Die Werke, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, sind durchaus sehr verschieden, ebenso wie ihre Autoren. Lucius Annaeus Seneca Philosophus war einer der reichsten und mächtigsten Männer seiner Zeit, sein literarisches Schaffen vielfältig. Bemerkenswert ist seine von Grausamkeit bestimmte Tragödiendichtung: In seinem Thyestes schlachtet Atreus seine Neffen in einem düster-verstörenden Opferritus voller Ambivalenz und Paradoxie auf brutale Art und Weise hin und serviert sie anschließend seinem Bruder als Gastmahl. Die antike Idee von ξενία, der Gastfreundschaft, wird zu einer bizarren Parodie. Dass offensichtlich auch das stoische Prinzip der ἀπάθεια, der Freiheit von den Affekten, in Atreus negiert wird überrascht, war Seneca doch Stoiker.
Über Titus Lucretius Carus, den Autoren des zweiten vorliegenden Werks, ist wenig bekannt. In De rerum natura versucht er seine Vorstellung epikureischer Physik in Form eines Lehrgedichts darzubringen, wobei auch ethische Erwägungen geschickt eingestreut werden. Hervor sticht die eklige und grausig-detaillierten Darstellung der Epidemie in Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. Dieser literarische Charakter ist dabei beispiellos innerhalb des Gesamtwerks; nirgends sonst umreißt der Autor ein Bild, welches in diesem Maße das Ekelhafte evoziert. Darf man annehmen, dass vorbenannte Darstellung eine künstlerische Absicht verfolgt, die den historischen Stoff lediglich zu Grunde legt und im Exzess eine unterliegende Botschaft zu mitteln sucht?
In beiden Texten werden Bilder gezeichnet, die die Grenzen von Anstand und Geschmack weit überschreiten. Beide stammen von einem Autor, von dem vermutet werden darf, dass Einflüsse seiner jeweiligen philosophischen Ansichten in seinem Werk Ausdruck finden. Diese Arbeit nun soll mittels einer Synopse (altgr. σύνοψις, Zusammenschau) zweierlei herausstellen: Zunächst, ob sich eine gemeinsame Essenz der Ästhetik des Schrecklichen herausarbeiten lässt, auf deren Basis beide Passagen operieren und - darauf aufbauend - inwiefern diese Form der Ästhetik als rhetorisch-inhaltliche Gestaltungsmethode philosophischen Ausdruckscharakter trägt. Dazu werden zunächst beide Passagen gesondert analysiert und wesentliche gestalterische Merkmale der Ästhetik des Schrecklichen und philosophische Aspekte, sowie ihr Zusammenspiel diskutiert. Zuvor werden für die Arbeit die wesentlichen philosophische Strömungen angerissen und die Grundideen des Konzepts der "Ästhetik des Schrecklichen" dargelegt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische und historische Grundlagen
2.1 Das Konzept der Ästhetik des Schrecklichen in der Literatur
2.2 Die Stoa
2.3 Der Epikureismus
3. Die Ästhetik des Schrecklichen in Senecas Thyestes
3.1 Textstelle
3.2 Übersetzung
3.3 Interpretation
3.3.1 Einordnung der Textstelle in den Kontext
3.3.2 Die Ästhetik der Brutalität und das Paradoxe am Beispiel der Schlachtung der Neffen des Atreus
3.3.3 Der Perspektivwechsel vom Opfer- zum Täterblick im Botenbericht
3.3.4 Die Rolle der ἐνάργεια in der Ästhetik des Schrecklichen
3.3.5 Atreus saevus als Antistoiker? Einsatz schrecklich-ästhetisierender Elemente zur Realisierung einer philosophischen Aussageabsicht
4. Die Ästhetik des Schrecklichen in Lukrez‘ De rerum natura
4.1 Textstelle
4.2 Übersetzung
4.3 Interpretation
4.3.1 Einordnung der Textstelle in den Kontext
4.3.2 Das Schreckliche in der Verletzung der Integrität des menschlichen Körpers
4.3.3 Die Verbildlichung des Ekels
4.3.4 Ekel und Panik – Nährboden für die Vermittlung epikureischer Philosophie?
5. Synopsis
5.1 Ekel und Brutalität – Verschiedene Spielarten des Schreckens
5.2 Das Zusammenspiel von Grenzen und Grenzüberschreitung
5.3 Einsatz der ἐνάργεια zur Vergegenwärtigung des Schreckens
5.4 Die philosophische Belehrung als Endzweck?
6. Schluss
7. Literaturverzeichnis
- Arbeit zitieren
- Markus Thomas Hörty (Autor:in), 2018, Die Ästhetik des Schrecklichen in Senecas Thyestes und Lukrez‘ Pestbeschreibung aus De rerum natura VI, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1215196
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