Bekommen Jungen immer noch mehr Aufmerksamkeit von Lehrerinnen, oder weniger? Brauchen sie vielleicht sogar mehr davon, aufgrund ihrer anders strukturierten Gehirne? Würden Jungen mehr Leistung erbringen können, wenn sie sich weniger an ihren Mitschülern orientierten? Wie verstärkt das Schulsystem die missliche Lage der Geschlechter in der Schule? Wie verändern negative Verhaltens- und Leistungserwartungen das Selbstkonzept von Jungen und Mädchen? Wie kann ein Unterricht aussehen, der sich an den Interessen der Jungen orientiert, ohne aber die der Mädchen zu vernachlässigen und umgekehrt? Was könnte eine Reform des Schulsystems zur Veränderung der Lage von Jungen und Mädchen in den Schulen beitragen? Wie sollen Lehrerinnen in der Schule Geschlecht thematisieren, ohne es zu dramatisieren?
All diese Fragen sind weitgehend offen und unbeantwortet. Trotz jahrzehntelanger Arbeit auf diesem Feld wurde vor allem die Frage der Jungen meist vernachlässigt.
Doch aus der Fachrichtung der Gender Studies, aber zunehmend auch von den Erziehungswissenschaften, kommen mehr und mehr Anregungen und Beiträge, wie jüngst von Faulstich-Wieland und Hollstein, die ein neues Zusammenleben von Jungen und Mädchen, von Männern und Frauen „erfinden“. Oder zumindest durch eine Analyse der Probleme, durch kritische Reflexion erste Schritte hin zu dieser „Erfindung“ unternehmen.
Dieses neue Zusammenleben muss ganz klar bereits in den Familien beginnen. Wenn Jungen nach wie vor hellblaue und Mädchen rosane Strampler angezogen bekommen (bzw. diese Aufteilung ein Revival erlebt und wieder in Mode kommt), damit auch wirklich jeder sieht, was sonst noch nicht zu sehen wäre: nämlich das Geschlecht, dann bleibt fragwürdig, wie eine Dekonstruktion von Geschlechterzuschreibungen zugunsten eines beobachtenden Blickes auf den Menschen an sich funktionieren kann. Die Mehrheit der Eltern erwartet nach wie vor von Mädchen, dass sie mit Puppen spielen, sie lesen ihnen mehr vor, wohingegen Jungen mit Puppen nicht in Berührung kommen dürfen und komisch angesehen werden, wenn sie rosa Hosen tragen und lange Haare haben. Statt ihnen mehr Zuwendung im Kleinkindalter zukommen zu lassen, erwarten immer noch viele Eltern von Jungen robuster zu sein und weniger weinerlich, sie anerkennen sie nicht in ihrem Kleinsein. Wie können diese Vorurteile reflektiert und dekonstruiert werden?
Inhalt
I. Einführung: Zum Hintergrund dieser Arbeit
II. Zur Entwicklung männlicher und weiblicher Gehirne
III. Mögliche Ursachen von Bildungsbenachteiligung qua Geschlecht: Geschlecht in pädagogischen Feldern
III.1. Jungen und Mädchen in der Familie6
III.2. Jungen und Mädchen in Kindertageseinrichtungen
III.3. Schulleben: Lehrer_innen
III.5. Interaktionen und soziales Verhalten in der Schule
IV. Lösungsansätze: Von der Familie bis zum Abschluss
V. Schlussfolgerungen
LITERATUR
I. Einführung: Zum Hintergrund dieser Arbeit
Im Jahr 2000 veröffentlichten der Stern unter dem Aufmacher „Jungs – das schwache Geschlecht“1und zwei Jahre später der Spiegel mit dem Titel „Schlaue Mädchen, dumme Jungen“2 als die ersten beiden großen Wochenzeitschriften Artikel mit der These, dass Jungen in der Schule von den Mädchen überholt würden. Diese These wird seither in den Medien stetig reproduziert, auch der Bundestag beschäftigte sich mit der „Verbesserung der Zukunftsperspektiven von Jungen“3, wie eine Kleine Anfrage der CDU-Fraktion im Jahre 2004 lautete. Erst vor einigen Monaten veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) dann endlich eine längere Expertise zur Frage der „Bildungs(miss)erfolge von Jungen“4, welche vor allem schon vorhandene Literatur, wie die PISA-, LAU- und IGLU-Studien, aber auch Fachliteratur aus den Gender Studies und erziehungswissenschaftlichen Bereichen analysierte. In der Tat schienen einige Befürchtungen in dieser Studie belegt zu werden, zum Beispiel, dass Jungen bei gleichem Notendurchschnitt seltener eine Gymnasialempfehlung erhielten und dass sie bei gleichen Leistungen schlechter benotet werden; eine regelrechte „Welle“ der Empörung schickte sich an. In feministischen Blogs mehrten sich die Anschuldigungen, der Feminismus habe sein „Ziel“ erreicht: Die Jungen seien unterdrückt.
Doch auch die Sekundäranalyse des BMBF lässt viele Fragen, vor allem nach den Ursachen, erst recht aber nach den möglichen Lösungen der von Autor Budde skizzierten Benachteiligungen, offen. Budde lässt aber keinen Zweifel daran, dass nicht nur die Jungen, sondern auch die Mädchen qua Geschlecht von Erziehenden wie Lehrer_innen, aber auch Eltern und Erzieher_innen in der Leistungserwartung unterschiedlich eingestuft werden, unabhängig von ihrem tatsächlichen Können. So werden Mädchen beispielsweise in den Fächern Mathematik, Physik und Informatik von Lehrer_innen als weniger talentiert eingestuft5. Nach der Schule ergreifen Jungen dann wie selbstverständlich karriere- und prestige-orientierte Berufe, sie überholen die Mädchen trotz deren besseren Abschlüssen.6
Auch wenn die Medien das Thema erst „neu entdeckt“ haben wollen, in der Literatur wird es seit über einem Jahrzehnt thematisiert. Diese Arbeit beschäftigt sich mit verschiedenen Veröffentlichungen von Wissenschaftler_innen und Autor_innen, die sich in den vergangenen 15 Jahren mit der Frage nach Geschlecht und Erziehung auseinandergesetzt haben und wird die von ihnen angeführten möglichen Ursachen von Bildungsbenachteiligung qua Geschlecht, sowie ein knappe Zusammenstellung ihrer Lösungsansätze liefern.
Da sowohl in der öffentlichen Debatte, als auch in der jüngeren wissenschaftlichen Literatur die Jungenfrage eine größere Bedeutung zugestanden bekommen hat, auch aufgrund der Tatsache, dass Mädchen- und Frauenbildung schon seit den 70ern thematisiert wurde, die Jungen- und Männerbildung aber ein Schattendasein gefristet hat, wird sich meine Arbeit überproportional mit den Problemen der Jungen in Kindertagesstätten und Schule beschäftigen und manchmal nur knapp die der Mädchen abhandeln. Dieser Schwerpunkt ist aus oben genanntem Grund durchaus gewollt. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass es unsinnig ist, die Frage nach der Benachteiligung von Jungen getrennt von der Frage nach der Benachteiligung von Mädchen zu betrachten, sondern als Kern-Problem die Frage nach den nach wie vor vorhandenen Geschlechtsrollenzuweisungen auf allen Ebenen der Kindererziehung zu sehen ist.
II. Zur Entwicklung männlicher und weiblicher Gehirne
Um die möglichen Ursachen einer Bildungsbenachteiligung von Jungen und Mädchen zu ergründen, ist ein kleiner Exkurs in die aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse nötig. Denn die Frage, ob Jungen und Mädchen unterschiedlich denken und lernen, und wenn ja: ob von Anfang an, oder erst durch unterschiedliche Sozialisation und Erziehung, spielt eine entscheidende Rolle bei der Suche nach Lösungsansätzen.
Die aktuelle Neurobiologie geht mittlerweile davon aus, dass die Gehirne von Mädchen und Jungen sich bereits im Mutterleib unterschiedlich entwickeln. Als Grund dafür wird die starke Ausschüttung des Hormons Testosterons bei Jungen und der Hormone Östrogen und Progesteron bei Mädchen schon als Föten genannt.7Dies habe zur Folge, dass Jungen bereits vorgeburtlich eine stärker differenzierte rechte Gehirnhälfte haben, die später für das räumliche Denken verantwortlich ist; Mädchen haben währenddessen ein weniger lateralisiertes Gehirn, so nutzen sie später beim Sprechenlernen eher beide Gehirnhälften, als Jungen. Diese Erkenntnisse werden von der amerikanischen Neurowissenschaftlerin und Psychologin Louann Brizendine unterstützt8.
Neurobiologe Gerald Hüther kommt daher zur Schlussfolgerung, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Bedürfnisse an ihre Umgebung hätten. Männliche Gehirne seien von Anfang weniger stabil und konstitutionell schwächer, als die der Mädchen. Jungen kämen daher im Durchschnitt etwas empfindlicher zur Welt, als Mädchen. Zudem hätten sie größere Schwierigkeiten bei der Aneignung neuronal komplexer Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster.9
Dennoch betont auch Hüther: „Weder die genetischen Programme, noch die sich entwickelnden Gehirne von Männern und Frauen „wissen“, wie ein männliches bzw. weibliches Gehirn herauszubilden ist. In viel stärkerem Maß als bisher angenommen strukturieren sich das Gehirn von Männern und Frauen anhand der sich für beide Geschlechter ergebenden unterschiedlichen ‚Nutzungsbedingungen’“. Hüther hebt damit das soziale Umfeld der Kinder als starken Einflussfaktor hervor und dass dieses ausschlaggebend für die spätere Entwicklung des Gehirnes sei. Dennoch betont er, dass Jungen mehr Liebe und Halt-bietende Orientierungsangebote benötigten, als Mädchen.
Die Gehirne von Mädchen und Jungen sind also von Anbeginn ein wenig verschieden, doch wichtiger für ihre Entwicklung, so glaubt auch die moderne Neurowissenschaft, ist die tatsächliche Nutzung, sind die Reize und Anregungen aus der Umgebung der Kinder. Es wird zu klären sein, wie die (Lern-) Umgebungen von Kindern diesem Anspruch nachkommen bzw. indem sie ihm nicht nachkommen zu einem Bildungsmisserfolg führen können.
III. Mögliche Ursachen von Bildungsbenachteiligung qua Geschlecht: Geschlecht in pädagogischen Feldern
III.1. Jungen und Mädchen in der Familie
Hannelore Faulstich-Wieland führte im Jahr 1992 eine Befragung zu den Erziehungszielen für Mädchen und Jungen durch, für die 3001 Frauen im Alter von 16 bis 59 Jahren interviewt wurden10. Die fünf wichtigsten Erziehungsziele für Mädchen, die in dieser Studie genannt wurden waren: „Zärtlichkeit, Selbständiges Denken, Aufgeschlossenheit, Hilfsbereitschaft und Haushaltsführung“, in dieser Reihenfolge. Jedes von ihnen erhielt jeweils über 60% Zustimmung. Für Jungen ergaben sich folgende Ziele: „Selbständiges Denken, Durchsetzungsvermögen, Ehrgeiz, Flexibilität und Wissensdurst.“ Auch hier stimmten über 60% der befragten diesen Kriterien zu. Hingegen strebten bei Jungen nur unter 20% „Handarbeiten, Haushaltsführung und Bescheidenheit“ an, bei den Mädchen entsprach dies den Zielen „Handwerkliches Können, Technikverständnis, Bescheidenheit“. Im Vergleich mit den Jungen gaben die befragten Frauen die Ziele „Zivilcourage, Konfliktfähigkeit, politisches Interesse“ als weniger wichtig für Mädchen an.
Faulstich-Wieland interpretierte hieraus, dass die Erziehung der Mädchen im Gegensatz zur Jungenerziehung weniger auf die Befähigung zur Auseinandersetzung ausgerichtet sei. Zwar ist diese Befragung schon über 15 Jahre alt, doch die Ergebnisse aktuellerer Studien belegen, dass Jungen und Mädchen bis heute unterschiedlich erzogen werden. Die Expertise des BMBF, „Bildungsmisserfolge von Jungen“11, zitiert eine Studie von Valtin, Wagner und Schwippert (2006), der zufolge Jungen von ihren Eltern weniger Leseförderung erhalten, sei es durch die Zahl der Kinderbücher oder Bibliothekenbesuche, sie lesen ihnen auch weniger vor, als den Mädchen. Eleanor Maccoby (2000) sei zudem in einer Studie zu frühkindlichen Geschlechterdifferenzen zu dem Schluss gekommen, dass „Jungen im Alter von drei Jahren zwar weniger sprechen als Mädchen, dafür aber häufiger in einem befehlenden Tonfall.12“ All diese Differenzen seien nicht auf kognitive Unterschiede zurückführbar, da Tiedemann und Faber (1994) gleiche kognitive Fähigkeiten zu Beginn der Grundschule nachgewiesen hätten. Obwohl Jungen und Mädchen also gleichermaßen fähig zum Lesen und Sprechen sind, wird dies bei ihnen von Seiten der Eltern unterschiedlich gefördert. Dabei legt die aktuelle Erkenntnis der Neurowissenschaften (s.o.) nahe, dass Jungen stärker als Mädchen in diesem Bereich gefördert werden sollten und mehr Zuwendung benötigen.
Interessant bleibt die Frage, in wie weit diese frühe familiäre Sozialisation qua Geschlecht, wie sie offenbar bis heute in Familien geschieht, in den Institutionen der Erziehung perpetuiert oder ausgeglichen werden.
[...]
1 Stern Nr. 24/2000 in: Rose/Schmauch 2005.
2 Spiegel Nr. 21/2002 in: ebd.
3 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/3516 (29.06.2004)
4 Budde / BMBF 2008
5 ebd.
6 Budde in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, Heft 1/2008 (S. 69-81)
7 Hüther 2008
8 Brizendine 2007
9 Hüther 2008
10 Faulstich-Wieland 1995; S. 98-103
11 Budde / BMBF 2008, S. 16/17
12 ebd.
- Arbeit zitieren
- Katrin Rönicke (Autor:in), 2008, Bildungsbenachteiligung qua Geschlecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122829
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