In den letzten Monaten brachten die Medien immer häufiger Fälle
von Kindesvernachlässigung, -misshandlung und -missbrauch an
das Licht der Öffentlichkeit. Dabei sind es die extremen und
tragischen Einzelschicksale mit Todesfolge, wie die der kleinen
Lea-Sophie aus Schwerin oder der toten Kinder aus Erfurt,
Nordhausen, und Sömmerda, die für Erschütterung, Betroffenheit
und Wut in unserer Gesellschaft sorgen. Doch diese Fälle sind nur
die Spitze des Eisberges, denn die Zahl der Kindeswohlgefährdungen,
die im Schatten der Öffentlichkeit liegen, scheint
weitaus höher zu sein. Schätzungen gehen davon aus, dass
deutschlandweit zwischen 48.000 und 430.000 Kinder im Alter von
0 – 6 Jahren gesundheits- und lebensgefährdenden Bedingungen
ausgesetzt sind.1 Vor diesem Hintergrund wurden sowohl auf
Bundesebene als auch speziell in Thüringen viele Maßnahmen zum
Schutz der Kinder ins Leben gerufen, andere Konzepte gilt es noch
umzusetzen. Die Einführung verbindlicher Vorsorgeuntersuchungen
kann in diesem Zusammenhang ein wichtiges
Instrument zur Früherkennung und Prävention darstellen und somit
wesentlich zur Verbesserung des Kinderschutzes beitragen.
Inzwischen haben viele Bundesländer entsprechende Regelungen
oder Vorkehrungen getroffen, um Vorsorgeuntersuchungen als
Bestandteil von Kinderschutzmaßnahmen zu etablieren. Die
Umsetzung erfolgt jedoch recht unterschiedlich. Während manche
Länder eine Pflichtteilnahme favorisieren, versuchen andere mit
Bonussystemen oder expliziten Aufforderungen im Einzelfall, die
Teilnahmequote auf freiwilliger Basis zu erhöhen. Im Zeitraum des
Entstehens dieser Diplomarbeit2 wird in Thüringen das „Gesetz zur
Weiterentwicklung des Kinderschutzes“ in einem entsprechenden
Gesetzgebungsverfahren geprüft. Ein Teilziel dieses neuen
Gesetzes ist die Sicherung der Teilnahme an den einzelnen
Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Die Bedeutung von Vorsorgeuntersuchungen als Maßstab für die Einführung einer Vorsorgepflicht
1.1 Hintergründe für die Notwendigkeit verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen
1.2 Die Gefährdung des Kindeswohls
1.2.1 Kindesvernachlässigung
1.2.2 Kindesmisshandlung
2 Statistische Auswertung vorläufiger Schutzmaßnahmen
3 Thüringer Gesetz zur Weiterentwicklung des Kinderschutzes
3.1 Rechtliche Grundlagen
3.2 Wichtige Inhalte
3.3 Verfassungsmäßigkeit des ThürFKG
3.3.1 Formelle Rechtmäßigkeit
3.3.2 Materielle Rechtmäßigkeit
3.4 Problemlagen
3.5 Gewichtige Anhaltspunkte
4 Die Vorreiterrolle des Saarlandes bei der Einführung verbindlicher Vorsorgeuntersuchungen
4.1 Gemeinsamkeiten mit dem Thüringer Modell
4.2 Unterschiede zum Thüringer Modell
5 Elternrechte versus verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen
6 Die Auswirkung von Kinderrechten im Grundgesetz
7 Zusammenfassung
Vorwort
In den letzten Monaten brachten die Medien immer häufiger Fälle von Kindesvernachlässigung, -misshandlung und -missbrauch an das Licht der Öffentlichkeit. Dabei sind es die extremen und tragischen Einzelschicksale mit Todesfolge, wie die der kleinen Lea-Sophie aus Schwerin oder der toten Kinder aus Erfurt, Nordhausen, und Sömmerda, die für Erschütterung, Betroffenheit und Wut in unserer Gesellschaft sorgen. Doch diese Fälle sind nur die Spitze des Eisberges, denn die Zahl der Kindeswohl- gefährdungen, die im Schatten der Öffentlichkeit liegen, scheint weitaus höher zu sein. Schätzungen gehen davon aus, dass deutschlandweit zwischen 48.000 und 430.000 Kinder im Alter von 0 – 6 Jahren gesundheits- und lebensgefährdenden Bedingungenb ausgesetzt sind.1 Vor diesem Hintergrund wurden sowohl auf Bundesebene als auch speziell in Thüringen viele Maßnahmen zum Schutz der Kinder ins Leben gerufen, andere Konzepte gilt es noch umzusetzen. Die Einführung verbindlicher Vorsorgeunter- suchungen kann in diesem Zusammenhang ein wichtiges Instrument zur Früherkennung und Prävention darstellen und somit wesentlich zur Verbesserung des Kinderschutzes beitragen. Inzwischen haben viele Bundesländer entsprechende Regelungen oder Vorkehrungen getroffen, um Vorsorgeuntersuchungen als Bestandteil von Kinderschutzmaßnahmen zu etablieren. Die Umsetzung erfolgt jedoch recht unterschiedlich. Während manche Länder eine Pflichtteilnahme favorisieren, versuchen andere mit Bonussystemen oder expliziten Aufforderungen im Einzelfall, die Teilnahmequote auf freiwilliger Basis zu erhöhen. Im Zeitraum des Entstehens dieser Diplomarbeit2 wird in Thüringen das „Gesetz zur Weiterentwicklung des Kinderschutzes“ in einem entsprechenden Gesetzgebungsverfahren geprüft. Ein Teilziel dieses neuen Gesetzes ist die Sicherung der Teilnahme an den einzelnen Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter.
Im Verlauf dieser Arbeit soll verdeutlicht werden, welche Bedeutung verbindliche Vorsorguntersuchungen für Kinder haben, wie sie sich in das System der Kinderschutzarbeit integrieren und welche Problemlagen dabei auftreten können. Weiterhin liegt es in der Absicht des Verfassers, den Thüringer Gesetzentwurf einer Bewertung zu unterziehen und in entscheidenden Punkten mit dem saarländischen Gesetzesmodell zu vergleichen. Schließlich soll dargestellt werden, wie sich die gesetzliche Implementierung von Kinderrechten als präventiver Hilfsansatz auf die Einführung verbindlicher Vorsorgeuntersuchungen auswirken kann. Aufgrund des vorgegebenen begrenzten Umfangs der Diplomarbeit, können nur bestimmte Sachlagen und Zusammenhänge tiefgründig erörtert und damit nur ein Teil dieser vielseitigen Thematik analysiert werden. Die weiteren präventiven Hilfsmöglichkeiten, wie beispielsweise der Einsatz von Familienhebammen oder der Ausbau von Frühwarnsystemen und Kinderschutzdiensten, können in diesem Umfang nicht näher betrachtet werden und bedürfen einer zusätzlichen wissenschaftlichen Untersuchung. Diese Arbeit soll jedoch dazu beitragen, die Allgemeinheit für die Belange des Kinderschutzes und das Erfordernis einer gesetzlich festgelegten Vorsorgepflicht zu sensibilisieren. Auf diesem Weg kann die Stellung von Kindern in unserer Gesellschaft wieder ein Stück weit verbessert werden.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Die Bedeutung von Vorsorgeuntersuchungen als Maßstab für die Einführung einer Vorsorgepflicht
Ärztliche Vorsorgeuntersuchungen dienen der Sicherstellung einer gesunden und altersgerechten Entwicklung von Kindern. Mit ihnen sollen Krankheiten frühzeitig erkannt werden, die imstande sind, die normale körperliche und geistige Entwicklung von Kindern wesentlich zu beeinträchtigen. Basierend auf §§ 26 I und 25 IV S.2 SGB V und den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres („Kinder- Richtlinien“), haben Krankenversicherte für ihre Kinder einen Anspruch auf neun Vorsorge- bzw. Früherkennungsunter- suchungen. Die einzelnen Untersuchungsstufen (U1 – U9) orientieren sich an den kindlichen Entwicklungsstadien und sind unter Beachtung von Toleranzgrenzen innerhalb festgelegter Zeiträume durchzuführen. In den einzelnen Untersuchungen wird der individuelle Gesundheitszustand der Kinder anhand ihrer Vorgeschichte festgestellt. Dabei werden außerdem regelmäßig Körpermaße, Reifezeichen, Motorik, Nervensystem sowie die Organe untersucht und die Ergebnisse dokumentiert. In aller Regel ist es im Rahmen des Kinderfrüherkennungsprogramms auch möglich, alle notwendigen Schutzimpfungen durchzuführen oder zu komplettieren. Der überwiegende Teil der Bevölkerung nutzt dieses kostenlose Präventionsangebot des deutschen Gesundheitssystems. Genaue Angaben über die Teilnehmerzahlen lassen sich aber erst mit den Schuleingangsuntersuchungen feststellen, da in diesem Zusammenhang die Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen ermittelt wird. Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) liegt die Beteiligung an der U3 – U7 bei über 90 Prozent. Die Teilnahmequote an den letzten beiden Untersuchungen U8 und U9 erreicht dagegen nur noch einen Wert von ca. 80 Prozent.3 Die Gründe dafür sind schwer auszumachen. Häufig wird mit fortschreitendem Alter der Kinder die Untersuchung einfach vergessen, weil die Zeitabstände zu groß sind und in der Regel auch keine Erinnerung zur Teilnahme erfolgt. Deshalb wird in Fachkreisen nicht nur aus medizinischen Gründen, sondern auch aus der Notwendigkeit heraus, regelmäßigere Untersuchungsabschnitte zu gewährleisten, die Einführung einer neuen Untersuchungsstufe zwischen der U7 und der U8 diskutiert. Schließlich bieten Vorsorgeuntersuchungen die Möglichkeit, Gesundheits- oder Entwicklungsstörungen im Kindesalter frühzeitig aufzudecken. Betroffenen Kindern kann so mit therapeutischen Maßnahmen schnelle Hilfe angeboten und damit eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung gefördert werden.
1.1 Hintergründe für die Notwendigkeit verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen
Die Teilnahme der Kinder an den Vorsorgeuntersuchungen ist grundsätzlich freiwillig. In letzter Zeit ist jedoch vor dem Hintergrund steigender Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung die Einführung einer Vorsorgepflicht in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Ihr Vorteil besteht zum einen darin, dass im Rahmen der medizinischen Untersuchungen zum Entwicklungsstand des Kindes die Möglichkeit besteht, auf Hinweise aufmerksam zu werden, die auf eine Kindeswohlgefährdung schließen lassen. Zum anderen sind Früherkennungsuntersuchungen ein gewachsenes und fest etabliertes System, bei denen es keiner Neueinführung oder etwaigen Gewöhnungsphase bedarf. Die Gefahr des Misstrauens und der Ablehnung gegenüber einer so genannten „ungewollten Neuregelung“ sollte grundsätzlich nicht bestehen. Belegt wird dies durch die relativ hohen Teilnahmequoten, die für eine breite Akzeptanz der Untersuchungen in unserer Gesellschaft sprechen. Eine Vorsorgepflicht bietet zudem die Chance, die Position des Jugendamtes und anderer Hilfseinrichtungen zu stärken. Häufig wird den Jugendämtern bei tragisch endenden Fällen von Kindeswohlgefährdung von der Öffentlichkeit vorgeworfen, nicht rechtzeitig interveniert zu haben oder die Gefährdungspotentiale schlichtweg verkannt zu haben. Den Jugendämtern wird in manchen Fällen sogar eine Mittäterschaft wegen unterlassener Hilfsmaßnahmen und der Verletzung von Schutzpflichten unterstellt.4 Fakt ist, dass Kinder bis zum Einschulungsalter nicht zwangsweise in Kontakt zu öffentlichen Einrichtungen treten müssen. Gerade die Jugendämter sind jedoch darauf angewiesen, möglichst früh Informationen über entsprechende Risikofamilien zu erhalten, bei denen eine Gefährdung der Kinder nicht auszuschließen ist. Um dem Schutzauftrag des Jugendamtes nach § 8a SGB VIII optimal nachzukommen, bietet sich mit regelmäßig wiederkehrenden Vorsorgeuntersuchungen und einer guten Kooperation zwischen Ärzten und Behörden die Gelegenheit, auf Risikofamilien aufmerksam zu werden, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht auffällig waren. Dieser Umstand schafft die nötige Transparenz. Es ist möglich, eine lückenlose Aussage darüber zu treffen, welche Kinder an den Untersuchungen teilgenommen haben und welche nicht. Der „aufsuchenden Sozialarbeit“ stehen damit schon im Vorfeld Erkenntnisse über Anzeichen bestehender oder künftiger Gefährdungspotentiale zur Verfügung, was letztlich auch die Entscheidungsfindung über eine frühzeitige Intervention wesentlich erleichtert. Mit der systematischen Sammlung und Auswertung der Daten könnten die Versorgungsstrukturen verbessert, feste Arbeitsabläufe standardisiert und die Entwicklung praxisbezogener Handlungsmodelle vorangetrieben werden. Durch die mit der verbindlichen Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen einhergehende Grunderfassung entsteht die notwendige Datenplattform für eine empirische Kinderschutzforschung. Der Schaffung evidenzbasierter Leitlinien für die Kinder- und Jugendhilfe stünde auf diesem Gebiet nichts mehr im Wege.5 Natürlich ist es nicht möglich mit einer Gesamterfassung und der Pflichtteilnahme an den Früherkennungs- untersuchungen, Kindesmisshandlungen, Vernachlässigungen oder gar Tötungen völlig auszuschließen. Im Einzelfall bedarf es nach wie vor konkreter Hilfsmaßnahmen durch spezielles Personal der Allgemeinen Sozialen Dienste. Jedoch verhärtet sich auch in der Fachwelt zunehmend der Gedanke, dass Früherkennungsunter- suchungen ihren Beitrag in einem Netzwerk aus frühen Hilfen leisten können. Die frühe Registrierung schärft den Blick für Verdachtsfälle und fördert die übergreifende Zusammenarbeit aller Beteiligten des Kinderschutzes. Wenn es gelingt, die vollständige Teilnahme aller Kinder an den Vorsorgeuntersuchungen zu sichern, lässt sich das großräumige Feld der Kinderschutzarbeit wesentlich verbessern.
1.2 Die Gefährdung des Kindeswohls
Verpflichtende Früherkennungsuntersuchungen können nur dann ihren Zweck im Rahmen des Kinderschutzes erfüllen, wenn der Begriff der Kindeswohlgefährdung einem klaren Interpretationsspielraum unterliegt. Gerade für die behandelnde Ärzteschaft ist es wichtig, eine genaue Differenzierung vorzunehmen, damit keine vorschnellen und eventuell fehlgerichteten Entscheidungen getroffen werden. Das Kindeswohl stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, dessen zentraler Anknüpfungspunkt im Kindschaftsrecht des BGB verankert ist. Danach definiert sich eine Gefährdungslage wie folgt: „ Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes (…) durch
missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Familiengericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen.“ (§ 1666 I BGB).
Was in einer Gesellschaft unter dem Begriff Kindeswohl verstanden wird, ist abhängig von den kulturellen und sozialen Vorstellungen sowie den jeweiligen Lebensbedingungen. Eine abschließende Definition ist nicht möglich, da auch die Deutung zeitlichen Veränderungen unterworfen ist und das Kindeswohl vor 100 Jahren gewiss anders verstanden wurde als heute. Jedoch nennt das Zivilrecht u. a. drei wesentliche Dimensionen des Kindeswohls: das körperliche, geistige und seelische Wohl. Außerdem eröffnet das Grundgesetz Kindern geschützte Rechtspositionen, wie die Unantastbarkeit der eigenen Menschenwürde (Art. 1 I S.1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II S.1 GG oder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG.6 Hieraus lassen sich konkrete menschliche Grundbedürfnisse ableiten, an denen sich das Kindes- wohl messen lässt. Unter anderem haben Kinder ein Recht auf:
- ausreichende Körperpflege,
- altersgemäße Ernährung,
- sachgemäße Behandlung von Krankheiten,
- Schutz vor Gefahren, Anerkennung, Sicherheit und Geborgenheit.
Um eine Gefährdungslage für das Wohl von Kindern präzisieren zu können, ist der Rückgriff auf eine Definition des Bundesgerichtshofes möglich. Demnach muss „eine Gefährdung gegenwärtig und in einem solchen Maß vorhanden sein, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“7
Der Gesetzgeber hat im Rahmen des § 1666 I BGB vier Gefährdungssituationen für das Wohl von Kindern bestimmt - die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, Vernachlässigung, unverschuldetes Versagen der Eltern und das Verhalten Dritter, die im Folgenden einer Verdeutlichung bedürfen. Unter der missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge versteht man die rechts- oder zweckwidrige Ausübung der Personen- oder Vermögenssorge der Eltern zum Schaden des Kindes. Beispiele für einen derartigen Missbrauch sind laut
Rechtsprechung die körperliche Misshandlung8, die Verweigerung
des Schulbesuchs9 oder die Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen gegenüber Schutzbefohlenen.10 Die Anwendung sexueller Gewalt gegenüber Kindern fällt ebenfalls in diese Kategorie.
Der Tatbestand der Vernachlässigung bezeichnet das andauernde oder wiederholte Unterlassen fürsorglichen Handelns von sorge- berechtigten Personen, welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre.
Ein unverschuldetes Versagen der Eltern liegt vor, wenn die Gefährdung des Kindes nicht aus einem schuldhaften Verhalten der Eltern resultiert. Dies wäre u. a. dann der Fall, wenn psychisch schwerkranke Eltern unfähig zur Gestaltung einer Beziehung zwischen sich selbst und dem Kind wären oder die Sorgeberechtigten aufgrund eigener Drogenabhängigkeit finanzielle Mittel des Kindes zur Beschaffung von Suchtmitteln verwenden würden.
Das Verhalten Dritter kann ebenso einen gefährdenden Einfluss auf das Kindeswohl ausüben, und zwar dann, wenn die Eltern es unterlassen oder nicht in der Lage sind, offensichtliche Gefährdungspotentiale zu unterbinden. Ein derartiges Fallbeispiel wäre die Misshandlung eines Kindes durch den Stiefvater, ohne dass die Mutter gewillt oder in der Lage ist, das Kind zu schützen. Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass es sich bei einer Kindeswohlgefährdung nicht um einen Kategoriebegriff handelt. Es gibt keine empirisch gesicherten Indikatoren, die eine einhundertprozentige Zuordnung rechtfertigen. Es muss deshalb im Einzelfall eine qualifizierte Einschätzung erfolgen, die einen angemessenen objektiven Eindruck von der Situation vermitteln kann. Die erkennbaren Gefährdungspotentiale sind dabei den vorhandenen familiären Ressourcen sowie den Fähigkeiten, Mitteln und der Bereitschaft der Eltern Verantwortung zu übernehmen gegenüberzustellen. Bei der Etablierung verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen im System des Kinderschutzes ist für die behandelnden Fachkräfte die Feststellung von Anzeichen für Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung von besonderer Bedeutung.
1.2.1 Kindesvernachlässigung
Die Beurteilung einer Kindesvernachlässigung gestaltet sich oftmals schwierig. Schließlich handelt es sich meist um einen lang andauernden Prozess, der sich nicht von einem Tag zum anderen zu erkennen gibt, aber den Verlauf der kindlichen Entwicklung entscheidend negativ beeinträchtigen kann.11 Es ist deshalb wichtig, die unterschiedlichen Ausprägungen zu kennen und eine genaue Abwägung vorzunehmen, ob es sich im jeweiligen Fall um eine Kindesvernachlässigung handelt oder nicht. Im Wesentlichen werden folgende Formen von Vernachlässigung charakterisiert:
- die körperliche Vernachlässigung (z.B. unzureichende Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit, mangelnde Hygiene, fehlende medizinische Versorgung),
- die emotionale Vernachlässigung (z.B. schlechtes Mutter- Kind-Verhältnis, Ignoranz emotionaler Signale des Kindes, fehlende Zuwendung und Akzeptanz),
- die kognitive und erzieherische Vernachlässigung (z.B. unzureichende Konversation oder spielerische Animation, keine Beachtung des Erziehungs- und Förderbedarfs des Kindes),
- und die ungenügende Beaufsichtigung (z.B. Kind wird sich selbst überlassen bzw. allein gelassen, keine Kenntnis über die Aufenthaltsorte des Kindes, mangelnde Kontrolle).
Gerade die körperliche Vernachlässigung beinhaltet die schlechte oder fehlende Gewährleistung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse von Kindern (z.B. ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung). Um sichere Anzeichen dafür feststellen zu können, bedarf es grundsätzlich einer medizinischen Untersuchung. Viele Sozialpädagogen behaupten von sich selbst, nicht die nötige Qualifikation für eine Beurteilung zu besitzen, ob die Grundbedürfnisse von Kleinkindern erfüllt werden oder nicht. Sicherlich wird innerhalb eines sozialpädagogischen Studiums auch Wissen über Entwicklungspsychologie und Bindungsstörungen vermittelt, das medizinische Einschätzungsvermögen über eine ausreichende Sicherstellung von Grundbedürfnissen ist jedoch nicht Bestandteil dieses Studienganges.
Es ist daher entscheidend, viele Faktoren zu betrachten, um eine Vernachlässigung und damit eine mögliche Kindeswohlgefährdung festzustellen. Was ist noch vertretbar? Wo liegt die Grenze? Ist es Vernachlässigung, wenn ein dreijähriges Kind Cola aus einer Babyflasche trinkt? Für eine Beurteilung müssen auch andere Faktoren, wie das Mutter-Kind-Verhältnis, die Wohnsituation, finanzielle Verhältnisse, Hygiene, Gewicht, Krankheitsstatus etc. untersucht werden. Mit einer regelmäßigen medizinischen Überwachung, beispielsweise mit verpflichtenden Vorsorge- untersuchungen in Kooperation mit anderen Hilfsinstitutionen, könnten schon im Vorfeld wichtige Anhaltspunkte und Tatsachen erfasst werden, die den Blick für Problemsituationen schärfen. Hierbei ist es jedoch wichtig, eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen. Nicht jedes Kind, das Merkmale einer Vernachlässigung aufweist, ist auch in seinem Wohl gefährdet.
1.2.2 Kindesmisshandlung
"Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige (bewusste oder unbewusste) gewaltsame körperliche und / oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen (z.B. Kindergärten, Schulen, Heimen) geschieht, und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tode führt, und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht".12 (nach Bast, 1978)
Anhand dieser Definition wird deutlich, dass es sich bei einer Misshandlung um aktives Tätigwerden in Form von Gewalt handelt. Nicht selten stellt dabei die passive bewusste oder unbewusste Vernachlässigung von Kindern die dunkle Vorgeschichte dar. Alle Kinder haben jedoch ein gesetzlich garantiertes Recht auf gewaltfreie Erziehung aus § 1631 II BGB, "Körperliche Bestrafung, seelische Verletzung und andere erniedrigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig." Diese Regelung lässt keine Ausnahmen mehr zu. Das noch bis vor wenigen Jahren geltende Züchtigungsrecht der Eltern wurde im Zuge der Novellierung des BGB zum 08.11.2000 durch den Gesetzgeber abgeschafft. Im Falle des Vorliegens einer offensichtlichen Kindesmisshandlung muss es oberstes Ziel sein, das Kind vor weiterer Gewalt zu schützen und die entsprechenden Hilfsmaßnahmen in die Wege zu leiten. Es ist dafür jedoch unerlässlich, zu wissen, welche Formen von Kindesmisshandlung auftreten können, denn die Gewalt gegenüber Kindern hat viele Gesichter. Sie kann durch körperliche, seelische oder sexuelle Misshandlungen Gestalt annehmen.
Der Begriff der körperlichen Misshandlung definiert sich über körperliche Schäden oder Verletzungen, die dem Kind durch fremde, gezielt gewaltsame Handlungen zugefügt werden. Dies können z.B. Hieb- und Stichverletzungen, Tritte, Vergiftungen, Erstickungsversuche (Würgen) oder thermische Schädigungen durch Verbrennen, Verbrühen oder Unterkühlen sein.
Die seelische Misshandlung bestimmt sich durch die Ausübung psychischer Gewalt, also Verhaltensweisen, Haltungen und Äußerungen, die ein Kind ängstigen, es überfordern, die Beziehung zu ihm schädigen und somit seine Persönlichkeitsentwicklung behindern. Die Verweigerung emotionaler Zuwendung, Isolation, Beschimpfungen oder unverhältnismäßige Überforderung (z.B. sportliche Leistung), aber auch die permanente Überbehütung sind hierfür treffende Beispiele.
Die Folgen von Misshandlungen können vielfältig sein, bleibende körperliche, seelische und geistige Schäden sind keine Seltenheit. Im schlimmsten Fall kann sogar der Tod des Kindes drohen. Durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und die besondere Aufmerksamkeit der Ärzteschaft für Symptome von Misshandlungen kann betroffenen Kindern im Zusammenwirken der Fachkräfte rechtzeitig geholfen werden.
Die Thüringer Landesärztekammer hat mit dem Leitfaden für Ärzte „Gewalt gegen Kinder“ eine Handlungsmaxime geschaffen, die eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit verbindlichen Früherkennungsuntersuchungen spielt.13 Zu den jeweiligen Misshandlungsformen wird darin nochmals explizit Stellung genommen. Er enthält außerdem Lösungsansätze für Probleme von
Ärzten im Umgang mit Kindern, Eltern oder anderen Institutionen des Kinderschutzes, sowie Hinweise zur Diagnoseerstellung bzw. Sicherung und der aktuellen Rechtslage.
2 Statistische Auswertung vorläufiger Schutzmaßnahmen
Bereits seit 1995 werden jährlich Daten über Maßnahmen zum Schutz für Kinder und Jugendliche durch das Thüringer Landesamt für Statistik erhoben.14 Der Entwicklungsverlauf zwischen 1995 und 2006 liefert einige interessante Ergebnisse, die einer genaueren Auswertung und Interpretation bedürfen. In Thüringen mussten im Jahr 2006 insgesamt 842 vorläufige Schutzmaßnahmen durchgeführt werden. Mit einer alarmierenden Quote von 19 Prozent waren davon auch 159 Kinder unter 6 Jahren betroffen. Im Vergleich zum Jahr 1995, als noch 402 bzw. 72 Sicherungsakte zum Schutz von Kindern notwendig waren, hat sich die Zahl der Eingriffe somit mehr als verdoppelt.15 Der Anlass für diese Maßnahmen wurzelte oft in einer Überforderung der Erziehungsberechtigten im Umgang mit ihren Kindern. Leider mussten auch in diesem Zusammenhang gehäuft Fälle von Kindesvernachlässigung festgestellt werden. Das es sich hierbei um ein wachsendes Problem handelt, lässt sich mit statistischen Werten belegen. Im Jahr 1995 lag die Anzahl der Kinder unter 6 Jahren, die als vernachlässigt eingestuft wurden, noch bei 34. Nach einem konstanten Anstieg in den letzen 10 Jahren erreichte die Zahl im Jahr 2006 einen Wert von 85, eine Steigerung von 150 Prozent.16 Ebenso aufschlussreich ist eine Darstellung der Personengruppen oder Institutionen, die entsprechende Schutzmaßnahmen bei Gefährdungen des Kindeswohls initiiert haben. Gegenüber 1995, als das Jugendamt noch zwanzig gewichtige Handlungsschritte zum Wohle von Kindern ergreifen musste, wuchs dieser Wert im Laufe der Jahre stetig. Im Jahr 2000 waren es schon vierzig Fälle und 2006 wurde die staatliche Kinder- und Jugendhilfe insgesamt achtzigmal tätig, viermal häufiger als noch im Jahr 1995. Nicht nur das Jugendamt, sondern auch Polizei- und Ordnungsbehörden, Nachbarn, Verwandte, Ärzte, Lehrer, Erzieher und schließlich auch die Eltern selbst regten Schutzmaßnahmen für das Wohlergehen der Kinder an. Entscheidende jährliche Veränderungen lassen sich hier jedoch nicht statistisch belegen. Entsprechende Meldungen, die in der Folge zur Unterschutzstellung des jeweiligen Kindes führten, variieren nur geringfügig innerhalb des erfassten Zeitraums und lassen damit nur begrenzt Rückschlüsse zu.17
Diese Entwicklung belegt eindeutig, dass es an der Zeit ist zu handeln. Gerade aufgrund der stark gestiegenen Anzahl von Vernachlässigungen im Kindesalter muss nach Lösungsmodellen gesucht werden. Es ist wichtig, derartige Anzeichen möglichst früh zu erkennen, um diesem negativen Trend durch individuelle Unterstützung und Förderung entgegenzusteuern. Eine Handlungsoption eröffnet sich in der Einführung verbindlicher Vorsorgeuntersuchungen zur Lokalisation bestehender Gefährdungslagen. Sie können den Grundbaustein eines Netzwerkes darstellen, auf dessen Basis frühe Hilfsangebote durch spezifische Fachkräfte eingebunden werden können.
[...]
1 Vgl. Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zum Schutz vor Kindeswohlgefährdung 2007, S.5
2 Der Kenntnisstand dieser Diplomarbeit bezieht sich auf Mai 2008, nachgehende Änderungen in der Sachlage können innerhalb dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden.
3 vgl. Kamtsiuris, 2007, S. 845 - 847
4 Focus, Von der Leyen attackiert Jugendamt, http://www.focus.de/panorama/welt/lea-sophie_aid_ 145239.html, gef. am 18.03.2008
5 vgl. Goldbeck, 2007, S. 151-152
6 vgl. Schmid / Meysen, 2006, Kap. 2, S. 1-7
7 BGH FamRZ 1956, S. 350 = NJW 1956, S. 1434
8 OLG Frankfurt, FamRZ 1980, 284 f
9 BayOLG, MDR 1984, 233
10 OLG Hamm, FamRZ 1968, 221
11 vgl. Kindler, 2006, Kap. 3, S. 1-3
12 Definition nach Bast, 1978
13 Landesärztekammer Thüringen, Thüringer Leitfaden für Ärzte „Gewalt gegen Kinder“, http://www.laek-thueringen.de/www/lakj/webinfo.nsf/LStart/$first, gef. am 16.04.2008
14 die Daten wurden für die Diplomarbeit durch das Thüringer Landesamt für Statistik bereitgestellt
15 vgl. Anlage 1, Punkt 1 bzw. Punkt 2, Seite VIII, Tabellenübersicht und graphische Auswertung - vorläufige Schutzmaßnahmen
16 vgl. Anlage 1, Punkt 3, Seite IX, graphische Auswertung – Ausgewählte Anlässe der Maßnahme
17 vgl. Anlage 1, Punkt 4, Seite IX, graphische Auswertung – Anregende der Maßnahme
- Arbeit zitieren
- Christian Schubert (Autor:in), 2008, Einführung einer Vorsorgepflicht für Kinder in Thüringen unter Betrachtung weiterer präventiver Hilfsmöglichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122653
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