Cidade de Deus wird zu City of God: „Deutsche“ Titelübersetzung als Ideengeber für die vorliegende Arbeit.
Als der Film Cidade de Deus 2003 in Deutschland anlief, war ich sehr überrascht, dass der Film die entsprechende englische Titelübersetzung, City of God, bekommen hat. Dies hat mich sehr beschäftigt und ich sah in der Diplomarbeit die Möglichkeit zur Ausarbeitung des Themas. Ausgangspunkt war eine potenzielle Fehlrezeption. Bereits durch die Titelübernahme unterstützt von mangelden Hintergrundkenntnissen seitens des deutschen Publikums konnte ich nicht verstehen, dass man einen brasilianischen Titel aus dem Englischen übernimmt ohne weitere Erklärungen dafür zu geben. Die kommerziellen Absichten, die damit verbunden sind, waren mir von Anfang an bekannt, jedoch wurde die Gefahr einen deutschen Fehlrezeption vergrößert. Der Film wurde vom Publikum und von der Kritik insgesamt gut aufgenommen und 2003 in Deutschland laut einer Statistik aus der Lumiere-Datenbank von 447.001 Zuschauern gesehen. In Europa war der Film nur in Großbritanien noch erfolgreicher. Als Vergleich kann man Central do Brasil (1998) von Walter Salles heranziehen, auch ein weiterer erfolgreicher Film der brasilianischen retomada, der im Vergleich jedoch nur ca. 293.000 Zuschauer in Deutschland erreichte.
Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel bildet einen Überblick über die Entstehung des Films Cidade de Deus und seinen Inhalt. Im zweiten Kapitel wird der brasilianische Film chronologisch dargestellt, um eine Grundlage für das bessere Verständnis des Kapitelschwerpunktes vorzubereiten: Die Auseinandersetzung um den heutigen brasilianischen Film.
Die Wiederbelebung und Verstärkung dieser Debatte durch Cidade de Deus verursachte außerdem eine interdisziplinäre Debatte: Von einer Ästhetik zu einer Kosmetik des Hungers. Diese Diskussion hat in Brasilien für enorme Auseinandersetzungen v. a. im Bereich der Medienwissenschaft gesorgt und kennzeichnet sie auch heute noch. Die Wissenschaftlerin Ivana Bentes prägte diese theoretische Welle mit ihrer Kosmetik des Hungers in Anlehnung an der von Glauber Rocha in den 60er Jahren entstandenen revolutionären Theorie der Ästhetik des Hungers. Die Ästhetik des Hungers fungierte als eine Art Manifest für das brasilianische cinema novo und diente als theoretische Grundlage der Bewegung.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Entstehung der Cidade de Deus: Realer und fiktiver Ort
2 Filmgeschichte in Brasilien
2.1 Entstehung des brasilianischen Films
2.2 Realitätsfilm in Brasilien: Eine Geschichte der Gattung
2.2.1 Realität im Film: Ein kurzer Überblick
2.2.2 Realität im brasilianischen Film: Eine Tradition?
2.2.3 Allegorie der Realität: Das Cinema Novo
2.2.4 Die letzten Jahrzehnte: Ein kurzer Überblick
2.3 Estética vs. Cosmética da Fome
2.3.1 Estética da Fome
2.3.2 Cosmética da Fome
2.3.2.1 Debatte über den heutigen brasiliani- schen Film und die Cosmética da Fome: Cidade de Deus als Vorreiter
2.4 Cidade de Deus: Zwischen Fiktion und Realität
2.4.1 Gewalt im brasilianischen Film
2.4.2 Gewalt in Cidade de Deus
2.4.3 Realitätseffekt in Cidade de Deus: Dokumentarische Fiktion und fiktive Dokumentation
3 Kosmetik des Hungers durch die Übersetzung des Films?
3.1 Ein kurzer Überblick über die Filmübersetzung
3.1.1 Untertitelung
3.1.2 Synchronisation
3.2 City of God: Ein mittelalterlich theologischer Titel oder Die Kirche lässt grüßen
3.3 Eigennamen: Eine Sache für sich
3.4 Die Synchronisation und Untertitelung im Film Cidade de Deus
3.4.1 Die Synchronisation in Cidade de Deus
3.4.2 Die Untertitelung in Cidade de Deus
3.5 Ausgewählte Beispielszenen für die Übersetzungsanalyse
3.5.1 Szene 1: Die Entstehung der Stadt Gottes (00:01:59 bis 00:07:52)
3.5.2 Szene 2: Der Überfall auf das Motel (00:10:21 bis 00:11:27)
3.5.3 Szene 3: Die Cocotas am Strand (00:32:53 bis 00:34:22)
4 Rezeption des Films Cidade de Deus in Deutschland: Eine Fehlrezeption?
Anhang
Literaturverzeichnis
Einleitung
Cidade de Deus wird zu City of God: „Deutsche“ Titelübersetzung als Ideengeber für die vorliegende Arbeit.
Als der Film Cidade de Deus 2003 in Deutschland anlief, war ich sehr überrascht, dass der Film die entsprechende englische Titelübersetzung, City of God, bekommen hat. Dies hat mich sehr beschäftigt und ich sah in der Diplomarbeit die Möglichkeit zur Ausarbeitung des Themas. Ausgangspunkt war eine potenzielle Fehlrezeption. Bereits durch die Titelübernahme unterstützt von mangelden Hintergrundkenntnissen seitens des deutschen Publikums konnte ich nicht verstehen, dass man einen brasilianischen Titel aus dem Englischen übernimmt ohne weitere Erklärungen dafür zu geben. Die kommerziellen Absichten, die damit verbunden sind, waren mir von Anfang an bekannt, jedoch wurde die Gefahr einen deutschen Fehlrezeption vergrößert. Der Film wurde vom Publikum und von der Kritik insgesamt gut aufgenommen und 2003 in Deutschland laut einer Statistik aus der Lumiere-Datenbank von 447.001 Zuschauern gesehen. In Europa war der Film nur in Großbritanien noch erfolgreicher. Als Vergleich kann man Central do Brasil (1998) von Walter Salles heranziehen, auch ein weiterer erfolgreicher Film der brasilianischen retomada, der im Vergleich jedoch nur ca. 293.000 Zuschauer in Deutschland erreichte.
Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel bildet einen Überblick über die Entstehung des Films Cidade de Deus und seinen Inhalt. Im zweiten Kapitel wird der brasilianische Film chronologisch dargestellt, um eine Grundlage für das bessere Verständnis des Kapitelschwerpunktes vorzubereiten: Die Auseinander-setzung um den heutigen brasilianischen Film.
Die Wiederbelebung und Verstärkung dieser Debatte durch Cidade de Deus verursachte außerdem eine interdisziplinäre Debatte: Von einer Ästhetik zu einer Kosmetik des Hungers. Diese Diskussion hat in Brasilien für enorme Auseinandersetzungen v. a. im Bereich der Medienwissenschaft gesorgt und kennzeichnet sie auch heute noch. Die Wissenschaftlerin Ivana Bentes prägte diese theoretische Welle mit ihrer Kosmetik des Hungers in Anlehnung an der von Glauber Rocha in den 60er Jahren entstandenen revolutionären Theorie der Ästhetik des Hungers. Die Ästhetik des Hungers fungierte als eine Art Manifest für das brasilianische cinema novo und diente als theoretische Grundlage der Bewegung. Die heutige Diskussion gewann an Polemik als Mariza Leão, die für die Produktion des erfolgreichen Films Guerra de Canudos (1997) verantwortlich war, eine Antwort auf die Kosmetik des Hungers über die Zeitung an Bentes abgegeben hat, um ihren Film und die gesamte retomada[1] zu verteidigen. Weiteres zu dieser Debatte wird im Punkt 2. 3 behandelt.
Der übersetzungskritische Teil der Arbeit bildet das dritte Kapitel und stützt sich auf die brasilianische und die deutsche Version des Films in Form einer DVD. Da kein vollständiges Drehbuch vorliegt, werden die ausgesuchten Szenen von mir transkribiert. Der theoretische Hintergrund für die Übersetzungsanalyse bilden die Artikel von: Christiane Nord, Äpfel und Birnen und Der Titel – Ein Mittel zum Text, bei denen Nord die Aspekte der Titelübersetzung diskutiert, sowie von Angelika Gärtner und Margarete Schlater, It could happen to you, bei dem das Verfahren zur Titelübersetzung in Brasilien und Deutschland überprüft wird. Außerdem werden einige Artikel zum Thema Filmübersetzung und Synchronisation aus der Bibel der deutschen Übersetzer, dem Handbuch Translation herangezogen. Lucia Nagib, anerkannte brasilianische Geisteswissenschaftlerin, macht eine interessante soziolinguistische Analyse der sprachlichen Mittel im Film in ihrem Artikel A Língua da Bala[2] und ist besonders wichtig für die kritischen Überlegungen im dritten Kapitel. Außerdem wurde das Buch von Guido Marc Pruys, Die Rhetorik der Filmsynchronisation - Wie ausländische Spielfilme in Deutschland zensiert, verändert und gesehen werden und das Buch von Thomas Herbst, Linguistische Aspekte der Synchronisation von Fernsehserien in Betrachtung gezogen. Des Weiteren wurden einige meine Fragen per E-Mail von der Übersetzerin des Films, Barbara Winter, freundlicherweise beantwortet.
Ziel der Arbeit ist es, zu überprüfen, ob die deutsche Synchronfassung und Untertitelung des Films für eine Fehlrezeption seitens des deutschen Publikums beigetragen hat und inwiefern die Theorie von Ivana Bentes in Deutschland durch den interkulturellen Transfer wahr geworden ist. Insofern werde ich im vierten Kapitel über die Rezeption in Deutschland und seine Wirkung auf die Zuschauer samt Kritikern zu sprechen kommen und abschließend meine Vermutungen über eine mögliche Fehlrezeption aufstellen.
1 Entstehung der Cidade de Deus: Realer und fiktiver Ort
Cidade de Deus ist erstens eine der vielen brasilianischen Favelas. Favella (Jatropha phyllacantha) ist ursprünglich der Name eines Busches, der im brasilianischen Hinterland, Sertão, vorkommt. Nach ihm wurde der Ort Morro da Favela benannt, aus der die von Canudos[3] nach Rio de Janeiro zurückgekehrten Soldaten in sehr schlechten Verhältnisse lebten und auf ihren Sold warten mussten . Vermutlich gab es auch ein Morro da Favela in Canudos.[4] Erst ab den 20.Jahrhundert wird das Wort Favela von der Presse als ein eigenständiges Substantiv benutzt.[5] Cidade de Deus (1997) ist zum Zweiten auch der Name eines Romans von Paulo Lins über die gleichnamige Favela. Ein Werk, das nach einer achtjährigen Mitarbeit an einem anthropologischen Projekt entstanden ist. Letztlich ist Cidade de Deus auch ein Film von Fernando Meirelles, der auf dem gleichnamigen Buch basiert.
Was diese scheinbar unterschiedlichen „Geschichten“ miteinander verbindet ist die Gewalt, die in ihnen herrscht und deren starker Bezug zur Realität. Unter den Filmen der retomanda ist Cidade de Deus der zweitgrößte Erfolg und wird nur von dem Film Carandirú (2003) von Hector Bebenco in den Schatten gestellt; interessanterweise eine weitere Literaturverfilmung, die auf der Realität basiert. Im Ausland ist Cidade de Deus jedoch der Gewinner mit insgesamt 52 internationalen Auszeichnungen[6]. Das Buch war für das Kino durch seine schnelle Erzählweise prädestiniert. Für Camenietzki ist die Geschichte agil wie ein Kinofilm: „[O poeta] faz e desfaz os movimentos de seu universo ficcional.”[7]
Der Film ist 128 Minuten lang, heißt in Deutschland City of God und die Schauspieler sind fast alle Laiendarsteller aus Favelas in und um Rio de Janeiro. Das Projekt für den Film begann bereits im Juli 2000. Am 30.08.2002 wurde er in den brasilianischen Kinos uraufgeführt und hatte am 08.05.2003 in Deutschland seine Première.
Die Geschichte wird aus der Perspektive eines Bewohners der Cidade de Deus, Buscapé, in off erzählt. In dem Film lernt man die ersten Tage der neuen „Siedlung“ Anfang der 60er Jahren kennen. In einer Zeit, in der der Himmel noch frei zu sehen war, die Häuser noch alle gleich waren und die Menschen noch lachen konnten.
Bald bildeten sich die ersten Banden, die damals noch relativ naiv wie selbstlose Robin Hoods handelten und ihre Beute mit der Bevölkerung teilten. Als Beispiel solcher Banden steht das Trio Ternura: Marreco, Cabeleira und Alicate. Später, in den 70er Jahren, beginnt der Drogenhandel die Situation zu verändern und Gewalt und Hass prägen die Athmosphäre. Der Himmel ist nicht mehr zu sehen, die Häuser haben sich verändert und sind sich bedrückend näher gerückt. Die Menschen leben nun Tag und Nacht mit Angst. Die Verbrecher werden immer jünger. Bald wird Dadinho, der immer eine wichtige Person sein wollte, zu Zé Pequeno und plötzlich fängt er an die ganze Favela zu kontrollieren. Die 80er Jahre bringen die Verherrlichung des Terrors mit sich. Es bilden sich mit der Zeit zwei Banden, die von Cenoura und Mané Galinha gegen die von Zé Pequeno, die gegeneinander einen Krieg führen, der sich als sinnlos erweisen wird. Der Film und die Schlacht enden, als die zwei Hauptfiguren des Gemetzels, Mané Galinha und Zé Pequeno getötet werden und Buscapé seinen Traum, Fotograf zu werden, erfüllt.
Cidade de Deus offenbart, fast pädagogisch, den Drogenhandel und findet Platz für eine Geschichte, die Lehrbücher und ein Teil der Gesellschaft vergessen oder verdrängt haben. Wie bereits angerissen, ist der Film in drei Phasen unterteilt (60er, 70er und 80er Jahre). Die Handlung läuft kreisförmig ab und endet wo sie angefangen hat.
Der Film basiert auf wahren Begebenheiten. Als Beispiel dafür möchte ich eine Szene mit der „nackten“ Realität vergleichen, um zu zeigen, dass der Film der brasilianischen Gesellschaft tatsächlich sehr nahe steht. Immerhin ist das Buch durch die Feder eines langjährigen Bewohners der Cidade de Deus und nach seiner achtjährigen Mitarbeit in anthropologischen Untersuchungen in Favelas von Rio de Janeiro entstanden.
In der 14. Minute, direkt im Anschluß an den Überfall auf das Motel, kehren die Verbrecher in die Cidade de Deus zurück. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Auto und enden inmitten einer Bar. Das Auto lassen sie dort zurück und fliehen zu Fuß. Bevor sie fliehen, geben sie den Menschen noch die Anweisung, dass wenn die Polizei auftaucht, die Leute niemand und nichts gesehen hätten. Zur Realität: Laura von Mandach interviewte einige Bewohner von armen Vierteln in Rio und es kam in der Tat dabei heraus, dass niemand etwas sieht, egal ob es sich um ein Verbrechen seitens der Verbrecher oder seitens der Polizei handelt:
„Die Chauffeure schwatzen eine Weile und übergeben dann diskret das Geld. Alle Passagiere tun so, als ob sie nichts sehen würden, aber alle sehen es. „[8]
Szenen, die der Wahrheit sehr ähneln, sind im Film zahlreich und vermitteln somit eine Welt, die uns teilweise oder ganz fremd ist. Meirelles äußert sich in einem Interwiew für die Welt darüber:
„Als ich das Buch über das Elendsquartier „Cidade de Deus“ las, kam mir das wie von einem fernen Planeten vor, obwohl ich in Brasilien lebe.“[9]
Wie auch zahlreiche andere Filme spielt Cidade de Deus mit dem brasilianischen sozialen Imaginär. Die favela sperrt den Zuschauer ein, an einem von Gott vergessenen Ort, wo die „ Lepra der Ästhetik “[10] herrscht. Man stellt fest, dass einige durch den Film vermittelte Vorstellungen eines Armenviertels der Situation der Anfänge der Favela entsprechen:
“Por elas vivem mendigos, os autênticos, quando não se vão instalar pelas hospedarias da rua da Misericórdia, capoeiras, malandros, vagabundos de toda sorte, mulheres sem arrimo de parentes, velhos dos que já não podem mais trabalhar, crianças, enjeitados em meio a gente válida, porém, o que é pior, sem ajuda de trabalho, verdadeiros desprezados da sorte, esquecidos de Deus [...]”[11]
Der Film ist nicht nur wegen seines Inhalts sehr bekannt und beliebt geworden, sondern auch durch die angewandten Techniken. Vielleicht kann man von Mischtechnik sprechen, indem v. a. die moderne digitale Technik zu finden ist. Wie in vielen Ländern, kann man auch in Brasilien einen interessanten Trend feststellen. Experten aus der Werbung und Fernsehbranche wandern in die Filmindustrie ab. Es ist nur natürlich, dass sie die dort gesammelte Erfahrung auch im Film einsetzen.
In Cidade de Deus kann man vieles aus der Werbung und Fernsehsprache wieder erkennen wie z. B. den extrem schnellen Schnitt und die 360° Perspektive am Filmanfang. Die klassische Filmsprache ist jedoch auch z.B. in den Handkamera- und Split-Screenszenen zu erkennen. Cidade de Deus ist ein Zeichen seiner Zeit. Die Mischung von klassischer und moderner Medientechnik macht ihn zum Meilenstein.
Das Publikum ist der Gewinner und die Hauptzielgruppe, mit der sich der Film austauschen möchte. Eine Szene, die diese Interaktion am stärksten hervorruft ist die, in der Dadinho seinen Name in Zé Pequeno ändert. In dieser wird ein mystisches Ritual einer afro-brasilianischen Religion durch ein sehr difusses Bild dargestellt. Arlindo Machado sah auf diese Weise einen effizienteren Dialogaufbau mit dem Publikum: “(...) os sistemas de baixa definição aguçam a imaginação e exigem maior grau de participação do público.”[12]
Die Filmmusik spielt eine wichtige Rolle, weil sie ebenso wie die Farbe, die Szenen ihre Einbettung in die passenden Epochen erleichtert. Für die 60er Jahre wurde die klassische Sambamusik ausgesucht: „ (…)é a fase da malandragem romântica“[13]. Den 70ern geben Funk und James Brown die Atmosphäre vor. Die letzten Jahre sind mit tristerer und „dunklerer“ Musik untermalt.
Insgesamt kann man sagen, dass Cidade de Deus alle Erwartungen übertroffen hat, sei es in positivem oder in negativem Sinn. Einige fanden ihn „künstlich“, andere hielten ihn für ein Meisterwerk. Gardnier sah in Cidade de Deus einen Film, der sich nirgendwo in der brasilianischen Filmtradition plazieren lässt.[14]
2 Filmgeschichte in Brasilien
2.1 Entstehung des brasilianischen Films
"Não somos europeus nem americanos do norte, mas destituídos de cultura original, nada nos é estrangeiro, pois tudo o é. A penosa construção de nós mesmos se desenvolve na dialética rarefeita entre o não ser e o ser outro. O filme brasileiro participa do mecanismo e o altera através de nossa incompetência criativa em copiar"[15]
Der erste Film in Brasilien wurde am 08. Juli 1896 in Rio de Janeiro vorgeführt. Man ist sich bis heute nicht einig, ob eine originale (Lumière) Maschine eingesetzt wurde oder ob es sich um eine Nachbildung des Originals handelte. Im Brasilien wurde diese Neuheit durchaus gut angenommen und bereits 1913 hieß es:
„ (…) o povo brasileiro, vivo, curioso, entusiasta, apaixonou-se por esse gênero de distração, tão apropriado a seu temperamento.“[16]
Dadurch wurde das Land rasch zum großen Exporteur der siebten Kunst und die Zeit zwischen 1908 und 1912 wurde als goldene Epoche des brasilianischen Kinos bekannt. Viele Filme der bekanntesten Filmemacher der Zeit waren in den wichtigsten brasilianischen Städten zu sehen. Wenige Zeit später, um 1915 wuchs Brasilien zu einem der größten Abnehmer für nordamerikanische Filme und sowohl einheimische als auch Produktionen anderer Länder wurden vom Markt nach und nach verdrängt.
Die Frage, die sich hierbei stellt lautet: Ab wann wurden die ersten Filme in Brasilien gedreht? Laut Ademar Gonzaga, Filmkritiker und Gründer einer der ersten Filmstudios Brasiliens, die Cinédia, wurden bereits 1898 Filme im Lande gedreht. Wie auch in anderen Ländern fungierten als Kulisse für die Verfilmungen Szenen des alltäglichen Lebens, verschiedene Veranstaltungen sowie die Natur. Laut Viany verfilmte Antônio Leal bereits 1906 ein Verbrechen, das auf wahren Fakten basierte. Dieser Film soll der erste Spielfilm Brasiliens gewesen sein und eröffnet somit auch die Tradition eines Wahrheitskinos in Brasilien. Hier findet man die heutige Hauptthematik des brasilianischen Films wieder. Die Darstellung gesellschaftlicher Probleme und die Realität als Basis sind ein Wahrzeichen und Aushängeschild des brasilianischen Films.
In den 20er Jahren floß das Interesse für „nationalistische“ Inhalte in die Filmentstehung hinein. Derartige Geschichten fanden aber keinen Widerhall beim Publikum und die Filmszene wurd auch weiterhin von ausländischen Filmen dominiert. In den 20er Jahren fragte man sich wiederum, in wie weit der Film eine Rolle in der Erziehung spielt und Ende der 30er Jahre wurde in Brasilien das Institut für Erziehung und Film, INCE (Instituto Nacional de Cinema Educativo) gegründet. Abgesehen von Ideologien, kann man hier erkennen, dass in Brasilien stets versucht wurde, Film und Realität zusammen zu halten. Die 20er und 30er Jahre wurden außerdem durch die Entdeckung der eigenen Kultur geprägt.
Ein Begriff, der diese Epoche, aber auch heute noch die brasilianische Kulturdebatte prägt, war die antropofagia. Eine Bewegung, die im Zusammenhang mit der Semana de Arte Moderna 1922 in São Paulo entstand und besagte, dass die Brasilianer die Einflüsse Europas annehmen, verdauen und letztlich etwas ganz neues daraus bilden sollten. Dieses neue Bewusstsein fand auch in der Filmproduktion seinen Platz, woraus die regionalen Zyklen, Ciclos Regionais, entstanden sind. Ihre technischen und ökonomischen Bedingungen waren erbärmlich und die Kommerzialisierung der Filme fand praktisch kaum statt. Die Zyklen verhalfen mehr die kulturelle Identität des Landes zu finden als die wirtschaftliche Situation der brasilianischen Filmproduktion zu verbessern. Aus den Zyklen geht aber ein großer Name des brasilianischen Filmes hervor: Humberto Mauro. Er drehte Filme, bei denen die Beobachtung der Wirklichkeit mit Darstellung des Alltäglichen thematisiert wurde und zeigte die sozialen Probleme des Landes, was bei anderen Filmmachern dieser Zeit nicht der Fall war. Er suchte ein authentisches brasilianisches Kino und das viele Jahre vor dem cinema novo.
„Nada de tentativas de imitar el cine americano, ruso o francés. Cada cual tiene su manera de hacer cine y su orientación comercial. El documental, de costo más bajo, con la ventaja de poder esparcirse por todo el mundo, es también el mejor camino a seguir para el mercado interior.”[17]
Sein berühmtster Spielfilm ist Ganga Bruta aus dem Jahre 1933 und er drehte später mehr als 400 Dokumentarfilme für das INCE.
Ein anderes Meisterwerk dieser Zeit, Limite, entstand im Jahre 1929, als erster und letzter Film von Mário Peixoto. Er passte nicht in den Rahmen des brasilianischen Films, da er weder auf sozialen Problemen noch auf Alltägliches o. ä. basierte, sondern sich mit der Ästhetik des Films als solche beschäftigte. Der Einfluss Europas, v. a. Eisensteins Ideen sind nicht zu übersehen. Beide sind Meisterwerke des Stummfilms in einer Zeit, indem bereits Tonfilme in Brasilien gedreht wurden. Als Gedankenanstoß bleibt die Frage: Ist es eine Faszination für Stummfilme oder der Mangel an Ressourcen, der dazu führte?
Während des II. Weltkrieges geht das brasilianische Kino weiter und entwickelt ein neues Genre: die Chanchadas. Es war die brasilianische Antwort auf den amerikanischen Musikfilm und wurde von großen Studios wie z. B. die Atlântida in Rio produziert. Die Chanchadas hatten kaum eine Handlung und basierten auf Klischees, wie dem brasilianischen Karneval mit seinen Mulatten, die Fröhlichkeit der Bevölkerung unter allen Umständen u. ä.
Diese Filme sollten von den wahren Problemen der Diktatur Getúlio Vargas ablenken. Sie haben jedoch auch zur kulturellen Selbstfindung Brasiliens beigetragen, wie Carla Miucci Ferraresi in ihrem Artikel richtig bemerkt hat:
“É bom lembrar que essas obras, com passagens rigorosamente antológicas, traziam, assim como o seu público, a marca do subdesenvolvimento; contudo o acordo que se estabelecia entre elas e o espectador era um fato cultural mais vivo do que o produzido até então pelo contato entre o brasileiro e o produto cultural norte-americano.”[18]
Dieses Genre war bis Ende der 50er ein großer Erfolg.
Brasilien versuchte später auch eine Industrie des Kinos aufzubauen. Es entstanden Firmen wie Cinédia, Atlântida und Vera Cruz. Letzte war ein Beispiel für Modernität und Fortschritt. Fachleute aus dem Ausland wurden geholt und es kamen nur die modernsten Geräte zum Einsatz. Die Vera Cruz drehte jedoch nur 18 Spielfilme und ging bereits 1953 vier Jahren nach ihrer Gründung in Konkurs.[19]
Nach der schlechten Erfahrung mit der industriellen Seite der Filmproduktion, fingen die Brasilianer an sich über ihre Kinematografie Gedanken zu machen. Daraus entstand eine Erneuerung der brasilianischen Filmszene. Es wurden Filme, wie Rio quarenta Graus von Nelson Pereira dos Santos im Jahre 1955, direkt in den Favelas gedreht, wobei er die besten neo-realistischen Meister sich zum Vorbild nahm. Die Realitätsbezüge kehrten langsam in die Filmhandlungen zurück und man gab es auf, das amerikanische Kino kopieren zu wollen. Man suchte nach einer eigenen Ästhetik.
Die Technik der Amerikaner war nicht mehr wichtiger als das Gezeigte und eine Umkehrung in Richtung eines Autorenkinos wurde deutlich. Man könnte hier vielleicht vom „ pré-cinema novo “ sprechen. Von diesem Punkt an begann eine der Hauptgattungen der brasilianischen Filmproduktion sich heraus zu kristallisieren. Die Darstellung realer Themen, die außerdem die brasilianische Gesellschaft abbilden sind heute, wie nie zuvor, das Hauptthema des filmischen Diskurses. Deswegen möchte ich nun von der Entstehung des brasilianischen Films zur Entstehung eines Leitmotivs in der Filmographie des Landes übergehen: dem Realitätsfilm.
2.2 Realitätsfilm in Brasilien: Eine Geschichte der Gattung
2.2.1 Realität im Film: Ein kurzer Überblick
Einige Aspekte über Realität/ Wirklichkeit und Fiktion im Film müssen vorerst kurz geklärt werden, um ein falsches Verständnis der vorliegenden Arbeit zu vermeiden. Dieser Abschnitt beschäftigt sich nicht mit der Suche der Definition von Begriffen. Realität und Wirklichkeit werden fast ausschließlich als Synonyme gesehen. Hier geht es v. a. um die Darstellung der Realität, wie sie auch immer definiert wird, im Film bzw. im brasilianischen Film und um den dokumentarischen Aspekt in dem Film Cidade de Deus.
Die Debatte über die Darstellung von Wirklichkeit in der Kunst ist nichts Neues und hat die Menschen immer beschäftigt. Bereits mit der Erfindung der Photographie kam die Frage auf, ob letztlich eine konkrete Antwort auf diese Problematik gegeben worden ist.
Warum sollte ein Photo nicht die Wahrheit wiederspiegeln, wenn sie sowieso nicht durch menschlichen Augen wiedergegeben wird sondern durch „Augen“ eines Objektivs? D.h. sie untersteht nicht der Interpretation des menschlichen Verstandes. Die Frage die sich dann stellte war, ob dabei nicht eine inszenierte Realität entstünde. Dadurch würde die Abbildung nicht die Wahrheit bzw. das Authentische wiedergeben, sondern eine gestellte Situation. Solche Fragen haben sich mehr oder minder auch im Rahmen der Filmtheorie ergeben. Lars von Trier, Gründer der „wahrheitssuchenden“ Dogma-95-Bewegung dazu:
"Wahrheit heisst, ein Gebiet zu durchsuchen, um etwas zu finden. Wenn man jedoch schon im Vorfeld weiss, wonach man sucht, ist das Manipulation. Vielleicht bedeutet Wahrheit, etwas zu finden, wonach man nicht sucht."[20]
Einige Filmwissenschaftler, u. a. Siegfried Kracauer, waren der Meinung, dass die (un-) bewegliche Photographie die Sachen konkreter abbildet. Dabei sollte jedoch für diese Abbildung keine Verzerrungen der Wirklichkeit durch Technik erfolgen.[21]
Andere Filmwissenschaftler vertreten die Meinung, dass gerade in der Technik ein Meer von Möglichkeiten für den Film und eben für die Wirklichkeitsdarstellung steckt.[22]
Für Rudolf Arnheim kann man die Wirklichkeit erst dann wiedergeben, wenn die Perspektiven angepasst werden und daher ist die Anwendung technischer Mittel frei.[23] André Bazin, der ein Bewunderer des italienischen Neorealismus war, sah in der Technik eine Möglichkeit die Ästhetisierung des Films voranzutreiben. Dadurch begründete er seine Theorie, dass die Wirklichkeit erst durch Ästhetik „realistisch“ dargestellt werden kann.[24]
Die oben genannten Theorien gelten in erster Linie für fiktionale Filme. Die Frage der Wirklichkeitsdarstellung ist jedoch bei den Dokumentarfilmen genau so legitim und kann auch durch diese Theorien analysiert werden.
Es ist heutzutage bei einigen Produktionen schwer eine Grenze zwischen fiktionalen und dokumentarischen Arbeiten zu ziehen. Die heutige Situation in der brasilianischen Filmlandschaft ist durch eine Vermischung dieser beiden Genres gekennzeichnet. Viele Spielfilme nutzen dokumentarische Mittel, um eine „realistischere Illusion“ zu erzeugen und viele Dokumentarfilme erzählen die Fakten in einer fiktiveren Form. Letztendlich geht es ja immer noch um eine Sache: Film.
2.2.2 Realität im brasilianischen Film: Eine Tradition?
Die brasilianischen Regisseure, Filmemacher und Filmtheoretiker hatten bereits seit Anfang der Geschichte des einheimischen Kinos über die Rolle der Wirklichkeit im Film nachgedacht oder zumindest damit gearbeitet. Wie bei allen Entwicklungsprozessen, machte auch das brasilianische Kino eine Phase durch, in der diese dokumentarische Seite mehr oder minder verloren gegangen ist (vgl. Chanchadas). Jedoch kann man als ein Leitmotiv des brasilianischen Films die Suche nach der getreuen Darstellung der Realität wie einen roten Faden verfolgen. Während der Epoche des cinema novo fand die Hinterfragung und Suche nach einer Ästhetik der Realitätsdarstellung im großen Maße statt.
Dabei soll man sich darüber im Klaren sein, dass der Film in seinem Ursprung dokumentarisch war, eine Bezeichnung, die der Film erst später bekam. Die ersten Filmszenen waren Aufnahmen alltäglicher Situationen.[25]
In einer Zeit politischer Diktaturen in der ganzen Welt wurden die Dokumentarfilme zum Propagandamittel. In Brasilien ist es während der Diktatur von Getúlio Vargas nicht anders gewesen. In Zusammenhang mit dem brasilianischen Dokumentarfilm muss wieder Humberto Mauro erwähnt werden. Er ist eine wichtige Persönlichkeit in der Entwicklung des brasilianischen Films. Mauro hat zahlreiche Filme gedreht und hat somit einen bedeutenden Status in der brasilianischen Filmgeschichte erreicht.
Humberto Mauro vermischte Techniken und prägt bis heute das filmische Handeln in Brasilien. So schrieb Thiago Altafini über Humberto Mauro einst:
„Com técnica única trazida do cinema ficcional, Humberto consegue tornar seus documentários divertidos e interessantes e produz mais [de] 28 documentários por ano, em 38 e 39.“[26]
Der brasilianische Film zeigt somit seine Neigung zu einer eher dokumentarischen Produktion. Auch das cinema novo arbeitet mit dem Genre Dokumentarfilm und hat als Ziel, die Wirklichkeit bzw. die Wahrheit dem Publikum vor Auge zu führen. Die aktive Teilnahme des Publikums in der Konstruktion der Sinngebung ist hierbei gefragt; das Publikum ist frei für seine eigene Interpretation und weiß, dass es sich dabei um einen Teilaspekt der Wahrheit in Form filmischer Darstellung handelt.[27]
Durch viele Aspekte, die das brasilianische Kino bis heute prägen, kann man m. E. von einer „Wahrheitstradition “ sprechen. Die zahlreichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten über die heutige Filmproduktion Brasiliens bestätigen diesen Gedanken.
2.2.3 Allegorie der Realität: Das Cinema Novo
Man kann das cinema novo, das Neue Kino, ungefähr zwischen 1960 und 1972 einordnen. Viele Parallelen zwischen der französische Nouvelle Vague und dem italienischen Neorealismo sind leicht zu erkennen, jedoch gab es keine konkreten Aussagen seitens der Beteiligten. Eisensteins oder Vertovs Ideen können auch im Cinema novo wieder gefunden werden.[28] Darüber hinaus ist das cinema novo in einer sehr produktiven Zeit Brasiliens hinsichtlich des kulturellen und politischen Handels entstanden. Das Land wurde modernisiert; man strebte nach Fortschritt. Eine neue Hauptstadt wurde geplant und im Herzen des Landes gebaut. Die Bevölkerung forderte zu Reformen auf und Studenten protestierten auf den Straßen. Man war wieder auf der Suche nach dem „Brasilianischen“. Das Nationale und das Eigene war wieder en vogue. So sagte Glauber Rocha 1961 über das brasilianische Kino:
„Nós não queremos Rossellini, Bergman, Fellini, Ford, ninguém. (...) nosso cinema é novo porque o homem brasileiro é novo e a problemática do Brasil é nova, e nossa luz é nova e por isto nossos filmes já nascem diferentes dos cinemas da Europa.”[29]
Einer der wichtigsten Exponenten des cinema novo war Glauber Rocha. Er hat mit seiner Filmkritik und Filmproduktion die Säulen dieser Bewegung aufgebaut. Rocha verfasste außerdem das „Manifest“ des cinema novo: die Estética da Fome, Ästhetik des Hunger, auch Ästhetik der Gewalt genannt. Seine Ideen sind bis heute von äußerster Bedeutung für die brasilianische Filmkritik und Filmproduktion.
„O cinema do tempo de Glauber inunda de estética nossas imagens e impõe um conceito ao cinema político do novo cinema, que projeta o mundo ao invés de ser projetado por ele. (...) Glauber inventa o pensar cinema no Brasil na composição de imagens insuperáveis que destróem o mito deste país com um paraíso perdido e inauguram o movimento do transe.”[30]
Glauber Rocha suchte nach einer Filmtradition für Brasilien und sah in Humberto Mauro mit seinem Realismus den Anfang des brasilianischen Kinos. Der Anfang einer brasilianischen Filmtheorie mit selbstverständlich brasilianischen Inhalten. Laut Mauro:
“O cinema brasileiro entre nós terá que nascer do meio brasileiro, com todos os defeitos, qualidades e ridículos, com a marcha precária e contingente de todas as indústrias que florescem traduzindo as necessidades reais do ambiente em que se formam.”[31]
Das cinema novo wollte den brasilianischen Film wieder grüngelb färben und die verkehrten, falschen (!)[32] Interpretationen der Wirklichkeit ablehnen. Ein brasilianisches Kino samt Hindernissen und Naivität sollte entstehen ohne sich Methoden des Auslands zu bedienen, v. a. ohne dem Beispiel der USA zu folgen.
Einfach mit einer Idee im Kopf und einer Kamera in der Hand, wie die cinemanovistas zu sagen pflegten. Der Film sollte Elend durch Gewalt darstellen. Das Elend bzw. das System, das das Volk betäubt und entmündigt. Das cinema novo mangelte jedoch nicht an Themenvielfalt, das was sie aber verbindet ist vielmehr der Bezug zur Realität. Er wollte die „Massen“ unterrichten und zeigen, wie sie aus dem Elend heraus kommen können. Trotz dieser utopischen Zielsetzung, trug das cinema novo zur geschichtlichen Dokumentation des brasilianischen Films bei.
„Sin el marco de legitimación cultural representado por el Cinema novo, el pasado habría desaparecido completamente, en la indiferencia general, sepultado en el olvido reservado por la voluble conciencia nacional e a los fracasos y frustraciones. La única referencia en materia audiovisual sería la televisión, efímera por su misma esencia. (...) A pesar de su pretencion a una ruptura radical, el Cinema Novo dió consistencia a la tradición fílmica local.”[33]
2.2.4 Die letzten Jahrzehnte: Ein kurzer Überblick
Nach dem Militärputsch im Jahre 1968 verlosch langsam die Flamme des cinema novo. Daraus entstand ein Kino der Metapher. Diese Bewegung wurde in Brasilien als tropicalismo bekannt und war auf allen kulturellen Erscheinungen des Landens vertreten.
Das Hauptanliegen des Tropikalismus war der Zensur zu entgehen, die zu dieser Zeit erheblich verschärft wurde. Es war Zeit der Folterungen und des Terrors, aber auch eine sehr produktive Zeit für die brasilianische Kunst und folglich auch für das Kino. Es war kein Zufall, dass während der Diktatur in Brasilien das erste staatliche Filmunternehmen gegründete wurde: die Embrafilme. Dadurch wurde nicht nur die Produktion und der Verleih von Filmen vereinfacht sondern durchaus auch unterstützt. Eine weitere „Erneuerung“ dieser schwierigen Zeiten war das schmutzige Kino, spielerisch udigrudi (Wortspiel für Underground) genannt. Wie beim cinema novo wurde versucht, ohne große finanzielle Mittel großes Kino und Kinogeschichte zu machen. Diese Art Filme zu drehen wurde auch als cinema marginal bekannt; als experimentelles Kino. Eine gute Zusammenfassung dieses Phänomens lieferte Peter Schumman:
„Ästhetik schien unwichtig, auch unnötig oder besser: sinnlos. Denn es ging nicht um Kunst, jedenfalls meist nicht, sondern einfach um das filmische Abreagieren der eigenen Ohnmacht, der Frustration angesichts der als ausweglos empfundenen Situation. Das schmutzige Kino erschöpfte sich bald im bloßen Schrei.“[34]
Auch die Porno-Chanchadas sind eine Erscheinung der Militärdiktatur. Wie die Chanchadas haben sie zum kommerziellen Erfolg geführt, enthielten jedoch eine weitere Zutat: die Softpornographie. Dadurch wurden die geachteten Werte der politischen Macht, wie Familie, Glaube und Moral, in Frage gestellt.
Zwischen 1972 und 1983 kann durch die politische Öffnung General Geisels von einer Aufarbeitung der Geschichte in den filmischen Handlungen Brasiliens gesprochen werden.[35] Nicht nur die „institutionalisierte Geschichte“, wie die Kolonisierung, sondern auch die „werdende Geschichte“, wie die noch bestehende Diktatur, wurde thematisiert. Während dieser Zeit kann man auch eine Rückkehr zu sozialen, realität- bezogenen Themen und eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, Politik u. ä. feststellen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Film Pixote (1980), von Hector Bebenco. Hier werden Themen wie die Marginalisierung von Kindern angesprochen und die Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Dies bleibt dem Publikum nicht erspart.
Mit dem Film Pixote könnte man von einem Anfang der Darstellung von starken Themen wie Straßengewalt, Straßenkinder und dem Leben in einer Favela sprechen, die sich bis heute fortgesetzt hat. In Pixote werden Tabuthemen, wie z. B. die Febem (Fundação Estadual do Bem-Estar ao Menor) direkt angesprochen: ein Ort, an dem Straßen- und Waisenkinder ein Zuhause finden sollten, der aber im Grunde genommen nichts anderes als eine Art Kindergefängnis ist.
Bis Mitte der 90er Jahren ist die brasilianische Filmproduktion, v. a. unter der Regierung von Fernando Collor, fast Zunichte gemacht worden. Die Embrafilme wurde geschlossen und die Privatinvestitionen waren kaum noch vorhanden.
[...]
[1] Näheres dazu im Kapitel 2.
[2] Nagib, Lúcia (2003): A Língua da Bala. Realismo e Violência em Cidade de Deus. In: Revista Novos Estudos. Nr. 67. S. 181-191. Nachfolgend zitiert als A Língua da Bala. und Seitenangabe.
[3] Berühmter messianischer Aufstand in einem Ort Namens Canudos im brasilianischen Hinterland am Ende des 19. Jahrhunderts. Auch einer der blutigsten Aufstände in der Geschichte Brasiliens. Dokumentiert in Os Sertões von Euclides da Cunha, ein Klassiker der brasilianischen Literatur und Kulturgeschichte.
[4] Vgl. Novo Aurélio. O Dicionário da Língua Portuguesa. 3. Auflage.
[5] zit. nach Valladares, Licia (1998): A Gênese da Favela Carioca. A produção anterior às ciências sociais. In: Revista Brasileira de Ciências Sociais. Vol. 15. S.5-34. Abrufbar im Internet: <http://www.scielo.br> S. 7. Stand: 30.01.2006. Nachfolgend zitiert als A Gênese da Favela Carioca. und Seitenangabe.
[6] Lerina, Roger (2004): Cidade de Deus virou “City of God”. In: Jornal Zero Hora. Caderno de Cultura vom 07.02.2004. S. 5.
[7] Camenietzki, Eleonora Ziller (2000): Três propostas para o próximo milênio : "Cidade de Deus", de Paulo Lins, "A lição de Prático", de Maurício Luz e "O trono da rainha Jinga", de Alberto Mussa. In: Revista Tempo Brasileiro. Bd. 141. S. 104.
[8] Mandach, Laura von (2000): Polizeigewalt und Straflosigkeit im Lichte der brasilianischen Strafverfolgung. In: Lateinamerika Analysen 12. S. 104. Nachfolgend zitiert als Polizeigewalt und Straflosigkeit im Lichte der brasilianischen Strafverfolgung. und Seitenangabe.
[9] Rodek, Hanns-Georg (2003): Das Wunder von Rio. In: Die Welt vom 09.05.2003. <http://www.welt.de/data/2003/05/09/89509.html> Stand: 30.01.2006. [10] zit. nach A Gênese da Favela Carioca. S. 12. Im Original: “lepra da estética”.
[11] zit. nach Ebd. S. 10.
[12] zit. nach Carvalho, Layo Fernando Barros de (2003): Estética Publicitária & Linguagem Cinematográfica: Uma Análise Imagética e Pós-moderna de Cidade de Deus. < http://www.uff.br/mestcii/layo1.htm > Stand: 24.01.2006. Nachfolgend zitiert als Estética Publicitária & Linguagem Cinematográfica.
[13] Kommentar von Fernando Meirelles zur Filmmusik in der brasilianischen CD-Version. [14] vgl. Gardnier, Ruy: E se Cidade de Deus traísse a mais forte e longeva tradição do cinema brasileiro? <http://www.contracampo.com.br/48/cidadetraísse.htm> Stand: 30.01.2006. [15] Gomes, Paulo Emílio Sales (1996): Trajetória no subdesenvolvimento. SP: Paz e Terra.
[16] Viany, Alex: Introdução ao Cinema Brasileiro. Rio de Janeiro: Alhambra, Embrafilme. S. 36. Nachfolgend zitiert als Introdução ao Cinema Brasileiro. und Seitenangabe.
[17] zit. nach Paranaguá, Paulo Antonio (2003): Cine documental en América Latina. Madrid: Catedra. [Signo e imagen]. S. 31.
[18] Miucci, Carla: Cinema Brasilieiro: um panorama geral. <http://www.mnemocine.com.br/cinema/historiatextos/carla1BR.htm> Stand: 01.03.2006. Nachfolgend zitiert als Cinema Brasileiro.
[19] vgl. Cinema do Real.
[20] zit. nach Ganz-Blättler, Ursula (2005): Genres zwischen Fiktion und Dokumentation. Versuch einer Neubestimmung. Abrufbar im Internet: <www.medienheft.ch/dossier/bibliothek/d23_Ganz-BlaettlerUrsula.pdf> Stand: 06.01.2006. S. 25.
[21] vgl. Kottlorz, Peter (1993): Film und Fernsehästhetik. Hochschul-Skripten Medien 34. S. 102 -146. Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess. Abrufbar im Internet: <http://mediacultureonline.de/fileadmin/bibliothek/kottlorz_fernsehaesthetik/kottlorz_fernsehaesthetik.pdf > Stand: 30.01.2006. S. 4.
[22] Ebd.
[23] Albersmeister, Franz-Josef (Hrsg.) (1998³): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam. [Universal-Bibliothek Nr. 9943]. S. 176-200. Nachfolgend zitiert als Texte zur Theorie des Films. und Seitenangabe.
[24] Bazin, André (1975)[1958]: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln: DuMont Schauber Verlag. S. 140. [Originaltitel: Qu’est-ce que le cinéma? Paris: Les Editions du Cerf, Collection „7e Art“.]
[25] Lumière hat 1895 z. B. seine Frau und sich selbst aufgenommen, in dem sie ihr Baby futtern. Für weitere Beispiele siehe Imagining Reality – The Faber Book of the Documentary von Kevin Macdonald und Mark Cousins.
[26] Altafini, Thiago (1999): Cinema Documentário Brasileiro: Evolução Histórica da Linguagem. Abrufbar im Internet: <http://www.bocc.ubi.pt/pag/Altafini-thiago-Cinema-Documentario-Brasileiro.pdf> Stand: 20.03.2006. S. 7. Nachfolgend zitiert als Cinema Documentário Brasileiro. und Seitenangabe.
[27] Ebd. S. 11-12.
[28] vgl. Cinema Documentário Brasileiro. S.10.
[29] zit. nach Introdução ao Cinema Brasileiro. S. 158.
[30] Maciel, Katia (2000): Poeta, herói, idiota. O pensamento de cinema n o Brasil. Rio de Janeiro: Marca d’Água Livraria e Editora. S. 17.
[31] Rossini, Miriam de Souza (2005): O cinema da busca: discursos sobre identidades culturais no cinema brasileiro dos anos 90. In: Revista Famecos. Bd. 27. Abrufbar im Internet: <http://www.pucrs.br/famecos/pos/revfamecos/27/27_miriamrossini.pdf> Stand: 30.01.2006. S. 97.
[32] Ein Wiederspruch weil: Das cinema novo kann als eine Bewegung der Intellektuellen bezeichnet werden. Die Massen waren Gegenstand der Arbeiten aber ihr Zugang zu den Filmen war immer noch beschränkt. Zum einen wegen den finanziellen Möglichkeiten aber auch wegen den höchst anspruchsvollen filmischen Inhalten.
[33] Paranaguá, Paulo Antonio (2003): Tradición y modernidad en el cine de América Latina. Madrid: Fondo de cultura económica de España. S. 242. Nachfolgend zitiert als Tradición y modernidad en el cine de América Latina. und Seitenangabe.
[34] Schumann, Peter B. (1988): Handbuch des brasilianischen Films. Frankfurt/M: Vervuert Verlag. S. 32. Nachfolgend zitiert als Handbuch des brasilianischen Films. und Seitenangabe.
[35] vgl. Handbuch des brasilianischen Films. S. 34-38.
- Citation du texte
- Dipl. Übersetzerin Alessandra Gusatto (Auteur), 2006, Ästhetik oder Kosmetik? Eine kontroverse Debatte um den Film "Cidade de Deus" und seine Rezeption in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122529
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