Erstgeborene, Mittelkind oder Nesthäkchen, ob wir als erstes, zweites, letztes oder als Einzelkind das Licht der Welt erblicken, wird uns ein Leben lang begleiten. Sind die Erstgeborenen wirklich leistungsorientierter als ihre jüngeren Geschwister? Sind Mittelkinder die Vermittler der Familie und entwickeln sich deswegen zu guten Diplomaten? Sind die Jüngsten der Familien die Nervensägen, die stets im Rampenlicht stehen wollen?
Haben heute solche Zuschreibungen in der Geschwisterreihe Gültigkeit?
Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind große Veränderungen innerhalb der Familie dokumentiert worden. Die Rede ist von „Individualisierung“ und „Modernisierung“. Drei wichtige Elemente zeigen sich in dieser Entwicklung: Der Rückgang der großen Haushalte (oft mit mehreren Generationen in der gleichen Familie), die starke Zunahme der Einpersonen-Haushalte und der Rückgang der Kinderzahl in den Familien. So waren noch um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa durchschnittlich 5-6 Kinder pro Familie üblich, zwischen den Weltkriegen drei Kinder, in den 50er und 60er Jahren zwei Kinder und heute schließlich nicht einmal 1,5 Kinder pro Familie (diese Zahl trifft auf die Bundesrepublik Deutschland zu). Familien mit einem oder zwei Kindern sind heute zur Regel geworden, aber dennoch haben ein Drittel der Kindern, die heute aufwachsen, keine Geschwister.
Die Industriegesellschaft hat viele Veränderungen mit sich gebracht, was dazu geführt hat, dass die heutigen Kinder vermehrt von Erwachsenen umgeben sind und ihre Zeit immer mehr mit Betreuungs- und Versorgungspersonen teilen. Die elterliche Arbeitszeit ist gesunken, Krippenbetreuerinnen, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Erzieherinnen usw. sind zum Bestandteil des kindlichen Alltags geworden. Kann somit angenommen werden, dass diese veränderten Strukturen in der Familie dazu geführt haben, dass die Beziehungen, Rollen und Bindungen unter den Geschwistern sich tiefgreifend verändert haben oder sogar ganz an Bedeutung verloren haben?
Vorliegende Arbeit versucht, mögliche Antworten auf diese Frage zu erbringen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Fragestellung
3 Die Geschwisterbeziehung
3.1 Geschwisterkonstellationen und Geburtsrangplatz
3.2 Geschwisterrollen und Identität
3.3 Geschwisterbindungen
3.4 Die Familiensituation früher und heute
4 Die Geschwisterkonstellationsforschung
4.1 Theoretische Konzepte in der Individualpsychologie
4.2 Neuere Forschungsarbeiten
5 Geschwisterposition: Persönliche und soziale Entwicklung
5.1 Das älteste Kind
5.2 Das Einzelkind
5.3 Das mittlere Kind
5.4 Das jüngste Kind
5.5 Zu prüfende Hypothesen
6 Methode
6.1 Beschreibung der Stichprobe
6.2 Untersuchungsinstrumente
6.2.1 SPSS-Datenauswertung des Fragebogens
6.2.2 Übersicht zur internen Konsistenz und den Trennschärfen der Items der verwendeten Skalen
6.2.3 Vorgehensweise der auserwählten Testverfahren
7 Ergebnisse
7.1 Ergebnis der Hypothesenprüfung 1a)
7.2 Ergebnis der Hypothesenprüfung 1b)
7.3 Ergebnis der Hypothesenprüfung 1c)
7.4 Ergebnis der Hypothesenprüfung 2a)
7.5 Ergebnis der Hypothesenprüfung 2b)
7.6 Ergebnis der Hypothesenprüfung 3a)
7.7 Ergebnis der Hypothesenprüfung 3b)
8 Diskussion der Ergebnisse
8.1 Themenbereich: Leistung
8.2 Themenbereich: Selbstakzeptanz
8.3 Themenbereich: Aggression
9 Schlussfolgerungen
10 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Erstgeborene, Mittelkind oder Nesthäkchen, ob wir als Erstes, Zweites, Letztes oder als Einzelkind das Licht der Welt erblicken, wird uns ein Leben lang begleiten.
Sind die Erstgeborenen wirklich leistungsorientierter als ihre jüngeren Geschwister? Sind Mittelkinder die Vermittler der Familie und entwickeln sich deswegen zu guten Diplomaten? Sind die Jüngsten der Familien die Nervensägen, die stets im Rampenlicht stehen wollen?
Haben heute solche Zuschreibungen in der Geschwisterreihe Gültigkeit?
Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind grosse Veränderungen innerhalb der Familie dokumentiert worden. Die Rede ist von „Individualisierung“ und „Modernisierung“. Drei wichtige Elemente zeigen sich in dieser Entwicklung: Der Rückgang der grossen Haushalte (oft mit mehreren Generationen in der gleichen Familie), die starke Zunahme der Einpersonen- Haushalte und der Rückgang der Kinderzahl in den Familien.
So waren noch um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa durchschnittlich 5-6 Kinder pro Familie üblich, zwischen den Weltkriegen drei Kinder, in den 50er und 60er Jahren zwei Kinder und heute schliesslich nicht einmal 1,5 Kinder pro Familie (diese Zahl trifft auf die Bundesrepublik Deutschland zu) (vgl. Kasten 1999).
Familien mit einem oder zwei Kindern sind heute zur Regel geworden, aber dennoch haben ein Drittel von den Kindern, die heute aufwachsen, keine Geschwister.
Die Industriegesellschaft hat viele Veränderungen mit sich gebracht, was dazu geführt hat, dass die heutigen Kinder vermehrt von Erwachsenen umgeben sind und ihre Zeit immer mehr mit Betreuungs- und Versorgungspersonen teilen. Die elterliche Arbeitszeit ist gesunken, Krippenbetreuerinnen, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Erzieherinnen usw. sind zum Bestandteil des kindlichen Alltags geworden.
Kann somit angenommen werden, dass diese veränderten Strukturen in der Familie dazu geführt haben, dass die Beziehungen, Rollen und Bindungen unter den Geschwistern sich tiefgreifend verändert haben oder sogar ganz an Bedeutung verloren haben?
Vorliegende Arbeit versucht, mögliche Antworten auf diese Frage zu erbringen.
2 Fragestellung
In dieser empirischen Arbeit möchten wir der Frage nachgehen, ob klassische entwicklungspsychologische Annahmen und Befunde aus der psychoanalytischen Praxis zum Einfluss der Position eines Kindes in der Geschwisterreihe empirisch bestätigt werden, oder haben die Entwicklung hin zur modernen Kleinfamilie und die sich wandelnden Erziehungspraktiken dazu geführt, dass die Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender nicht mehr in bedeutsamer Weise von der Position unter den Geschwistern mitbestimmt wird.
Wir werden in Kapitel 3 auf die Geschwisterkonstellation und Geburtsrangplatz eingehen. Dabei werden wir Geschwisterrolle und Identität, Geschwisterbindungen und die Situation der Familie im gesellschaftlichen Wandel behandeln. Die Geschwisterkonstellationsforschung mit Fokus auf die Individualpsychologie, bei welcher wir uns in einem ersten Schritt vor allem auf frühere Konzepte abstützen, und in einem zweiten Schritt uns den neueren Forschungsarbeiten zuwenden, bilden den Gegenstand des Kapitels 4.
Kapitel 5 soll eine anschauliche Beschreibung von Einflüssen beziehungsweise Befindlichkeiten von Kindern in bestimmten „klassischen“ Geschwisterstellungen beinhalten. Wir werden dabei versuchen typische Eigenschaften bestimmter Positionen herauszuschälen, welche wir aus der Literatur gewonnen haben.
Wie sich nun diese in Kapitel 5 gefunden charakteristischen Eigenschaften in der Praxis wirklich finden lassen, bildete den Ausgangspunkt für unsere empirische Untersuchung im Kapitel 6 und 7. Die gewonnen Erkenntnisse werden in Kaptitel 8 diskutiert.
Abgerundet wird unsere Arbeit mit eigenen, weiterführenden Schlussfolgerungen im Kapitel 9.
3 Die Geschwisterbeziehung
3.1 Geschwisterkonstellationen und Geburtsrangplatz
Viele Faktoren prägen unsere Beziehung zu unseren Brüdern und Schwestern, und eine davon ist die Geburtenreihenfolge. Wie sich Geschwisterbeziehungen gestalten hängt wesentlich davon ab, wie gross die Familie ist und welchen Platz das Kind in der Reihe einnimmt. Zusätzlich von Interesse ist, in welcher Konfiguration Jungen und Mädchen in der Familie verteilt sind.
Der grösste Teil psychologischer Geschwisterforschung konzentriert sich auf die Zusammen- hänge zwischen Geburtenrangplatz und verschiedenen Persönlichkeitsvariablen, wie Intelligenz, Dominanz, Abhängigkeit, Leistungsverhalten, Risikoverhalten, politische Einstellung etc.
Anhand von den relevanten, gefundenen Zusammenhängen wird das Profil der Geschwister- positionen gezeigt: z.B. sollen Erstgeborene mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Fürsorglichkeit erhalten als ihre Geschwister, was höhere Intelligenz, bessere berufliche Motivation und grösseren Erfolg in schulischer Hinsicht zur Folge haben sollte. Anderseits gelten sie auch als ängstlicher und konservativer in ihrem Denken als ihre jüngeren Geschwister. Die jüngeren Geschwister seien weniger leistungsmotiviert, hätten eine niederere Intelligenz, wären beruflich weniger erfolgreich und könnten sich leichter von familiären Beziehungen abgrenzen.
Es ist nicht die Geschwisterposition an sich, die ausschlaggebend ist, sondern die mit der Geschwisterposition verbundenen sozialen, ökonomischen, ökologischen, zwischenmenschli- chen und individuellen Verhältnisse, welche letztlich bestimmen, welche Persönlichkeits- eigenschaften entwickelt werden. Dies wurde oft in vielen Forschungen über den Geburts- rangplatz nicht berücksichtigt.
Für Alfred Adler stellt das „Entthronungstrauma“, dass das erstgeborene Kind nach der Geburt des zweiten Kindes erlebt, einen Schock für das ganze Leben dar. Mit dessen Verarbeitung beschäftigen sich viele Erstgeborene noch im Erwachsenenalter. Das Entthronungstrauma belastet aber nicht nur das Verhältnis zu den Geschwistern, sondern vor allem das Verhältnis zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Als Folge des Traumas werden Haltungen verfestigt, die auch im Umgang mit Menschen ausserhalb der Herkunftsfamilie beibehalten werden. Das gesamte Sozialverhalten zum Beispiel in der Schule, im Freundeskreis und im Berufsleben wird nach Kasten (1999) durch diese traumatische frühkindliche Erfahrung geprägt.
Auch für Toman (1965) ist der Geburtsrangplatz von ausschlaggebender Bedeutung. Er geht von der Annahme aus, dass die Erfahrungen in der eigenen Herkunftsfamilie die Gestaltung neuer Beziehungen in zukünftigen Partnerschaften massgeblich beeinflussen. Er entwickelte das sogenannte „Duplikationstheorem“. Er meint damit, dass erwachsene Beziehungen zu Liebespartnern und Freunden umso glücklicher seien, je mehr sie den Beziehungserfahrungen in der Herkunftsfamilie gleichen.
“Neue ausserfamiliäre soziale Beziehungen werden nach den Vorbildern früherer und frühester innerfamiliärer sozialer Beziehungen gesucht. Sie haben unter sonst vergleichbaren Bedingungen umso mehr Aussicht auf Erfolg und Bestand, je ähnlicher sie den früheren und frühesten sozialen Beziehungen eines Menschen sind“ (Toman 1965, S. 2).
Er spezifiziert diese allgemeine Aussage mit folgendem Beispiel: „Wenn ein älterer Bruder einer Schwester die jüngere Schwester eines Bruders heiratet, dann bekommen beide in der Ehe nocheinmal, was sie an (altersnahen) Beziehungen schon zu Hause hatten. Er ist an ein jüngeres Mädchen, sie an einen älteren Jungen gewöhnt. Daher soll es zu keinen „Konflikten“ über ihre Seniorenrechte kommen“ (Toman 1965, S. 5).
Dies bedeutet zum Beispiel für Ehepartner, dass sie besser miteinander auskommen, wenn ihr Partner den eigenen Geschwister in der Herkunftsfamilie ähnelt. Jüngere Geschwister kämen am besten mit Ältesten zurecht, Schwestern von Brüdern am ehesten mit Brüdern von Schwestern usw.
3.2 Geschwisterrollen und Identität
Für die Individualpsychologie spielt die Geschwisterposition eines Menschen eine wichtige Rolle. Daraus entwickeln sich wichtige Züge des Lebensstils ab, wie zum Beispiel „Ich bin der Älteste und trage für alle Geschwister die Verantwortung“ oder „Ich bin die Jüngste und habe einen Anspruch darauf, von den andern verwöhnt zu werden“.
Hier handelt es sich streng genommen eher um Geschwisterrollen als um Geschwisterpositionen, jedoch stimmen meistens Rolle und Position überein. Diese Rollen können aber unter Geschwistern ausgetauscht werden. Wenn dies geschieht, sind beide Partner aktiv beteiligt. Ein Rollentausch kann zum Beispiel dann geschehen, wenn der Bequemlichkeit eines älteren Geschwisters mit dem Dominanzstreben eines jüngeren Geschwisters zusammenfällt. In diesem Falle erfolgt mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Rollentausch, allerdings verringert sich die Wahrscheinlichkeit, einen geeigneten Tauschpartner zu finden je kleiner die Familie ist, daher ist sie relativ selten in der Kleinfamilie. Da die Rolle der Ältesten und der Jüngsten die ausgeprägtesten sind, hat der Tausch dieser beiden Rollen die grösste Bedeutung und deutet auf sehr starke Ausprägung gewisser Züge des Lebensstils hin. Beim Fehlen eines Elternteils durch Tod oder Trennung übernimmt oft das ältere gleichgeschlechtliche Kind die Elternrolle. Diese Übernahme kann als „normal“ betrachtet werden, wenn das Kind in oder nahe bei der Adoleszenz steht und wenn es in der weiteren Entwicklung zu einer Auflösung dieser Rolle kommt und zur eigenen Familiengründung (Eckstein 1980).
Schon vor der Geburt eines Kindes haben Eltern Erwartungen und Phantasien über Identität und Geschlecht des Kindes. Schwangere Frauen benennen oft ihr zukünftiges Kind als „schwierig“, „lebhaft“ oder „ruhig“. Ein anderer Faktor für die Identität, die ein Kind übernehmen kann, sind die biologischen Temperamentsunterschiede im Säuglingsalter. Diese führen oft zu einer Rollen- oder Identitätszuschreibung innerhalb der Familie. Die Fähigkeit der Eltern, die individuellen Unterschiede bei den Geschwistern zu erkennen, ist eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde und funktionierende Familie. So sollte in der Familie jedes Kind anders sein, sich von den anderen unterscheiden, andere Aufgaben erfüllen und eine andere Identität haben. Wird ein Geschwister als freundlich, zuverlässig und liebenswürdig beschrieben und ein anderes als intelligent und erfolgreich, sind diese Rollen für folgende Kinder schon besetzt und es kann diese Rolle nicht übernehmen, sondern muss ein anderes Gebiet übernehmen.
Sulloway (1999) spricht statt von Familienrollen von „Nischen“ in der Familie, wo verfügbaren Ressourcen genutzt werden können. Er schreibt:
“Geschwister konkurrieren miteinander um die physischen, emotionalen und intellektuellen Ressourcen der Eltern. Sie schaffen sich, abhängig von Geburtenfolge, Geschlecht, physischen Eigenschaften und Temperament, unterschiedliche Rollen im Familiensystem und entwickeln aus diesen heraus verschiedenen Methoden, sich bei den Eltern beliebt zu machen“ (Sulloway 1999, S. 39).
Somit wird nach Sulloway die Aufteilung der Familie in Rollen (Nischen) vor allem durch die Geburtenreihenfolge bestimmt und bewirkt Unterschiede in der Persönlichkeit. Oft können Erstgeborene anderen Erstgeborenen ähnlicher sein als den eigenen Geschwistern, weil sie sich mehr mit den Eltern und mit Autorität identifizieren. Folglich gelten Erstgeborene oft als ehrgeizig, gewissenhaft und erfolgsorientiert. Sie sind im Verhältnis zu ihren jüngeren Geschwistern auch konformistischer, konventioneller und defensiver.
Wenn man herauszufinden will, welche Folgen die Geburtenfolge für ein Individuum haben kann, muss man so, die familiäre Nische anschauen und deuten. Sulloway schreibt diesbezüglich:
Die Kategorie Geburtenfolge kann in biologischer wie in funktionaler Bedeutung gebraucht werden. Entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung ist nicht nur, mit welchen biologischen Anlagen ein Individuum auf die Welt kommt, sondern auch, in welche Umwelt es hineingeboren wird. Will man herausfinden, welche Auswirkungen die Geburtenfolge haben kann, liefert die familiäre Nische den Schlüssel. (Sulloway 1999, S. 40)
Auch nach Haptworth/Heilman (1996) kann die Geburtenreihenfolge zusätzlich benutzt werden, um allgemeine Tendenzen, die man bei ältesten, mittleren oder jüngsten Kinder antrifft, zu analysieren. Sie meinen, dass ältere Kinder oft ein ähnliches Verhalten zeigen, weil sie von Anfang an die Alleinherrscher waren und die volle Zuwendung der Eltern geniessen konnten. Für jüngste Kinder sieht es anders aus, sie hatten nie eine Zeit als Alleinherrscher, ohne Konkurrenz von grösseren und mächtigeren Geschwistern. Folglich schlummern bei ihnen Minderwertigkeitskomplexe unter der nach aussen gezeigten Selbstsicherheit. Die mittleren Geschwister teilen einige Merkmale von den Jüngsten, aber sie sind wieder anders, weil sie sich gegenüber denen, die nach ihnen gekommen sind, überlegen fühlen können. Sie leiden unter Identitätsproblemen und haben ein geringes Selbstwertgefühl (Haptworth/Heilman 1996).
Wenn die Kinder älter werden und ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten entwickeln und entdecken, werden ihre Rollen anders ausgeprägt und unterscheiden sich folglich noch mehr voneinander. Das eine Kind bekommt seine Anerkennung beispielsweise weil es musikalisch ist, ein anderes wegen seinen sportlichen Fähigkeiten und das dritte vielleicht wegen seiner fröhlichen und aufgestellten Art.
3.3 Geschwisterbindungen
Nach Bank und Kahn (1989) gibt es zwei Faktorengruppen, die bestimmen, wie sich die Geschwister in früherer Kindheit beeinflussen. Erstens sind äussere Bedingungen wie Altersunterschiede zwischen den Geschwistern, ökonomische Lage der Familie, der Geburtsort und seine soziale Strukturen massgebend. Zweitens sind die Faktoren innerhalb des Kindes und zwischen den Geschwistern, d.h. jedes Geschwister entwickelt eigene Gefühle zu den Geschwistern und zu sich selbst. Obwohl diese Faktoren oft sehr schwer fassbar sind, haben sie in der Geschwisterbeziehung eine grosse Bedeutung und entwickeln sich in den ersten Jahren, auf gefühlsmässiger Ebene, zum Teil noch bevor die Kinder überhaupt miteinander sprechen können.
Laut psychoanalytischen Vorstellungen geht man davon aus, dass für das kindliche Gedeihen eine enge symbiotische Beziehung zur Mutter notwendig ist, damit die Bedürfnisse des Säuglings nach Nähe und Geborgenheit befriedigt werden. Wenn die Eltern, aus irgendwelchen Gründen, nicht in der Lage sind, genügend Liebe und Zuwendung zu geben, schliessen sich die Geschwister enger zusammen und das jüngere Kind versucht zumindest einen Teil der Zuneigung, welche von den Eltern vorenthalten wurde, vom älteren Geschwister zu bekommen. Es hängt von den Umständen in der Familie, den Persönlichkeiten der Kinder und den Handlungen oder der Einstellung der Eltern ab, ob die Intensivierung zwischen den Geschwistern konstruktiv oder destruktiv wird. Emotional befriedigende Beziehungen zu den Eltern lassen die Geschwisterbeziehung schwächer und unwichtiger werden. In der früheren individualpsychologischen Literatur bleiben diese Umfeld prägenden Argumente meist ungeachtet.
3.4 Die Familiensituation früher und heute
Wie wir schon gehört haben, verbringen heute immer mehr Kinder ihre Zeit mit erwachsenen Menschen. Früher, noch vor zwei bis drei Generationen, wuchsen die Kinder mit wesentlich mehr Geschwistern auf und hatten mit den Eltern oder anderen Erwachsenen bedeutend weniger Kontakt. Oft waren die älteren Geschwister für die Versorgung der jüngeren Geschwister verantwortlich. So war die älteste Schwester oft für die Arbeit im Haushalt verantwortlich und somit das Oberhaupt der Geschwisterreihe, wenn die Mutter ihrer Arbeit nachging. Die älteren Geschwister waren Vorbilder für die Jüngeren und ihre Aufgaben bestanden auch darin, Fertigkeiten weiterzugeben, um den Alltag bestreiten zu können. Erwartet wurde von den Jüngeren, dass sie sich unterordneten und sich an den Älteren orientierten. Das Erziehungsideal bestand in Konformität und Uniformität, d.h. Anpassung an Traditionen, Sitten und Gebräuche. Auch Kleidung und Verhalten waren wichtige Merkmale und am liebsten sollte kein Kind aus der Reihe tanzen.
Schauen wir uns unsere Geschwister von heute an, so zeigt sich ein ganz anderes Bild. Der Drang zum Individualismus springt uns schon vom Äusseren her geradezu ins Auge.Die Geschwister werden früh dazu angehalten eigenen Interessen und Vorlieben nachzugehen und die Individuation hat (speziell in den mittleren und oberen Sozialschichten), eine grosse Bedeutung bekommen. Die Erziehung ist, unabhängig von der Schichtzugehörigkeit, partnerschaftlicher und gleichberechtigter geworden (Kasten 1999).
Früher haben Geschwister während der Zeit ihres Aufwachsens wenige Veränderungen miterlebt und wurden im Vergleich zu heute mit wenig prägenden Einflüssen konfrontiert. Wenn wir die Umwelteinflüsse von heute betrachten, die Zunahme an Mobilität, die beruflichen Veränderungen der Eltern, Scheidungen/Wiederverheiratung und dazu noch die kritischen Lebensereignisse in der Kindheit, wie der Wechsel vom Kindergarten in die Schule und in die weiterführenden Schulen, wird uns klar, welcher Vielfalt an Umwelteinflüssen die Kinder heute ausgesetzt sind. Wie wirken sich all diese Veränderungen auf die Geschwisterrollen in der Familie aus?
Sicher ist, dass Geschwister heute viel weniger Zeit zusammen verbringen können und sich folglich viel weniger miteinander befassen, was automatisch dazu führt, dass sich seltener eine enge gefühlsmässige Bindung entwickeln kann.
In gesunden Geschwisterbeziehungen übernehmen Geschwister für einander oft wichtige Sozialisierungsfunktionen oder sie können grundlegende Fertigkeiten von einander lernen, wie z.B. motorische Fähigkeiten oder verbale Ausdrücke. Oft findet auch ein affektives Beziehungstraining statt. Man kann ausprobieren, wie es sich anfühlt zu rivalisieren, nett zu sein oder ein Geschwister auszubooten oder selber ausgebootet zu werden.
Wenn man bedenkt, was für eine Bedeutung die Geschwister für die individuelle Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Familie während der Kindheit und Jugendjahre hat, ist es doch verwunderlich, wie wenig sich die empirischen Sozialwissenschaften mit dem Thema „Geschwister“ in den letzten Jahrzehnten befasst haben. Die Erfahrungen mit den Geschwistern in der Kindheit bilden den Nährboden für unseren Umgang mit Nähe und Vertrautheit, mit Konkurrenz und Ablehnung, mit Konflikt und Versöhnung.
4 Die Geschwisterkonstellationsforschung
4.1 Theoretische Konzepte in der Individualpsychologie
Erst Alfred Adler hat in der Individualpsychologie in den 20er Jahren versucht, mögliche Verbindungen zwischen dem Geburtenrangplatz und gewisse Eigenschaften des Individuums in Verbindung zu bringen.
Er meinte sogar, dass der Einfluss auf die Charakterbildung so stark und nachhaltig sei, dass ein geübter Psychologe auch am erwachsenen Menschen erraten könne, ob er ein einziges Kind, ein älterer Bruder, eine jüngere Schwester usw. vor sich habe. Obwohl Adler und seine Schüler eine Typologie des ältesten, jüngsten und mittleren Kindes aufstellten, waren sie nicht der Meinung, dass die Entwicklung des Kindes ohne Mitwirkung von äusseren Ursachen bestimmt wird.
Kurt Seelman formulierte dies 1927 in seiner Monographie „ Das jüngste und älteste Kind“:
„Auch für uns ist die ausserordentliche Mannigfaltigkeit der Charaktere von Kindern aus einer Familie nicht zu bestreiten. Die stillschweigende oder ausdrückliche Voraussetzung aber, dass alle Kinder in einer Familie die gleichen Entwicklungsbedingungen und Möglichkeiten hätten, ist leicht als eine grosse Gedankenlosigkeit zu entlarven. Jedes Kind findet in seiner Familie innerhalb der Reihe seiner Geschwister von Grund auf andere Bedingungen und Möglichkeiten für seine Entwicklung vor“ (Seelman 1927, S. 11).
So ist ein Mensch nicht nur seinem Schicksal oder seiner Begabung ausgeliefert und die Entwicklung eines Menschen nicht nur von dem abhängig, was er von Geburt an mitbringt. Das Kind trifft, je nach Geschwisterposition in der Familie, ganz andere Bedingungen an, welche ihm für seine Weiterentwicklung und Persönlichkeitsbildung von grösster Bedeutung sein werden.
Adler hatte schon früh in seinem Aufsatz: „Über die individualpsychologische Erziehung“ (1918) und im: „Praxis und Theorie der Individualpsychologie“ (1920) beschrieben, wie bedeutsam Ereignisse aus der frühen Kindheit die neurotischen Dispositionen verstärken. Für ihn rückte die Frage ins Zentrum, wie sich frühkindliche Umweltfaktoren und Belastungen auf die psychische Struktur auswirken. Als eine mögliche Komplikation gehört nach Adler auch die Geschwisterkonstellation.
So besteht ein grundlegender Unterschied in der seelischen Entwicklung eines Erstgeborenen gegenüber dem Zweitgeborenen oder den letzten Kindern. Auch die Eigenart von einzigen Kindern ist leicht festzustellen. Seelisch wirkt es sich aus, ob in einer Familie nur Knaben oder nur Mädchen oder ein Knabe unter lauter Mädchen oder ein Mädchen unter lauter Knaben aufwächst. Dies sind die gegebenen Realien und Positionen, aus denen sich die Haltung der Kinder herleitet. (Lehmkuhl/Lehmkuhl 1995, S. 200)
Der Erstgeborene zeigt nach Adler konservatives Verhalten und der Zweitgeborene lebt oft in der Anspannung, den Ersten zu überflügeln. Oft sind die Persönlichkeitsunterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Kind einer Familie am grössten, dies liesse sich aus der Rivalität der beiden Geschwister um die Gunst der Eltern erklären.
Für die frühen Individualpsychologen ist auffallend, dass die Stellung der Geschwisterreihe vorwiegend unter einem pathogenen Aspekt betrachtet wurde, dabei ging es vorwiegend um Rivalität, Entthronung, Status, Unsicherheit und Macht.
Für Adler gibt es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Charakterzügen eines Kindes mit seiner Stellung in der Geschwisterreihe.
Dieses Gebiet der Kinderforschung, auf die Stellung des Kindes in der Kinderreihe bezogen, ist noch lange nicht erschöpft. Es zeigt sich mit bezwingender Klarheit, wie ein Kind seine Situation und deren Eindrücke als Bausteine benützt, um sein Lebensziel, sein Bewegungsgesetz, und damit auch seine Charakterzüge schöpferisch auszubauen. (op.cit. S.201)
Auffallend bei früheren Konzepten über Geschwisterkonstellationen ist, dass sie sich fast ausschliesslich mit dem ältesten und mit dem jüngsten Geschwister befassen. Diese Positionen scheinen für alle die prägendsten zu sein. Auch Seelman (1927) versucht anhand von praktischen Fällen aufzuzeigen, dass das jüngste Kind von der Mutter oft verwöhnt wird und sich im wirklichen harten Leben häufig benachteiligt und ausgestossen fühlt. Oder, dass es von grösseren Geschwistern oft entmutigt wird und als „kleines Niemand“ behandelt wird, was dazu führt, dass es sich in nervöse Symptome flüchtet. Bei älteren Kindern ist die Situation ähnlich aber doch wieder anders. Für das Ältere kommt es zu Störungen im Selbstwertgefühl, wenn ein Geschwister geboren wird. Das Kind versucht ängstlich zu retten, was zu retten ist und sichert sich die Achtung der Eltern, entweder durch Bravheit oder es wird zum Sorgenkind.
Auch Holub (1929) betrachtet die Beziehung Älteste/Jüngste als die „heikelsten“ Geschwisterpositionen. Die einzigen Kinder werden mit charakteristischen Eigentümlich keiten, wie einem altklugen Wesen und Frühreife gekennzeichnet.
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- Citation du texte
- lic.phil. I Patrick Lustenberger (Auteur), 2002, Die Bedeutung der Geschwisterkonstellation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122561
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