„Die deutsche Kolonialgeschichte war (…) eine auf drei Jahrzehnte zusammengedrängte und nicht zuletzt auch deswegen besonders dramatische Erfahrung der kolonialen Situation für beide Seiten, für die deutsche ´Schutzherrschaft’ wie für ihre ´Schutzbefohlenen’ in Übersee.“
De facto setzten die ersten organisierten kolonialen Bestrebungen im Deutschen Kaiserreich erst nach der Reichsgründung am 18. Januar 1871 ein, obgleich bereits seit dem 16. und 17. Jahrhundert einige, zumeist wenig erfolgreiche Bemühungen um eine Etablierung in Übersee, vor allem aber in der Neuen Welt – dem nordamerikanischen Kontinent – die auswärtige Politik des säkularisierten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durchdrungen hatten. Es waren mehrere Faktoren, die einerseits das Ideal der Präsenz der vermeintlichen europäischen Großmacht in der ersten Frühphase der Kolonialpolitik zu Beginn des 16. Jahrhunderts hemmten, die andererseits jedoch die Kolonialpropaganda und das Ziel Kaiser Wilhelms II. vom deutschen ´Platz an der Sonne’ zu stützen schienen: trotz einflussreicher Entdecker, kapitalkräftiger Kaufleute und erfolgreicher Wissenschaftler konnten die Vertreter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis 1806 zu keiner Zeit entscheidend auf die Entwicklung und Implementierung europäischer Interessensphären in den neuen überseeischen Besitzungen einwirken. Die inneren Zerwürfnisse der Territorialfürsten, divergente Ziele in der Expansion der regionalen Kleinstaaten im Kaiserreich bis zu dessen Zerfall im Zuge der Napoleonischen Koalitionskriege und die Tatsache der fehlenden Homogenität der deutschen Territorien per se – etwa in der Musterung und Aufstellung eines Reichsheeres – bedeuteten genauso wie die seebeherrschende Stellung Großbritanniens seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts sowie die von den mächtigen Persönlichkeiten Spaniens, den Niederlanden und dem englischen Königshause subventionierten Expeditionsreisen und Neukonstruktionen in den unerschlossenen Gebieten einen deutlichen Rückstand der deutschen Kolonialpolitik, der bis in die 1850er Jahre hinein kaum aufgeholt werden konnte. Dessen Überwindung gelang schließlich im Zuge der gescheiterten Revolution anno 1848; allerdings bildete das Jahr 1871 den eigentlichen Beginn einer organisierten, homogenen deutschen Politik in Übersee.
Inhalt
1. Einleitung – Die deutsche Kolonialpolitik
2. Der Beginn der Handelsbemühungen im Fernen Osten
2.1 Die Ungleichen Verträge und die wirtschaftliche Öffnung Chinas
2.2 Ferdinand von Richthofen und Max von Brandt – Die Eulenburg-Mission
3. Missionierung und Krisen
3.1 Die christlichen Sendboten als Initiatoren des deutschen Handels- und Kapitalforts in Kiautschou
3.2 Der Boxeraufstand und seine Wirkungen auf die Handelsbeziehungen
4. Wirtschafts- und Warenaustausch mit China
4.1 Li Hongzhang und Alfred Krupp – Das Konglomerat in der Waffen- und Militärtechnik
4.2 Die Misserfolge im Berg- und Eisenbahnbau – Trauma Kiautschou
5. Die Rolle der kaiserlichen Marine und das deutsche Kulturprojekt
6. Schlussteil – Ergebnisse der Betrachtungen, Kritik der Kaiserlichen Kolonialpolitik und Ausblicke auf die künftige Forschungsarbeit
7. Quellenanhang
8. Abbildungsverzeichnis
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung – Die deutsche Kolonialpolitik
„Die deutsche Kolonialgeschichte war (…) eine auf drei Jahrzehnte zusammengedrängte und nicht zuletzt auch deswegen besonders dramatische Erfahrung der kolonialen Situation für beide Seiten, für die deutsche ´Schutzherrschaft’ wie für ihre ´Schutzbefohlenen’ in Übersee.“[1]
De facto setzten die ersten organisierten kolonialen Bestrebungen im Deutschen Kaiserreich erst nach der Reichsgründung am 18. Januar 1871 ein, obgleich bereits seit dem 16. und 17. Jahrhundert einige, zumeist wenig erfolgreiche Bemühungen um eine Etablierung in Übersee, vor allem aber in der Neuen Welt – dem nordamerikanischen Kontinent – die auswärtige Politik des säkularisierten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durchdrungen hatten.[2] Es waren mehrere Faktoren, die einerseits das Ideal der Präsenz der vermeintlichen europäischen Großmacht in der ersten Frühphase der Kolonialpolitik zu Beginn des 16. Jahrhunderts hemmten, die andererseits jedoch die Kolonialpropaganda und das Ziel Kaiser Wilhelms II. vom deutschen ´Platz an der Sonne’[3] zu stützen schienen: trotz einflussreicher Entdecker, kapitalkräftiger Kaufleute und erfolgreicher Wissenschaftler konnten die Vertreter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis 1806 zu keiner Zeit entscheidend auf die Entwicklung und Implementierung europäischer Interessensphären in den neuen überseeischen Besitzungen einwirken. Die inneren Zerwürfnisse der Territorialfürsten, divergente Ziele in der Expansion der regionalen Kleinstaaten im Kaiserreich bis zu dessen Zerfall im Zuge der Napoleonischen Koalitionskriege und die Tatsache der fehlenden Homogenität der deutschen Territorien per se – etwa in der Musterung und Aufstellung eines Reichsheeres – bedeuteten genauso wie die seebeherrschende Stellung Großbritanniens seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts sowie die von den mächtigen Persönlichkeiten Spaniens, den Niederlanden und dem englischen Königshause subventionierten Expeditionsreisen und Neukonstruktionen in den unerschlossenen Gebieten einen deutlichen Rückstand der deutschen Kolonialpolitik, der bis in die 1850er Jahre hinein kaum aufgeholt werden konnte.[4] Dessen Überwindung gelang schließlich im Zuge der gescheiterten Revolution anno 1848; allerdings bildete das Jahr 1871 den eigentlichen Beginn einer organisierten, homogenen deutschen Politik in Übersee.[5] Neben der unter dem Deckmantel der Forschung formierten Kooperation von rassistisch-sozialdarwinistisch geprägten Kolonialpropagandisten mit finanzstarken Unternehmern aus Handel, Gewerbe und Industrie[6] sowie einflussreichen Politikern waren im Besonderen drei Aspekte in der wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Metamorphose am Ende des 19. Jahrhunderts für den Eintritt des Deutschen Kaiserreiches in eine forcierte Überseepolitik maßgeblich: in der Emotionalität der Gründung des Deutschen Kaiserreiches und der daraus resultierenden nationalistischen Bewegung in den Jahren nach 1871 äußerte sich der Drang nach Expansion und einer Neudefinition der Stellung des kaiserlichen Deutschlands in der europäischen Mächtekonstellation genauso wie durch den sogenannten Gründerboom der Jahre 1871 bis 1873[7], der die deutsche Ökonomie an der Industrialisierung teilhaben und schließlich zu einer Industrienation werden ließ; aber auch Misserfolge und Gefahrenpotentiale, wie die Große Depression zwischen 1875 und 1893[8] oder die Furcht vor der sozialdemokratischen Strömung im Deutschen Kaiserreich, beschleunigten das Streben nach einer Manifestierung der kaiserlichen Interessen in Übersee.[9]
Der Weg zu einer kolonialen Großmacht erwies sich in den ersten Jahren der staatlich forcierten und häufig von privaten Investoren, Abenteurern und Wissenschaftlern initiierten Überseepolitik als äußerst schwierig, teuer und von kulturellen, infrastrukturellen wie auch sozialstrukturellen und nationalökonomischen Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit durchdrungen. So stellten Graichen/Gründer in ihrer Veröffentlichung fest:
„(…) gerade dieser stets nur aufholende und sich um einen ´Platz an der Sonne’ mühende deutsche Kolonialismus [besaß] in stärkerem Maße als bei den etablierten Kolonialmächten [vor allem waren dies Großbritannien, die Niederlande sowie Spanien und Frankreich] Züge von Improvisation und Überheblichkeit.“[10]
Daraus resultierend lassen zahlreiche Publikationen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Teilbereichen[11] eine Erkenntnis zu, die zusätzlich von umfangreichen persönlichen Erinnerungen von Kaiserlichen Gesandten, Soldaten und frühen Kolonisten gestützt[12] und darüber hinaus über zahlreiche Quellen und Dokumente genauso wie detailliertes statistisches Material[13] bekräftigt wird. Auf diese Weise entsprang bezüglich der deutschen Kolonialpolitik die nachfolgende Hypothese: die Überseepolitik dauerte lediglich drei Jahrzehnte an. Sie war von ständigen wirtschaftlichen, politischen und staatstheoretischen Schwankungen betroffen und sah sich zum einen häufigen, innenpolitischen Kurswechseln und andererseits periodisch schwelenden Konfliktpotentialen mit den übrigen europäischen Großmächten, aber auch den sogenannten Schutzgebieten des Deutschen Kaiserreiches ausgesetzt.[14] Daneben hemmten die Phase der Hochindustrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sowie die mangelnde staatliche Subventionierung der Kolonien und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges anno 1914 die Erfolgsaussichten der kaiserlichen Kolonialpolitik.[15]
Im allgemeinen Konsens der Imperialismus-, Kolonial- und Missionsforscher zeichnete sich daher seit der Mitte des 20. Jahrhunderts folgendes Ergebnis der deutschen Kolonialpolitik ab: private Gewinne und die Festigung deutscher Groß- und Familienunternehmen bestimmten die Erfolge in den Schutzgebieten, während sich vor allem die afrikanischen, aber auch die pazifischen Besitzungen des Deutschen Kaiserreiches bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges zu einem nationalen Verlustgeschäft entwickelten.
In diesem weiten, umfangreich und detailliert aufgearbeiteten Spektrum der historischen, kulturellen sowie wirtschaftlichen und multilateralen Kolonialpolitik des kaiserlichen Deutschlands thematisiert die vorliegende Ausarbeitung die Funktion des ostchinesischen Schutzgebietes Kiautschou. Um den Idealen der Historiographie, aber auch der militärgeschichtlichen und ökonomischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialpolitik im Osten Chinas gerecht zu werden, gilt es im Folgenden, die bestimmenden Faktoren der Überseepolitik per se zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Welche Gründe führten zu der Artikulation europäischer Interessen im Reich der Mitte? Wie gestalteten sich die Ursprünge der Festigung eines deutschen Einflussbereiches im Pazifik? Begünstigten christliche Missionarsaktivitäten und private Investitionen auch die Manifestierung der Intentionen Kaiser Wilhelms II.? Zudem bedürfen zumindest zwei weitere Bestimmungsfaktoren der Klärung anhand der zugänglichen Quellensammlungen, persönlicher Erfahrungsberichte und Statistiken: welche Konsequenzen für die bilateralen Relationen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und China resultierten aus den Wirren des Boxeraufstandes anno 1900/01?[16] Warum unterstand Kiautschou und insbesondere der Hafen von Tsingtao als einziges kaiserliches Schutzgebiet in Übersee weder dem Auswärtigen Amt noch dem Reichskolonialamt, sondern wurde unmittelbar von dem Reichsmarineamt geführt?[17] In enger Bindung an die militärischen Interessen des Deutschen Kaiserreiches in China soll darüber hinaus die Funktion und das Ergebnis der deutschen Kulturmission in der Provinz Shantung analysiert werden.
Das Ziel der vorliegenden Ausarbeitung soll dabei vor allem die Darstellung der Besonderheiten der deutschen Handelskolonie und Marinebasis Kiautschou im Spektrum der übrigen kaiserlichen Kolonien sein. Zudem kann die nachfolgende Argumentation hilfreich sein, die allgemeine Wertschätzung der deutschen Bemühungen und Errungenschaften, die noch im 21. Jahrhundert in der vormaligen kaiserlichen Besitzung Tsingtao allgegenwärtig zu sein scheinen, konsequent einordnen und verstehen zu können.[18] Schließlich strebt das Folgende die Klärung der Frage an, ob auch die deutsche Kolonie im Osten Chinas ein nationales Verlustgeschäft verkörperte und somit der Hypothese der modernen Imperialismus- und Kolonialforschung Rechnung trägt.[19]
2. Der Beginn der Handelsbemühungen im Fernen Osten
2.1 Die Ungleichen Verträge und die wirtschaftliche Öffnung Chinas
Noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich China den expansiven und exportorientierten Bestrebungen der europäischen Großmächte, die vor allem von Großbritannien und Frankreich forciert worden waren, entgegenstemmen können. Seit der Mitte der 1840er Jahre drängten neben den Briten und den Franzosen jedoch ebenso Russland und die USA auf den kaum erschlossenen chinesischen Markt.[20] Den endgültigen Zerfall der wirtschaftlichen Autarkiebemühungen Chinas beeinflussten in erheblichem Maße einerseits die Opiumkriege der Jahre 1842 und 1856 bis 1860, die zu einer Steigerung der Opiumimporte nach China führten; andererseits mündeten die einsetzenden Missionsaktivitäten der anglikanischen und im Speziellen der katholischen Kirche in einer Abschwächung der kulturellen Einflussnahme der chinesischen Regierung auf die Landbevölkerung. Dennoch blieb die christliche Missionierung, deren Höhepunkt die Jesuitenmission des 17. und 18. Jahrhunderts dargestellt und somit noch weit vor den ersten Versuchen der wirtschaftlichen Öffnung Chinas stattgefunden hatte, zunächst frucht- und für die beginnenden kolonialen Interessen der europäischen Großmächte faktisch bedeutungslos.[21] Gleichwohl ließ sich die Verbreitung des berüchtigten westlichen Medikamentes Opium nicht verhindern, obgleich zahlreiche Einfuhrverbote einen Handel in der Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu unmöglich machen sollten.
Aus der Weigerung der Chinesen, ihre Häfen den europäischen Handelsschiffen frei zugänglich zu machen, entsprang der Erste Opiumkrieg, der mit dem Friedenskontrakt von Nanking am 29. August 1842 beendet wurde.[22] Darin verpflichtete sich das unterlegene China, Kriegsentschädigungen zu zahlen, Vertragshäfen für den uneingeschränkten Handel zu öffnen und Hongkong als Kolonie an Großbritannien abzutreten. Daneben wurde das Kaufmannsmonopol der Einheimischen zugunsten der Ausweitung des westlichen Einflussbereiches beschnitten. Darüber hinaus erhielten die Chinesen weder Handels- und Kapitalgarantien, noch wurden ihnen Einfuhrzölle zugesichert. Jene einseitige Doktrin führte dazu, dass der Friede von Nanking auch als Ungleiche Verträge bezeichnet wurde.[23] Dem ersten Abkommen folgten auf Initiative Frankreichs und Russlands weitere Kontrakte, die die Niederlage Chinas im eigenen nationalen Interesse – vor allem bezüglich einer uneingeschränkten und autonomen Kolonialpolitik im Reich der Mitte – auszunutzen wussten.[24]
Nach der chinesischen Niederlage im Zweiten Opiumkrieg wurde die Souveränität des Landes weiterhin eingeschränkt: neben den Seehäfen mussten seit der Mitte der 1860er Jahre auch die Binnengewässer als Zugänge zum Landesinneren geöffnet werden. Zudem standen europäische Kaufleute und Missionare ab 1860 unter besonderen diplomatischen Schutz[25] ; der Opiumhandel wurde endgültig legalisiert.[26] Auf diese, mit militärischem Nachdruck und unter dem Einsatz der technischen Überlegenheit[27] verknüpfte Weise war die Öffnung Chinas nunmehr auch für das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn und Italien, aber auch für Japan gelungen. Neben Großbritannien, das exklusive Hongkong als wichtigstes chinesisches Handelszentrum zuvor bereits in Indien maßgeblich von den Wirtschaftsräumen in Asien profitiert hatte, konnten in Folgenden auch Frankreich um Siam und Saigon sowie die Niederlande auf Sumatra und in Borneo Fuß fassen.[28] Das Deutsche Kaiserreich hingegen hatte vor den 1860er Jahren als einzige der europäischen Großmächte die forcierte Liberalisierung des chinesischen Marktes verpasst. Drohte somit Preußen, die wirtschaftliche und industrielle Vormacht im Deutschen Zollverein[29], den Anschluss an den expandierenden und gewinnträchtigen Welthandel zu verlieren?
2.2 Ferdinand von Richthofen und Max von Brandt – Die Eulenburg-Mission
Der 1834 gegründete Deutsche Zollverein hatte zwar die politische Heterogenität in Deutschland nicht überwinden können, aber gleichwohl war eine Bündelung der pluralistischen Wirtschaftsbereiche, vor allem in der deutschen Außenhandelspolitik, gelungen.[30]
„Wir sehen nicht ein, warum nicht auch Deutschland diese Gelegenheit [die Erschließung der chinesischen Märkte] ergreifen sollte, seinen auswärtigen Handel und seiner Schiffahrt einige Ausdehnung zu geben."[31]
Anno 1843 konstatierte Friedrich List, der Gründervater des Deutschen Zollvereins, diese ehrgeizigen Ziele. Tatsächlich implementierten mit den Hamburger Firmen Wm. Pustan & Co., Carlowitz & Co. sowie Siemssen & Co. einige Unternehmen in der Mitte des 19. Jahrhunderts erste deutsche Zweigstellen in China.[32] Die Erkenntnis der Notwendigkeit der Erschließung weiterer Handelsmärkte – im Besonderen die Liberalisierung der fernöstlichen Ressourcen – beschleunigte die erste Weltwirtschaftskrise zwischen 1857 und 1859. Die europäischen Großmächte hatten im Zuge der sich abschwächenden Konjunktur über ausgedehnte Produktion sowohl im Agrarsektor, vor allem in Deutschland, als auch in der Industrie (Großbritannien und in Ansätzen die aufstrebende USA) versucht, die zu erwartenden Ertragsverluste und Gewinnrückgänge zu minimieren. Allerdings war der Markt in Europa übersättigt, sodass die Überproduktion in einer allgemeinen Schutzzollpolitik als Protektionismus der nationalen Wirtschaftslagen mündete.[33] Daneben strebte Preußen die Rückdrängung des politischen Einflusses von Österreich-Ungarn zum Wohle der eigenen Hegemonie im Deutschen Zollverein an.[34]
Zur Erkundung und Erschließung neuer Absatzmärkte startete Ende des Jahres 1859 die erste preußische Expedition nach China. Unter der Leitung des Grafen Eulenburg standen neben Persönlichkeiten der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz sowie den Hansestädten Lübeck, Hamburg und Bremen auch Ferdinand von Richthofen, der die deutschen Interessen an einer Beteiligung der wirtschaftlichen Öffnung Chinas vorantreiben sollte, sowie Max von Brandt, der mit der Modernisierung japanischer Gebiete um Formosa und Hokkaido beauftragt worden war.[35] Am 2. September 1861 gelang es den deutschen Vertretern, einen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag mit chinesischen Abgesandten zu schließen. Darin erhielten die deutschen Territorien Privilegien, die im Zuge der Ungleichen Verträge bereits den übrigen Großmächten garantiert worden waren. Daneben wurde Preußen die Eröffnung einer ständigen diplomatischen Vertretung in Peking zugesichert; ein Zugeständnis, das einzig dem Hegemon des Deutschen Zollvereins zuteil wurde.
[...]
[1] Zit. Bade, K. J.: Das kaiserliche Deutschland und seine Schutzgebiete. Eine Bilanz der deutschen Kolonialgeschichte. In: Ders.: Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium. Wiesbaden 1982, S. 10.
[2] S. Graichen, G.; Gründer, H.: Deutsche Kolonien. Traum und Trauma. Unter Mitarbeit von H. Diedrich. Berlin 2005, S. 10. Vgl. dazu genauer ebd., S. 13-33.
[3] Vgl. zur Rolle der Intention Kaiser Wilhelms II. und deren Umsetzung in der deutschen Kolonialpolitik insb. Fesser, G.: Der Traum vom Platz an der Sonne. Deutsche <Weltpolitik> 1897-1914. Bremen 1996.
[4] S. Schultz-Naumann, J.: Unter Kaisers Flagge. Deutschlands Schutzgebiete im Pazifik und in China einst und heute. München 1985, S. 15f.
[5] S. Graichen; Gründer, S. 10. S. auch Bade, S. 2-5.
[6] Vgl. etwa Meyer, A.: Der Zollverein und die deutsche Politik Bismarcks. Eine Studie über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Zeitalter der Reichsgründung. Frankfurt/Main 1986. Vgl. auch Mühlhahn, K.: Herrschaft und Widerstand in der <Musterkolonie> Kiautschou. Interaktionen zwischen China und Deutschland 1897-1914. München 2000. Für die Einflussnahme deutscher Großunternehmer auf die – vor allem rüstungsindustrielle – Entwicklung in China am Ende des 19. Jahrhunderts s. insb. Kap. 4.1: „Li Hongzhang und Alfred Krupp – Das Konglomerat in der Waffen- und Militärtechnik“.
[7] S. Henning, F. W.: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914. Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Bd. 2). Paderborn 1973, S. 203 und S. 209-213. S. auch Ullrich, V.: Die nervöse Grossmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918. Frankfurt/Main 1997, S. 128.
[8] S. Boch, R.: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert. Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 70. Herausgeg. von L. Gall. München 2004, S. 49-52.
[9] S. Bade, S. 2.
[10] Zit. Graichen; Gründer, S. 10.
[11] Vgl. etwa Demhardt, I. J.: Deutsche Kolonialgesellschaft 1888-1918. Ein Beitrag zur Organisationsgeschichte der deutschen Kolonialbewegung. Wiesbaden 2002. Für die Darstellung wirtschaftlicher Aspekte in der kaiserlichen Kolonialpolitik vgl. zudem Schinziger, F.: Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee. Wiesbaden 1984.
[12] Vgl. insb. Fauth, F.: Tsingtau – Erinnerung. 2 Bde. Heidelberg 1947. Vgl. auch Schultz-Naumann.
[13] Vgl. Haupt, W.: Deutschlands Schutzgebiete in Übersee 1884-1918. Berichte – Dokumente – Fotos und Karten. Friedberg 1984. Vgl. zudem Leutner, M. (Hrsg.); Mühlhahn, K.: <Musterkolonie Kiautschou> - die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914 – eine Quellensammlung. Berlin 1997.
[14] Zu der Rolle der krisenhaften Situation in Europa und Nordafrika im frühen 20. Jahrhundert vgl. Vocke, R.: Imperialistisches Europa. In: Pleticha, H. (Hrsg.): Weltgeschichte in 12 Bänden. Fürstenhöfe und Fabriken – Die Welt im Zeitalter des Imperialismus. Bd. 10, Gütersloh 1996, S. 199-232.
[15] Vgl. Artelt, J.: Tsingtau. Deutsche Stadt und Festung in China 1897-1914. Düsseldorf 1984. S. auch Bade, S. 2-9.
[16] Vgl. insb. Bickers, R. A.: The Boxers, China, and the world. Lanham, Malden u.a. 2007. Vgl. auch Preston, D.: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. Aus dem Englischen von S. Höfer. Stuttgart u.a. 2001.
[17] S. Graichen; Gründer, S. 225.
[18] S. Bade, S. 12f. S. dazu ausführlich Schultz-Naumann, S. 316-323.
[19] Vgl. etwa Leutner. Vgl. auch Nuhn.
[20] S. Graichen; Gründer, S. 207.
[21] S. Rivinius, K. J.: Die missionarische Aktivität in China im 19. Jahrhundert. In: Bade, S. 270f.
[22] S. Abb. 5: „Das Deutsche Reich und seine Kolonien“.
[23] S. Leutner, S. 38.
[24] S. Graichen; Gründer, S. 208.
[25] Vor allem der diplomatische Schutz der christlichen Missionare, d.h. die chinesische Regierung konnte die Aktivitäten der christlichen Kirche im eigenen Land weder kontrollieren noch strafrechtlich verfolgen, begünstigte in den nach 1860 folgenden Jahren die missionarischen Tätigkeiten der Gesandtschaften der europäischen Großmächte. Jene Immunität trug daher maßgeblich zu der oktroyierten Liberalisierung Chinas bei. S. dazu auch Kap. 3.1: „Die christlichen Sendboten als Initiatoren des deutschen Handels- und Kapitalforts in Kiautschou“.
[26] S. Graichen; Gründer, S. 208.
[27] S. dazu insb. Kap. 4.1: „Li Hongzhang und Alfred Krupp – Das Konglomerat in der Waffen- und Militärtechnik“.
[28] S. dazu Abb. 5: „Das Deutsche Reich und seine Kolonien“.
[29] Zur Rolle Preußens im Deutschen Zollverein vgl. insb. Hahn, H.-W.: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984. Zur allgemeinen konjunkturellen Entwicklung in Deutschland seit 1866 bzw. im Deutschen Kaiserreich seit 1871 vgl. auch Boch.
[30] S. Graichen; Gründer, S. 208.
[31] Zit. nach ebd.
[32] Dabei waren es erstaunlicherweise vor allem norddeutsche Familienunternehmen, die als erste den Versuch der Manifestierung der deutschen resp. der Hamburgischen, Bremer und preußischen Handels- und Gewerbekammer im Reich der Mitte unternahmen. Diese Tatsache spiegelt daher die finanzielle Dominanz der norddeutschen Kleinstaaten im Verbund des Deutschen Zollvereins wider. Vgl. Hahn. S. auch Graichen; Gründer, S. 208f.
[33] S. Henning, S. 209-213.
[34] S. Meyer, S. 18-21 und S. 114f.
[35] S. Graichen; Gründer, S. 210.
- Arbeit zitieren
- Holger Skorupa (Autor:in), 2008, Kiautschou – Die deutsche Kolonie im chinesischen Pazifik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122786
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