Die Zunahme internationaler Migrationsbewegungen ist eines der wichtigsten Phänomene
des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. In den vergangenen Jahrzehnten stieg die Anzahl von Menschen, die sich längerfristig außerhalb ihres Geburtslandes aufhielten, von 82 Mio. im Jahr 1975 über 175 Mio. im Jahr 2000 auf annähernd 200 Mio. Im Jahr 2005, was einem Anteil von 3 Prozent an der Weltbevölkerung entspricht. Neben dieser quantitativen Veränderung internationaler Migrationsprozesse ist jedoch auch eine qualitative Veränderung in den Voraussetzungen, Verläufen und individuellen Organisationsformen von Migration auszumachen: Parallel zu der lange Zeit dominierenden Form internationaler Migration als einmaligem und endgültigem Mobilitätsvorgang entwickelte sich eine transnationale Form der Migration, die geprägt ist durch mehrfache Verlagerungen des Wohnsitzes über internationale Grenzen hinweg und durch die Aufrechterhaltung intensiver sozialer Bezüge zwischen Herkunfts- und Ankunftsort. Unter Transnationalität versteht man grenzüberschreitende Prozesse von Migranten/Migrantinnengruppen, deren soziale Beziehungen und Praktiken mindestens zwei oder mehrere Staaten verbinden. Sie sprechen oft zwei Sprachen, fühlen sich mehreren Heimaten zugehörig, bewegen sich zwischen verschiedenen Kulturen und verfolgen oft politische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen, die sich auf zwei Länder bedingen.
Mit Fatima (Name vom Verfasser geändert) habe ich eine Biographin gefunden, die die Voraussetzungen der Transnationalität erfüllt. Anhand des narrativen Interviews und der darauffolgenden Analyse möchte ich Erkenntnisse über die Problematiken der Gruppe von Menschen gewinnen, die in zweiter Generation in Deutschland aufgewachsen sind. Ein großes Interesse bilden für mich die Faktoren, die das Zugehörigkeitsgefühl der Migrantenkinder beeinflussen können. Wichtige Faktoren werden hier vermutlich die Familie, Freunde, Bildung etc. sein. Wie diese gewichtet sind und inwiefern sie überhaupt eine Rolle spielen, werde ich hoffentlich nach der Auswertung des Interviews beantworten können.
Zunächst möchte ich noch auf die Art der Analyse und das Forschungsdesign eingehen, dass ich für die Auswertung gewählt habe und dieses kurz vorstellen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Theoretischer Hintergrund
1.2. Forschungsdesign
2. Hauptteil
2.1 Analyse der biografischen Daten und der erlebten Lebensgeschichte
2.2 Text und thematische Feldanalyse mit ersten Annahmen zur erlebten Lebensgeschichte
2.3 Analyse des Nachfrageteils und weitere Hypothesenbildung zur erlebten und erzählten Lebensgeschichte hinsichtlich des Hauptthemas
2.4 Sequenzielle Feinanalyse ausgewählter Textstellen
3. Schluss
3.1. Zusammenfassung der Ergebnisse
Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Theoretischer Hintergrund
Die Zunahme internationaler Migrationsbewegungen ist eines der wichtigsten Phänomene
des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. In den vergangenen Jahrzehnten stieg die Anzahl von Menschen, die sich längerfristig außerhalb ihres Geburtslandes aufhielten, von 82 Mio. im Jahr 1975 über 175 Mio. im Jahr 2000 auf annähernd 200 Mio. Im Jahr 2005, was einem Anteil von 3 Prozent an der Weltbevölkerung entspricht.[1] Neben dieser quantitativen Veränderung internationaler Migrationsprozesse ist jedoch auch eine qualitative Veränderung in den Voraus-setzungen, Verläufen und individuellen Organisationsformen von Migration auszumachen: Parallel zu der lange Zeit dominierenden Form internationaler Migration als einmaligem und endgültigem Mobilitätsvorgang entwickelte sich eine transnationale Form der Migration, die geprägt ist durch mehrfache Verlagerungen des Wohnsitzes über internationale Grenzen hinweg und durch die Aufrechterhaltung intensiver sozialer Bezüge zwischen Herkunfts- und Ankunftsort. Unter Transnationalität versteht man grenzüberschreitende Prozesse von Migranten/Migrantinnengruppen, deren soziale Beziehungen und Praktiken mindestens zwei oder mehrere Staaten verbinden.[2] Sie sprechen oft zwei Sprachen, fühlen sich mehreren Heimaten zugehörig, bewegen sich zwischen verschiedenen Kulturen und verfolgen oft politische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen, die sich auf zwei Länder bedingen.
Mit F. (Name vom Verfasser geändert) habe ich eine Biographin gefunden, die die Voraussetzungen der Transnationalität erfüllt. Anhand des narrativen Interviews und der darauffolgenden Analyse möchte ich Erkenntnisse über die Problematiken der Gruppe von Menschen gewinnen, die in zweiter Generation in Deutschland aufgewachsen sind. Ein großes Interesse bilden für mich die Faktoren, die das Zugehörigkeitsgefühl der Migrantenkinder beeinflussen können. Wichtige Faktoren werden hier vermutlich die Familie, Freunde, Bildung etc. sein.
Wie diese gewichtet sind und inwiefern sie überhaupt eine Rolle spielen, werde ich hoffentlich nach der Auswertung des Interviews beantworten können.
Zunächst möchte ich noch auf die Art der Analyse und das Forschungsdesign eingehen, dass ich für die Auswertung gewählt habe und dieses kurz vorstellen.
1.2. Forschungsdesign
Dem Hauptthema meiner Arbeit möchte ich Anhand einer qualitativen Methode der Sozialforschung auf den Grund gehen. Hierzu wähle ich als Teil der Interpretativen Sozialforschung das Narrative Interview aus. Auf dieser Grundlage werte ich das Interview mit F. anhand einzelner Analyseschritte aus der Biographischen Fallrekonstruktion aus.
Im folgenden möchte ich auf die Herangehensweise eingehen. Da ich das Interview nicht selbst geführt habe, lieh mir Ebru Tepecik[3] ein Interview, welches sie im Dezember 2004 mit einer Türkin geführt und auf Tonband aufgenommen hatte. Nach einer kurzen Vorstellung der Forscherin und der Bitte, ihr ihre Lebensgeschichte zu erzählen, begann F. ihre Erzählung. Diese dauerte circa 40 Minuten. In einem anschließenden Nachfrageteil bat die Forscherin um Erläuterungen zuvor unklar oder oberflächlich gebliebener Punkte, bis sie den Eindruck hatte, ein komplettes biographisches Bild von der Interviewten zu haben. Ich beginne meine Auswertung zunächst mit mehrmaligem Hören des Interviews, wobei ich mir beim zweiten Anhören kurze Notizen zu den biographischen Eckdaten machen werde.
Der erste Arbeitsschritt der Auswertung wird die Erstellung einer Tabelle der biographischen Ereignisdaten sein, die daraufhin in einer Tabelle zusammengefasst werden. Dann werden anhand einer sequenziellen Analyse der objektiven oder biographischen Daten zunächst die kaum an die Interpretation der Biographin gebundenen Daten (z.B. Geburt, Anzahl der Geschwister, Ausbildungsdaten, Familiengründung, Wohnortswechsel etc.) in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse im Lebenslauf analysieren.[4] Das Wissen über den Kontext sollte hierbei vom Interviewer ausgeklammert werden, sodass unabhängig vom übrigen Wissen zunächst Hypothesen und anhand des abduktiven Vorgehens weitere Folgehypothesen über das nächste biographische Datum gebildet werden. Diesen Schritt vollzieht man nun in chronologischer Abfolge mit jedem einzelnen Datum.
Im nächsten Schritt folgt die Text- und thematische Feldanalyse. Hier rückt im Kontrast zur Analyse der erlebten Lebensgeschichte (1. Schritt), die Analyse der Selbstpräsentation des Biographen in den Vordergrund. Im Unterschied zur Analyse der biographischen Daten wird hier nicht nach dem Erleben zum Zeitpunkt des Ereignisses gefragt[5], sondern man versucht herauszufinden, wieso sich der Biograph in einer bestimmten Sequenz so und nicht anders äußert. Außerdem fragt man sich, wieso welcher Abschnitt in welcher Länge präsentiert wird oder warum der Biograph bestimmte Dinge an einer bestimmten Stelle nicht erwähnt. Ein weiterer Faktor, der bei der Analyse der erzählten Lebensgeschichte eine Rolle spielt, ist die Textform, in der der Biograph seine Erzählung präsentiert. Hier sollte man zwischen Erzählung, Bericht, Beschreibung oder Argumentation unterscheiden.
Der dritte Teil meiner Arbeit beschäftigt sich mit der Text- und thematischen Feldanalyse des Nachfragteils. Ich habe diesen anstatt einer Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Lebensgeschichte gewählt. Da im Rahmen dieser Hausarbeit eine nur verkürzte Auswertung möglich war und das Interview nur die Transkription der ersten 20 Minuten vorsieht, halte ich es für effizienter, anhand der Analyse des Nachfrageteils noch detailliertere Informationen über die Biographin zu erhalten und diese Anhand des abduktiven Vorgehens mit Hypothesen zu belegen. Ein Vergleich von erlebter und erzählter Lebensgeschichte wäre aufgrund der Tatsache, dass das Transkript nicht bis zum Ende der Erzählung geführt hat, nur schwer möglich.
Anhand der Feinanalyse zweier Textstellen werden im Folgenden bisher gewonnene Hypothesen bestätigt oder widerlegt. Die Auswahl von Textstellen für die Feinanalyse orientiert sich einerseits an den bisher gewonnenen Strukturhypothesen und andererseits an Textstellen, deren Bedeutung uns bisher verschlossen blieb.[6]
Der letzte Teil meiner Auswertung wird eine Schlussfolgerung beinhalten. Hier möchte ich nochmals auf gewonnene Erkenntnisse in den vorangegangenen Teilen der Arbeit eingehen und schauen, inwiefern sich im Laufe der Auswertung aufgestellte Hypothesen bestätigt oder aufgelöst haben.
Dem Schlussteil möchte ich einen Kommentar von Vera King hinzufügen. Ihr Kommentar fasst aus meiner Sicht die Problematiken, denen F. und viele andere junge Menschen mit Migrationshintergrund in zweiter Generation ausgesetzt sind, sehr prägnant und treffend zusammen.
2. Hauptteil
2.1 Analyse der biografischen Daten und der erlebten Lebensgeschichte
F. wurde 1981 als Kind türkischer Immigranten geboren. Sie hat einen vier Jahre jüngeren Bruder. Ihre Eltern kamen in den 70er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland.
Die Mutter flüchtete mit 15 Jahren gegen den Willen ihrer Familie aus dem Osten der Türkei nach Deutschland. Man könnte davon ausgehen, dass F.s Mutter nach den strengen Regeln der Familie leben musste, da sie von ihrem Vater oder den älteren Geschwistern unterdrückt wurde. Hier kann man noch hinzufügen, dass der Osten der Türkei eine sehr strukturschwache Region ist, in der wirtschaftliche Ressourcen vor Allem durch Landwirtschaft produziert werden. Das könnte weiterhin vermuten lassen darauf, dass F.s Mutter bereits früh harte körperliche Arbeit verrichten musste. Die Flucht nach Deutschland lässt mutmaßen, dass sie einen starken Willen hatte, sich in ihrem zukünftigen Leben zu verändern. Diesen Lebensstil könnte sie später an ihre Tochter weitergegeben haben.
Der Vater von F. kam mit einem anderen biographischen Hintergrund nach Deutschland. Er hatte bereits ein Hochschulstudium der Physik in der Türkei absolviert und arbeitete als Mathematik- und Physiklehrer in der Türkei. Im Gegensatz zur Mutter kann man davon ausgehen, dass er einen anderen familiären Hintergrund hat. Seine Eltern könnten stark am Bildungsaufstieg ihres Sohnes interessiert gewesen sein und hatten außerdem die nötigen finanziellen Mittel, um ihren Sohn angemessen zu fördern. F.s Vater immigrierte nach Deutschland, um zu arbeiten, da aufgrund des Konjunkturaufschwungs in den siebziger Jahren viele Arbeitskräfte gesucht wurden. Er nahm hier jedoch eine Stelle als Angestellter an, was auf einen Bildungsabstieg des Vaters deuten lässt. Grund dafür könnte sein, dass die Geburt F.s die Eltern dazu zwang, finanzielle Sicherheit zu schaffen. Mit einer Fortführung seines Studiums in Deutschland, wäre diese durch den Vater nicht realisierbar gewesen. Diese Entscheidung für die finanzielle Sicherheit lässt darauf schließen, dass F.s Eltern großes Interesse daran gehabt haben, dass sie später alle Möglichkeiten haben soll, sich zu bilden, obwohl es ihrem Eltern zum Teil komplett (Mutter) bzw. bis zu einem bestimmten Grad (Vater) verwehrt blieb. Dadurch würde außerdem der Druck auf F. wachsen, später einen erfolgreichen Bildungsaufstieg zu vollziehen.
F.s Vor- und Grundschulzeit verlief unauffällig (Besuch des Kindergartens ab dem dritten Lebensjahr, Einschulung mit sechs Jahren, Abschluss der Grundschule, ohne eine Klasse wiederholt zu haben). Parallel besuchte sie ein multikulturelles Jugendzentrum. Das zeigt, dass F. in der Vor- und Grundschulzeit weder Lerndefizite, noch Sprachdefizite hatte, die sie daran hinderten problemlos am Schulalltag teilzunehmen.
Nach der vierten Klasse erhielt F. eine Hauptschulempfehlung. Diese bekam sie aufgrund einer Vier in Mathematik. Hier könnte man mutmaßen, dass die Hauptschulempfehlung ein Zeichen für die Reproduktion sozialer Ungleichheit ist, denn eine schlechte Note sollte nicht dazu veranlassen, den schulischen Werdegang so erheblich zu beeinflussen. Des Weiteren ist fraglich, ob die Empfehlung der Lehrerin bindend war, oder wie in einigen deutschen Bundesländern, Rücksprache mit den Eltern gehalten werden muss und deren Zustimmung benötigt wird. Hier lässt darauf schließen, dass die Empfehlung erst nach Rücksprache mit den Eltern wirksam wurde, da diese nach einem Gespräch mit der Lehrerin zustimmen. Argumentiert wird die Entscheidung der Lehrerin damit, dass es für F. motivierender wäre, wenn sie aufgrund guter Leistungen von der Hauptschule auf eine weiterbildende Schule wechselt und später studieren zu können, anstatt den Anforderungen der Realschule/Gymnasium nicht gerecht zu werden und diese dann zu verlassen. Dadurch, dass die Eltern zunächst nicht mit der Entscheidung der Lehrerin zufrieden waren, sich aber dann von ihr überzeugen lassen haben, zeigt, dass sie für die Tochter nur „das Beste“ wollen und erhoffen sich durch diese Entscheidung, zunächst die Hauptschule ausgewählt zu haben, einen späteren Bildungsaufstieg ihrer Tochter. Des Weiteren bestätigt diese Ansicht der Eltern die oben aufgestellte Hypothese, dass insbesondere der Vater darin bestrebt ist, seine Tochter möglichst optimal zu fördern, um ihr eventuelle Chancen zu ermöglichen, die er nicht hatte.
F. wechselt demnach auf die Hauptschule. Hier könnte sie auf viele andere Migrantenkinder stoßen, die aufgrund von Sprachproblemen ebenfalls eine Hauptschulempfehlung bekommen haben. Hier stellt sich die Frage, wie groß der Einfluss ihres Umfeldes ist. Findet sie viele Freunde an der Schule, mit denen sie gemeinsame Interessen entwickelt oder wird sie zur Einzelgängerin, weil sie durch gute Leistungen in der Schule als Streber angesehen wird? Ein weiterer Aspekt könnte der Einfluss der Eltern sein. Gerade in der Adoleszenz fangen viele Kinder an, sich gegen die Entscheidungen der Eltern aufzulehnen.
Anhand der Daten wird sichtbar, dass sich F. sich in dieser Zeit von den anderen Mitschülern abkapselt und beginnt, sich außerhalb der Schule nebenbei mit Kunst zu beschäftigen und Romane zu lesen. Des Weiteren nimmt sie aufgrund mangelnden Interesses kaum noch aktiv am Unterricht teil. Ihre guten Noten leiden nicht unter diesem Umstand. Während ihre Mitschüler in den Pausen im Wald heimlich rauchen und andere Drogen konsumieren, bleib sie allein auf dem Pausenhof. Hier zeigt sich, dass sie ihr Elternhaus stark beeinflusst und sie sich auch persönlich für einen Bildungsaufstieg entscheidet.
Diese Annahme bestätigt sich im nächsten biografischen Datum. 1997, nach der 9. Klasse werden die Schüler in eine a und eine b-Klasse aufgeteilt, wobei die b-Klasse Schüler die Chance bekommen einen erweiterten Realschulabschluss zu machen und daraufhin die gymnasiale Oberstufe zu besuchen. F. kommt in die b-Klasse.
Man könnte nun davon ausgehen, dass sie nach dem Wechsel auf die Realschule mit dem Lernstoff überfordert ist und in Folge dessen die 10. Klasse wiederholen muss. Das könnte zu einem Motivationsverlust führen. An dieser Stelle könnten die Eltern eine bedeutende Rolle spielen, indem sie ihrem Kind Mut zusprechen und somit zum Wiederholen der Klassenstufe motivieren. F. könnte daraufhin ihre Realschule zu Ende führen. Auf der anderen Seite könnten die Eltern sich derart von ihr enttäuscht zeigen, dass sie letztendlich die Realschule abbricht. Die biografischen Daten belegen jedoch, dass F. die Realschule ohne Komplikationen bewältigt.
Im Folgenden wechselte sie auf den Gymnasialzweig einer Gesamtschule. Auch hier verliert sie schnell das Interesse an den meisten Lerninhalten. Das führt dazu, dass sie nach der 12. Klasse das Abitur abbrechen möchte. Beeinflusst wird sie von ihren türkischen Freunden, mit denen sie kaum noch gemeinsamen Interessen verbindet. Die Lehrer, sowie eine deutsche Freundin, mit der sie oft über Philosophie diskutiert in ihrer Freizeit, bewegen sie dazu weiterzumachen. Hinzukommt, dass sie von ihren Eltern während dieser Zeit in zahlreichen Gesprächen bestärkt wurde. Diese Tatsache bestätigt die Annahme, dass die Eltern stets ein Interesse an einem weiteren Bildungsaufstieg ihrer Tochter haben. Neben ihrem Abitur arbeitet F. parallel in einem Callcenter, um dort Zeitungsabonnements zu verkaufen. Hiermit könnte sie ihre kommunikativen Fähigkeiten verbessert haben, die in einem späteren Studium von Vorteil wären.
Im Jahr 2000 macht F. Abitur. Danach ist sie zunächst etwas unsicher über ihre weitere Bildungs-/Berufslaufbahn. Sie entscheidet sich auf Anraten ihrer Freundin für eine Ausbildung als Innenarchitektin an einer Berufsschule. Sie wird bei ihrem ersten Bewerbungsversuch zunächst nicht angenommen. Auf einem „Tag der offenen Tür“ , auf dem ihre Freundin eine Präsentation vorstellt, kommt sie zufällig mit dem Direktor der Berufsschule ins Gespräch. Dieser bietet ihr einen Ausbildungsplatz an. Im ersten Jahr der Ausbildung lässt sich F. oft beurlauben und schwänzt mit ihrer besten Freundin Sandra, die sie an der Berufsschule kennengelernt hat, die Unterrichtsstunden, um mit ihr ebenfalls über Philosophie zu diskutieren. Man könnte hier bereits mutmaßen, dass F. ihre Ausbildung nicht besonders interessiert, da sie sich eher zu Diskussion mit der Freundin hingezogen fühlt.
Nebenbei jobbt sie in einer Apotheke. Hier könnte sie eventuell eine Leidenschaft für die Medizin oder Pharmazie entwickeln, die sie zu dem Entschluss bringen könnte, ein Studium in Einem der beiden Fachrichtungen zu beginnen. Man könnte im Folgenden mutmaßen, dass sich F. für ein Pharmaziestudium bewirbt und im Falle einer Zusage ihre Ausbildung abbricht. Hiermit könnte sie sich jedoch den Unmut der Eltern auf sich ziehen.
Im ersten Halbjahr 2001 bewirbt sie sich für Pharmazie und erhält einen Studienplatz an der Universität Marburg, den sie auf Anraten ihrer Eltern nicht annimmt. Hier wird wieder deutlich, dass die Eltern F.s ein deutliches Interesse an ihrer Bildungsorientierung haben. Sie möchten, dass sie zuerst ihre Ausbildung beendet und sich erst danach neu orientiert.
F. bewirbt sich im zweiten Halbjahr erneut für ein Pharmaziestudium in Marburg und wird wieder angenommen. Nach Rücksprache mit ihrem Berufsschullehrer schreibt sie sich an der Uni Marburg ein, führt jedoch parallel dazu ihre Ausbildung zur Innen-architektin zu Ende. Ihren Eltern akzeptieren diese Entscheidung nur, weil sie ihre Ausbildung nebenbei beenden kann. Auch hier bestätigt sich die Eingangshypothese, dass die Eltern ihrer Tochter einen bestimmten Bildungsweg vorgeben.
Zur Zeit des Interviews 2004 studiert F. im vierten Semester Pharmazie. Sie unternimmt mittlerweile den dritten Versuch, eine Einstiegsklausur zu bestehen. Sie erhält von ihren Eltern während des Studiums finanzielle Unterstützung. Das ist ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig ihren Eltern der Bildungsweg ihrer Tochter ist. Trotzdem raten sie ihr, sich aufgrund der Schwierigkeiten, um zu orientieren. Dieses lehnt F. ab. Die Eltern akzeptieren, dass F. ihr Studium fortführen möchte. Diese Tatsache belegt, dass ihre Eltern trotz ihrer Vorstellungen, was den Bildungsgrad ihrer Tochter betrifft, liberal mit ihren Entscheidungen umgehen und sie nicht zwingen aufzuhören, indem sie ihr beispielsweise die finanzielle Unterstützung verwehren.
Ihren türkischen Freund lernte F. während des Studiums kennen, den sie jedoch bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht ihren Eltern vorgestellt hat. Sie möchte nicht, dass ihre Eltern die schlechten Leistungen in der Universität mit der Beziehung zu ihrem Freund in Verbindung bringen. Hier lässt sich die Annahme formulieren, dass sie trotz der liberalen, aber erfolgsorientierten Erziehung ihrer Eltern Angst davor hat, eine Beziehung zu einem Mann offen zu legen. Obwohl über einen strengen islamischen Glauben der Eltern, der außereheliche Beziehungen zu Männern verbietet, keine Aussagen getroffen werden, scheint sie eine negative Reaktion der Eltern zu befürchten.
2.2 Text und thematische Feldanalyse mit ersten Annahmen zur erlebten Lebensgeschichte
Auf die Aufforderung, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, beginnt F. mit einem Bericht über ihre Geburt, Vor- und Grundschulzeit. Dieser erstreckt sich lediglich über sechs Zeilen. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass ihr zunächst keine prägnanten Situationen aus ihrer frühen Kindheit einfallen, die sie so sehr beschäftigen, dass sie ihre Lebensgeschichte zum Beispiel gleich mit einer Erzählung oder sogar einer verdichteten Situation beginnt. Desweiteren könnte man davon ausgehen, dass sich F. nicht auf das Interview vorbereitet hat und sich im Voraus einen bestimmtes Erzählmuster zurecht gelegt hat. Ein weiterer Beleg dafür ist die Aussage, dass sie in Zeile sechs bereits anmerkt, dass sie jetzt gar nicht mehr wisse, was sie noch erzählen könne. Außerdem fällt der sofortige Hinweis auf ihre „schöne Kindheit“ und, dass sie viele Freundinnen gehabt habe, ins Auge. Sie möchte ihre Selbstpräsentation gleich zu Beginn in ein positives Licht rücken. Hierbei verweist sie mit der Aussage, dass ihr „ alle Gegebenheiten gegeben wurden und die richtig auszukosten“ auch schon auf eine positive Präsentation der Familie. Erwähnenswert ist auch der Nebensatz, dass sie „ wie alle anderen Kinder ganz normal“ in den Kindergarten gegangen ist. Sie möchte hiermit verdeutlichen, dass es trotz ihrer Herkunft in ihrer Kindheit keinen Unterschied zu anderen Kindern gab.
Ein thematisches Feld könnte man nach der ersten Sequenz wie folgt formulieren: „ Ich hatte dank meiner Familie eine schöne Kindheit und es gab keinen Unterschied zu den anderen Kindern.“
Auffallend ist, dass sie ihre Lebensgeschichte nicht mit einer Erzählung über die Herkunft ihrer Eltern beginnt. Hieraus könnte man schließen, dass F. ihren Migrationshintergrund ihrer Eltern unbewusst außer Acht lässt, weil er für sie keine Rolle spielt oder aber, dass sie es so nicht präsentieren möchte.
Ihre Unsicherheit zu Beginn des Interviews verdeutlicht sie, indem sie bereits in Zeile fünf mit dem Bericht ins Stocken gerät und eine Zeile darauf ein Lachen äußert auf die Aussage, dass sie nicht mehr wisse, was sie noch über ihre Kindheit erzählen könne.
In der zweiten Sequenz folgt eine Bericht mit argumentativen Einsätzen über ihre Grundschulzeit und ihre Teilnahme an einem Jugendzentrum, in dem sowohl deutsche als auch „multikulturelle“ Kinder waren. Sie merkt gleich zu Beginn andeutungsweise an, dass sie für ihre Hausaufgaben Hilfe in Anspruch genommen hat. Sie argumentiert im selben Satz gleich mit der Begründung, dass sie ein „Spielkind, dass nie den Ernst des Lebens erkannt hat“ war „ und meine Eltern Alles für mich getan haben“. Auffällig ist, dass sie zu diesem Zeitpunkt zwischen sechs und acht Jahre alt war und man in diesem Alter in Kindern gerade noch nicht den Ernst des Lebens erkennen möchte. Hier könnte man mutmaßen, dass ihre Eltern bereits in der Grundschule stark darauf geachtet haben, dass ihre Tochter in der Schule gute Leistungen bringt. F. merkt in dieser Sequenz an, dass ihre „Lieblingsfächer Kunst“ war. Bemerkenswert ist hier, dass sie den Fächern noch den Plural beimisst, ihr jedoch daraufhin nur Kunst als Lieblingsfach einfällt. Eine Hypothese wäre hier, dass sie nur wenige schulische Interessen hat, jedoch eine kreative Ader besitzt, die sie mit Kunst ausleben kann.
[...]
[1] Glorius, Birgit: Hallesche Diskussionsbeiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeographie, Polnische Migranten in Leipzig, Eine transnationale Perspektive auf Migration und Integration, Halle 2007, S. 1
[2] Vgl. Lüthi, Barbara, Transnationale Migration, Eine vielversprechende Perspektive?,In: H-Soz-u-Kult 13.04.2005, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2005-04-003.
[3] Tepecik Ebru, Dissertation: Der Bildungsaufstieg von StudentInnen türkischer Herkunft aus Migrantenfamilien
[4] Vgl. Rosenthal, Gabriele, Interpretative Sozialforschung, München 2005, S. 175
[5] Vgl. Rosenthal, Gabriele, Interpretative Sozialforschung, München 2005, S. 183
[6] Vgl. Rosenthal, Gabriele, Erlebte und Erzählte Lebensgeschichte, Frankfurt/New York 1995, S. 221
- Citation du texte
- Bastian Sadlowski (Auteur), 2008, Migrantenkinder in zweiter Generation und deren Probleme der Zugehörigkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123118
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