Partizipation im Sinne gleichberechtigter Teilhabe/Teilnahme an einem Vorhaben, Mitbestimmung, Beteiligung und Anrecht auf Ertrag ist ein demokratiepolitisches Grundprinzip. In seinen Ausprägungen hat es unterschiedlichste Gestalten. Es reicht von plebiszitären Methoden (z.B. Volksbefragung) bis hin zu konkretem, planerischen Mitgestalten auf lokaler Ebene. In der Arbeit wird Partizipation als Grundprinzip vorgestellt, notwendige Bedingungen zur Implementierung diskutiert und Arten von Partizipation unterschieden. Beispielhaft werden Methoden vorgestellt, die in raumbezogenen Planungs- und Entwicklungsprozessen zum Einsatz kommen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorie der Partizipation
2.1. Begriffsbestimmung
2.2. Wozu Partizipation?
2.3. Partizipationsformen
2.4. Rahmenbedingungen eines Partizipationsprozesses
2.5. Nutzen der Partizipation
2.6. Grenzen der Bürgerbeteiligung
3. Beteiligung der bolivianischen Zivilgesellschaft an der Armutsbekämpfung
3.1 Partizipation der „Armen“
3.2 Weshalb Bolivien?
3.3 Lebenssituation in einem Barrio am Beispiel El Alto
3.4 Partizipative Maßnahmen zur Armutsreduzierung
3.5 Die beteiligten Akteure
3.6 Zwischenergebnisse
3.7 Resümee des partizipatorischen Armutsbekämpfungsprogramms
4. BürgerInnenbeteiligung in Wien Alsergrund
4.1 Organisation, Struktur und Akteure des LA-21 Prozesses
4.2 Welche BürgerInnen beteiligen sich in Alsergrund?
4.2.1 Wo bleiben die benachteiligten Menschen?
4.2.2 Weshalb beteiligen sich Menschen am LA-21 Prozess?
4.3 Die Partizipation beeinflussende Faktoren in Alsergund
4.3.1 Finanzierung
4.3.2 Organisation und Struktur
4.3.3 Politik und Verwaltung
4.3.4 BürgerInnen
4.4 Resümee des LA-21 Prozesses Wien Alsergrund
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang
1. Einleitung
Partizipationsansätze sind in immer mehr Lebensbereichen der Gesellschaft anzutreffen: in der Forschung, in der Entwicklungszusammenarbeit, in der Kultur, in Schulen, in der Sozialarbeit, der Medizin, bei der Etablierung von Naturschutzgebieten (protected areas), im Tourismus, in der Raumplanung, in der Verwaltung, sogar in einigen wirtschaftlichen Betrieben. Die Motivationen der BürgerInnenbeteiligung sind vielfältig und die Erwartungen an den „Alleslöser“ Partizipation sind oft überfrachtet. Im Laufe der Jahre wurden unzählige Partizipationsprozesse mehr oder weniger erfolgreich implementiert und evaluiert. Sowohl in wohlhabenden Ländern als auch in so genannten Entwicklungsländern (emerging countries). Auch wenn die Inhalte auf den ersten Blick unterschiedlich zu sein scheinen, sind die Modelle von Partizipation und die Prozessabläufe gleich. Partizipation wird als Teil des Demokratisierungsprozesses betrachtet, und Demokratisierung wird mit steigendem Wohlstand in Verbindung gebracht. Doch das Partizipationsmodell in Bolivien, einem hoch verschuldeten Land, in dem 63% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, stellt diese kausale Verbindung in Frage.
Im zweiten Teil der Arbeit werden die Bedingungen für die Implementierung von partizipativen Elementen und deren Folgen in der bolivianischen Gesellschaft vorgestellt. Aber auch die Entwicklungsmöglichkeiten dieses groß angelegten Beteiligungsprozesses werden reflektiert. Während die theoretische Auseinandersetzung mit Bürgerbeteiligung im ersten Teil als Grundlage zum Verständnis des bolivianischen Modells dient.
Auf folgende Fragen habe ich Antworten gesucht: Was soll und kann mit Partizipation erreicht werden? Welche Voraussetzungen brauchen erfolgreich umgesetzte Partizipationsprozesse? Aber auch die Frage nach den Vor- und Nachteilen, den erfüllten sowie unerfüllten Erwartungen von Beteiligungsformen wird gestellt werden.
Auch wenn Bürgerbeteiligungsprozesse für manche Beteiligte nicht den gewünschten Effekt erzielten, wird es in demokratischen Zivilgesellschaften keine Alternative dazu geben. Im Gegenteil, angesichts des in vielen Ländern dynamischen Demokratisierungsprozesses, dürfen wir berechtigterweise auf die partizipative Erschließung bislang unberührter Gesellschaftsbereiche hoffen.
2. Theorie der Partizipation
2.1. Begriffsbestimmung
Partizipation ist ein sehr weit gestreuter, vielschichtiger, derzeit häufig verwendeter Begriff. Er beschreibt die aktive Einbeziehung von Gruppen der Zivilgesellschaft an allen Entscheidungen, die ihr Leben beeinflussen.
Gemeint ist die Teilnahme von BürgerInnen an Prozessen der Planung, Entwicklung, Willensbildung, Konfliktlösung, Problemlösung und zunehmend auch an der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision-making).
Partizipieren bedeutet Teil-Nehmen, aber auch Teil-Haben. Das verweist auf eine Erweiterung des Begriffsverständnisses, der konkreten Teil-habe an materiellen Gütern und Werten (Boden, natürliche Ressourcen, BIP, Einkommen).
So werden in Partizipationsprozessen zunehmend auch Fragen an die Verteilungsgerechtigkeit gestellt, deren Beantwortung hohes Konfliktpotential birgt.
Im Rahmen der EZA heißt Partizipation die gleichberechtigte Teilhabe aller betroffenen Gesellschaftsgruppen am Entwicklungsprozess. Vor allem benachteiligte und bisher ausgeschlossene BürgerInnen sollen ihre Interessen und Bedürfnisse mitteilen und durchsetzen können (Krüger 1998). Wer partizipiert, hat zwar die Möglichkeit der Mitsprache, was zwar immer ein Mehr an Macht bedeutet, letztlich muss aber allen Beteiligten bewusst sein, dass alle Partizipationsprozesse durch Machtasymmetrien gekennzeichnet sind.
Ein fast synonymer Begriff für Partizipation ist „BürgerInnenbeteiligung“. Sellnow tritt jedoch für eine klare Begriffstrennung ein, weil BürgerInnen irrtümlich annehmen könnten, dass bei einem Partizipationsvorgang formulierte Rechte bestehen, wie das bei einer formalen BürgerInnenbeteiligung ja auch der Fall sein kann. Er führt den neutralen noch unbesetzten Begriff der „Bürgermitwirkung“ ein (Sellnow 2003, S. 27). In der schriftlichen Arbeit verwende ich dennoch den geläufigeren Begriff der Bürgerbeteiligung.
Im Sprachgebrauch wird eigentlich nur eine informale Mitwirkung von BürgerInnen an einem öffentlichen Vorhaben als Partizipation bezeichnet (Nicolini 2003, S.31).
Häufig entwickeln sich Partizipationsverfahren aufgrund von Konflikten: Verteilungskonflikten von Zeit, Fläche, Raum, Ressourcen, Lebensqualität, Verteilung von Lasten und Nutzen. Partizipation meint die Verteilung durch Aushandeln, durch zwischenmenschlichen Dialog (Nicolini 2003, S.19).
Wenn hier von BürgerInnen gesprochen wird, dann ist nicht gemeint, dass alle interessierten BürgerInnen daran teilnehmen können, sondern RepräsentantInnen von Interessensgruppen, deren Auswahl noch später beschrieben wird. Partizipation bedeutet jedenfalls direkte Demokratie und erweitert das Modell der repräsentativen Demokratie.
2.2. Wozu Partizipation?
Sellnow und Maderthaner (2003, S.15-19) ermittelten folgende Gründe:
- BürgerInnen verfügen in der Regel über genaues Problembewusstsein, detaillierte Kenntnisse über lokale Gegebenheiten und eventuell auch Lösungsideen in Fragen, die ihr unmittelbares Lebensumfeld betreffen. Sie haben individuelle Vorstellungen über eine wünschenswerte Zukunft, über Werte und Ziele, „Was-soll-sein“, so genanntes Deontisches Wissen. Experten, die nicht dort wohnen und anderen gesellschaftlichen Schichten angehören, haben keinen Zugang zu diesem speziellen Wissen und wissen nicht was BürgerInnen wollen.
- „top-down“ Vorgehensweisen lösen Probleme meist wenig dauerhaft und rufen Widerstand in der Bevölkerung hervor.
- Entscheidungen von Volksvertretern werden oft nicht als Gemeinwohl empfunden.
- Die bisherigen Formen der Entscheidungsfindung reichen oft nicht aus, um die vielfältigen Interessen und Anliegen angemessen zu vertreten.
- Partizipation begegnet den Gefahren der Verselbständigung von „Berufspolitikertum“, und ohne Kontakt zu Menschen, die sie vertreten sollen.
- Bestimmte Gesellschaftsgruppen sind in der gewählten Regierung nicht vertreten und verfügen über keine institutionalisierten und meist auch keine persönlichen Kontakte zu gewählten VertreterInnen. Während einflussreiche gut organisierte Gruppen ihre Interessen auch gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen können.
2.3. Partizipationsformen
Partizipationsmodelle lassen sich auch in formale und informale unterscheiden: Formale sind rechtlich geregelt, eine Beteiligung von definierten Personen oder Gruppen ist daher verpflichtend vorgesehen. Das können Eigentümer, Investoren, oder Interessengruppen z.B.: NGOs sein. Formale Beteiligungsformen sind: Öffentliche Gemeindesitzungen, Informationspflicht gegenüber den BürgerInnen bei relevanten Planungen, Befragungen, Anhörung von BürgerInnen in öffentlichen Sitzungen, regelmäßige Bürgerversammlungen. Formale Bürgerbeteiligungen sind in der Kommunalpolitik bei folgenden raumbezogenen Fragen vorgesehen: Bebauungsplan, Flächennutzungs- und Flächenwidmungsplanung, Stadtsanierung, UVPs, Abfallwirtschaft und öffentlichen Verkehr.
„Informale Beteiligungsverfahren sind frei gestaltbar. Ihr Einsatz ist zufällig und freiwillig und dient den vorhandenen repräsentativen Strukturen bei ihrer Entscheidungsfindung“ (Kollmann 2003, S.21). Dazu zählen: Anträge, Begehren, Entscheide, Anregungen und Beschwerden von BürgerInnen, BürgerInnenversammlungen, Runder Tisch, Zukunftswerkstatt, Bürger- Konsensuskonferenz, Open-space Conference, Mediation, Kooperativer Workshop.
Eine weitere Differenzierung von Partizipationsmodellen kann nach dem Grad der Beteiligung vorgenommen werden oder eine Einteilung nach jeweils gesteigertem Engagement (Nicolini 2003, S.20 und Maderthaner 2003, S. 30). Von der Befragung und Information, der Möglichkeit zur qualitativen Stellungnahme bis hin zur Mitwirkung (Kollmann 2003, S.88).
Partizipationsansätze gewinnen seit etwa dreißig Jahren auch in der Entwicklungstheorie und Entwicklungspraxis an Bedeutung.
Im entwicklungspolitischen Zusammenhang versteht man unter Partizipation das Einbeziehen der Armen und Unterdrückten in Entscheidungs- und Durchführungsprozesse. Maßgeblich ist hier die Unterscheidung von Paulo Freire in passive und aktive Partizipation, die mit der eben erwähnten Einteilung der steigenden Beteiligungsgrade fast identisch ist. Freire spricht von passiver Partizipation, wenn Betroffene bei der Umsetzung eines bereits fertig konzipierten Entwicklungsprojektes mitmachen sollen. Diese Vorgehensweise wird auch als „top-down„ bezeichnet. Während bei der aktiven Partizipation, die Betroffenen den Entwicklungsprozess selbst initiieren, sich ihre eigenen Ziele setzen und diese eigenständig oder mit externer Begleitung dann verwirklichen, ein „bottom-up“ Prozess. Der aktive Beteiligungsprozess ist besonders in der Entwicklungsarbeit von herausragender Qualität, weil er nicht nur eine Methode, sondern zugleich Ziel ist. Die Verschiebung der Machtstrukturen und Einebnung von Ungleichheiten sind Teil des weltweit zunehmenden Demokratisierungs- und Dezentralisierungsprozesses. Die marginalisierten Bevölkerungsgruppen sollen über mehr Entscheidungskompetenzen verfügen, so die Hoffnung der Entwicklungsorganisationen. Vergleiche Tabelle1 im Anhang.
2.4. Rahmenbedingungen eines Partizipationsprozesses
Wie schon erwähnt, muss eine Auswahl der partizipierenden BürgerInnen zu stattfinden, höchstens 70 Personen. Denn eine rückgekoppelte Kommunikation, mit nicht kontinuierlich am Prozess teilhabenden BürgerInnen wäre sonst nicht möglich. Das bedeutet, dass Menschen nicht nach dem Zufallsprinzip zu TeilnehmerInnen werden, sondern vom Veranstalter ausgewählt werden. Im bolivianischen Armutsbekämpfungs- modell werden sie jedoch von der Bevölkerung gewählt. Bei der Auswahl sind Transparenz, Nachvollziehbarkeit und klare Kriterien unabdingbar. Meist ist es ausreichend, dass die unterschiedlichen Interessensgruppen durch StellvertreterInnen repräsentiert werden.
Klar sollte auch sein, ob eine Informationsveranstaltung mit der Möglichkeit der bürgerschaftlichen Stellungnahme stattfindet, oder eine ergebnisoffene Diskussion zu einem Thema, oder ein Konsens zu einem Interessenskonflikt angestrebt wird, jedenfalls eine Entscheidung herbeigeführt werden muss. Die Ziele müssen eindeutig definiert sein. Wie mit dem Ergebnis umgegangen wird, sollte auch allen klar mitgeteilt werden. Beides wird in der Regel vom Auftraggeber, der einlädt formuliert. Kontraproduktiv wäre, wenn BürgerInnen nicht erfahren, wie mit ihren Vorschlägen umgegangen wird, und die Informationsbeschaffung mühsam ist.
Ein kontinuierlicher Informationsfluss zu Nicht-Beteiligten und Möglichkeiten der Rückmeldung müssen gewährleistet sein. “participation needs to be informed“.
Grundsätzlich ist es sinnvoll möglichst viele organisatorische Fragen, Rahmenbedingungen, Rollen, Spielregeln aber auch Ziele mit den Partizipierenden gemeinsam festzulegen oder jedenfalls abzuklären, dadurch wird höhere Verbindlichkeit und Akzeptanz erreicht. Die Ziele müssen jedenfalls von allen Beteiligten akzeptiert werden.
In jeder Phase des Prozesses muss die Moderation neutral und auf die Gleichberechtigung der verschiedenen Interessen bedacht sein. Die Person oder Organisation die den Partizipationsprozess begleitet, muss als objektiv und fair angesehen werden.
Konkrete Vorteile für Sich-Beteiligende müssen greifbar sein. Die Ergebnisse müssen umgesetzt werden, auch wenn die Umsetzung je nach Ziel des Verfahrens (Empfehlung, Entscheidungsprozess, etc.) graduell sehr unterschiedlich sein kann.
Erfolgreich ist ein Partizipationsverfahren nicht wenn sich jemand erfolgreich durchgesetzt hat, sondern wenn die oben genannten Kriterien erfüllt wurden (Sellnow 2003).
2.5. Nutzen der Partizipation
Der finanzielle und personelle Aufwand für Partizipationsverfahren hängt vom Inhalt, der Dauer des Verfahrens und der Anzahl der Beteiligten ab. Die Verfahrenskosten liegen zwischen 1-5% der Projektgesamtkosten, bei Großvorhaben nur im Promillebereich. Der Nutzen beschränkt sich aber nicht nur auf die ökonomische Effizienz. Durch Partizipation entsteht Mehrwert. Das sind Auswirkungen, die über das konkrete Partizipationsergebnis hinausgehen. Ich habe sie unter den Überschriften Effizienz, Empowerment und Demokratie zusammengefasst:
Effizienz für Verwaltung und Politik
- Fehlinvestitionen können vermieden werden.
- Lösungen halten längerfristiger, weil sie bedürfnisgerecht und sozialverträglich sind.
- Zeitersparnis durch Vermeidung von Fehlplanungen.
- Kosteneinsparungen, durch adäquate Lösungen nehmen Einsprüche und Gerichtsverfahren ab.
- Partizipationsverfahren tragen zur Deeskalation von Konflikten bei (Mediation).
- Durch tragfähige Ergebnisse und erfolgreiche Partizipationsverfahren kommt es zu Prestigegewinn für PolitikerInnen.
- PolitikerInnen erfahren Bedürfnisse und Ängste der BürgerInnen. Sie sind Informationsquelle und dienen als Korrektiv.
- Es etabliert sich eine demokratische Verfahrenskultur für künftige Vorhaben.
Demokratie
- Stärkung des demokratischen Bewusstseins und demokratische Verhaltensweisen werden eingeübt (Artikulation von eigenen Anliegen, Konsensbildung, Akzeptieren von Mehrheitsentscheidungen).
- Überzeugung der Zweckmäßigkeit demokratischer Institutionen wird durch die Möglichkeit der Mitbestimmung erhöht.
- Passiver Widerstand und Rückzug in die Anonymität wird vermieden.
- BürgerInnen werden nicht als Gegner erlebt, was naturgemäß geschieht, wenn fertige Projekte präsentiert werden (Kollmann 2003).
Empowerment
- Selbstvertrauen durch erfolgreiche Problemlösekompetenz.
- Interessen der BürgerInnen finden Berücksichtigung im Planungsprozess.
- Soziale Beziehungen und Strukturen werden gefestigt, können aber auch in ihrer gegenseitigen Ablehnung verfestigt werden, wenn kein erfolgreicher Konsens zustande kommt oder ein Partner vorzeitig aussteigt.
- Das Vertrauen zwischen den BürgerInnen steigt durch das gemeinsame Ziel und die intensive Auseinandersetzung.
- BürgerInnen lernen sich zu organisieren und ihre Interessen mutig zu vertreten.
- BürgerInnenidentität und Problembewusstsein werden gestärkt, das Entwicklungspotential wird entfaltet.
- Identifikation mit dem Projekt, bzw. mit der Region.
- Bereitschaft und Engagement zur Umsetzung steigen, aber auch die Bereitschaft zu Engagement und Lösung anderer sozioökonomischer, kommunaler und ökologischer Fragen steigt (Sellnow/Maderthaner 2003).
2.6. Grenzen der BürgerInnenbeteiligung
Oft führen überzogene Erwartungen von Beteiligten zu Demotivation und Abwertung des gesamten Prozesses. Beispielsweise ist bei einem formalen Beteiligungsverfahren keine „echte Beteiligung“ vorgesehen, sondern ausschließlich Information an und Stellungnahmen von BürgerInnen, zur Meinungsbildung der Verwaltung.
Nicht alle Entscheidungen können von BürgerInnen bearbeitet werden. Oft mangelt es an Information, Wissen, Kompetenzen und Zeit. Deshalb sind gewählte, demokratisch legitimierte VolksvertreterInnen (repräsentative Demokratie) und Exekutivorgane notwendig, die durchführen und Experten heranziehen, denn Experten verfügen über Faktenwissen, Methoden Planungsinstrumente, und erklärendes Wissen, erkennen Zusammenhänge, sowie Folgen und Nebenwirkungen.
Manchmal dienen Partizipationsprozesse als Alibi und werden als Legitimation für ein umstrittenes Projekt missbraucht. In diesem Fall können BürgerInnen auch trotz Beteiligung nichts bewirken.
BürgerInnen mit eingeschränkten Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeiten können die Fachsprache und abstrakte Darstellungen oft nicht verstehen. Sie ziehen sich zurück und leisten passiven Widerstand - „kooperativer Boykott“ (Sellnow und Maderthaner 2003).
Frustrationen in partizipativen Verfahren können durch die Wahl der geeigneten Beteiligungsform und durch professionelle Unterstützung (ModeratorIn, MediatorIn) vermieden werden.
3. Beteiligung der bolivianischen Zivilgesellschaft an der Armutsbekämpfung
3.1. Partizipation der „Armen“
Partizipation ist derzeit auch für Entwicklungsländer und Geberländer ein sehr beliebtes Rezept. BürgerInnenbeteiligung in Entwicklungsländern ist ein wichtiges Element des weltweiten Demokratisierungs- und Dezentralisationsprozesses.
Dadurch werden Kompetenzen und Verantwortung auf untere Verwaltungsebenen und die Zivilgesellschaft übertragen. Das Vertrauen in einen starken zentral regierten Staat, der Grundbedürfnisse sichert und die Probleme der Bevölkerung adäquat löst, ist offensichtlich stark gesunken. (Nijenhuis 2003). Die Bevölkerung und ihre gewählten RepräsentantInnen sollen die Politik, der sie unmittelbar betreffenden Interessen stärker beeinflussen können. Die Region auf der sie Einfluss nehmen ist geographisch in der Regel klar abgegrenzt, meist Gemeindegrenzen. Wichtigstes Ziel ist die Kluft zwischen BürgerInnen und politischen EntscheidungsträgerInnen zu verkleinern. Begriffe, die den Wandel beschreiben sind Dezentralisation, Partizipation, Demokratisierung, local decision-making, pluralistische Politik, repräsentative Regierung, good governance, Ownership, Empowerment.
Für vermehrte BürgerInnenbeteiligung lassen sich einerseits politische und andererseits wirtschaftliche Gründe finden: Es wird vermutet, dass Partizipationsverfahren einen günstigen Einfluss auf die Legitimation der Regierung und auf ethnische Konflikte innerhalb des Nationalgebietes haben (integrierender Effekt). Das dürfte auch der Grund sein, weshalb viele Länder nach dem Übergang von der Militärdiktatur zur demokratischen Regierung partizipative Formen einführen. Druck von „Unten“ dürfte kein entscheidender Faktor sein.
Ökonomische Erwartungen sind größere Kosteneffizienz durch Eindämmung der Land-Stadt Migration. Die Kommunalregierung fühlt sich durch Nähe zur Bevölkerung verantwortlicher und wird mit den regionalen Problemen konfrontiert, was sie wiederum anspornt diese zu lösen. Durch genaue Kenntnisse der Bedürfnisse wird eine günstigere Bereitstellung der Grundversorgung möglich. Die Steuereinhebung wird erleichtert, aufgrund steigender Bereitschaft der Bevölkerung für öffentliche Dienstleistungen zu zahlen, weil sie über die eigenen Prioritäten reflektiert.
Aber auch die Hoffnung der Nationalregierungen durch Delegation von Verpflichtungen Ausgaben zu sparen und Staatsdefizite zu minimieren zählt dazu (Nijenhuis 2002 und Schalkwijk 2002).
3.2. Weshalb Bolivien?
Um die Ergebnisse und Probleme des Partizipationsprozesses in Bolivien verstehen zu können scheint mir die ausführliche Darstellung der makro- und sozioökonomischen Bedingungen relevant zu sein.
In vielen Ländern Lateinamerikas wird die Regierungsgewalt dezentralisiert und die Gesellschaft demokratisiert. Im Unterschied zu Bolivien gibt es jedoch keinen gesetzlichen Rahmen, der BürgerInnenbeteiligung festlegt (Lindert 2003). Das außergewöhnliche am bolivianischen Partizipationsmodell ist neben der institutionalisierten Partizipationsform jedoch die relative kurze Dauer seit der Implementierung und die Radikalität dieses Prozesses. Bolivien befindet sich wie kaum ein anderes Land im Umbruch.
Rund 63 Prozent der BolivianerInnen gelten laut UNDP-Statistik als arm. 37 Prozent leben in extremer Armut. 71% der Bevölkerung sind indigenas. Am stärksten von Armut betroffen sind die ländlichen Gebiete. Bolivien ist eines der ärmsten und laut „transparency international“ das zweitkorrupteste unter den Ländern Lateinamerikas. Es wird zu den Highly Indebted Poor Countries (HIPC) gerechnet (Klein 2003). 1999 betrug die Verschuldung 213% der Exporterlöse. Die nationale Entwicklung, sowie alle sozialen und Infrastrukturbereiche (Bildung, Gesundheitsversorgung, ländliche Entwicklung, Stadtteilsanierung, Strassenbau) sind von ausländischer Finanzhilfe abhängig. In den 90er Jahren wurde ca. die Hälfte der öffentlichen Ausgaben von externen Finanzquellen finanziert. Neben Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit zählen IADB-Inter American Development Bank, worldbank, IMF-International Monetary Fond, CAF-Regionale Entwicklungsbank der Andenländer zu den bedeutendsten Gebern. Bolivien, als ärmstes Land Lateinamerikas, erhielt den höchsten Anteil finanzieller Entwicklungshilfe in den letzten 10 Jahren, mehr als 10 % des BIP. Seit 1985 setzte Bolivien ein Strukturanpassungsprogramm mit Unterstützung des IWF um, mit dem Ziel die Wirtschaft anzukurbeln, und durch Wirtschaftswachstum die soziale Entwicklung voranzutreiben. Tatsächlich stiegen die lokalen Investitionen, ADI und Außenhandel markant, die Exporte verdoppelten sich innerhalb von acht Jahren. Die Sozialausgaben stiegen von 10% der Staatsausgaben 1990 auf 50% 1999. Weltbank, IWF, IDB und andere Kreditgeber zeigten sich durchwegs zufrieden mit der Umsetzung der strukturellen, sozialen und institutionalen Reformen in Bolivien. Doch die Armut konnte nicht reduziert werden, „trickle down“ Effekte waren nicht signifikant. Offensichtlich gab es keinen Zusammenhang zwischen dem relativ hohem Wirtschaftswachstum (durchschnittlich 4% in den 90er Jahren) und dem hohen Armutsniveau. Noch immer leben 63% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, d.h. von ca. 8 Millionen Einwohnern müssen 5 Millionen mit weniger als 2 US$ pro Tag den Lebensunterhalt bewältigen (Nijenhuis 2002 und Schalkwijk 2002).
1999 hat auch die Weltbank erkannt, dass Partizipation und Transparenz notwendige Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung sind. In der Vergangenheit führten Armutsbekämpfungsmodelle, die soziale Belange außer Acht ließen, zu wenig tragfähigen Lösungen.
Diese Einsicht versucht die Weltbank im neuen Entwicklungsansatz des Comprehensive Development Framework - CDF umzusetzen. CDF berücksichtigt die sozialen Aspekte ebenso wie die makroökonomischen. Das bedeutet aber auch, dass es kein für alle Gesellschaften gültiges Entwicklungskonzept mehr geben kann (Sangmeister 2000).
Als erstes Land Lateinamerikas qualifizierte sich Bolivien im Jahr 2000 für den Schuldenerlass der HIPC 2 Initiative. Als Voraussetzung wurde von den Geberländern (Niederlande, Deutschland, USA, Japan) und Geberinstitutionen (IMF, WB) ein durch Beteiligung der Zivilbevölkerung erstelltes Konzept zur Armutsbekämpfung verlangt. Die PRSPs = Poverty Reduction Strategy Papers sind sozusagen die Umsetzung der CDF. So wurde Bolivien zum Pilotland der HIPC 2 Entschuldungsinitiative. Der Schuldendienst soll bis zum Jahr 2015 auf 150% der Exporterlöse sinken, der Anteil der armen Bevölkerung von 63% auf 41%, der Anteil extrem Armer von 37% auf 17% gesenkt werden. Das durch den Schuldenerlass verfügbare Geld sollte nicht der Nationalregierung, sondern den 314 Gemeinden direkt zugute kommen. Die Umverteilung sollte erstmals armutsorientiert erfolgen. Denn die Ursache für die erfolglose Armutsreduktion wird in der ausgeprägten sozioökonomischen Ungleichheit vermutet. 20% der Bevölkerung verfügt über 54% des Gesamteinkommens, während die untersten 20% nur 4% bekommen. Diese anhaltend angespannte Situation schätzen die Regierung und Geberinstitutionen als hohes Risiko ein.
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- Arbeit zitieren
- MSc Alex Glas (Autor:in), 2007, Partizipation in raumbezogenen Planungs- und Entwicklungsprozessen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123270
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