[...] Um dem Anspruch der interdisziplinären philosophischen und ethnologischen Betrachtung
der Entwicklung von der klassischen Ethnographie der „Neuen Welt“ aus europäischer Sicht,
hin zu einer inversen Ethnographie über Europa gerecht zu werden, müssen zunächst die
philosophischen Grundlagen dargelegt werden. Da der Beschreibung fremder Kulturen, also
dem Entstehen der Ethnographie, immer die Begegnung von Menschen mit unterschiedlichem
kulturellen Hintergrund vorausgeht, dient als Grundlage für die philosophische Analyse der
Text „Die Spur des Anderen“ des französisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas, in
dem das absolut Andere das Wesentliche in der Begegnung mit dem Fremden ist, aus dem
sich eine bestimmte Handlungsethik ableitet. Bei Bernhard Waldenfels taucht ein ähnlicher
Begriff auf, der des radikal Fremden, auf den ebenfalls eingegangen wird.
Im Vordergrund steht die Frage, inwiefern es ein allgemein menschliches Phänomen ist, das
Fremde in der Begegnung und in der Beschreibung auf eigene Kategorien zurückzuführen, zu
vergleichen und zu bewerten. Anhand der historischen und aktuellen Beispiele soll kritisch
erörtert werden, ob Lévinas’ Ethik im Umgang mit dem Fremden in der Realität umsetzbar
ist, oder ob es nicht vielmehr einer utopischen Forderung entspricht, Fremdes absolut fremd
zu belassen und keine Bezugspunkte, ob positiver oder negativer Art, im eigenen Kontext zu
suchen. Besonders in der heutigen Funktion der Ethnographie als beschreibende und
theoretisch einbettende Darstellung von Kulturen, stellt sich mehr denn je die Frage, ob der Ethnologe als Wissenschaftler frei sein muss, von jeglicher Parallelziehung zum ihm
vertrauten Kontext, ob dies möglich und wünschenswert wäre, und was sich daraus für
Kompetenzen und Aufgaben ableiten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Philosophische Grundlagen zur kritischen Auseinandersetzung mit inverser Ethnographie
2.1 Die Ethik Lévinas’ in der Begegnung mit dem Fremden
2.2 Das „Radikal Fremde“ bei Waldenfels
3. Die Anfänge der Ethnographie
3.1 Kolonialismus – Kritische Betrachtung der Entstehungsweise ethnographischer Berichte
4. Imaginäre Ethnographie
4.1 Die „Perserbriefe“ von Montesquieu
4.2 Zur Funktionalisierung des fremden Blicks
5. Reiseberichte außereuropäischer Besucher im 19. Jahrhundert
5.1 Das „Schauspiel Europa“
5.2 Beispiel Ham Mukasa aus Uganda
5.3 Beispiele Selim bin Abakabari und Amur bin Nasur aus Sansibar
6. Inverse Ethnographie im 20. Jahrhundert
6.1 Afrikanische Europabilder nach der kolonialen Unabhängigkeit
6.2 Die Krise der Ethnologie
6.3 Spezieller Blick auf die Deutschland Ethnographie
6.3.1 Geschichtliche Hintergründe ethnographischer Berichte über Deutschland
6.3.2 Tendenzen der internationalen Deutschland Ethnographie der Gegenwart
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ethnographie, als der beschreibende Teil der Ethnologie, ist aus einer anfangs vornehmlich europäischen Wissenschaft entstanden, und wurde somit lange Zeit nur von europäischen Wissenschaftlern praktiziert. Eine Beschreibung und kritische Betrachtung der „fortschrittlichen“ europäischen Gesellschaften aus außereuropäischer Sicht existierte nicht. Erst im 20. Jahrhundert hat sich dies langsam geändert.
In Anbetracht der Tatsache, dass Ethnographien über Europa erst spät aufkamen und deren Entstehen in direktem Zusammenhang mit der Geschichte ethnographischer Literatur über außereuropäische Völker steht, soll die Entwicklung der Ethnographie skizziert werden. Beginnend mit den Entdeckungsreisen und der Kolonialzeit, über das Genre der imaginären Ethnographie und der ersten wirklich von Nichteuropäern verfassten Schriften über Europa, wird im letzten Kapitel auf die zeitgenössische ethnographische Literatur eingegangen. Anhand ausgewählter Ausschnitte aus afrikanischer Prosa und aktueller Deutschland-ethnographien soll verdeutlicht werden, welche Tendenzen in der Europaethnographie des 20. Jahrhundert zu verzeichnen sind und wie diese im Zusammenhang mit der historisch-politischen Entwicklung stehen.
Um dem Anspruch der interdisziplinären philosophischen und ethnologischen Betrachtung der Entwicklung von der klassischen Ethnographie der „Neuen Welt“ aus europäischer Sicht, hin zu einer inversen Ethnographie über Europa gerecht zu werden, müssen zunächst die philosophischen Grundlagen dargelegt werden. Da der Beschreibung fremder Kulturen, also dem Entstehen der Ethnographie, immer die Begegnung von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund vorausgeht, dient als Grundlage für die philosophische Analyse der Text „Die Spur des Anderen“ des französisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas, in dem das absolut Andere das Wesentliche in der Begegnung mit dem Fremden ist, aus dem sich eine bestimmte Handlungsethik ableitet. Bei Bernhard Waldenfels taucht ein ähnlicher Begriff auf, der des radikal Fremden, auf den ebenfalls eingegangen wird.
Im Vordergrund steht die Frage, inwiefern es ein allgemein menschliches Phänomen ist, das Fremde in der Begegnung und in der Beschreibung auf eigene Kategorien zurückzuführen, zu vergleichen und zu bewerten. Anhand der historischen und aktuellen Beispiele soll kritisch erörtert werden, ob Lévinas’ Ethik im Umgang mit dem Fremden in der Realität umsetzbar ist, oder ob es nicht vielmehr einer utopischen Forderung entspricht, Fremdes absolut fremd zu belassen und keine Bezugspunkte, ob positiver oder negativer Art, im eigenen Kontext zu suchen. Besonders in der heutigen Funktion der Ethnographie als beschreibende und theoretisch einbettende Darstellung von Kulturen, stellt sich mehr denn je die Frage, ob der Ethnologe als Wissenschaftler frei sein muss, von jeglicher Parallelziehung zum ihm vertrauten Kontext, ob dies möglich und wünschenswert wäre, und was sich daraus für Kompetenzen und Aufgaben ableiten.
2. Philosophische Grundlagen zur kritischen Auseinandersetzung mit inverser Ethnographie
2.1 Die Ethik Lévinas’ in der Begegnung mit dem Fremden
Lévinas entwickelt in „Die Spur des Anderen“ den Grundanspruch seines Denkens, der darin besteht, die Bedeutung des Anderen zu würdigen.
Für Lévinas ist das Ich die Identifikation schlechthin, die Identität und Selbstheit konstituiert. Nur durch diese Selbstheit sind wir in der Lage, „ein jegliches Objekt, einen jeden Charakterzug und jegliches Seiendes zu identifizieren“ (Lévinas 1992: 209). Erst die Beziehung zum Anderen, die Begegnung mit dem Fremden als erfahrbare Differenz, macht mich also zu einem Ich. Diese Andersheit muss dementsprechend unter allen Umständen bewahrt bleiben, sie muss an sich fremd bleiben. Lévinas führt den Begriff des „absolut Anderen“ ein, das als Seinsverständnis die fundamentale Struktur des Menschen ist (ebd.: 211).
Das „absolut Andere“ im Wesen eines jeden ist das Unoffenbare, das in der Begegnung mit dem Fremden in keiner Weise enthüllt werden darf, sondern als absolut anders respektiert werden muss. Eine Annäherung darf nur ohne Berührung stattfinden, das heißt, ich darf mich mit Geduld und Güte dem Fremden nähern, muss es aber als solches stehen lassen und darf es niemals in meinen eigenen Kategorien denken oder bewerten, also auf mich zurückführen. Diese vorsichtige Annäherung bezeichnet Lévinas als Werk, als „eine Beziehung zum Anderen, der erreicht wird, ohne sich als berührt zu erweisen“, ohne einen Triumph oder Lohn zu erwarten (ebd.: 216).
Nach Lévinas kann ich in der Begegnung mit dem Anderen lediglich ein abstraktes Antlitz der fremden Identität wahrnehmen, das ich mir nicht aneignen darf.
„Der Andere kommt her vom unbedingt Abwesenden. Aber seine Verbindung mit dem absolut Abwesenden, von dem er herkommt, bezeichnet dieses Abwesende nicht, enthüllt es nicht; und dennoch hat das Abwesende im Antlitz eine Bedeutung“ (ebd.: 227). Das Jenseits, von dem das Antlitz kommt, bedeutet als Spur (ebd.: 228).
Ich darf mir demzufolge nicht anmaßen, fremde Eigenheiten verstehen oder beurteilen zu können, da ich nie so nah an das Wesen des Fremden komme, dass mir ein solches Verhalten zustünde. Würde dies passieren, hätte ich das Andere enthüllt und mir angeeignet, was aber niemals passieren darf. Auch muss ich frei von jeglichem Egoismus in der Beziehung zum Anderen sein, denn die Annäherung an das Fremde, also das Werk, muss frei von einer Erfolgserwartung sein (ebd.: 217).
Im radikalen Denken Lévinas’ ist diese Analyse eine Gesetzmäßigkeit, die dem Gefüge menschlicher Interaktion zugrunde liegt. Gleichwohl erhebt er den Vorwurf an die abendländische Philosophie, das Andere enthüllt zu haben, womit das Sein des Anderen seine Andersheit verliert (ebd.: 211).
2.2 Das „Radikal Fremde“ bei Waldenfels
Der Lévinassche Ethikbegriff des unantastbaren „absolut Anderen“ erlaubt eine Parallele zum „radikal Fremden“ von Waldenfels. Als radikal bezeichnet Waldenfels eine Fremdheit, die in keiner Weise auf eigenes zurück geführt werden kann, die sich jeglicher Aneignung entzieht. Wenngleich Waldenfels in seiner Analyse des radikal Fremden nicht direkt eine für das konkrete Handeln ableitbare und unbedingt verbindliche Ethik fordert, hebt er jedoch ebenso wie Lévinas hervor, dass Aneignung einhergeht mit einer Verkennung und Vergewaltigung der Fremderfahrung, von der jede Bemächtigung ausgeht. Aneignung kann sich nach Waldenfels auf politischem, religiösem, philosophischem oder allgemein kulturellem Wege vollziehen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Wiederkehr des Fremden, das sich gegen seine Aneignung auflehnt und das Eigene notfalls mit Mitteln der Gegengewalt verteidigt (Waldenfels 2006: 116f).
Eine Enthüllung des Anderen bei interkulturellen Begegnungen oder „Fremdbegegnungen“ ist also ein gewalttätiger Vorgang. Dies ist zunächst eine einseitige Bewegung, wobei sich die Richtung der Aneignung aus einem hierarchischen Gefälle ergibt, also einen Hinweis auf ungleich verteilte Machtpositionen gibt. Europäer sprechen über Europäer und Nichteuropäer, Männer sprechen über Männer und Frauen, Erwachsene über Erwachsene und Kinder. Eine Seite der Differenz ist in all diesen Fällen deutlich markiert, die andere nicht, wie Waldenfels betont (ebd.: 113).
Die Grundvoraussetzung in jeder Begegnung mit dem Fremden ist die Abgrenzung, da „etwas nur ein Selbes ist, indem es sich zugleich als etwas Anderes von Anderem unterscheidet“ (ebd.: 113). Fremdes und Eigenes stehen also in Relation zueinander, ohne die sie sich nicht konstituieren ließen. Damit unterstützt Waldenfels die Theorie Fredrick Barths, demzufolge Identität im permanenten Aushandeln von Grenzen entsteht und ohne das Fremde, gegen das es sich abzugrenzen und verteidigen zu gilt, nicht existieren würde.
Geht man von diesen Aspekten der Fremdbegegnung aus, des Abgrenzungsprozesses, der Machtstrukturen und der Gefahr der Aneignung des Fremden, ergibt sich daraus eine Deutung ethnographischer Geschichte, die im folgenden dargelegt werden soll.
3. Die Anfänge der Ethnographie
Die Entwicklung der Ethnographie ist eng verbunden mit den europäischen Entdeckungsfahrten, immer neuer geographischer Erkundungen und Entdeckungen fremder Kulturen, in deren Folge die koloniale Expansion und christliche Missionierung stand. Erste Schriften ethnographischer Art gelangten also in Form von Reiseberichten nach Europa, in denen europäische Entdecker, keineswegs Ethnologen im heutigen wissenschaftlichen Sinne, die Völker beschrieben, denen sie auf ihren Fahrten begegneten. Die Besetzung außereuropäischer Länder und deren Bewohner im Kolonialismus erweiterte die europäischen Sozialwissenschaften enorm, und brachte eine Vielzahl von Ethnographien hervor. Die Entstehungssituation der Beschreibung außereuropäischer Ethnien durch Europäer bedarf allerdings einer genaueren Betrachtung, bei der ich auch auf die Prämissen Lévinas und Waldenfels bei der Begegnung mit dem Fremden eingehen werde.
3.1 Kolonialismus – Kritische Betrachtung der Entstehungsweise ethnographischer Berichte
Zunächst möchte ich mit einem Zitat von Stephen Greenblatt ein Phänomen einführen, das als erstes den Raum der Fremdbegegnung füllt und das noch vor dem Einsetzen eines Prozesses der Abgrenzung zum Anderen steht: das der Verwunderung.
„Stephen Greenblatt zeigte, dass die Verwunderung die zentrale Figur in den ersten Begegnungen mit der neuen Welt war, das entscheidende emotionale und geistige Erlebnis angesichts radikaler Verschiedenheit. Die Verwunderung scheint eine Kategorie zu sein, die sich gegen jede Eindämmung und ideologische Vereinnahmung sperrt und doch einen unabweisbaren Zwang ausübt. Sie findet statt in einem Augenblick des Fehlens von Bedeutungen und geht einher mit dem Auseinanderbrechen eines kontextorientierten Verstehens“ (Behrend 1998: 323).
Die Verwunderung ist ein grundmenschliches Phänomen angesichts von Neuem, Fremdem, das ich nicht in meinen Erfahrungskontext einordnen kann. Die Verwunderung an sich ist eine Erscheinung, die nach Lévinas keineswegs verwerflich wäre, da sie das Fremde, das in seiner absoluten Andersheit ohnehin absolut abwesend, also grundsätzlich nicht mit eigenen Kategorien fassbar ist, lediglich wahrnimmt, es aber nicht berührt, nicht bewertet oder aneignet. Außerdem geht das Wundern über Unbekanntes stets von beiden Seiten aus, denn auch die „neu entdeckten“ Völker sahen sich mit Menschen konfrontiert, deren Kleidung, Sprache, Werkzeuge und dergleichen ihnen radikal fremd erschienen. Dabei blieb es aber nicht. Mit den Worten von Waldenfels wurde nun eine Seite der Differenz markiert, woraus ein Machtgefälle entstand.
Aus der europäischen Verwunderung wurde ein souveräner Blick, die Kolonisierung des Wunderbaren setzte ein und wurde auch zum Mittel der Aneignung und Unterwerfung. Insbesondere die Zurschaustellung europäischer Technologie trug wesentlich zur Etablierung kolonialer Herrschaft bei (ebd.: 323f). Führte man ein Fernglas oder einen Fotoapparat vor, so wurde durch fehlende Information das Nicht-Ermöglichen eines kontextorientierten Verstehens hervorgerufen und damit eine Machtposition geschaffen. Das Fremde wurde anlehnend an die eigene Zivilisation zivilisiert, es wurde enthüllt, da es nicht als unberührbar in seiner Andersheit respektiert wurde. Dies widerspricht deutlich Lévinas’ Ethik im Umgang mit dem Fremden.[1]
Dass die europäischen Kolonialherren Machtstrategien einsetzten, die sie durchaus besaßen, um ihre Vorherrschaft in den neuen Reichen zu installieren, hatte auch Konsequenzen für die Darstellungsformen der unterworfenen Völker. Ethnographische Berichte kann man als Machtwerkzeug betrachten, das die Hierarchie zwischen Kolonialisten und Kolonisierten, also Schreibenden und Beschriebenen, zum Ausdruck brachte, wie die direkt eingesetzten Machtdemonstrationen, ob mit oder ohne Gewalt, die der Überwältigung der Bevölkerung dienten. Die ethnozentrische Beschreibung und Interpretation der Kulturen lag in der Hand der Kolonialisten, während die beobachtenden Menschen nicht dazu befragt wurden, ob die Darstellung korrekt ist.
[...]
[1] Ich möchte darauf hinweisen, dass hier nicht der pauschale Eindruck einer dialektischen Situation zwischen europäischen Eroberern und Kolonisierten vermittelt werden soll. Außereuropäische Völker waren keineswegs primitive und passive Gruppen. Jedoch ist die Analyse der Kolonialgeschichte nicht Thema dieser Arbeit, weshalb darauf nicht im Detail eingegangen werden kann.
- Quote paper
- Yvonne Troll (Author), 2007, Inverse Ethnographie: Europa aus der Sicht von Fremden, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122939
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