Der unterschiedliche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten manifestiert sich nirgendwo deutlicher als in der Art der Gestaltung und Nutzung ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrationslager als Mahn- und Gedenkstätten auf dem Gebiet der Bundesrepublik und der DDR. Während sich in der jungen BRD als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches und unter der Belastung des Alleinvertretungsanspruches der Umgang mit der NS-Vergangenheit sehr schwierig gestaltete, wähnte man sich in der DDR geschichtspolitisch in einer sehr viel vorteilhafteren Lage: Die politische Führung des neu gegründeten Staates hatte größtenteils ihre Wurzeln in der kommunistischen Arbeiterbewegung und hatte sich daher während der nationalsozialistischen Herrschaft selbst zu großer Zahl als Widerstandskämpfer oder KZ-Häftlinge in der Opferrolle befunden. Nach der Befreiung durch die Rote Armee hatte man sich in der DDR zudem vom Kapitalismus befreit, der aus der kommunistischen, sozialökonomischen Sicht die Grundlage für das Entstehen einer faschistischen Herrschaftsform bildet. Mit der Zuspitzung des Kalten Krieges versuchte die Führung der DDR unter Berufung auf die Tradition des antifaschistischen Widerstandes, diesen nicht zu unterschätzenden Legitimationskredit im innerdeutschen Systemantagonismus in besonderer Weise hervorzuheben, und ihn sowohl zur Sicherung der SED-Diktatur im Innern als auch zur politischen Agitation gegenüber der BRD zu nutzen.
Auf welche Weise dies in den 50er und 60er Jahren die Erinnerungskultur der DDR beeinflusste, welche sich vornehmlich an den Gedächtnisorten der ehemaligen Konzentrationslager manifestierte, und in welchem Ausmaß die eigentliche Bestimmung dieser Orte als Erinnerungsstätten an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors unter der Konfrontationsstellung der beiden Systeme litt, soll in der vorliegenden Arbeit exemplarisch am Beispiel der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen ausgeführt werden. Dabei soll zunächst die Geschichte der beiden Orte als nationalsozialistische Konzentrationslager unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten innerhalb des KZ-Systems umrissen werden, bevor im folgenden Teil die Weiternutzung des Lagers in Sachsenhausen als sowjetisches Internierungslager thematisiert wird. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ravensbrück und Sachsenhausen in der NS- und frühen Nachkriegszeit
2.1 Das Konzentrationslager Ravensbrück
2.2 Das Konzentrationslager Sachsenhausen
2.3 Das NKVD-Speziallager Nr.7
3. Die Erinnerung an die NS-Vergangenheit in der DDR im Kontext der deutsch-deutschen Auseinandersetzungen der 50er und 60er Jahre
3.1 Die Instrumentalisierung des Antifaschismus-Begriffes
3.2 Die Entstehung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten und die Nationalisierung des Gedenkens
3.3 Die Selektivität des Gedenkens
4. Die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
4.1 Die Vorbereitungen und die Eröffnungsfeier
4.2 Die Gestaltung des Geländes
4.3 Die museale Gestaltung
5. Die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen
5.1 Die Vorbereitungen und die Eröffnungsfeier
5.2 Die Gestaltung des Geländes
5.3 Die museale Gestaltung
5.3.1 Das „Museum des antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker“
5.3.2 Das Lagermuseum
5.3.3 Das „Museum des Widerstandes und der Leiden jüdischer Bürger“
6. Schlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der unterschiedliche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten manifestiert sich nirgendwo deutlicher als in der Art der Gestaltung und Nutzung ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrationslager als Mahn- und Gedenkstätten auf dem Gebiet der Bundesrepublik und der DDR. Während sich in der jungen BRD als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches und unter der Belastung des Alleinvertretungsanspruches der Umgang mit der NS-Vergangenheit sehr schwierig gestaltete, wähnte man sich in der DDR geschichtspolitisch in einer sehr viel vorteilhafteren Lage: Die politische Führung des neu gegründeten Staates hatte größtenteils ihre Wurzeln in der kommunistischen Arbeiterbewegung und hatte sich daher während der nationalsozialistischen Herrschaft selbst zu großer Zahl als Widerstandskämpfer oder KZ-Häftlinge in der Opferrolle befunden. Nach der Befreiung durch die Rote Armee hatte man sich in der DDR zudem vom Kapitalismus befreit, der aus der kommunistischen, sozialökonomischen Sicht die Grundlage für das Entstehen einer faschistischen Herrschaftsform bildet. Mit der Zuspitzung des Kalten Krieges versuchte die Führung der DDR unter Berufung auf die Tradition des antifaschistischen Widerstandes, diesen nicht zu unterschätzenden Legitimationskredit im innerdeutschen Systemantagonismus in besonderer Weise hervorzuheben, und ihn sowohl zur Sicherung der SED-Diktatur im Innern als auch zur politischen Agitation gegenüber der BRD zu nutzen.
Auf welche Weise dies in den 50er und 60er Jahren die Erinnerungskultur der DDR beeinflusste, welche sich vornehmlich an den Gedächtnisorten der ehemaligen Konzentrationslager manifestierte, und in welchem Ausmaß die eigentliche Bestimmung dieser Orte als Erinnerungsstätten an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors unter der Konfrontationsstellung der beiden Systeme litt, soll in der vorliegenden Arbeit exemplarisch am Beispiel der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen ausgeführt werden. Dabei soll zunächst die Geschichte der beiden Orte als nationalsozialistische Konzentrationslager unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten innerhalb des KZ-Systems umrissen werden, bevor im folgenden Teil die Weiternutzung des Lagers in Sachsenhausen als sowjetisches Internierungslager thematisiert wird. Anschließend werden unter Berücksichtigung der besonderen politischen Situation der 50er und 60er Jahre anhand der Umgestaltung der ehemaligen Lager in Ravensbrück und Sachsenhausen zu Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR die Charakteristika der Formen der öffentlichen Erinnerung an die NS-Zeit in der DDR aufgezeigt.
2. Ravensbrück und Sachsenhausen in der NS- und frühen Nachkriegszeit
Zur Untersuchung der Erinnerungskultur in der DDR am Beispiel der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen ist es unabdingbar, sich mit der vergangenen Nutzung dieser Orte auseinander zu setzen, um schließlich zu einer Beurteilung der Formen der Erinnerung an die jüngste Vergangenheit in der DDR gelangen zu können.
2.1 Das Konzentrationslager Ravensbrück
Das bei Fürstenberg an der Havel zwischen November 1938 und April 1939 durch Häftlinge des KZ Sachsenhausen errichtete Konzentrationslager Ravensbrück war das letzte der in Deutschland vor Kriegsbeginn fertig gestellten Konzentrationslager. Seit Mai 1939 diente es dem NS-Regime als zentrales Frauenkonzentrationslager und wurde in der Folgezeit zu einem regelrechten Lagerkomplex ausgebaut, dem im April 1941 auch ein Männer-KZ angegliedert wurde. Zudem entstand in unmittelbarer Nähe mit dem so genannten „Jugendschutzlager Uckermark“ im Jahr 1942 ein Konzentrationslager für weibliche Jugendliche, das im Januar 1945 durch die SS teilweise geräumt und zu einem Sterbe- und Selektionslager des Konzentrationslagers Ravensbrück umfunktioniert wurde.[1]
Der schrittweise Ausbau des Lagers Ravensbrück stand zunächst in engem Zusammenhang mit der stetig wachsenden Zahl der Häftlinge durch die Ausdehnung der rassistischen und politischen Verfolgung durch die SS auf die von der Wehrmacht eroberten Gebiete. So stieg die Anzahl der Einlieferungen von 1168 im Jahr 1939, über 2754 1940, ca. 3600 1941 und etwa 7000 1942 auf ca. 10000 im Jahr 1943[2] an. Die weitere, explosionsartige Erhöhung der Zahl der Deportationen nach Ravensbrück auf 70579[3] im Jahr 1944 hing vor allem mit der Verschleppung eines großen Teils der weiblichen Bevölkerung aus Warschau nach dem gescheiterten Aufstand im Spätsommer, großen Transporten von Jüdinnen aus Ungarn sowie der beginnenden Räumung weiter östlich gelegener Lager wie Majdanek und insbesondere Auschwitz zusammen. Insgesamt durchlitten in der sechsjährigen Zeit seines Bestehens etwa 132000[4] weibliche sowie mindestens 20086[5] registrierte, vermutlich aber etwa 40000[6] männliche Häftlinge das KZ Ravensbrück. Die meisten der nach Ravensbrück deportierten Menschen stammten aus Polen, der Sowjetunion sowie aus Deutschland und Österreich. Darunter waren mehrere tausend Jüdinnen sowie Sinti und Roma[7]. Die Zahl der Todesopfer wird zwischen 50 000 und 92 000 geschätzt.[8]
Zu den Hauptgründen für die Sterblichkeit im Lager zählte neben der zunehmenden Verschlechterung der Haftbedingungen, der hygienischen und sanitären Verhältnisse sowie der Versorgungslage auch der schonungslose Arbeitseinsatz der Inhaftierten. Nachdem dieser im Jahr 1939 noch durch „offensichtlich sinnlose Tätigkeiten"[9] wie das Hin- und Herschaufeln von Sand zur körperlichen Schwächung und Demoralisierung der Häftlinge sowie durch schwere körperliche Tätigkeiten zum Ausbau des Lagers wie beispielsweise bei der Errichtung der benachbarten SS-Siedlung geprägt war, wurden ab 1940 zahlreiche inhaftierte Frauen vor allem zur Arbeit in den auf dem Industriehof des Lagers errichteten Produktionsstätten der SS-eigenen „Gesellschaft für Textil- und Lederverwertung mbH“ (Texled) gezwungen. Zur Texled gehörten neben drei Schneidereien u.a. auch eine Weberei, eine Kürschnerei und eine Strickerei, in denen die betroffenen Frauen zunächst hauptsächlich Häftlingskleidung und ab 1942 auch Kleidung für die Waffen-SS herstellen mussten. Zu diesem Zweck wurden „in großem Umfang Pelze aus geraubtem jüdischen Besitz aus dem ganzen Reich, vor allem aber aus den Vernichtungslagern im Osten“[10] umgearbeitet. Ab August 1942 wurden weibliche Häftlinge auch in den benachbarten Fertigungshallen des Elektrokonzerns Siemens und Halske eingesetzt, die Ende 1944 um sechs Wohnbaracken, das so genannte Siemenslager, ergänzt wurden. In Folge der ab Frühjahr 1942 mit der Gründung des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS (WVHA) unter Oswald Pohl betriebenen Umstellung der Häftlingsarbeit auf die Bedürfnisse der Rüstungsindustrie[11] wurden auch in Ravensbrück ab 1943 die Häftlinge zu großer Zahl in KZ-Außenlager in der Nähe von Privatunternehmen gebracht, wodurch das KZ Ravensbrück „zunehmend zu einer Drehscheibe und Durchgangsstation für weibliche Häftlinge“[12] wurde. Insgesamt unterstanden dem KZ mehr als 70 Außenlager und –kommandos,[13] von denen mindestens 23 Lager[14] verschie-denen Industrie- bzw. Rüstungsunternehmen wie etwa den Heinkel- oder Dornier Flugzeugwerken angeschlossen waren.
Neben Hunger, Krankheiten und Zwangsarbeit forderten auch verschiedene gezielte Vernichtungsaktionen eine größere Zahl von Opfern. So wurden im Jahr 1942 im Rahmen der Mordaktion „14 f 13“ zur Vernichtung von als „lebensunwert“ klassifizierten Menschen Häftlingsaussagen zufolge nach vorheriger Selektion etwa 1600[15] weibliche Häftlinge aus Ravensbrück in den Gaskammern der so genannten „Heil- und Pflegeanstalt“ in Bernburg an der Saale ermordet. Zudem wurden vom SS-Arzt Dr. Treite im Ravensbrück-Prozess der Jahre 1946 und 1947 Transporte in die „Heil- und Pflegeanstalt“ in Hartheim bei Linz zugegeben, die in den Jahren 1943 und 1944 stattfanden.[16] In diesem Zeitraum wurde in Ravensbrück auch in größerem Umfang systematisch durch Phenolinjektion gemordet. Zudem sind Massenerschießungen und die Einrichtung mindestens einer Gaskammer zu Beginn des Jahres 1945 belegt, in der nach Schätzungen zwischen 1500 und 5000[17] Personen umgebracht wurden.
Seit 1942 führten Ärzte im KZ Ravensbrück an 74[18] zumeist polnischen Frauen grausame Experimente mit pseudomedizinischem Hintergrund durch. Neben der Erprobung der Wirksamkeit von Sulfanomiden, in deren Verlauf den Gefangenen offene Wunden und Infektionen zugefügt wurden, fanden u.a. auch Unterkühlungsexperimente sowie Knochen-, Muskel- und Nervenentnahmen bei gesunden Frauen statt. Darüber hinaus erprobten die Lagerärzte bis 1945 „schnelle und billige Methoden“[19] der Sterilisation von Frauen an etwa 120 bis 140[20] Sinti und Roma, von denen viele an den Experimenten starben.
Des Weiteren wurden zahlreiche weibliche Häftlinge des KZs Ravensbrück von der SS zur Zwangsprostitution in den ab Mitte 1941 in den KZs in Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Mittelbau-Dora, Neuengamme und Sachsenhausen eingerichteten Lagerbordellen gezwungen.[21] Als Erklärung für die Einrichtung der Bordelle für Häftlinge durch die SS nennt Christa Paul in erster Linie eine „erhoffte Leistungssteigerung“[22] der männlichen Häftlinge während der täglichen Zwangsarbeit. Im Rahmen eines Prämiensystems, das 1943 in der so genannten „Dienstvorschrift für die Gewährung von Vergünstigungen an Häftlinge“ festgeschrieben wurde, sollten Häftlinge mit besonders hoher Arbeitsleistung neben Hafterleichterungen, Verpflegungszulagen, Geldprämien und Tabakwarenbezug auch die Erlaubnis zum Bordellbesuch erhalten.[23] Zudem sollte die Einführung weiterer Privilegien für Häftlinge, die der SS besonders nützlich waren, eine weitere Spaltung der heterogenen Häftlingsgesellschaft fördern und dadurch auch das Widerstandspotential verringern. Der ehemalige Häftling im KZ Buchenwald Eugen Kogon vermutete diesbezüglich, der vorrangige Zweck der Bordelle sei gewesen, „die politischen Häftlinge [...] zu korrumpieren, zu bespitzeln und sie von der Politik abzulenken.“[24] Viele der Ravensbrücker Häftlinge, die in diesen Bordellen die Mehrheit der Prostituierten bildeten, wurden nach wenigen Monaten geschlechtskrank oder schwanger, und damit mit geringen Überlebenschancen im KZ, nach Ravensbrück zurückgebracht.[25]
Eine weitere Besonderheit des zentralen Frauenkonzentrationslager betrifft die Organisation der Bewachung der Häftlinge. Während die Bewachung des äußeren Bereichs des Lagers wie auch bei anderen KZs durch Mitglieder des SS-Totenkopfwachsturmbannes vorgenommen wurde, waren für den inneren Bereich des Lagers ausschließlich weibliche Angehörige des so genannten SS-Gefolges zuständig. Ab 1942 wurde dem KZ Ravensbrück zudem die Funktion des zentralen Ausbildungslagers für SS-Aufseherinnen zugewiesen, die nach ihrer Unterweisung in Ravensbrück zum Teil im Frauenlager von Auschwitz und im so genannten Frauenfeld des KZ Majdanek eingesetzt wurden.
Nach der Befreiung des KZs wurde das Gelände militärisch durch die Rote Armee genutzt. Die letzten Truppenteile zogen erst Anfang der 90er Jahre ab.
2.2 Das Konzentrationslager Sachsenhausen
Die Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen begann im Juli des Jahres 1936 mit seiner Errichtung durch Häftlingskommandos aus den Emslandlagern und anderen kleineren KZs. Obwohl das KZ Sachsenhausen ebenso wie das im folgenden Jahr errichtete KZ Buchenwald in Hinblick auf den bevorstehenden Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht für enorm hohe Häftlingszahlen konzipiert worden war, war es bereits vor dem Krieg überfüllt, als im Zuge der Verhaftungswelle im direkten Anschluss an die Reichsprogromnacht im November 1938 die ersten großen Transporte mit mehreren tausend jüdischen Häftlingen Sachsenhausen erreichten.
Infolge des Kriegsbeginns 1939 und durch das schnelle Vorrücken der deutschen Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion ab 1941 wurde auch in Sachsenhausen der stetige Anstieg der Zahl der Häftlinge ab 1939 bzw. 1941 massiv beschleunigt. Häftlinge aus Deutschland wurden mit Kriegsbeginn rasch zu einer Minderheit im Lager und bildeten im Jahr 1944 nur noch ca. 10% der Inhaftierten. Die Gesamtzahl der Häftlinge in Sachsenhausen wuchs von 8309 im Jahr 1938 auf 11111 im Jahr 1941, 16577 im Jahr 1942 sowie 28224 im Jahr 1943 an.[26] Ihren Höhepunkt erreichten die Häftlingszahlen im KZ Sachsenhausen ebenso wie in Ravensbrück und anderen KZs im Zuge des Beginns der Evakuierung weiter östlich gelegener Lager im Jahr 1944 mit 47709 registrierten Häftlingen.[27]
Aufgrund der Verlegung des Sitzes der „Inspektion der Konzentrationslager“ (IKL), der obersten Aufsichtsbehörde des KZ-Systems, in das so genannte
T-Gebäude des KZs Sachsenhausen im April 1938, nahm das Lager eine besondere Stellung innerhalb des Systems der nationalsozialistischen Konzentrationslager ein. Dies änderte sich auch nach 1942 nicht, als die IKL im Zuge der Reorganisation des KZ-Systems als Amtsgruppe D Teil des WVHA wurde, da die Inspektion auch in der Folgezeit „bei den eigentlichen Führungsaufgaben und Entscheidungen, die die Entwicklung der Konzentrationslager und Totenkopfverbände betrafen, [...] weitgehend freie Hand“ behielt.[28] Zudem wurden in Sachsenhausen insbesondere aufgrund der Nähe des KZs zur Reichshauptstadt Berlin Kommandanten, Lager-, Rapport- und Blockführer sowie SS-Bewachungsmannschaften ausgebildet, wodurch das Lager als „Experimentierfeld für die Perfektionierung des KZ-Terrorsystems“[29] angesehen werden kann. So durchliefen die Lagerkommandanten der KZs in Auschwitz, Bergen-Belsen, Ravensbrück und Flossenbürg (Rudolf Höss, Josef Kramer, Fritz Suhren, Jakob Weiseborn) ebenso eine Ausbildung im KZ Sachsenhausen wie der Buchenwalder Lagerführer Hermann Arthur Florstedt und eine Vielzahl weiterer prominenter SS-Leute.[30]
Auch im KZ Sachsenhausen verschlechterten sich mit dem Anstieg der Häftlingszahlen die Lebensbedingungen der Inhaftierten enorm, sodass auch hier durch Hunger und sich ausbreitende Seuchen eine erhebliche Zunahme der Sterblichkeit in den Jahren ab 1939 zu verzeichnen war. Zusätzlich begann im Jahr 1941 der systematische Massenmord an Häftlingen im KZ durch eine Massenerschießungsanlage und der Verwendung eines Gaswagen. Für das Jahr 1941 ist die Ermordung von ca. 18000[31] sowjetischen Kriegsgefangenen belegt. Außerdem fielen Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und Homosexuelle Massenmordaktionen zum Opfer. Des Weiteren befand sich im KZ eine Gaskammer, die wahrscheinlich im Jahr 1943 errichtet, „aber nur in speziell angeordneten Fällen benutzt [wurde].“[32]
Der Arbeitseinsatz der in Sachsenhausen Inhaftierten fand ab Juli 1938 zum größten Teil in einem am Oder-Havel-Kanal errichteten Klinkerwerk der SS-eigenen „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH“ (DEST) statt, in dem täglich rund 2000 Häftlinge unter besonders harten Bedingungen zur Verrichtung von Zwangsarbeit gezwungen wurden. Mit dem o.g. Funktionswandel der Konzentrationslager, die ab 1942 als Reservoir und Drehscheibe von Zwangsarbeitern in der privaten Rüstungsindustrie dienen sollten, stieg auch die Zahl der Außenlager und –kommandos des KZ Sachsenhausen in der Folgezeit auf über 100[33] an. So wurden Sachsenhausener Häftlinge zur Arbeit im DEMAG-Panzerwerk in Falkensee, in den Heinkel-Flugzeugwerken in Oranienburg, dem Dynamit-Werk Glöwen und anderen rüstungsrelevanten Betrieben in und um Berlin gezwungen. Aber auch Dienstleistungen, Rohstoffsammlungen, Bauarbeiten, Ausbesserungsarbeiten bei der Reichsbahn, das Suchen von Bomben sowie die Errichtung von Schützengräben gehörten zu den Aufgaben der Außenkommandos.
Insgesamt waren zwischen 1936 und 1945 etwa 200000 Menschen in Sachsenhausen inhaftiert, von denen rund 140000 registriert wurden.[34] Die Zahl der Menschen, die die Haft in Sachsenhausen nicht überlebten bzw. auf einem der Todesmärsche zur Evakuierung des Lagers zu Tode kamen, wird auf bis zu 100000[35] geschätzt, was bedeutet, dass rund jeder zweite Inhaftierte in Sachsenhausen ums Leben kam. Bei der Befreiung des Lagers durch polnische und sowjetische Verbände am 22. April 1945 waren lediglich noch etwa 3000 Häftlinge im Konzentrationslager anwesend.[36]
2.3 Das NKVD-Speziallager Nr. 7
Schon während des Vormarsches der Roten Armee errichtete das NKVD (sowjetisches Innenministerium, ab 1946 MVD) in den eroberten deutschen Gebieten so genannte Speziallager, in denen bestimmte Personengruppen interniert und isoliert wurden. Dazu gehörten neben Wehrmachtsangehörigen und NS-Funktionären der unteren und mittleren Ebene auch Jugendliche, die unter Werwolfverdacht standen, politische Gegner der sowjetischen Führung sowie willkürlich verhaftete Personen. Im Sommer 1945 wurden im Zuge der Unterstellung ostdeutscher Gebiete unter polnische Verwaltung die sich dort befindenden Lager aufgelöst und in die SBZ verlegt. Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten gibt die Zahl der auf dem sowjetisch besetzten Territoriums Deutschlands entstandenen Speziallager mit zehn (fünf davon in Brandenburg) an.[37] Bodo Ritscher hingegen nennt „15 Lager bzw. Gefängnisse auf dem Territorium der späteren DDR, von denen maximal zwölf gleichzeitig existierten.“[38] Unklar sei in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, ob die als NKVD-Lager genutzten Gefängnisse als Lager zu bezeichnen sind, oder unter eine andere Kategorie von Haftstätten fallen und damit bei der Untersuchung der NKVD-Lager auszuklammern seien.[39] Gegen eine solche Differenzierung spricht allerdings, dass all diese Einrichtungen formal der Verantwortung der selben Behörde, der „Abteilung Speziallager des NKVD der UdSSR auf dem Gebiet Deutschlands“ unterstellt waren, welche selbst wiederum Generaloberst Serov bzw. ab 1948 direkt dem NKVD unterstand. Bis Ende 1948 blieben aufgrund von Zusammenlegungen und Schließungen nur noch die Lager in Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen übrig, die ihrerseits im Februar 1950 aufgelöst wurden. Die zu diesem Zeitpunkt noch verbliebenen Häftlinge wurden entweder entlassen oder unter die Verantwortung der deutschen Volkspolizei gestellt. Diese letzte Gruppe von Häftlingen wurde in der Folgezeit zum Opfer der so genannten Waldheimer Prozesse, in denen „unter direkter Leitung des Zentralkomitees der SED, des Innenministeriums und des Justizministeriums [...] eine in der deutschen Rechtsgeschichte einmalige Aktion [begann]:“[40] Ohne Anhörung von Zeugen, ausschließlich zu Höchststrafen und bei Anwesenheit eines Scheinverteidigers wurden die verbliebenen über 3000 Insassen der sowjetischen Internierungslager zu langjährigen Haftstrafen bzw. zum Tode verurteilt, nachdem einige der Inhaftierten schon vor Prozessbeginn dem harten Verwahrungssystem in der Strafanstalt Waldheim zum Opfer gefallen waren. Insgesamt verurteilte im Jahr 1950 das neu geschaffene Oberste Gericht der DDR im Zuge der Restalinisierung über 78000[41] Angeklagte wegen politischer Vergehen
[...]
[1] Strebel, Bernhard: Ravensbrück. Das zentrale Frauenkonzentrationslager. In: Herbert, Ulrich/ Orth, Karin/ Dieckmann, Christoph: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 215-258, hier S. 216, im Folg. zitiert: Strebel, Ravensbrück, S. ...
[2] Strebel, Ravensbrück, S. 219
[3] Strebel, Ravensbrück, S. 219
[4] Strebel, Ravensbrück, S. 219
[5] Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt am Main 1990, S. 219
[6] Empfehlungen der Expertenkommission zur Neukonzeption der brandenburgischen Gedenkstätten. Januar 1992. In: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg (Hrsg.): Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes, S. 244, im Folg. zitiert: Empfehlungen der Expertenkommission, S. ...
[7] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 244
[8] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 245
9 Strebel, Ravensbrück, S. 232
[10] Strebel, Ravensbrück, S. 232
[11] vgl. Herbert, Ulrich/ Orth, Karin/ Dieckmann, Christoph: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung. In: ders.: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 17-42, hier S. 30
[12] Strebel, Ravensbrück, S. 233
[13] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 244
[14] Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt am Main 1990, S. 219
[15] Strebel, Ravensbrück, S. 236
[16] Strebel, Ravensbrück, S. 255
[17] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 244
18 Spector, Shmuel, Artikel: Ravensbrück. In: Gutmann, Israel/ Jäckel, Eberhard/Longerich, Peter/ Schoeps, Julius (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Band 2. Berlin 1993, S. 1196-1197, hier: S. 1196
[19] Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt am Main 1990, S. 55
[20] Strebel, Ravensbrück, S. 230
[21] Strebel, Ravensbrück, S. 230
[22] Paul, Christa: Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus. Berlin 1994, S. 28
[23] ebenda, S. 26
[24] Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Frankfurt/Main 1946, S. 206
25 Strebel, Ravensbrück, S. 230
[26] Pingel, Falk, Artikel: Sachsenhausen. In: Gutmann, Israel/ Jäckel, Eberhard/ Longerich, Peter/ Schoeps, Julius (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Band 3. Berlin 1993, S. 1270-1271, hier: S. 1270
27 ebenda
[28] Broszat, Martin: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. In: Buchheim, Hans/ Broszat, Martin/ Jacobsen, Hans-Adolf/ Krausnick, Helmut (Hrsg.): Anatomie des SS-Staates. München 19997, S. 375
[29] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 234
[30] Wieland, Günther: KZ Sachsenhausen Juni 1936 - April 1945. In: Hohmann, Joachim / Wieland, Günther (Hrsg..): Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg 1939 bis 1944: Die Aufzeichnungen des KZ-Häftlings Rudolf Wunderlich. Frankfurt/Main u.a. 1997, S. 71-79, hier: S. 73
[31] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 234
[32] Pingel, Falk, Artikel: Sachsenhausen. In: Gutmann, Israel/ Jäckel, Eberhard/Longerich, Peter/ Schoeps, Julius (Hrsg..): Enzyklopädie des Holocaust. Band 3. Berlin 1993, S. 1271
[33] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 234
34 Pingel, Falk, Artikel: Sachsenhausen. In: Gutmann, Israel/ Jäckel, Eberhard/Longerich, Peter/ Schoeps, Julius (Hrsg..): Enzyklopädie des Holocaust. Band 3. Berlin 1993, S. 1270
[35] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 234
[36] Empfehlungen der Expertenkommission, S. 234
[37] Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Hrsg.): Informationsblatt 25. Sowjetisches Speziallager Nr.7/Nr. 1. 1945-1950. Oranienburg 19992
[38] Ritscher, Bodo: Die NKWD/MWD-„Speziallager" in Deutschland. Anmerkungen zu einem Forschungsgegenstand. In: Danyel, Jürgen (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin 1995, S. 168
[39] ebenda, S. 165
[40] Finn, Gerhard, Artikel: Waldheimer Prozesse. In: Lexikon des DDR-Sozialismus. Band 2. Paderborn u.a. 1997, S. 924.
[41] Herf, Jeffrey: Zweierlei Erinnerung: Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland. Berlin 1998, S. 132.
- Quote paper
- Michael von Scheidt (Author), 2001, Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR in den 50er und 60er Jahren am Beispiel der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12159
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