„Es gibt keine besseren Andenken als Photographien, keine erfolgreicheren Souvenirs als die selbstgemachten Aufnahmen individueller Erinnerungen an die individuellen Momente je individuellen Lebens.“ Photographie dient wie kein zweites technisches Medium als Konservierungsmaschine von Erlebtem. Als zentral erweist sich dabei immer wieder die Frage nach den Möglichkeiten der Photographie: Was kann ein photographisches Bild überhaupt leisten? Inwieweit kann Photographie Realität abbilden, konstruieren und tatsächlich als Mittel zur Erkenntnis von Welt und so, in einem weiteren Schritt, als ein das biologische Gedächtnis und dessen Erinnerungsvermögen ersetzendes Mittel funktionieren? Was unterscheidet das photographische Bild vom menschlichen Gedächtnisbild? Im Laufe der Theoriegeschichte der Photographie entstanden zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex. Die vorliegende Arbeit möchte in einem ersten Teil vier solcher theoretischer Auseinandersetzungen mit dem Wesen und Vermögen der Photographie vorstellen (G. Santayana, S.Kracauer, R.Barthes, S.Sontag). Alle beschäftigen sich in einem weiteren Sinne mit der Ontologie des photographischen Bildes, dessen Möglichkeiten und im Speziellen mit dem Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs, der damit einhergeht. Mit diesem ausführlichen theoriegeschichtlichen Hintergrundwissen soll sich dann im zweiten Teil dieser Arbeit mit Christopher Nolans Film „Memento“ beschäftigt und die gewonnenen Erkenntnisse angewendet werden. Die Motivik des (nicht)erinnernden Gedächtnisses, gepaart mit der Thematisierung von Photographie als dessen Ersatzprothese, ist zentraler Gegenstand des Films. . Dazu trägt nicht nur die filmische Diegese, sondern auch deren besondere Präsentationsform bei: Der Film „Memento“ arbeitet mit einer äußerst komplexen Erzählweise, in deren Verlauf jegliche Chronologie dekonstruiert wird. Es bedarf daher vorab einer ausführlichen Analyse der narrativen Struktur des Films, um ihn dann im Hinblick auf die Reflexion des Verhältnisses von Photographie und Gedächtnis zu untersuchen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Photographie und Gedächtnis - Ein theoriegeschichtlicher Überblick
2.1 Photographie als das menschliche Vermögen bereichernder visueller Speicher (G. Santayana, 1905)
2.2 Photographie versus Gedächtnisbild (S. Kracauer, 1927)
2.3 Die Unwahrheit über die Wahrheit der Bilder (S. Sontag, 1977)
2.4 Das Ich erinnert sich (Barthes, 1980)
3. Memento
3.1 Eine narrative Analyse
3.1.1 Ein Versuch zur Story
3.1.2 Die besondere narrative Struktur des Films – Der Plot
3.2 Exkurs Intermedialität: Das Bild im Filmbild
3.3 Polaroid: Die besondere Ontologie des Sofortbildes
3.4 Leonards „condition“
3.5 Bilder als Gedächtnisprothese
3.6 Eine nicht hilfreiche Hilfe
4. Schlussbetrachtung
5. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Auf die Frage nach den Erinnerungen und Erlebnissen des letzten Sommerurlaubs folgt wie selbstverständlich die direkte Gegenfrage: „Möchtest Du die Bilder sehen?“ Photoalben werden aus dem Schrank gekramt, der Computer hochgefahren oder eine Daten-CD in den DVD-Player gelegt. „Es gibt keine besseren Andenken als Photographien, keine erfolgreicheren Souvenirs als die selbstgemachten Aufnahmen individueller Erinnerungen an die individuellen Momente je individuellen Lebens.“[1] Photographie dient wie kein zweites technisches Medium als Konservierungsmaschine von Erlebtem. Die rasanten Entwicklungen im Bereich der Digitalphotographie haben diese Tatsache noch verstärkt. Beinahe jeder hat heute mit seinem Handy gleich auch noch eine Kamera in der Tasche, es wird überall und alles photographiert. Die Photographie ist zum alltäglichen Weggefährten des Menschen geworden, begleitet ihn und hält sein Leben fest - und das im doppelten Sinne des Wortes: das erstellte photographische Abbild funktioniert vor allem als Hilfe und Unterstützung menschlicher Fähigkeiten. Ob als polizeiliches Tatortphoto, als Katalogbild einer Kunstausstellung oder eben als Stütze der persönlichen Erinnerung: Photographien speichern, bewahren und rufen Erlebtes wieder ins Gedächtnis. Als Speicher und Archiv von Information soll die Photographie dabei dem menschlichen Gedächtnis- und Erinnerungsapparat zur Seite stehen. Das Streben der Menschheit nach solch einem Hilfsmittel erwächst aus einer ganz elementaren Tatsache: der Vergänglichkeit ihres eigenen Lebens. „Gegen dieses Vergängliche, das in der Sterblichkeit des Gedächtnisses begründet liegt, haben wir uns durch die Entwicklung künstlicher Erinnerungsvermögen zur Wehr gesetzt.“[2] Die Photographie ist dabei selbstverständlich nicht die einzige und auch nicht erste Erinnerungsprothese, Schrift, Malerei und Zeichnung erfüllen historisch schon weit vor der Erfindung der chemischen Photographie vergleichbare Aufgaben. „Diese künstlichen Gedächtnisse haben das natürliche Erinnerungsvermögen nicht nur unterstützt, entlastet und gelegentlich ersetzt, sondern auch unseren Auffassungen über Erinnern und Vergessen Form gegeben.“[3] Durch ihren hohen Realismuseffekt und der scheinbar detailgenauen und unverfälschten Wiedergabe von Wirklichkeit kommt der Photographie dabei ein Sonderstatus zu, ihre besondere Ontologie ist seit ihrer Erfindung Anlass für zahlreiche Diskussionen. Als zentral erweist sich dabei immer wieder die Frage nach den Möglichkeiten der Photographie: Was kann ein photographisches Bild überhaupt leisten?[4] Inwieweit kann Photographie Realität abbilden, konstruieren und tatsächlich als Mittel zur Erkenntnis von Welt und so, in einem weiteren Schritt, als ein das biologische Gedächtnis und dessen Erinnerungsvermögen ersetzendes Mittel funktionieren? Was unterscheidet das photographische Bild vom menschlichen Gedächtnisbild?
Im Laufe der Theoriegeschichte der Photographie entstanden zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex. Die vorliegende Arbeit möchte in einem ersten Teil vier solcher theoretischer Auseinandersetzungen mit dem Wesen und Vermögen der Photographie vorstellen. Ausgehend von einem sehr frühen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehaltenen Vortrag des Philosophen George Santayana[5] sollen im weiteren Verlauf drei der einschlägig bekannten und einflussreichsten Texte zur Thematik erörtert werden: Siegfried Kracauers Essay „Die Photographie“ (1927), Susan Sontags „On Photography“ (1977) und Roland Barthes’ „Die helle Kammer“ (1980). Alle beschäftigen sich in einem weiteren Sinne mit der Ontologie des photographischen Bildes, dessen Möglichkeiten und im Speziellen mit dem Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs, der damit einhergeht. Die einzelnen Positionen werden in Reihenfolge ihrer Veröffentlichung vorgestellt, die Thematik kann so von unterschiedlichen Standpunkten und Zugängen aus beleuchtet werden. Der Anspruch soll hier nicht sein, die vollständigen Konzeptionen der einzelnen Theoretiker vorzustellen und so den Versuch einer kompletten Theoriegeschichte der Photographie anzustreben. Vielmehr sollen einzelne Aspekte, die in direktem Bezug zur Fragestellung stehen, herausgegriffen und dargelegt werden. Dabei dürfen selbstverständlich die unterschiedlichen historischen Hintergründe und Kontexte nicht außer Acht gelassen werden.[6] Trotzdem sollen einerseits Querverbindungen und Widersprüche der einzelnen Theorien herausgearbeitet werden, andererseits aber auch die divergierenden Überlegungen durchaus als zeitunabhängige Positionsangebote betrachtet werden. So können die Ausführungen diachron als eine Art kleine Entwicklungsgeschichte der Photographietheorie gelesen werden, dienen gleichzeitig aber auch der synchronen Vorstellung unterschiedlichster und nach wie vor aktueller Auffassungen von Photographie.
Mit diesem ausführlichen theoriegeschichtlichen Hintergrundwissen soll sich dann im zweiten Teil dieser Arbeit mit Christopher Nolans Film „Memento“ beschäftigt und die gewonnenen Erkenntnisse angewendet werden. Der Protagonist des im Jahr 2000 entstandenen Rachethrillers verliert nach einem Überfall sein Kurzzeitgedächtnis. Er versucht fortan diesen Verlust durch ein ausgeklügeltes System, das auf Photographien, Aufschrieben und Tattoos beruht, zu kompensieren. Von ihm erstellte Polaroidbilder sollen dabei seine fehlende Gedächtnisleistung ersetzen. Inwieweit diese photographische Mnemotechnik möglich ist, soll untersucht werden.
Die Motivik des (nicht)erinnernden Gedächtnisses, gepaart mit der Thematisierung von Photographie als dessen Ersatzprothese, ist zentraler Gegenstand des Films. Dazu trägt nicht nur die filmische Diegese, sondern auch deren besondere Präsentationsform bei: Der Film „Memento“ arbeitet mit einer äußerst komplexen Erzählweise, in deren Verlauf jegliche Chronologie dekonstruiert wird. Es bedarf daher vorab einer ausführlichen Analyse der narrativen Struktur des Films[7], um ihn dann im Hinblick auf die Reflexion des Verhältnisses von Photographie und Gedächtnis zu untersuchen. Dabei soll es weniger um die Funktion der Photographie als kulturell-kollektives Gedächtnis[8] gehen als vielmehr um die individualpsychologische Komponente: Wie strukturiert Protagonist Leonard sein Leben mithilfe der Polaroids? Auf welche Weise, in welchem Umfang und mit welchen Konsequenzen stellen sie eine Hilfe dar, sein defizitäres Gedächtnis zu ersetzen beziehungsweise stellen sie überhaupt eine Hilfe dar?
2. Photographie und Gedächtnis - Ein theoriegeschichtlicher Überblick
2.1 Photographie als das menschliche Vermögen bereichernder visueller Speicher (G. Santayana, 1905)
„Das fotografische und das geistige Bild“
Der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana (1863-1952) geht in einem circa 1905 gehaltenen Vortrag über Photographie einen im Vergleich zu anderen Ausführungen dieser Zeit eher unkonventionellen Weg: Dem damals hochaktuellen und viel diskutierten Problem des Kunstanspruchs von Photographie nähert er sich über einen Vergleich von photographischem und geistigem Bild und der Erörterung der Möglichkeiten dieser beiden Arten von Bildern.[9] Er verfolgt dabei einen äußerst medienoptimistischen Ansatz und sieht die Möglichkeiten der Photographie als „großartige[n, Änd. d. A. ] Sieg über die Beschränkungen unserer sterblichen Existenz“[10]. Grundlage seiner Überlegungen ist dabei die Entlarvung des menschlichen Gedächtnisses und seiner Erinnerungsbilder als defizitär.
Die Schwäche des visuellen Gedächtnisses
Um wirklich zu funktionieren, also um eine perfekte Erinnerung zu ermöglichen, müssen im Gedächtnis aufgenommene Bilder abgespeichert und für spätere Vergleiche und Anwendungen jederzeit abrufbar abgelegt werden. Das ist jedoch, so Santayana, dem menschlichen Gedächtnis nicht möglich. Der Körper reagiert zwar reflexartig und gewohnheitsmäßig auf bestimmte Reize, die schon einmal abgespeichert wurden, das Erinnerungsvermögen ist jedoch nicht im Stande, diese geistigen Bilder selbst in ihrer isolierten Reinform wieder abzurufen. „Die Beziehungen zwischen assoziierten Empfindungen sind leichter wiederherzustellen als die kompletten Empfindungen selbst.“[11] Die Erinnerungsbilder werden immer wieder überlagert, durcheinandergebracht und so verändert und neu angeordnet. „Der größere Teil der Erfahrungen eines Lebens geht unwiederbringlich verloren, selbst wenn ihr Ergebnis und ihre Auswirkungen bleiben, weil das Gehirn, trotz seiner ungeheuren Komplexität für so viele Eindrücke keinen Raum hat […].“[12] Santayana diagnostiziert eine „absolute Instabilität der Vorstellungsbilder“[13], die es dem Gedächtnis unmöglich macht, einmal Abgespeichertes unendlich oft unverändert wieder abzurufen. Für die menschliche Existenz ist dies kein bedrohlicher, aber ärgerlicher und enttäuschender Zustand.
Die Überlegenheit des photographischen Bildes
Die Photographie füllt nun diese Lücke und eröffnet eine neue Dimension an Möglichkeiten. „Das Auge hat nur eine Retina und das Gehirn einen begrenzten Speicherraum, aber die Kamera kann jede gewünschte Zahl von Bildern empfangen und die neuen überlagern weder, noch verdrängen sie die alten Eindrücke.“[14] Durch ihre perfekte, objektive Wiedergabe der Natur und ihrer Funktion als die Zeit überdauerndes, unbeeinflussbares und unendlich großes Archivierungssystem ist die Photographie Santayana zufolge dem mängelbehafteten Gehirnorgan und seiner Gedächtnisfunktion überlegen. Die Photographie ist folglich eine verbesserte, modifizierte Nachahmung des menschlichen Gedächtnisses.
Photographie als objektive Reproduktionsmaschine
Santayana geht noch weiter und vergleicht die Erfindung der Photographie mit der der Schrift: Auch hier wurde ein Hilfsmittel entdeckt, das als künstliches Gedächtnis funktioniert.[15] Doch während das schriftlich Gespeicherte schon vom menschlichen Geiste erfasst und somit bereits sekundäre Ideen darstellt, erhält die Photographie Elementareres: „Sie rettet die vergänglichen Momente unserer Erfahrung, das Gesichtserlebnis des Augenblicks, das unwiderrufbare geistige Vorstellungsbild.“[16] Die Photographie definiert sich so als ein „transparentes Medium“, das „direkte Reproduktionen, die frei sind von menschlichen Vorurteilen und nur der Auswahltätigkeit unterliegen […]“[17], möglich macht. Die Photographie hat so die Möglichkeit der „Wiederholung von Erfahrungen“[18] und grenzt sich an dieser Stelle von anderen darstellenden Künsten ab. Während Malerei oder Skulpturkunst mit Materialen wie Farbe und Stein die Natur mehr sekundär nachahmen, bleibt die Photographie direkter an der äußeren Erscheinungsform der Realität haften.[19] „Die Werke der schöpferischen Kunst sind eher Schattenbilder als Repliken der wirklichen Welt und geben Dinge, die vorher niemals wirklich existiert haben […].“[20] Die Photographie dagegen zeigt uns, in einer Zuspitzung Santayanas Ausführungen, demnach Dinge, die wirklich existiert haben, aber für den Menschen mit seiner defizitären Gedächtnisfunktion nicht verfügbar sind. Und „daher sollten wir alle mechanischen Künste willkommen heißen, die wie die Fotografie unsere Wahrnehmungen verbessern und erweitern, die uns Seh- und Erinnerungshilfen sind, denn durch solche Mittel erscheint uns die Welt klarer und vertrauter […].“[21]
2.2 Photographie versus Gedächtnisbild (S. Kracauer, 1927)
Das Bild der Großmutter/Filmdiva
Siegfried Kracauer beschäftigt sich in seiner Abhandlung „Die Fotografie“ von 1927 mit dem Verhältnis von photographiertem Bild und menschlichem Erinnerungsbild. Er geht dabei von einem Vergleich zweier Bilder aus: der aktuellen Abbildung einer 24-jährigen Filmdiva in einer Illustrierten und der Photographie eines 24-jährigen Mädchens, das eine nun um 60 Jahre gealterte Großmutter im Jahre 1864 darstellt. Die Diva der Zeitschrift wird von den Lesern sofort erkannt, das ‚Original‘ hat man schon im Kino bestaunt[22] und ist jedem gegenwärtig. Das Bild meint die wirkliche Person der Diva, wird so gelesen und erkannt. Neben dem Bekanntheitsgrad einer Filmdiva erleichtert die aktuelle Ähnlichkeit von Original und Photographie den Erkennungsprozess.[23] Diese Ähnlichkeit besteht nun bei der Betrachtung der Großmutter und der Abbildung von ihr als junge Frau nicht mehr. Die zwei Personen sind allein durch Ähnlichkeitsbezüge nicht mehr als ein und derselbe Mensch erkennbar. „[...] fehlte die mündliche Tradition, aus dem Bild ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren .“[24] Die Enkel könnten die Großmutter also allein aus dem Bild heraus nicht identifizieren, es bedarf zusätzlicher mündlicher oder auch schriftlicher Information.[25] Es muss also zum Beispiel den Aussagen der Eltern geglaubt werden, eine absolute Verlässlichkeit ist nicht garantiert.
Photographie als Momentaufnahme
„Nichts hilft die Ähnlichkeit mehr“[26]. Bei der Photographie handelt es sich folglich um eine einzige Momentaufnahme, die Zeit und Raum so darstellt, wie sie im Moment dieser Aufnahme gewesen sind.[27] Der Mensch glaubt mit seiner psychoanalytischen Lesart an dieses indexikalische ‚es ist so gewesen’. Trotz der Tatsache, dass er zu den meisten Photographien, die ihm in seinem Leben begegnen, überhaupt keinen direkten Bezug herstellen kann und dadurch eigentlich zu keiner Beurteilung fähig ist, glaubt er an die Konservierbarkeit von Geschichte (Erinnerung) und das Festhalten der Zeit durch die Photographie.[28] Eigentlich kommt es aber bei der Photographie zu einem ‚Herausreißen‘ aus der Zeit, zum punktuellen Einfrieren eines Moments. Die photographische Aufnahme ist das Abbild eines vergangenen Jetzt, welches dieses Jetzt immerwährend und zeitunabhängig genau so zeigt, wie es zum damaligen Zeitpunkt gewesen ist. In einer Photographie gibt es nur eine Zeit und einen Raum, die/den der Aufnahme. Durch diese zwei Eigenschaften des photographischen Bildes, dem Einfrieren eines Moments einerseits und der Möglichkeit des Überdauerns dieses Moments im Bild andererseits, kommt es zu befremdlichen Irritationen: Der Moment der Aufnahme mit seinen zu diesem Zeitpunkt geltenden raumzeitlichen Konstellationen wird, wenn auch nur als Abbild, konserviert, die Zeit an sich läuft aber weiter. Die Großmutter ist für die Enkel durch bekannte Ähnlichkeit nicht wiederzuerkennen, die Frau auf dem Photo erlangt einen Status des Beliebigen und wird zur Puppe, „sie könnte im Museum mit anderen ihresgleichen in einem Glaskasten stehen, der die Aufschrift ‚Trachten 1864’ trüge .“[29] Alte Photos wie das der jungen Großmutter, so Kracauer, werden dadurch mit einem gewissen Gruseln betrachtet. „Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft.“[30] Die eigentliche Vergänglichkeit wird deutlich: Photographie funktioniert als Zeichen des Vergessens und Vergehens, rückt in den Dunstkreis des Todes. Das Dargestellte scheint verewigt, in Wirklichkeit aber wird seine Todesfurcht bestätigt.
Das menschliche Gedächtnisbild
Kracauer stellt nun im Folgenden das photographische Aufzeichnungsverfahren der menschlichen Gedächtnisfunktion gegenüber. „Das Gedächtnis bezieht weder die totale Raumerscheinung noch den totalen zeitlichen Verlauf eines Tatbestandes ein. Im Vergleich mit der Fotografie sind seine Aufzeichnungen lückenhaft .“[31] Menschliche Gedächtnisbilder mit ihrem zumindest aus Sicht der Photographie fragmentarisch-ungenauem Charakter unterscheiden sich demnach in Wesen und Funktion essentiell von photographischen Bildern und sind mit diesen nicht vereinbar. Das Gedächtnis bewahrt vergangenes Gegebenes im Hinblick auf dessen Sinn. „Die Fotografie erfasst das Gegebene als räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint.“[32] Erkannte Gehalte definieren also Erinnerungsbilder im Kopf eines Menschen, während Photographien eine Fülle von undurchscheinenden Erinnerungen darstellen, die nichts meinen und „so erscheint die Fotografie von ihnen aus als ein Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt.“[33] Dem Gedächtnisbild geht es um die ‚eigentliche letzte Geschichte‘, um ‚das Unvergessliche‘. Dabei arbeitet es lückenhaft, achtet keine Daten, dehnt, verkürzt, lässt weg und fügt hinzu. Es kommt zu Bedeutungsverschiebungen und neuen Konnotationen.[34]
Die Photographie als Gespenst
Im Gegensatz dazu verdecken Photographien diese Geschichte eher und sind bedeutungslos. Durch den reinen Bezug auf das Aussehen des abgebildeten Gegenstands sind Photographien laut Kracauer immer direkt mit ihrer Entstehungszeit verknüpft. Eine Photographie wie die der Diva, die ja eine gegenwärtige Erscheinung abbildet, lässt also in begrenztem Maße Rückschlüsse auf die reale Person der Diva zu. Verjährt sie jedoch, erfährt sie die oben beschriebene Sinnentleerung.
„Die Fotografie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat .“[35] Nicht die Großmutter selbst ist abgebildet, sondern nur das im Moment des Auslösens dagewesene Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sie sich gerade befunden hatte. Beim aktuellen Betrachten mit einem ganz neuen zeitlichen Bezug stellt sich ein gespenstisches Frösteln ein. Ausstattung wird zu lächerlichem Kostüm und „nicht der Mensch tritt in seiner Fotografie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet , [...]“[36].
Zusammenfassend kann die vorgeführte Differenz zwischen Photographie auf der einen Seite als räumliche Fixierung eines Moments mit der Unfähigkeit Sinn mitzuteilen und Erinnerungsbild auf der anderen Seite mit genau eben dieser Eigenschaft, nämlich etwas zu meinen, auch als eine Dichotomie zwischen Struktur und Gemenge beschrieben werden.
Die Bildidee vertreibt die Idee
Einhergehend mit der Bilderflut in den illustrierten Zeitschriften beschreibt Kracauer in seinem Text die Zeit am Ende der 20er ironisch als eine Zeit, die so gut wie keine andere über sich selbst informiert ist. In Wirklichkeit aber ist für ihn genau das Gegenteil der Fall: die eigentliche Erkenntnis wird verhindert, die rein mimetisch registrierenden, dadurch aber sinnentleerten photographischen Bilder drohen „das vielleicht vorhandene Bewusstsein entscheidender Züge zu vernichten.“[37] Geschichte verwischt, „die Bildidee vertreibt die Idee“[38], die bebilderte Gesellschaft verliert das Bewusstsein für sich und ihre Geschichte.
„Die Allgegenwart der Photographien, die [...] in den Betrachtern ein Bildgedächtnis entstehen lassen, ist für Kracauer ein Zeichen des Verschwindens der Geschichte und der Erinnerung, die von den reproduzierten Bildern der Gegenwart aufgesogen und durch sie ersetzt werden.“[39]
Und auch der Versuch der Photographie, das Bewusstsein des Todes zu verbannen, muss so scheitern.
Eine kurze Symbolgeschichte
Seine sehr medienpessimistische Sicht auf die Entwicklungen der Photographie wendet Kracauer im letzten Teil seines Aufsatzes und zeigt mögliche Fähigkeiten und Chancen auf. Er beginnt hierzu mit einer Entwicklungsgeschichte von bildlichen Darstellungen und speziell dem Symbol, an deren Endpunkt die Photographie steht. Am Anfang dieser historischen Betrachtung steht die früheste Menschheit in einer „naturwüchsigen Gemeinschaft“[40]. Der Mensch ist noch ganz eins mit der Natur, in sie eingebettet. Die Symbole haben hier eine rein „physisch-materielle Grundbedeutung“[41], sie sind ganz dem Stoff, der Materie verbunden. Der Symbolbegriff besitzt hier noch nicht einen strikten Autonomiegedanken, wie wir es heute kennen. Es geht noch nicht um etwas auf irgendeine Weise von der Natur Abgetrenntes, Ideen eines autonomen Geistes gibt es (noch) nicht. Die Ideen und das Meinen gibt die Natur vor und der Mensch benutzt bildhafte Darstellungen als Symbole dieser Ideen. Er befindet sich so in einer praktischen Abhängigkeit von den Naturverhältnissen. Nun setzt eine Entwicklung ein: Der Mensch emanzipiert sich von der Natur, entwickelt sich vom ‚Beherrschten’ zum ‚Beherrscher’. Er wird sich seiner selbst und seinem eigenen Bewusstsein immer mehr bewusst und beginnt in von der Natur unabhängigen Begriffen zu denken. Das Ergebnis bezeichnet Kracauer als „den Auszug des Bewußtsein aus der Naturbefangenheit .“[42] Das Bild verliert nach und nach seine symbolische Kraft. Es entwickelt sich erst zu einer Art Zwischenform, der Allegorie, „die das Bild [noch, Anm. d. Autors ] als Funktion des Gedankens nutzt.“[43] In einem weiteren Schritt wird es dann völlig sinnentleert und nichts meinend. Das reine, bedeutungsleere Naturfundament bietet sich so durch die moderne Fotografie dem Bewusstsein dar. Der Mensch erhält so einen neuen, befreiten Blick auf die ‚pure’ Natur. Die Folgen sind so gefährlich wie chancenreich.
[...]
[1] Haverkamp, Anselm: Das Bildgedächtnis der Photographie: Roland Barthes und Augustinus. In: ders./Lachmann, Renate (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München: Fink, 1993 (Poetik und Hermeneutik 15). S.47-66. Hier: S.48.
[2] Draaisma, Douwe: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Wissen-schaftliche Buchgesellschaft, 1999. S.10. Draaisma konstituiert seine Geschichte des Gedächtnisses über Metaphern, die dieses Gedächtnis historisch hervorgebracht hat. Dabei widmet er sich in einem Kapitel ausführlich der Photographie, die hier also nicht als Produzent von Metaphern auftritt, sondern selbst eine ist.
[3] Ebd. S.11.
[4] Aufgrund der zahlreichen Bilder der Photographie, die sich im Laufe ihrer Geschichte hervorgetan und etabliert haben und das tatsächliche Vermögen von photographischen Bildern überlagern und beeinflussen, muss hier immer wieder die Differenz zwischen metaphorischen Zuschreibungen und tatsächlichen Fähigkeiten beachtet und überprüft werden. Dass diese Differenz immer im Blick zu behalten, aber nie ganz zu trennen ist, macht Aleida Assmann deutlich: „Wer über Erinnerungen spricht, kommt dabei nicht ohne Metaphern aus. […] Auch in der Wissenschaft geht jede neue Gedächtnis-Theorie meist mit einer neuen Bildlichkeit einher. Das Phänomen Erinnerung verschließt sich offenbar direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik.“ Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Hemken, Kai-Uwe (Hrsg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig: Reclam, 1996. S.16-46. Hier: S.16. Zu den zahlreichen Metaphern der Photographie vgl.: Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006.
[5] Santayanas in ihrer Zielgerichtetheit und ihrem Ergebnis sehr extremen Ausführungen sollen durchaus als provokativer Einstieg funktionieren.
[6] Während George Santayana 1905 mit seinen Überlegungen zum Wesen der Photographie noch zu einer recht kleinen Gruppe einiger Theoretiker gehört, kann Roland Barthes 1980 auf eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik seit den 1920er Jahren zurückgreifen.
[7] Diese Analyse beinhaltet zusätzlich einen Exkurs zur intermedialen Konstruktion des Bildes im (Film)bild, welcher spezifisch auf „Memento“ angewendet zu einem erweiterten Verständnis der Funktionsweise des Films beitragen soll.
[8] Zum Diskurs ‚Medien als kulturelles Gedächtnis’ vgl. die zahlreichen Veröffentlichungen Aleida Assmanns zu diesem Thema und auch die Kunst von Christian Boltanski.
[9] Wenngleich man bedenken muss, dass die Funktionen des Gedächtnisses in anderen Disziplinen wie zum Beispiel Freuds Psychoanalyse ein hochaktuelles Thema war.
[10] Santayana, George: Das fotografische und das geistige Bild. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie. Bd. 1. 1839-1912. München: Schirmer-Mosel, 1980. S.251-259. Hier: S.257. Es kann hier durchaus von einer regelrechten Lobeshymne auf die Photographie die Rede sein.
[11] Ebd. S.252.
[12] Ebd.
[13] Santayana 1980: Das fotografische und das geistige Bild. S.252.
[14] Ebd. S.253.
[15] Wobei er deutlich macht, dass die Entdeckung der Schrift ein weitaus wichtigeres und einflussreicheres Ereignis war. Das Verhältnis und die Wechselwirkung von Schrift und Gedächtnis wird bereits in Platons Phaidros thematisiert: Im Zwiegespräch über die Redekunst berichtet Sokrates Phaidros von einem Gespräch zwischen der Gottheit Theuth, dem ‚Erfinder der Buchstaben‘ und dem damaligen König von Ägypten, Thamus. Thamus zeigt Theuth die Nachteile seiner Erfindung auf und betont: „Denn wer dies [die Schrift und das Schreiben, Anm. d. A.] lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst heraus die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern fandest Du ein Mittel.“ Platon: Phaidros oder vom Schönen. Übertr. u. Eingel. von Kurt Hildebrandt. Stuttgart: Reclam 1985. S.86ff.
[16] Santayana 1980: Das fotografische und das geistige Bild. S.254. An dieser Stelle erklärt sich auch das Streben nach Photos als Andenken, die immer auch aus einer Angst vor den Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses, gegen das Vergessen also, gemacht werden.
[17] Ebd. S.255.
[18] Santayana 1980: Das fotografische und das geistige Bild. S.256.
[19] Vgl. dazu auch die Präsenz des Referenten bei Barthes. Siehe Kap. 2.4.
[20] Santayana 1980: Das fotografische und das geistige Bild. S.256.
[21] Ebd. S.259.
[22] Zu beachten ist, dass man es hier ja ebenfalls nur mit einer bewegten Abbildung und keinesfalls mit dem Original zu tun hat.
[23] Vgl. Kracauer, Siegfried: Die Fotografie. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie. Bd. 2. 1912-1945. München: Schirmer/Mosel, 1979. S.101-112. Hier: S.101/102/106.
[24] Ebd. S.102.
[25] Vgl. hierzu später die Bildunterschriften bei „Memento“.
[26] Kracauer 1979: Die Fotografie. S.102.
[27] Vgl. dazu auch Barthes‘ „Es-ist-so-gewesen“. Siehe Kapitel 2.4.
[28] Vgl. dazu auch Bazin, André: Ontologie des photographischen Bildes. In: ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander, 2004.
[29] Kracauer 1979: Die Fotografie. S.102.
[30] Ebd. S.103.
[31] Kracauer 1979: Die Fotografie. S.103.
[32] Ebd.
[33] Ebd.
[34] Vgl. dazu auch die Theorie des Mythos bei Barthes. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001.
[35] Ebd. S.107.
[36] Kracauer 1979: Die Fotografie. S.108.
[37] Ebd. S.109.
[38] Ebd.
[39] Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie. München: Fink, 2006. S.289.
[40] Kracauer 1979: Die Fotografie. S.109.
[41] Ebd. S.110.
[42] Kracauer 1979: Die Fotografie. S.110.
[43] Koch, Gertrud: Kracauer zur Einführung. Hamburg: Junius, 1996. S.131.
- Arbeit zitieren
- Danny Gronmaier (Autor:in), 2008, Photographie als externes Gedächtnis - Das Bild in Christopher Nolans Film "Memento", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121868
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