Eine demokratische Staatsauffassung beruht nicht allein auf abstrakte gerechte Prinzipien, sondern ist von historischen Gegebenheiten und religiösen Wertvorstellungen geprägt. Fraglich ist, welches Kriterium für die Bedeutung des Kreuz- oder Kruzifixsymbols entscheidend ist, um eine rechtliche Beurteilung abzugeben, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Räumen legitimiert. Die jeweilige Deutung des Symbols und ihre Einschätzung als Wirkungskraft sind von entscheidender Bedeutung, um die Zulässigkeit eines derartigen Symbols in öffentlichen Einrichtungen, wie vor allem in Klassenzimmern, abzuwägen.
Einleitung
In einigen europäischen Staaten (Schweiz, Österreich, Italien, Deutschland) gibt es in den letzten Jahren erhebliche Grundsatzdiskussionen über religiöse Symbole in öffentlichen Einrichtungen, insbesondere in Schulklassen. „Das Kreuz mit dem Kreuz“, so lautet die Überschrift eines Artikels (Gastkommentar).1 Und sogar im katholischen Italien sollen nach einer Entscheidung des Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof die Kruzifixe aus den Schulen verschwinden.
Im Brennpunkt der Debatte steht die zentrale Frage, ob das Aufhängen von Kreuzen oder Kruzifixen in Klassenzimmern erlaubt, verboten oder sogar verpflichtend sein soll. Dementsprechend entstanden schließlich in den genannten Ländern durch diese Diskussion juristische Auseinandersetzungen, so dass die gesetzlichen Normen neu formuliert bzw. geändert werden mussten.
Im Hauptteil werde ich die zentralen Thesen und Argumente von Rainer Forsts Analyse zum Thema Toleranzkonflikte am Beispiel des Kruzifix-Urteils aus seinem Werk „Toleranz im Konflikt“ darstellen und kritisch beleuchten.
Aufgrund der historischen Prägung der europäischen Kultur durch das Christentum werden als christliche Symbole unter anderem in Klassenräumen in der Regel Kreuze oder Kruzifixe verwendet.
Menschen, die in christlich geprägten Ländern leben, sind einer Fülle von religiösen Zeichen und christlichen Elementen, wie Kirchen, Klöstern, Wegkreuzen, Kruzifixen ausgesetzt. In unserem alltäglichen Leben werden ständig Symbole und Elemente des christlichen Glaubens sichtbar.
Sie stehen stellvertretend für die christliche Religion. Das Kruzifix als spezielles Kreuz erinnert an die Kreuzigung und den gewaltsamen Tod von Jesus Christus (30 n. Chr.) und versinnbildlicht eine konkrete (positive) Einstellung zum christlichen Glauben. Die theologische Botschaft, die Kreuze vermitteln, ist abhängig von der Deutung des Symbols durch den Betrachter.
Das Kreuz bedeutet für einen Christen, dass es ein heiliges Zeichen des Glaubens an Gott ist, der die Menschen durch die Kreuzigung seines Sohnes Jesus Christus erlöst hat.
Dagegen bleibt das Kreuz für Andersgläubige ein plastisches Gebilde, welches jedoch auf die christliche Religion und den Glauben an Gott verweist.2
Das Kruzifix hingegen zeigt, dass zusätzlich auf dem Kreuz der Leichnam Jesu Christi abgebildet ist. Der Begriff Kruzifix stammt vom lateinischen „cruci fixus“ und bedeutet „Gabelkreuz“. Das Kreuzsymbol ist jedoch nicht nur eine geometrische Figur, sondern durch die Betrachtung dieses Zeichens ergeben sich eine Interpretation und eine damit verbundene Zuordnung zu einem bestimmten religiös-geistigen Sachverhalt. Folglich wird dadurch die reine Form des Kreuzes zum Symbol.
Kreuze sind in christlichen Kulturkreisen auf unterschiedliche Art und Weise weit verbreitet. Es ist schwierig, eine einheitlich-symbolische Bedeutung zu finden.
In der religiösen wie auch rechtlichen Betrachtung ist es nicht erforderlich, zwischen Kreuz und Kruzifix zu unterscheiden. Kreuz und Kruzifix sind zwei unterschiedliche Arten der christlich-symbolischen Darstellung, wobei das Kruzifix ein denkmalähnliches Gebilde mit hohem künstlerischem Anspruch ist. Beiden Darstellungsarten intendieren eine christlich missionarische Funktion, indem sie auf die Wiederkunft Christi und den Anfang seiner Herrschaft hinweisen sollen.
Jedoch stellt sich nun die Frage, welches Kriterium für die Bedeutung des Kreuzoder Kruzifixsymbols entscheidend ist, um eine rechtliche Beurteilung abzugeben, die die Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Räumen legitimiert. Die jeweilige Deutung des Symbols und ihre Einschätzung als Wirkungskraft sind von entscheidender Bedeutung, um die Zulässigkeit eines derartigen Symbols in öffentlichen Einrichtungen, wie vor allem in Klassenzimmern, abzuwägen.
Für die Beurteilung sind unterschiedliche Interpretationen möglich.
Das Kreuz ist als Glaubenssymbol des Christentums zu interpretieren.
Im Kruzifix-Urteil aus dem Jahre 1995 kommt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu dem Urteil, dass das Kreuz ,das Glaubenssymbol des Christentums' sei und verkörpere die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Teufel und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem.3
Das Kreuz wird aus christlich-dogmatischer Sicht als ein „Zeichen für die Mitte des Christusbekenntnisses“ betrachtet.4
Es ist ein Symbol christlich-abendländischer Kultur, sodass es im Folgenden auch als kulturelles Symbol gesehen werden kann. Die religiös-kulturellen Ursprünge der westlichen Gesellschaft liegen in der symbolischen Darstellung von Kreuzen oder Kruzifixen. Dies wird insbesondere darin verdeutlicht, dass häufig christliche Symbole in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden und damit verdeutlichen, dass die christliche Religion in der westlichen Gesellschaft dominierend wirkt, sodass auch christlich-biblische Auszüge gesetzlich verankert sind.
Das Kreuz kann nach unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten einerseits als Glaubenssymbol und andererseits als christlich-kulturelles Symbol betrachtet werden.
Ein vehement diskutiertes Thema zeigt das Aufhängen von Kreuzen oder Kruzifixen in Klassenzimmern. Es stellt sich die Frage, ob ein an der Wand eines Klassenzimmers hängendes Kreuz oder Kruzifix die Glaubens- und Gewissensfreiheit eines Schülers nicht nur verletzten könnte, sondern auch tatsächlich verletze und das mit einer staatlich verordneten Neutralität der Schule nicht vereinbar sei. Die Gerichte hatten die Aufgabe, eine rechtliche Bewertung vorzunehmen, ob das Anbringen von Schulkreuzen legitim ist und diese Problematik gesetzlich zu regeln. Fraglich ist jedoch, wie sich der Staat in der Debatte über religiös und weltanschaulich überzeugende Werthaftigkeit verhalte.
Kritisch gesehen, wird im Schulkreuz das zentrale und bekenntnisorientierte Symbol des christlichen Glaubens angenommen. Nach dieser Ansicht widerspricht die verpflichtende Anbringung des Schulkreuzes in Schulklassen dem Grundrecht der Religionsfreiheit der Menschen, die nicht dem christlichen Glauben angehören, da dadurch die Gefahr bestehe, dass alle Nicht-Christen sich an christlichen Wertvorstellungen orientieren müssten. Somit stellt sich nun die Frage, welche Wirkung Kreuze, insbesondere Kruzifixe, auf nicht christlich-religiöse geprägte Menschen haben! Stellt die Betrachtung des Kreuzes oder des Leichnams am Kreuz eine Provokation dar? Werden Nicht-Christen durch diese Wahrnehmung seelisch belastet, und sind sie dann unfähig, weiterhin dem Unterricht zu folgen? Wirkt sich dies auf ihre Leistungsfähigkeit im Unterricht aus?
Andererseits ist es fragwürdig, ob Symbole, die den Glauben verkörpern, überhaupt noch eine Bedeutung haben; denn in vielen öffentlichen Einrichtungen, insbesondere in Geschäften, sind symbolische Gegenstände als Massenware frei käuflich. Dadurch wird der innere Wert des Symbols herabgesetzt, und das Kreuz wirkt nur noch wie ein „Stück Folklore“, das auf keinen religiösen Inhalt verweist.
Hauptteil
Der Philosoph Rainer Forst (geb.1964) befasst sich in dem Werk „Toleranz im Konflikt“ im § 38 mit unterschiedlichen Toleranzkonflikten. Er untersucht insbesondere das Kruzifix-Urteil als aktuelle Toleranzkonfliktsituation kritisch.
Toleranz spielt in pluralistischen Gesellschaften eine zentrale Rolle, denn sie bezeichnet eine Haltung, die den Widerstreit von Überzeugungen und Praktiken bestehen lässt und zugleich entschärft, indem sie Gründe für ein Miteinander im Konflikt aufzeigt. Ein kritischer Blick auf die Geschichte dieses Begriffs macht jedoch deutlich, dass er in seinem Gehalt und seiner Bewertung sehr umstritten ist und folglich mit sich selbst im Konflikt steht: Toleranz kann einerseits Ausdruck gegenseitigen Respekts trotz starker kultureller Unterschiede, andererseits für den einzelnen eine herablassende und unterdrückende Einstellung sein.
Rainer Forst stellt jedoch in seiner Schrift „Das Recht auf Rechtfertigung“ fest, dass Toleranz im Konflikt mit dem Demokratiebegriff eines Staates steht, da sie einer vordemokratischen, absolutistischen Zeit angehört. Andererseits zeigen die zahlreichen politisch-religiösen Auseinandersetzungen, die bis in die Gegenwart reichen, dass eine pluralistische Demokratie, in der unterschiedliche Vorstellungen des Guten und Gerechten aufeinandertreffen, auf die Toleranz nicht verzichten kann. Die tief greifende Mehrdeutigkeit der Toleranz, die sichtbar wird, ist nach Rainer Forsts These nicht zufällig. Sie definiert vielmehr den Begriff der Toleranz. Es ist immer noch umstritten, wo die Grenzen der Toleranz innerhalb eines politischen Gemeinwesens zu ziehen sind, was Toleranz eigentlich bedeutet und ob Toleranz in einem aufgeklärten Demokratieverständnis überhaupt etwas Gutes bedeutet.5
Als politische Debatte befasst sich Rainer Forst mit der „Kruzifix-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahre 1995. Es wird diskutiert, ob es intolerant ist, Kruzifixe oder Kreuze per Gesetz in öffentlichen Schulen anzubringen, oder ob vielmehr die Einwände gegen diese Praxis ein Zeichen der Intoleranz sind. In der Analyse ergeben sich unterschiedliche Auslegungsarten des Begriffs Toleranz. Historisch betrachtet, könnten Bezüge aus der Vergangenheit, ähnliche Situationskonflikte hilfreich in der Auslegung des entsprechenden Sachverhaltes sein. Aus politischer Sicht hingegen besteht die Unklarheit darin, das nicht eindeutig ist, welche einander widerstreitenden Interessen und Argumente vorliegen und wie sie in demokratische Institutionen vereinbart werden können und vielleicht sollten.
Nach Rainer Forst handelt es sich in der Kruzifix-Debatte nicht nur um einen komplexen, politischen Interessenskonflikt, sondern um eine Auseinandersetzung des richtigen Verständnisses von Toleranz und vor allem von Demokratie selbst.6
Um sich konkret mit der Kruzifix-Problematik auseinandersetzen zu können, muss nach Rainer Forst der Begriff Toleranz kritisch analysiert werden.
Es gibt für ihn nur ein sinnvolles Toleranzkonzept, welches aus unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzt ist. Sein Toleranzkonzept setzt sich aus drei unterschiedlichen Komponenten zusammen: Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung.
Er stellt fest, wenn Maßnahmen des Toleranzkonzepts von Individuen, Gruppen oder Institutionen ausgeübt werden, beziehen sie sich auf Überzeugungen, Werten, Lehren, Handlungen oder Praktiken. Tolerierende Menschen und ihre Beziehungen zueinander sind zu beachten.
Die erste Komponente, die Ablehnungs-Komponente bedeutet, dass Überzeugungen und Praktiken, die toleriert werden, gleichzeitig falsch sind und schlecht bewertet werden. Toleranz schließt die Indifferenz oder Bejahung aus: Zu ihr gehört eine normative Verurteilung und Ablehnung der tolerierten Überzeugungen oder Praktiken.7 Welches sind jedoch die Kriterien für vernünftige Ablehnungsgründe?
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1 http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/521127/Das-Kreuz-mit-dem-Kreuz: Internet Zugriff am 14.8.2011
2 Gut, Walter, Kreuz und Kruzifix in öffentlichen Räumen, 1997, S. 14
3 Bundesverfassungsgericht Deutschland (BVerfG): Kruzifix-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 16.5.1995, 93
4 Meyer- Blanck, Michael: Kreuz und Kopftuch. Christen und Muslime in Schule und Öffentlichkeit, 2005
5 Forst, Rainer, Das Recht auf Rechtfertigung, 2007, S. 212
6 Forst, Rainer, Das Recht auf Rechtfertigung, 2007, S. 213
7 Forst, Rainer, Toleranz, 2000, S. 9
- Citation du texte
- Irina Bensom (Auteur), 2011, Kreuz und Kruzifix in öffentlichen Räumen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1214398
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