ergebenden Anforderungen beschrieben und der aktuelle Stand der ethischen Diskussion in der Begleitung demenziell erkrankter Menschen dargestellt. Zentrale Begriffe, Fürsorge, Autonomie und Verantwortung werden dabei vertieft.
- Im sechsten Kapitel wird, basierend auf pflegetheoretischen Aussagen zur Evaluation von Konzepten, ein Analyseinstrument entwickelt und vorgestellt.
- Es folgt (7. Kapitel) die Begründung für die Auswahl der exemplarisch evaluierten Konzepte.
- Diese werden im Anschluss daran (Kap. 8 und 9) nach dem zuvor entwickelten Raster evaluiert und (10. Kap.) vergleichend diskutiert.
In dieser Arbeit wird „Demenz“ als übergeordnete Bezeichnung (vgl. Großjohann, 2004: 11; Kreutzner, 2005: 15; Wojnar, 2007: 8) für eine breite Gruppe von, mit komplexen kognitiven, sozialen, emotionalen und psycho- motorischen Einschränkungen (vgl. ebd.) einhergehenden Veränderungen im Alter verwandt. Eine Differenzierung in unterschiedliche Formen (primär, vaskulär u.ä.) erfolgt nicht. Dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen und der Praxis wenig Nutzen bringen, zumal auch dort eine Differenzierung (vgl. Haarhaus, 2005: 204) kaum stattfindet.
In Übereinstimmung mit Maciejewski, u.a. (2001: 9 f) wird in dieser Arbeit der Begriff Begleitung anstelle von Pflege, Betreuung, Förderung u.ä. verwandt. Statt PatientIn, BewohnerIn, KundIn oder Zu - Betreuende wird der Begriff Klient bzw. Klientin gewählt, Ausnahmen bestehen dort, wo Beispiele aus der Praxis wörtlich wiedergegeben werden. Grundsätzlich wird von „Menschen mit Demenz“ gesprochen (Ausnahmen s. o.), um auch durch den Sprach- gebrauch deutlich zu machen, dass nicht die „Krankheit“ sondern der Mensch im Vordergrund (vgl. ebd.) steht.
Die unterschiedlichen Ansätze werden, in Anlehnung an Schischkoff (1991: 395) und Chinn u.a. (1996: 64) einheitlich als Konzepte bezeichnet, auch wenn einige Autoren (u.a. Böhm, 2004; Brooker, 2008) explizit von „Pflegemodellen“ sprechen. Diskutiert werden könnte auch, ob einige Konzepte als Modelle oder Theorien mit mittlerer Reichweite bezeichnet werden könnten (vgl. Müller, 2003: 20). Diese Diskussion würde aber in dieser Arbeit zu weit führen, zumal auch Moers u.a. (vgl. 1997: 284) darauf hinweisen, dass deutliche Unterschiede im Verständnis der Begriffe Modell und Theorie zwischen dem mitteleuropäischen und nordamerikanischen Sprachraum bestehen. In Übereinstimmung mit Meleis (1997: 29f) wird daher hier auf eine diesbezügliche Debatte verzichtet.
Die in dieser Arbeit aufgeführten Fallbeispiele stammen aus der Praxis der ambulanten und stationären Altenhilfe im Zeitraum von 2004 bis 2007 und wurden inhaltlich identisch übernommen. Aus Gründen des Datenschutzes wurden personenbezogene Merkmale soweit verändert, dass ein Wieder erkennen der genannten Personen ausgeschlossen werden kann.
1 Ausgangslage
„Das Altern gehört zu den Grundverfasstheiten des Lebens“ (Wetzstein, 2005: 9), allerdings wurden noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele Menschen so alt, wie heute (vgl. ebd.). Der demographische Wandel unserer Gesellschaft geht einher mit einem deutlich ansteigenden Anteil alter und hochalter Menschen. Als hochalt werden hier, in Anlehnung an Tews (1996: 2), die über 80 jährigen bezeichnet. In Deutschland sind aktuell insgesamt ca. 21 Millionen Menschen älter als 60, davon sind rund sechs Millionen hochalt (vgl. DZA Gerostat, 20.04.2008). Mit zunehmendem Alter und den damit verbundenen Abbauprozessen steigen auch die gesundheitlichen Probleme (vgl. Tews, 1996: 4; Großjohann, 2004: 11). Dabei nimmt auch das Risiko an einer Demenz zu erkranken und pflegebedürftig zu werden (vgl. DZA Gerostat, 20.04.2008) überproportional zu.
In der Altersgruppe der 60 - 70 jährigen liegt der Anteil demenziell Erkrankter bei ca. 5-6%, steigt bei den 70 – 79 jährigen auf 8-10%, in der nachfolgenden Dekade auf 20-25% und bei den über 90 jährigen ist mehr als jeder Dritte, ca. 35%.(ebd.), betroffen. Insbesondere der Anteil derer, die an der Demenz vom Alzheimertyp erkranken, nimmt kontinuierlich und überproportional zu. Während zurzeit ca. 1,33 Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind, wird sich die Zahl der Erkrankten bis 2050 auf vier Millionen erhöhen (vgl. Beyreuther, 2008).
Bereits 1983 bezeichnet Thomas die Demenz als „Jahrhundertkrankheit“ (Thomas, zit. von Wetzstein, 2005: 11), Bergmann (2002) bezeichnet sie als „Alterserkrankung der Zukunft“ (ebd.) und Förstl (2008) spricht von einer „modernen Volkskrankheit.“ Andere sprechen von einer „häufigen Daseinsform“ (Tackenberger, Abt – Zegelin, 2004: 293), einem „Merkmal der industrialisierten Gesellschaften“ (Kitwood, 2005: 17), einer „Zivilisation zweiter Ordnung“ (Klie, 2004: 61) oder bezeichnen sie als „soziale Schwellenkrankheit“ (Grond, 2004: 44).
Demenz wird vornehmlich als „Tod bei lebendigem Leibe“ (Morris, 2000: 164) oder Leben „in einer verlorenen Welt“ (Wolf, 2004: 19) wahrgenommen. Demenzkranke werden zu „Trägern einer organischen Hirnerkrankung“ (Kitwood, 2005: 25), oder auf „doch nicht mehr begreifende Verwirrte und Irre“ (Fuhrmann, 2004: 101) reduziert, denen „die Fähigkeit zu leiden und sich zu freuen“ (ebd.: 73) abgesprochen und deren Recht auf Leben in Frage gestellt werden darf (vgl. Singer, 1988: 142). So wird u.a. in den Niederlanden diskutiert, ob mit der Diagnose Demenz auch das „Recht auf Sterbehilfe“ (van der Kooij, 2004: 63) beansprucht werden kann.
Die öffentliche Diskussion zum Thema Demenz wird „nahezu ausschließlich von medizinischen Aussagen und Forschungsergebnissen“ (Wetzstein, 2005: 12) geprägt. Der Medizin wird die „Deutungskompetenz“ (ebd.: 14) zugeschrieben und ein „durch naturwissenschaftliche Charakteristika bestimmtes Demenz – Konzept“ (ebd.: 15) zugrunde gelegt. Da die meisten demenziellen Erkrankungen einer kausalen, medizinischen Therapie nicht zugänglich sind (vgl. u.a. Großjohann, 2004: 11; Schröder, 2004: 26; Wojnar, 2007: 42, Synofzik/Maetzler, 2007: 270), ergibt sich daraus die Gefahr, dass andere Betrachtungsweisen unterrepräsentiert sind, kaum wahrgenommen werden und selbst in professionellen Kreisen nicht ausreichend zur Geltung kommen (vgl. Wetzstein: 16).
Dies wird auch durch die eigenen beruflichen Erfahrungen in der psychiatrischen und gerontopsychiatrischen Pflege der letzten 26 Jahre bestätigt:
- In der Ausbildung blieb das Thema Demenz außen vor, Alois Alzheimer (1864 – 1915) und die nach Ihm benannte Erkrankung fand lediglich im Rahmen der Medizingeschichte Erwähnung.
- Chronisch verwirrte alte Menschen bekamen die Diagnose „Hirn - Organisches – Psycho – Syndrom (HOPS), wurden medikamentös „eingestellt“ und nach Hause entlassen oder in psychiatrische Langzeiteinrichtungen eingewiesen.
- Das klinische Interesse richtete sich vor allem auf ältere Menschen mit sekundären, akuten Verwirrtheitszuständen, die in den psychiatrischen Kliniken als „Fehlbelegung“ erlebt wurden. Böhms „Übergangspflege“, 1988 u. a. in Stuttgart vorgestellt, war auf diesen Personenkreis ausgerichtet, wurde aber, anders als in Österreich, in Deutschland nicht umgesetzt.
- Anfang der 90 er Jahre wurde die Validation nach Feil (nicht zuletzt auch durch deren schauspielerischen Fähigkeiten) in Deutschland bekannt. Ihre, als radikal anders erlebte, Betrachtung von chronisch verwirrten Menschen stieß bei PraktikerInnen, die sich hier Handlungsmöglichkeiten und berufspolitisch aktiven Pflegekräften, die sich mehr Eigenständigkeit für die Pflege erhofften, auf großes Interesse.
- Parallel dazu wurden die ersten Weiterbildungsangebote zur Fachkraft für Gerontopsychiatrie, unter anderen 1993 durch mich für die ctt – Trier, entwickelt. Der Schwerpunkt lag aber noch deutlich auf psychiatrischen Erkrankungen im Alter. Demenz blieb eher ein Randthema.
- Erst nach der Einführung der Pflegerversicherung (PflegeVG) 1995 und dem damit verbunden Pflegebedürftigkeitsbegriff begann eine intensivere Debatte über demenzielle Erkrankungen in der (Fach-) Öffentlichkeit.
- Das Thema Demenz wird zunehmend in der Pflege diskutiert, rückt ins Interesse der Pflegeforschung, bleibt aber (noch) von der Medizin dominiert, auch wenn ein Paradigmenwechsel sich andeutet.
Zuerst zaghaft (u.a. Grond, 1984, Feil, 1990, Böhm, 1990), in den letzten Jahren zunehmend (u.a. Bosch, 1998, Gutensohn, 2000, Kitwood, 2000, Tackenberg, Abt - Zegelin 2000, van der Kooij, 2004, Wojnar, 1999, 2001/1, 2001/2 2007), werden die Stimmen lauter, die ein anderes „ganzheitliches Verständnis von Demenz, das Demenz nicht als Defizit, sondern als Lebensform begreift“ (Klie, 2004: 270) fordern.
Mit dem sich abzeichnenden Paradigmenwechsel im Verständnis von demenziellen Erkrankungen wird „ein interdisziplinärer gesellschaftlicher Diskurs“ (Wetzstein, 2005: 12) gefordert. Hier kommt der Pflege als Praxis- und Wissenschaftsdisziplin zentrale Bedeutung zu, um „fundierte und übertragbare Erkenntnisse für die Arbeit mit dementierenden Menschen zu entwickeln“ (Tackenberg/Abt – Zegelin, 2004: 293) und „Fragen der Pflege, der ertragbarmachenden Bedingungen und Ansätze“ (ebd.) zu beforschen.
Dabei werden (vgl. ebd.: 293 - 304) drei Ebenen für Forschungs- schwerpunkte angeregt:
1. Die Situationserfassung und – beschreibung, mit den Schwerpunkten pflegebezogener diagnostischer Assessments, der Erfassung der Lebenswelt von demenziell erkrankten Menschen und deren Angehörigen sowie die Wahrnehmung und das Erleben professioneller Pflegekräfte.
2. Die konzeptionelle Ebene, mit der Beforschung der Wirkelemente und Implementation unterschiedlicher Ansätze, Konzepte und Strukturen der Versorgung.
3. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen, die Entwicklung von Versorgungsnetzwerken und die Schaffung von Infrastrukturen zur zeitnahen und flächendeckenden Verbreitung von Forschungsergebnissen.
Ohne dem widersprechen zu wollen, verschiedene Ansätze und Konzepte wurden für die Begleitung demenziell erkrankter Menschen entwickelt, werden geschult und in die Praxis „adaptiert“ (Müller, 2003: 46). Darunter, um nur einige zu nennen, Validation nach Feil (1990, 1992, 1993, 1999, 2000) und Richards (1994/1, 1994/2, 1999, 2004), der psychobiographische Ansatz von Böhm (2004), Kitwoods Person – zentriertes Konzept (2000, 2005), van der Koojis Mäeutik (2004). Sie beanspruchen eine andere Sichtweise zur Demenz einzunehmen, sich in zentralen Aussagen hinsichtlich des Zugangs und des grundlegenden Verständnisses zu unterscheiden und andere Perspektiven zu eröffnen.
In der pflegerischen Praxis werden diese aber anscheinend nicht oder nicht ausreichend wirksam (vgl. Meyer, 2005/1; 2005/2; Müller - Hergl, 2005: 109f), so dass trotz eines unübersehbaren Bemühens in der Begleitung von Menschen mit Demenz „vieles dem Zufall überlassen bleibt“ (Meyer, 2005/1). Analog den Versuchen, Pflegetheorien aus England, z.B. das Pflegemodell von Nancy Roper, Winifred W. Logan und Allison J. Tierney (Newton, 1997) oder aus den Vereinigten Staaten, u.a. Peplau (1995), Rogers (1995), und Orem (1997), in Deutschland einzuführen, die an fehlenden Theorieprozessen innerhalb der Pflege (vgl. Höhmann, 1996: 9) und tiefer Theorieabneigung der Pflegenden (vgl. Evers, 1997: 3; Müller, 2003: 45), scheiterten, scheint dies auch bei der Umsetzung von Konzepten zur Begleitung demenziell erkrankter Menschen der Fall zu sein.
Möglicherweise ist dies auch als „Ausdruck fehlgeleiteter Bildungsprozesse“ (Meyer, 1995: 236ff; Müller, 2003: 45), einer verkürzten und einseitigen Krankheitsorientierung, im Sinne einer Symptom-, bzw. Verrichtungs- oder Ablauforientierung (vgl. Wittneben, 1998: 114 f) und der Übertragung der „alleinigen Forschungs- und Handlungskompetenz“ (vgl. Wetzstein, 2005: 16) in den ausschließlichen Verantwortungsbereich der Medizin, zu verstehen.
Die Begleitung demenziell erkrankter Menschern orientiert sich in der Praxis einseitig an dem naturwissenschaftlichen Paradigma der Medizin, mit seiner einfachen Kausalität, dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit als dichotom zu einander stehend (vgl. Franke, 2006: 117 ff) und dem zugrunde liegenden, auf Descartes zurück zuführendes, dualistisches Menschenbild (vgl. Großklaus – Seidel, 2002: 38 f).
Gleichzeitig ist, das zeigen Angebot und Nachfrage nach Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema Demenz (vgl. Tackenberg, Abt – Zegelin, 2004: 295), bei PraktikerInnen und Verantwortlichen, ein großes Bemühen zu beobachten, andere Ansätze kennen zu lernen und umzusetzen. Allzu häufig scheitern diese aber (vgl. ebd.) an den Gegebenheiten der Praxis und den organisatorischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen. Hinzu kommt ein reduktionistischen Menschenbild (vgl. Wetzstein, 2005: 177), welches sich in einer medizinischen Anthropologie begründet, die versucht, einige Aspekte des Menschseins zu objektivieren (vgl. ebd.: 179) und dabei andere ausblendet. Damit eng verbunden ist die Gefahr, dass diese Leitvorstellungen „zu einer Erosion der Würde dementer Menschen führen“ (ebd.).
Um dieser Entwicklung zu begegnen, fordert Wetzstein (ebd.: 178) eine integrative Demenzethik, ausgerichtet an einer theologisch – ethischen Anthropologie und einem ganzheitlichen Menschenbild. In die gleiche Richtung gehen Forderungen von Tackenberg und Abt – Zegelin (2004: 294), die verlangen, das in der Pflege vorherrschende Menschenbild zu einer zentralen Frage der Pflegeforschung zu machen.
Nach Wojnar (2000/2006/2007), Kitwood (2000), Bosch (1998), Richards (1997), Feil (1992) ist die Haltung der Pflegenden eine wesentliche Grundlage für ein menschenwürdiges Leben mit Demenz. Die Haltung ist Basis der Begleitung von Menschen mit Demenz und diese ist in erster Linie abhängig von dem zugrunde liegenden Menschenbild (vgl. Großklaus – Seidel, 2002: 19) und dem damit in Zusammenhang stehenden Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
Darin liegen auch die wesentlichen Unterschiede, die in den Ansätzen, die für die Begleitung demenziell erkrankter Menschen in den letzten Jahren entwickelt und verbreitet wurden, (s. o.) bestehen. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien, ein eher naturwissenschaftlich – medizinischer ausge- richteter Ansatz, wie er u.a. von Wojnar (2007) und Lind (2007) vertreten wird und einem personenzentrierten wie sie u.a. von Feil (1992), Richards (1997), Bosch (1998), Kitwood (2000) proklamiert werden, einteilen (vgl. Wetzstein, 2005: 178, Lind, 2007: 21), Während es in der pflegerischen Praxis zu mehr oder weniger unreflektierten Vermischungen kommt (vgl. Meyer, 2005/1), stehen sich in theoretischen Ausführungen beide Lager zum Teil deutlich ablehnend gegenüber. Kitwwod bezeichnet den naturwissenschaftlichen – medizinischen Ansatz als „maligne, bösartige Sozialpsychologie“ (2000: 75), Lind (vgl. 2007: 18f) bescheinigt den personenzentrierten Ansätzen fehlende Wissen- schaftlichkeit, schätzt sie als schädlich ein und bezeichnet sie als „bloße Gedankenkonstrukte, die dem Bereich der Spekulation zuzuordnen sind“ (ebd.: 23). Er plädiert für eine ausschließliche Orientierung an der „Neurologie als Leitwissenschaft“ (ebd.: 24).
Wetzstein hingegen lehnt alle bisherigen Ansätze, als „den ethischen Anforderungen nicht ausreichend gerecht werdend“, (2005: 178) ab. Sie übt intensive Kritik am bestehenden medizinischen Demenzkonzept, bemängelt den fehlenden öffentlichen Diskurs über ethische Fragen in Zusammenhang mit Demenz und plädiert für ein integratives Modell einer Demenz – Ethik (ebd.: 177 ff).
Die kurz angerissene Diskussion ist für die Theorieentwicklung und den wissenschaftlichen Diskurs ohne Zweifel von großer und wichtiger Bedeutung. Für die Praxis, und das betrifft den Unterricht in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, die konzeptionelle Ausrichtung und die direkte Begleitung von Menschen mit Demenz, ist sie aber nur schwer zu überschauen und damit für viele eher verwirrend. Multiperspektivische Orientierungshilfen, mit einer systematischen Betrachtung des in den Konzepten zugrunde liegende Menschenbildes, dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit und der sich daraus ableitenden ethischen Perspektive müssen, um wirksam zu werden, für die Praxis aufbereitet und zugänglich gemacht werden.
2 Menschenbilder in der Begleitung von Menschen mit Demenz
Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit sind untrennbar verbunden mit entsprechenden Menschenbildern (vgl. Großklaus – Seidel, 2002: 19). Sie beinhalten internalisierte Werthaltungen und zeigen sich z.B. im beruflichen Selbstverständnis einer Profession. In ihnen spiegelt sich das zugrunde liegende Pflegeverständnis und davon abgeleitet berufstypische Werte und Normen als Grundlage für ein ethischen Reflexion des beruflichen Handelns. Menschenbilder unterliegen ständigen Veränderungsprozessen, die durch Wertewandel in der Gesellschaft, durch Erfahrungen und die berufliche Sozialisation beeinflusst werden.
Im Umgang mit anderen Menschen, insbesondere in helfenden Beziehungen, haben sie direkte Auswirkungen (vgl. ebd.) auf das praktische Handeln und bedürfen, insbesondere in Zeiten sich ändernder Vorstellungen, einer ständigen Reflexion. Zu berücksichtigen bleibt, dass sie alle unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage, nach dem Wesen des Menschen, anbieten und daher keine alleinige Gültigkeit für sich beanspruchen können (vgl. ebd.: 23).
Wie im vorherigen Abschnitt angedeutet, konkurrieren aktuell unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Begleitung von Menschen mit Demenz miteinander. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen durch das zugrunde liegende Menschenbild und dem damit verbundenen Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
Auf eine intensive (und rahmensprengende) Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Menschenbildern und unterschiedlichen Verständnissen von Gesundheit und Krankheit in der Gesellschaft wird in dieser Arbeit verzichtet. Stattdessen wird hier auf Großklaus – Seidel, „Menschenbilder in der Pflege“ (2002: 19 – 97) und Franke „Modelle von Gesundheit und Krankheit“ (2006) verwiesen und lediglich das medizinisch – naturwissenschaftliche Verständnis und seine Auswirkungen, weil nach wie vor dominierend, berücksichtigt. Andere Ansätze werden in der konkreten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Konzepten zur Begleitung von Menschen mit Demenz näher betrachtet.
3 Das naturwissenschaftlich – medizinische Menschenbild in der Begleitung von Menschen mit Demenz
„cogito ergo sum“
(Descartes, 1596 – 1650)
Der Verstand, die Ratio, die Fähigkeit zum logischen Denken, zum Abstrahieren und zum Zweifeln sind Wesensmerkmale, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Die Existenz von Bewusstsein, als Fähigkeit „etwas zu erleben und unmittelbar von diesem Erleben zu wissen“ (Großklaus – Seidel, 2002: 40), ist ein dem Menschen eigenes Wesensmerkmal. Der Geist, das Denken, die Seele sind grundsätzlich vom Leib unterschieden und haben nichts gemeinsam (vgl. ebd. und Capra, 1994: 58). Der Körper ist einer komplizierten Maschine vergleichbar, deren Technik für physisch definierte Vorgänge sorgt (vgl. Uzarewicz, 1997: 144 – 148). Störungen in der Technik, bzw. in der Mechanik machen sich als Krankheiten bemerkbar, ihre Behandlung erfordert demgemäß auch technische Lösungen, wie Reparatur oder Austausch. Ist dies nicht mehr möglich, geht die Funktionalität verloren und der Körper wird für den Geist wertlos. „Der Leib stirbt nicht deshalb, weil die Seele ihn verlässt; vielmehr verlässt ihn die Seele, weil er funktionsunfähig geworden ist.“ (Großklaus – Seidel, 2002: 43).
Im Umkehrschluss, wenn der Geist den Körper verlässt, obwohl er an sich noch funktioniert, bleibt kein menschliches Leben sondern „unwürdige Menschenhüllen“ (in Anlehnung an die nationalsozialistische Sozialmedizin zit. von Klie, 2004: 55) zurück.
Nach der Systematik von Rothschuh (1975) nimmt das biomedizinische Modell eine zentrale Position in allen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung ein (vgl. Franke, 2006: 121). Es bietet eine einfache Kausalität von Ursache und Wirkung (ebd.) und stellt die zu behandelnde Krankheit in den Mittelpunkt des Interesses. Der Kranke wird zum „Wirt“ (ebd.), der Krankheit, die als Abweichung vom natürlichen Zustand des Körpers gesehen wird (ebd.).
Dieses cartesianische Maschinenmodell des Menschen bildet eine zentrale Grundlage der naturwissenschaftlichen Medizin (vgl. Capra, 1983: 58 f; Maschewsky, 1984: 22; Aggleton/Chalmers, 1989: 6; Großklaus – Seidel, 2002; 44; Franke, 2006: 9) und bekommt in einer Zeit, „in der alle Welt sich einem neuen enormen Rationalisierungs- und Leistungsdruck ausgesetzt sieht“ (Klie, 2004: 54) neuen Aufwind. Zunehmend wird die Gewährleistung von gesundheitsbezogenen Leistungen primär aus ökonomischer Sicht (lohnt es sich noch?) diskutiert und dies betrifft insbesondere chronisch Erkrankte und Menschen mit Demenz (vgl. Petzold/ Schwerdt, 2007: 9), die immer mehr als „Kostenfaktor“ gesehen werden. Gleichzeitig wird der „Wert“ des Lebens an Funktionalität, insbesondere auch geistiger Leistungsfähigkeit, festgemacht, wie es u.a. die Euthanasiedebatten in den Niederlanden, in Belgien und auch in Deutschland zeigen (vgl. Virt, 1998: 23 ff).
Während diese Diskussion eher theoretischer Natur ist und vor allem auf akademischer und politischer Ebene kontrovers geführt wird (vgl. ebd.), scheinen in der Praxis der Begleitung von Menschen mit Demenz unterschiedliche und auch sehr widersprüchliche Vorstellungen das Handeln und die Einstellungen zu bestimmen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass professionelle Pflege in der Regel erst dann in Kontakt mit Menschen mit Demenz tritt, wenn eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI, verbunden mit multiplen kognitiven Defiziten (vgl. Wojnar, 2007: 36), die dem zweiten (und dritten) Stadium, (vgl. ebd.: 39f, Lind; 2007: 36 f) entspricht, bereits eingetreten ist.
Unabhängig vom Erklärungsansatz und der grundlegenderen Orientierung (medizinisch – naturwissenschaftlich oder personenzentriert), aber auch der potentiellen Ursachen der demenziellen Erkrankung, zeigen sich bei der genannten Personengruppe vergleichbare Merkmale (vgl. ebd.):
- die Anforderungen des alltäglichen Lebens können ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigt werden.
- unmittelbare Erlebnisse werden sofort vergessen, die Erinnerung an die eigene Biographie beginnt zunehmend zu verblassen.
- die Orientierung in allen Qualitäten ist stark beeinträchtigt, die Wahrnehmung ist deutlich verändert.
- die emotionale Grundhaltung der Person bleibt weitgehend erhalten, wird aber durch die abnehmende Impulskontrolle „vergröbert“ (Wojnar, ebd.).
- die Sprache ist deutlich verändert, häufig tritt eine Aphasie auf.
- eine zunehmende Apraxie verhindert „die Umsetzung gedanklich vorgestellter Sequenzen in entsprechende Aktivitäten sowie die intellektuelle Verknüpfung zwischen Gegenständen oder Begriffen mit passenden Handlungsabläufen“ (Wojnar, ebd.: 40).
- visuell – räumliche Informationen können nicht mehr ausreichend verarbeitet werden, was zu Bewegungsunsicherheiten und Verlaufen in vertrauter Umgebung führt (vgl. ebd.).
- Signale des autonomen Nervensystems (Verdauung, Hunger, Durst, Schmerz) können offensichtlich nicht mehr ausreichend zugeordnet und interpretiert werden (vgl. ebd.: 41).
- Beeinträchtigungen der Sinnesorgane, bei meist gut erhaltener Bewegungsfähigkeit, erhöhen die Selbstgefährdung (vgl. ebd.).
- Hinzu können, möglicherweise durch „erhebliche Ängste“ (ebd.) ausgelöste, Verhaltensauffälligkeiten kommen.
Die Diskussion, inwieweit die genannten Symptome zwangsläufig einer Demenz zuzuordnen sind, wie es die medizinische Sichtweise nahe legt, oder ob sie die logischen Folgen eines vergleichbaren Settings aus Diagnostik und Therapieversuchen sind, wie es u.a. Kitwood (2005) behauptet, bleibt dabei vorerst offen.
Gleichzeitig besteht aber ein breiter Konsens über die wesentlichen Merkmale einer guten Begleitung von Menschen mit Demenz, die gekennzeichnet ist durch (vgl. u.a. Müller-Hergl, 2005: 107f; Lind, 2007: 117ff; Wißmann, 2007: 30ff; Wojnar, 2007: 150ff):
- eine sanfte und freundliche Umgangsweise in Verbindung mit einem mühelosen Herstellen von Kontakt
- Priorität des Kontaktes vor der Funktion
- das Wahrnehmen der sozialen Ergebnisse der Pflege als wesentliche Komponente zur Verbesserung von Angeboten
- gefühls- und erfahrungsgeleitete Personalentwicklung
- die Entwicklung kreativer Lernkulturen, konzentriert auf bereichernde Alltagssituationen
Kontaktfähigkeit und Kontaktbereitschaft seitens der Pflegenden (vgl. ebd.), akzeptierende Anteilnahme, das Zulassen des Fremden (vgl. Uzarewicz/ Uzarewicz, 2004: 11f) bilden wesentliche Grundpfeiler für die Begleitung von Menschen mit Demenz. Die bestehenden Rahmenbedingungen mit einem funktionalen und naturwissenschaftlich – medizinisch ausgerichteten Gesundheitssystem behindern diese Anforderungen und haben negative Auswirkungen auf die Praxis der Begleitung von Menschen mit Demenz.
Von Seiten der professionellen Pflege wird versucht dieser reduktionistischen Betrachtung eine andere, „ganzheitliche“ Position entgegen zu stellen. Von zentralem Interesse sind nicht die Symptome einer Krankheit, die zu behandeln sind, sondern der Mensch, der krank ist (vgl. Wittneben, 1993: 203, 1998: 15 ff). Eine Trennung von Mensch und Krankheit, die medizinische Betrachtung, wird aufgegeben. Der Focus der Pflege richtet sich auf den unmittelbar erfahrenen Hilfebedarf des individuellen Menschen, seine subjektiven Erfahrungen bezüglich einer Einschränkung: „Nursing is responsive to individuals who suffer or anzicipate a sence of helplessness; it is focused on the process of gare in an immediate experience; it is concerned with providing direct assistance to individuals in wathever setting they are found for the purpose of avoiding, relieving, diminishing or curing the individual`s sense of helpness” (Orlando, 1961: 12).
“Pflege ist aufgeschlossen für Personen, die unter einem Gefühl der Hilflosigkeit leiden oder ein solches befürchten. Pflege ist fokussiert auf den Prozess der Sorge als einer unmittelbaren Erfahrung. Zweck der Sorge ist die direkte Hilfe um bei Menschen das Gefühl der Hilflosigkeit zu vermeiden, zu erleichtern, zu vermindern oder zu heilen, unter welchen Bedingungen auch immer.“ (sinngemäße Übersetzung, Verf)
In Anlehnung an Fromm (1987) wird aus „Haben“ „Sein“. Der Mensch wird als (potentiell) „Krank – Seiender“ in seiner Umwelt wahrgenommen. Pflege wandelt sich von einer defizitorientierten – versorgenden (vgl. Krohwinkel, 1993: 98) zu einer fähigkeitsfördernden (vgl. Krohwinkel, 1998: 152) individuellen Begleitung und Unterstützung, orientiert am Menschen und seinem Umfeld. Dabei fühlt sich Pflege gleichermaßen den Dimensionen Gesundheit und Krankheit (vgl. Greb, 1997: 64) anwaltschaftlich verpflichtet. Während diese Betrachtung und die daraus abgeleiteten Anforderungen auf pflegewissenschaftlicher Ebene unbestritten sind, finden sie in der reale Pflegepraxis kaum Gehöhr.
4 Pflegepraxis
Mit dem Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) von 1995 wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit definiert als: „Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höheren Maße der Hilfe bedürfen.“ (BMG, 2000: 16). Dabei werden ausschließlich die Kriterien Körperpflege, Ernährung und Mobilität, die einen Hilfebedarf von täglich mindestens 1,5 Stunden umfassen müssen, berücksichtig (vgl. ebd.: 18). Inwieweit die am 10.09.2007 beschlossene Pflegereform (vgl. Pflege Konkret, 10/2007: 4) hier tatsächliche Verbesserungen bringt, bleibt abzuwarten, zumal auch in der aktuellen Fassung erst Leistungen gewährleistet werden, wenn die Alltagskompetenz deutliche Einbußen aufweist (vgl. ebd.).
Professionelle Pflege kommt somit (s. o.) in der Regel erst dann zum Wirken, wenn die medizinische Diagnostik und Therapie ihre Grenzen erreicht hat (vgl. Wetzstein, 2005: 173) und der Fokus sich verstärkt auf die Vermeidung und Reduktion von Sekundärkomplikationen richtet (ebd.: 174). Das Erleben und Fühlen von Menschen in dieser „zweiten Hälfte des Demenzprozesses“ (ebd.: 175), Wojnar bezeichnet diese Phase als mittelschweres Stadium (vgl. 2007: 39) bzw. schwerer Demenz (vgl. ebd.: 41), wurde von der medizinischen Forschung bisher vernachlässigt und spiegelt sich in der nach wie vor medizinisch dominierten pflegerischen Praxis wider (vgl. Meyer, 2005/1). Auch wenn diese „Leerstelle“ (Wetzstein, 2005: 175) zunehmend von der Pflegeforschung besetzt wird, bleibt das medizinische Paradigma (vgl. ebd.) und sein „einseitiges Demenzbild“ (Wißmann u.a. 2007: 15) in der Praxis dominierend.
Stabilisierende Faktoren dafür sind unter anderem in einem „negativen Altersbild“ (ebd.: 13), das den demographischen Wandel „nahezu ausschließlich unter dem Aspekt zunehmender Belastung diskutiert“ (vgl. Schulz – Nieswandt, 2004: 551 ff), dem gesellschaftlichen Ideal von der Autonomie des Individuums, gekoppelt an die kognitive Leistungsfähigkeit (vgl. Wißmann u.a., 2007: 15), verbunden mit einer defizitorientierten Perspektive (vgl. ebd.: 16) begründet. Dieses, in der Gesellschaft dominierende Alters- und Demenzbild bestimmt Wertvorstellungen und Haltungen (vgl. ebd.), die sich auch in der pflegerischen Ausbildung und Praxis spiegeln.
Hinzu kommt eine zunehmende Bürokratisierung der Rahmenbedingungen pflegerischer Dienstleistungen mit einer immer ausufernden Dokumentations- und Nachweispflicht (vgl. ebd.:.18; Müller-Hergl, 2005: 111f.; Wolf, 2008), die die begrenzten zeitlichen Ressourcen für die individuelle Beziehungsgestaltung und die Kontinuität der Begleitung (vgl. u.a Sowinski, 2006: 792 ff; Krohwinkel, 2006: 804 ff) minimiert. Die Folgen führen in der Praxis nicht selten „zu entmündigender Überfürsorge oder zu funktional – distanziertem Pflegehandeln.“ (Wißmann u.a. 2007: 18), was in nachfolgenden exemplarischen Beispielen aus der Pflegepraxis sichtbar wird.
4.1 Praxisbeispiele
Die Reaktion der TeilnehmerInnen aus unterschiedlichen Fort- und Weiterbildungen u. a. zur Pflegedienstleitung, Wohnbereichsleitung, Praxisanleitung und in der gerontopsychiatrischen Fachausbildung auf nachfolgende Fallbeispiele aus der pflegerischen Praxis, die ich für Einzelfälle hielt und im Ethikunterricht einsetze, deuten zumindest auf eine sich entwickelnde „Normalität“ im Verständnis des Umgangs mit Menschen mit Demenz hin. Aus den vermeintlichen Einzelfällen, so die Rückmeldungen der PraktikerInnen, ist tendenziell ein Normalzustand geworden, die kaum noch hinterfragt, sondern als gegeben hingenommen wird.
Fallbeispiel 1
„Sie haben gerade den Körper einer Toten wieder zum Funktionieren gebracht und ihr Leid verlängert. Können Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren?“
Originalton eines Notarztes, der nach erfolgreicher Reanimation durch eine Pflegekraft, bei einer, an fortgeschrittener Demenz erkrankten Heimbewohnerin, im Altenheim eintraf.
Fallbeispiel 2
Im Frühjahr 2002 wurde von einer psychiatrischen Klinik angefragt, ob wir einen 76 jährigen Patienten mit fortgeschrittenem Morbus Korsakow, der „medikamentös gut eingestellt sei“ kurzfristig aufnehmen könnten. Das Heim, in dem er seit drei Jahren lebt, wolle ihn auf keinen Fall „zurücknehmen“. Er hätte dort „randaliert“ und nach den MitarbeiterInnen geschlagen, gespuckt und Gegenstände nach ihnen geworfen.
Am nächsten Morgen, um 10.30, besuchte ich, zusammen mit einer Mitarbeiterin, Herrn Schmitt in der Klinik.
Herr Schmitt lag, mit einem Bauchgurt und einem Fußgurt fixiert, nackt im Bett. Die Bettdecke lag auf dem Boden, eine zerpflückte Windelhose war im Bett und im Zimmer verstreut, das Flügelhemd lag auf dem Frühstückstablett. Der Kaffee war verschüttet, das Frühstück nicht angetastet.
Er hatte die Augen offen, den Blick nach oben gerichtet, die Arme gestreckt und die Hände fest um das Bettgitter geschlossen. Die Handknöchel zeigten eine blasse Färbung und traten deutlich hervor.
Von unserer Anwesenheit nahm er offenbar keine Notiz, zumindest zeigte er auf meine Begrüßung keine Reaktion. Laute Ansprache und gleichzeitige Berührung der rechten Hand lösten ein ruckartiges Heben des Kopfes aus, ohne dass der Blick sich mir zuwandte.
Der gesamte Körper wirkte verkrampft, die Muskulatur der Beine und des Oberkörpers zeigte einen deutlichen Tremor.
Zusammengefasst zeigte Herr Schmitt die gesamte Symptomatik eines Neuroleptika bedingten Parkinsonoides (Tremor, Rigor, Akinese) plus weitere typische Nebenwirkungen von Neuroleptika (vgl. Finzen, A., 1991 S. 160 ff).
Inzwischen war die zuständige Stationsleitung mit dem Stationsarzt ins Zimmer gekommen. Erstere schimpfte lautstark über die „Sauerei“ im Zimmer, dass Herr Schmitt „unmöglich“, „nicht tragfähig“ und in einer Akutpsychiatrie „nichts zu suchen habe“. Der Stationsarzt kommentierte ihre Aussagen mit den Worten:
„Beruhige Dich, der wird ja bald hier weg sein“.
Zu uns gewandt: „Sie sehen ja selber, dass er problematisch ist und eine Menge Chaos anrichtet, aber wir haben ihn medikamentös so gut eingestellt, dass er für seine Umgebung keine Gefahr mehr darstellt. Ich würde Ihnen auch dringend raten, daran nichts zu ändern, sonst kann für seine „Händelbarkeit“ nicht garantiert werden.“
Herr Schmitt bekam 3 x 5 mg Risperdal, 4 x 15 ml Melperon, 4 x 3 mg Haldol sowie bei Bedarf bis zu weiteren 30 ml Melperon, die auch regelmäßig verabreicht wurden.
Fallbeispiel 3
Kurz nach Ostern letztes Jahr rief mich eine gute Bekannte völlig verzweifelt an, Ihre Mutter sei völlig dement und ein Pflegefall. Sie müsse schnellstens einen Heimplatz suchen und wisse nicht mehr weiter.
Ich war sehr überrascht, zumal ich die 86 jährige Dame noch vor knapp einer Woche sehr rüstig und geistig klar erlebt hatte. Auf mein Nachfragen erfuhr ich, dass Frau Meier mittwochs über Übelkeit und Magenbeschwerden klagte, aber nicht zum Arzt wollte. An Gründonnerstag entwickelte sie eine massive Magen-Darm-Infektion, mit Erbrechen, Durchfall und Fieber. Der Hausarzt verordnete Medikamente gegen das Fieber, den Durchfall, die Magenbeschwerden und ein Beruhigungsmittel. An Karfreitag blieb der Zustand unverändert, Fr. Meier wurde zunehmend apathisch. Der Notarzt (Gynäkologe) veranlasste abends die KH-Einweisung. Am nächsten Tag fand die Tochter ihre Mutter an Bauch, Beinen und Armen fixiert im Bett vor. Sie trug einen Blasendauerkatheder, hatte Infusionen anhängen war absolut apathisch und nicht ansprechbar. Die Fixierung und Sedierung sei notwendig, so der diensthabende Arzt, da sie sonst die Infusionen herausziehen würde.
Sonntags wurde der Tochter mitgeteilt, sie müsse dem Legen einer Magensonde (PEG-Sonde) zustimmen, da ihre Mutter die Nahrungsaufnahme verweigere (immer noch unverändert sediert und fixiert).
Montags wurde ihr mitgeteilt, dass bei ihrer Mutter medizinisch nichts mehr zu machen, ihre Mutter völlig dement und ein Pflegefall sei. Sie solle sich schnellstmöglich um einen Heimplatz kümmern.
Fallbeispiel 4
Der an fortgeschrittener Demenz erkrankte Herr Müller sitzt in seinem Rollstuhl am Tisch im Aufenthaltsraum des Wohnbereiches. Mit ihm am Tisch vier weitere demenziell erkrankte KlientInnen. Herr Müller betastet mit beiden Händen die Papiertischdecke und reibt sie seit ca. 20 Minuten zwischen Daumen und Zeigefingern. Auf dem Tisch stehen drei Gläser mit Saft, zwei Flaschen mit Mineralwasser und eine leere Kaffeetasse. Im Rücken von Herrn Müller trocknet eine Pflegekraft Geschirr ab.
Sie bemerkt, dass Herr Müller sich mit der Tischdecke beschäftigt und ruft aus dem Hintergrund: „Herr Müller, lassen Sie die Tischdecke in Ruhe!“ Eine Klientin hebt den Kopf, die anderen zeigen keine Reaktion.
Die Pflegekraft hat ihre Arbeit eingestellt, sie ruft noch einmal, diesmal deutlich lauter und mit erhobener Stimme: „Mensch Herr Müller, jetzt lassen Sie doch endlich die Tischdecke in Ruhe, gleich liegt alles auf dem Boden!“
Zwei KlientInnen heben den Kopf und schauen um sich, ohne in Richtung der Pflegekraft zu blicken, dabei wirken sie etwas irritiert. Herr Müller reagiert nicht.
Die Pflegekraft hat ihr Tuch auf den Tresen gelegt und geht in Richtung Tisch und nähert sich Herrn Müller von hinten. Dabei schimpft sie über sein Verhalten: „Den kann man doch keine Sekunde aus den Augen lassen, der macht doch bloß Sauerei, als hätte ich nicht schon genug zu tun.“
Sie greift den Rollstuhl von Herrn Müller mit den Worten: „Jetzt reicht es mir aber.“ Und zieht den Stuhl nach hinten. Herr Müller krallt sich an der Decke fest, das Geschirr fällt vom Tisch, Herr Müller schlägt mit beiden Armen um sich und trifft dabei auch die Pflegekraft an der rechten Schulter. Eine Klientin ist, beim Versuch aufzuspringen, mit dem Stuhl nach hinten gekippt und liegt auf dem Boden, sie schreit laut vor sich hin, zwei weitere laufen, deutlich aufgeregt, durch den Raum.
Die Pflegekraft schimpft lautstark mit Herrn Müller: „Jetzt schauen Sie mal, was Sie wieder angerichtet haben!“ und schiebt ihn mit dem Rollstuhl nach draußen. Zwei weitere Pflegekräfte sind eingetroffen und beschäftigen sich mit dem Aufräumen. Dabei beschweren sie sich über Herrn Müller.
In der Dokumentation steht anschließend, dass Herr Müller die Tischdecke vom Tisch gerissen hatte, sehr aggressiv reagiert und eine Pflegerin geschlagen habe, als sie ihn daran hindern wollte. Empfohlen wird, Herrn Müller dringend dem Psychiater vorzustellen um die medikamentöse Therapie zu überprüfen.
In den vier Fallbeispielen werden unterschiedliche, handlungsleitende Vorstellungen bezüglich des zugrunde liegenden Menschenbildes, dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit, dem Pflegeverständnis und die damit in enger Verbindung stehende ethische Ausrichtung in der Betrachtung von Menschen mit Demenz sichtbar. Sie spiegeln ein System wider, dessen handlungsleitende Maxime die Funktionalität ist. Sie machen deutlich, dass Handlungen und Einstellungen nicht mehr reflektiert werden und medizinische oder pflegerische Verrichtungen beinahe reflexartig erfolgen. Der Mensch tritt in den Hintergrund, die Erfordernisse der Organisation, das Aufrechterhalten von Abläufen wird handlungsleitend.
4.2 Diskussion der Praxisbeispiele
Für den Notarzt im ersten Beispiel reichen die Assoziationen, die er mit der Diagnose „fortgeschrittene Demenz“ verbindet, völlig aus, sich ein abschließendes Bild über den betroffenen Menschen zu machen, ohne auch nur das Geringste über ihn zu wissen. Er verbindet damit einen Zustand, in dem ein menschenwürdiges Leben für ihn undenkbar ist. Nur noch organisches - biologisches Leben, ohne Kontrolle durch die Ratio, ist geblieben. Diese reduktionistische Betrachtung (vgl. Wetzstein, 2005: 173f) stellt den Wert eines Lebens mit dieser Diagnose nicht nur in Frage, sondern geht von der Prämisse aus, dass lebenswertes Leben damit ausgeschlossen ist. Somit wurde, aus seiner Sicht, durch die Reanimation kein Leben im eigentlichen Sinne gerettet, sondern ein Leidenszustand verlängert.
Unter Betrachtung zentraler Rechtfertigungskriterien (vgl. Remmers, 2004: 53f) der medizinischen Ethik hat das Autonomieprinzip, da gebunden an die Fähigkeit des Denkens und Entscheidens, für die Bewohnerin keine Gültigkeit mehr. Aus dem Prinzip der Nonmaleficence, als Ausdruck einer ärztlichen Fürsorge, wird potenzielles zukünftiges Leiden mit einem schnellen und schmerzfreien Tod, der aus medizinischer Sicht bereits eingetreten war, abgewägt. Durch die Reanimation wird die demenzielle Erkrankung der Bewohnerin zusätzliche und weitere „Schädigungen“ bringen. Damit korrespondiert das Prinzip der Beneficence, das Nicht – Handeln bei dem akuten Herzstillstand wäre aus seinem Verständnis für die Bewohnerin die bessere Alternative zur fortschreitenden Demenz gewesen.
Aus einer anderen Perspektive wird aus dem „funktionierende Körper“ Frau Müller, 89 Jahre alt, demenziell erkrankt, mobil und stets bester Laune, weil jeden Tag so viele Menschen zu Besuch sind, um die sie sich kümmern muss.
Sie war, in dritter Generation, Inhaberin eines stark frequentierten Ausfluglokals an der Mosel, das sie bis vor fünf Jahren zusammen ihrer Tochter betrieb. Gesundheitliche Probleme der Tochter führten zur Verpachtung des Lokals. Frau Müller zog zu ihrer Tochter in die Nachbargemeinde und „baute geistig rapide ab“ (Tochter). Die gesundheitlichen Probleme der Tochter ließen eine häusliche Versorgung nicht zu, zumal Frau Müller immer wieder das Haus verließ um „arbeiten“ zu gegen und dann nicht mehr den Weg nach Hause fand. Die Versuche des Hausarztes über sedierende Medikamente die „Weglauftendenzen“ einzudämmen, führten zu einer deutlichen Verschlechterung des Allgemeinzustandes mit erhöhter Sturzgefahr und phasenweiser Inkontinenz. Nach der Heimaufnahme wurden die neuroleptisch wirkenden Medikamente abgesetzt, Frau Müllers Mobilität und ihr Interesse an der Umwelt nahmen deutlich zu. Zurückgreifend auf ihre Biographie wurde sie in den alltäglichen Arbeitsablauf integriert. Aus ihrer Perspektive sind die vielen Menschen im Aufenthaltsraum möglicherweise Gäste, die zu bewirten sind, wodurch sie tagsüber ihre Aufgaben und ihre Beschäftigung hat. Ihre „Verwirrtheit“ wird durch internalisiertes und vertrautes Handeln (vgl. Bosch, 1998: 122 f) kompensiert. Sie erlebt ihr Handeln, basierend auf lebenslang erworbenen Fertigkeiten (vgl. Kruse/Lehr, 1996: 10) als erfolgreich, fühlt sich als gleichberechtigte Partnerin mit anderen in der Bewirtung der „Gäste“ und bekommt Anerkennung. Die damit verbundenen Emotionen unterstützen ihr Selbstbild, kompetent, gesund, leistungsfähig und wichtig (vgl. Wojnar, 2007 S. 70 f) zu sein.
Im zweiten Fallbeispiel wird die Hilflosigkeit eines medizinisch – naturwissenschaftlich orientierten psychiatrischen Systems im Umgang mit Menschen im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz (vgl. Wetzstein, 2005: 175f) deutlich.
Herr Schmidts „Störungen“ sind offensichtlich irreparabel, eine Heilung ausgeschlossen, eine Symptomreduktion nur begrenzt und nur unter Einsatz hochdosierter zentral sedierender Medikamente möglich. Therapeutisches Handeln richtet sich auf die geringste mögliche Störung des Umfeldes durch den Patienten. Der Autonomiegedanke wird uminterpretiert, die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Handlungsmöglichkeiten der Betreuenden treten in den Vordergrund. Die Fürsorge gilt in erster Linie dem Umfeld, dessen Ordnung wieder hergestellt und das vor den Symptomen zu schützen ist Der Nutzen der Mehrheit, im Sinne einer utilitaristischen Betrachtungsweise (vgl. Großklaus-Seidel, 2002: 88), ergibt in ihrer Konsequenz für das psychiatrische Team die medikamentöse Ruhigstellung als einzige Handlungsalternative.
Dass diese Betrachtung eine sehr einseitige ist, zeigte der weitere Verlauf nach der Heimaufnahme:
Nach Absetzung aller neuroleptisch wirksamen Medikamente zeigte Herr Schmitt eine zunehmende Wachheit. Er begann sich gegen Pflegemaßnahmen zu wehren, reagierte auf Stimmen durch Drehen des Kopfes, versuchte sich im Bett aufzurichten und gab Laute von sich. Er konnte für einige Minuten in einem Sessel sitzen, bekam dann aber recht schnell Kreislaufprobleme. Zwei MitarbeiterInnen gelang es, ihm auch kleine Schlucke Flüssigkeit zu geben.
Ca. drei Wochen später konnte er mit Unterstützung durch zwei Pflegekräfte stehen und drei Schritte bis zu Sessel machen, Getränke, Jogurt und Astronautenkost konnten ausreichend oral verabreicht werden. Seine Beweglichkeit, damit aber auch die Gefahr, über das Bettgitter zu klettern und aus dem Bett zu stürzen hatte deutlich zugenommen. Das Bettgitter wurde entfernt und eine Matratze vor das Bett gelegt. Zunehmend begann er auch, sich verbal zu äußern, ohne dass er verständliche Wörter formulieren konnte.
Während er das Anreichen von Nahrung und Flüssigkeit durch die meisten MitarbeiterInnen akzeptierte, wehrte er sich zunehmend massiver gegen die Körper- und insbesondere gegen die Intimpflege. Lediglich ein Altenpflegehelfer und eine ältere Pflegehelferin, gaben an, keine Probleme zu haben. Wenn sie im Dienst waren, übernahmen sie seine Pflege Nach drei Monaten konnte Herr Schmitt, wenn er sich festhalten konnte, alleine stehen und ein paar Schritte machen. Immer öfter trank er aus einem Becher, den er in die Hand bekam und konnte Lebensmittel, die er in die Hand bekam, in den Mund stecken, kauen und schlucken. Tagsüber war er, anfangs im Rollstuhl, später im Sessel sitzend, mehrere Stunden im Aufenthaltsraum. Er nahm in gewisser Weise Anteil an der Umgebung, reagierte mit Blickkontakt auf Ansprache und konnte Empfindungen durch Mimik und Laute äußern. Mit Gegenständen, die er in die Hand bekam, konnte er sich stundenlang beschäftigen. Sehr entspannt wirkte er bei Musik und Gesang, wenn Kinder aus dem benachbarten Kindergarten zu Gast waren, lächelte er. Bei Vogelgezwitscher drehte er den Kopf zum Fenster und hörte intensiv zu, dabei unterbrach er auch seine „Beschäftigung“
Die Körperpflege ließ er, auch durch andere, meistens zu und die PEG – Sonde konnte entfernt werden. Auch gelang es immer öfter, ihn auf die Toilette zu bringen, dadurch die Inkontinenz zu reduzieren und die, für ihn als unangenehm erlebte Intimpflege deutlich zu reduzieren.
Deutliche Parallelen zu den ersten Fallbeispielen zeigen sich auch im Dritten: Alter plus Verwirrtheit beinhalten eine Begrenzung der medizinischen Handlungsfähigkeit und führen sehr schnell zur Diagnose Demenz, die ohne hinterfragt zu werden, eine abschließende und endgültige Prognose zulässt. Die Diagnose entfernt den Menschen aus der menschlichen Gemeinschaft, macht ihn zum (Pflege-) Fall, der aus dem medizinischen Verantwortungsbereich fällt und in anderen, dafür vorgesehenen, Institutionen zu versorgen ist.
Frau Meier wurde am gleichen Tag, gegen ärztlichen Rat, nach Hause geholt. Infusionen und Katheder wurden entfernt, über einen ambulanten Pflegedienst die Betreuung organisiert. Nach drei Tagen konnte sie mit Hilfe einer Person das Haus verlassen und nach einer Woche hatte sie ihre Selbständigkeit wieder erlangt. An den Krankenhausaufenthalt kann sie sich nicht mehr erinnern.
Anmerkung: Die Deutsche Alzheimergesellschaft geht davon aus, dass jährlich ca. 20 000 Menschen aufgrund einer vorschnellen und falschen Demenzdiagnose in Pflegeheimen „landen“ (Pressemitteilung, 20.06.2008, www.alzheimer-nrw.de).
Die im vierten Fallbeispiel beobachtete Situation scheint zuerst einmal einmalig und untypisch zu sein. Sie steht aber exemplarisch für viele vergleichbare Situationen im Pflegealltag, die in der Praxis zu beobachten sind und über die PraktikerInnen immer wieder berichten.
Die beschriebene Pflegekraft ist als Wohnbereichsleitung tätig, verfügt über eine Weiterbildung zur Fachkraft für gerontopsychiatrische Pflege und hat im letzten Monat an zwei Fortbildungen a 3 Tage zum Thema „Integrative Validation“ nach Nicole Richards teilgenommen. Ihr Wissenstand hätte eine andere Betrachtung und dementsprechend, eine andere, professionellere Reaktion erwarten lassen.
Möglicherweise verzerrten aber Vorerfahrungen, verbunden mit dem Bedürfnis nach der Aufrechterhaltung einer Ordnung ihre situative Wahrnehmung. Ihr Handeln führte, im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (vgl. Watzlawick, 1990: 224), zu dem befürchteten Ergebnis Das zugrunde liegende Pflegeverständnis zeigt deutliche Parallelen zu einer Ablauf-, Verrichtungs- und Symptomorientierung (vgl. Wittneben, 1998: 29f). Demzufolge wird das Verhalten des Klienten und die Reaktion auf ihr Handeln als krankhaftes Symptom bewertet, dass medikamentös „abgestellt“ werden muss, damit der reibungslose Ablauf des Wohnbereiches nicht gestört wird. Pflegerische Fürsorge im Sinne „einer wechselseitigen Beziehung“ (v. d. Arend, 1998: 47) wird abgelöst durch die Sorge um eine Aufrechterhaltung der Ordnung und Funktionalität im Arbeitsbereich. Herrn Müllers Handeln als möglicher autonomer Ausdruck eines inneren Bedürfnisses wird nicht wahrgenommen und entwertet.
In der anschließenden Fallbesprechung wurde davon ausgegangen, dass das gezeigte Verhalten für Herrn Müller sinnvoll war und beschlossen, ihn entsprechende Angebote zu unterbreiten. Der gelernte Schlosser und „Hobbyschrauber“ (Biographie) bekam eine Kiste mit Schrauben, Muttern und Unterlegscheiben, womit er sich seither die meiste Zeit des Tages intensiv beschäftigt.
In diesen Praxisbeispielen wird deutlich, dass eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Abkehr von den „Vorstellungen der Kontrolle des Verhaltens, Körpers und äußeren Erscheinungsbildes“ (Müller-Hergl, 2005:
105) im pflegerischen Handeln in Verbindung mit einer bewussten Beziehungsgestaltung (vgl. ebd.) zu mehr Lebensqualität für Menschen mit Demenz führen kann.
4.3 Fazit
„Pflege, die von der Vorstellung von Demenz als unheilbare Krankheit bestimmt wird, birgt tendenziell eine von Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit geprägte Haltung in sich.“ (Kreutzner, 2005: 15)
Demenz, so scheint es, macht hilflos, führt bei den Professionellen zu einer Perzeption der Machtlosigkeit (vgl. McFarland, 1997: 227 f,; Collier, 1998: 294), gekennzeichnet durch einen Kontrollverlust in Bezug auf die Erkrankung und deren Beeinflussbarkeit. Menschen mit Demenz „entziehen“ sich den vertrauten und bekannten medizinischen – naturwissenschaftlichen Zugängen. Ursache und Wirkung sind nicht mehr klar zu definieren, eine handlungsleitende Logik droht verloren zu gehen. Damit wird der „Glaube an die eigene Rolle“ (Goffman, 1997: 19) in Frage gestellt und die tradierten „Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Meili, 1980: 556ff) werden als unzureichend erlebt. Allerdings führt dies nicht zu einer Umorientierung im Denken und Handeln, sondern eher zu einem „Mehr Desselben“ (vgl. Watzlawick, 1991: 23ff).
Die Hilflosigkeit der Helfer (vgl. Schmidbauer, 1984: 100f) wird abgewehrt und kann in Zynismus (vgl. Goffman, 1997: 21) wie in den Fallbespielen aus dem Krankenhausbereich sichtbar werdend (vgl. u.a. auch www.kritische- ereignisse.de; Breitscheidel, 2007), münden. (Schein-) Lösungen aus dem naturwissenschaftlich medizinischen Handlungs- und Deutungsrepertoir werden beibehalten und die daraus folgenden Ergebnisse z.B. „medikamentös gut eingestellt“, nicht nur bei professionell Handelnden, als Erfolg gedeutet. Die Gefahr besteht, dass der Mensch mit Demenz als Person aus der Subjektivität des Menschseins fällt (vgl. Kitwood, 2005: 27; Brooker, 2007: 13). Sein Verhalten wird objektiviert und auf kausale krankhafte Prozesse reduziert, die Aufrechterhaltung des „Standardparadigmas“ (Kitwood, 2005: 41) führt zu einer Entpersonalisierung und Ausgrenzung (vgl. ebd.: 32ff).
Zentrale ethische Anforderungen werden eingeschränkt, ausgeblendet oder uminterpretiert. Dies wird u.a. dort deutlich, wo freiheitseinschränkende Maßnahmen, z.B. der hochdosierte Einsatz von Neuroleptika, damit begründet werden, dass auch „legitime Interessen“ (Bockenheimer – Lucius, 2007/2: 326) anderer, wie Mitbewohner, Pflegekräfte, Angehörige zu berücksichtigen sind. Synofzik/Maetzler (2007: 275) halten es für vorstellbar, auch dann Neuroleptika zu verabreichen, wenn „zwar nicht er selbst (der Mensch mit Demenz, Verf:), jedoch sein Umfeld…leidet“.
Unberücksichtigt bleibt, dass die Wirkungen und insbesondere die Neben- wirkungen von Neuroleptika in den Bereichen des Gehirns (vgl. Finzen, 2001: 147), des Zwischenhirns und des limbischen Systems, den Trans- mitterstoffwechsel reduzieren und damit die emotionale Schwingungs- fähigkeit und die Erlebniswelt deutlich reduzieren. Letztendlich also die Bereiche der Wahrnehmung und subjektiven Empfindungen beeinträchtigen und stören, die nach aktuellem Stand des Wissens bei Menschen mit Demenz präsent sind.
Bereits 1991 beklagt Finzen die „unqualifizierte Abgabe (von Neuroleptika) (Verf.) an alte Menschen“ (Finzen, 1991: 244) und fordert „sie (Neuroleptika) (Verf.) überlegt und zurückhaltend einzusetzen und jedem kräftig auf die Finger zu klopfen, der dies nicht tut.“ (ebd.: 245). 2008 weist die Deutsche Alzheimer Gesellschaft darauf hin, dass in „einem Pflegeheim mit 100 Betten eine Kraft komplett mit Folgen der Nebenwirkungen falscher Kombinationen von Medikamenten beschäftigt“ (CARE conkret, 20.06.2008: 3) ist.
Professionell Handelnde, auch Pflegende (vgl. Dorenlot/Migliore, 2005: 55; Brucker, 2007: 46), sind in der Regel nicht ausreichend für die Begleitung von Menschen mit Demenz qualifiziert. Neben einem, über die medizinisch – naturwissenschaftliche Betrachtung hinausgehenden, ausschließlich der „Kategorie Krankheit“ (Müller-Hergl. 2005: 111) verpflichtetem Wissen, fehlt es offensichtlich an „fördernder Sorge in einem ausgeprägten Macht- verhältnis, das die Begegnung, Betreuung, Behandlung und Pflege prägt.“ (Petzold/Schwerdt, 2007: 11). Für eine verantwortliche Gestaltung dieses asymmetrischen Verhältnisses sind, neben den fachlichen Grundlagen, „Fähigkeiten zur ethischen Reflexion und moralisches Urteilsvermögen unab- dingbar.“ (ebd.)
Ein Leben in Würde aber, wie im Grundgesetz verankert, gilt uneinge- schränkt für jedes menschliche Wesen und damit auch für Menschen mit Demenz. „Sie können sie nur verlieren, wenn sie ihnen genommen wird“ (ebd. S. 16), was in der Routine der funktionalen und häufig unreflektierten alltäglichen Begleitung (s. o.) allzu häufig geschieht.
5 Grundlagen einer ethischen Reflektion für die Begleitung von Menschen mit Demenz.
Die Begriffe Ethik und Moral bzw. moralisches Handeln werden sehr häufig synonym verwandt (Tschudin 1996; Arndt 1996; v. d. Arend/Gastmans 1996; v. d. Arend 1998). Beide Begriffe beziehen sich auf das Individuum und haben etwas mit Charakter, Werten, Normen und dem Verhalten der Menschen miteinander zu tun. Das Wort „Ethik“ ist vom griechischen „ethos“ abgeleitet und bedeutet soviel wie Charakter, aber auch Sitte. Es beschreibt geistiges und/oder objektives Verhalten von Menschen und gibt Auskunft oder Anhaltspunkte für anzustrebende Ideale (vgl. Tschudin 1996: 33).
Als philosophische Disziplin ist Ethik auf Aristoteles zurückzuführen, deren Aufgabe darin besteht, allgemeingültige Aussagen über das gute und richtige Handeln zu treffen. Dieses galt nicht nur für das Individuum, sondern auch für den Staat und dessen Handeln. Später stand weniger das gesellschaftliche oder staatliche Handeln, sondern vor allem das persönliche Verhalten des Einzelnen im Sinne einer Moralphilosophie im Vordergrund (vgl. Höffe 1997: 66). „Moral“ ist vom lateinischen „moralis“ abgeleitet und bedeutet soviel wie „Sitte“ und „Verhalten“. Vom Wortsinn ausgehend, bedeutet „Moral“ ein „System von auf Tradition, Gesellschaftsform, Religion beruhenden sittlichen Grundsätzen u. Normen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt das zwischenmenschliche Verhalten reguliert.“ (Duden, Band 5: 476). Sie handelt von Gefahren, die abgewendet werden müssen (vgl. Tschudin 1996: 33) und bildet eine Basis gegenseitigen Vertrauens im menschlichen Zusammenleben (vgl. Höffe 1997: 206).
Nach Pieper werden unter den Begriffen Moral und Sitte „Handlungsmuster zusammengefasst, denen normative Geltung zugesprochen wird“ (Pieper 1994: 26). Moral gibt Regeln für gutes und richtiges Handeln im konkreten Leben vor, Ethik hingegen kann „als die Theorie des moralischen Handelns“ (Arndt 1996: 2) bezeichnet werden. „Ethik ist die wissenschaftliche Betrachtung moralischer oder sittlicher Fragen“ (ebd.: 16) Nach van der Arend lässt sich Ethik auch als „Nachdenken über die Moral“ definieren (1998: 14), also über das, was gut und richtig ist, was getan oder unterlassen werden sollte. Damit sind Werte angesprochen, die als Orientierungsstandards und Leitvorstellungen (vgl. Höffe 1997: 332f), die anzustreben sind und Normen als Handlungsmaximen (vgl. ebd.: 22ff) die, von Werten abgeleitet, für das menschliche Zusammenleben entscheidende Bedeutung haben. Als Beispiele für Werte nennt van der Arend (1998: 14) Entscheidungsfreiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Wohlbefinden, Gesundheit und Effizienz.
Arndt (vgl. 1996: 10) verwendet den Begriff der Fürsorge als Grundlage pflegerischer Wertehaltung, im Sinne einer bewussten Entscheidung, die über normale Mitmenschlichkeit hinausgeht. Tschudin (vgl. 1996: 50ff) spricht von drei Ausdrucksebenen für Werte und bezeichnet sie als Glauben, Werthaltungen und Werte als solche. Bei der Entwicklung von Werten spielt in der Regel auch Motivation eine Rolle, wodurch Werte weniger starr sind als Glaube und Haltung. „Das Besitzen, Erkennen und Hochhalten von Werten setzt immer eine Wahl voraus.“ (ebd.: 56) Normen hingegen können als Handlungsrichtlinien verstanden werden, abgeleitet aus den Werten, die ausgewählt wurden (vgl. v. d. Arend/Gastmans 1996: 195).
Als zusammenfassendes Ergebnis einer Diskussion über Ziele, Werte und Normen einer Berufsgruppe im gesellschaftlichen Zusammenhang werden Berufskodizes formuliert. Diese können als „ein zusammenhängendes Ganzes von ethischen Prinzipien und Regeln bezüglich der Ziele und Werte eines Berufes und die Haltung und das Verhalten, die für das Fördern und Evaluieren des beruflichen Handelns notwendig sind“ (ebd.: 56) verdeutlichen, „auf welche Weise eine Berufsgruppe seine Aufgabe in der Gemeinschaft erfüllen will“ (ebd.:.62). Eine Legitimation ethischer Berufsnormen ist davon abhängig, dass sie „mit allgemeinen Normen verbunden oder davon abgeleitet sind“ (ebd.:59).
Ein Berufskodex ist daneben auch essentieller Bestandteil des Professionalisierungsprozesses eines Berufes.
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- Dipl. Pflegewirt, M.A. Bernd Meyer (Author), 2008, Philosophische Grundlagen in Konzepten zur Begleitung demenziell erkrankter Menschen in der stationären und ambulanten Altenhilfe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123313
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