Erstes Kapitel***
Das Hänflingnest***
»Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin.«
»Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?« »Ich sag es nicht. Du mußt es raten.«
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen und ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch sie standen, so waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch höher und wuchsen ihnen bis über die Brust.
»Bitte, Valtin«, fuhr das Mädchen fort, »sag es mir.«
»Rate.«
»Ich kann nicht. Und ich will auch nicht.«
»Du könntest schon, wenn du wolltest. Sieh nur«, und dabei wies er mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Vogel, der eben über ihre Köpfe hinflog und sich auf eine hohe Hanfstaude niedersetzte.
»Sieh«, wiederholte Valtin.
»Ein Hänfling?«
»Geraten.«
Der Vogel wiegte sich eine Weile, zwitscherte und flog dann wieder in den Garten zurück, in dem er sein Nest hatte. Die beiden Kinder folgten ihm neugierig mit ihren Augen.
»Denke dir«, sagte Grete, »ich habe noch kein Vogelnest gesehen: bloß die zwei Schwalbennester auf unsrem Flur. Und ein Schwalbennest ist eigentlich gar kein Nest.«
»Höre, Grete, ich glaube, da hast du recht.«
»Ein richtiges Nest, ich meine von einem Vogel, nicht ein Krähen- oder Storchennest, das muß so weich sein wie der Flachs von Reginens Wocken.«[...]
Inhalt
Erstes Kapitel
Das Hänflingnest
Zweites Kapitel
Trud und Emrentz
Drittes Kapitel
Das »Jüngste Gericht« und was weiter geschah
Viertes Kapitel
Regine
Fünftes Kapitel
Grete bei Gigas
Sechstes Kapitel
Das Maienfest
Siebentes Kapitel
Jacob Mindes Tod
Achtes Kapitel
Eine Ritterkette
Neuntes Kapitel
Auf der Burg
Zehntes Kapitel
Zu Weihnachten
Elftes Kapitel
Der Herr Kurfürst kommt
Zwölftes Kapitel
Am Wendenstein
Dreizehntes Kapitel
Flucht
Vierzehntes Kapitel
Auf dem Fluß
Fünfzehntes Kapitel
Drei Jahre später
Sechzehntes Kapitel
Die Nonnen von Arendsee
Siebzehntes Kapitel
Wieder gen Tangermünde
Achtzehntes Kapitel
Grete bei Gerdt
Neunzehntes Kapitel
Grete vor Peter Guntz
Zwanzigstes Kapitel
Hier hastu gerichtet nur kleine Zeit, Dort wirstu gerichtet in Ewigkeit
Erstes Kapitel
Das Hänflingnest
»Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin.«
»Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?« »Ich sag es nicht. Du mußt es raten.«
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen und ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch sie standen, so waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch höher und wuchsen ihnen bis über die Brust.
»Bitte, Valtin«, fuhr das Mädchen fort, »sag es mir.«
»Rate.«
»Ich kann nicht. Und ich will auch nicht.«
»Du könntest schon, wenn du wolltest. Sieh nur«, und dabei wies er mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Vogel, der eben über ihre Köpfe hinflog und sich auf eine hohe Hanfstaude niedersetzte.
»Sieh«, wiederholte Valtin.
»Ein Hänfling?«
»Geraten.«
Der Vogel wiegte sich eine Weile, zwitscherte und flog dann wieder in den Garten zurück, in dem er sein Nest hatte. Die beiden Kinder folgten ihm neugierig mit ihren Augen.
»Denke dir«, sagte Grete, »ich habe noch kein Vogelnest gesehen: bloß die zwei Schwalbennester auf unsrem Flur. Und ein Schwalbennest ist eigentlich gar kein Nest.«
»Höre, Grete, ich glaube, da hast du recht.«
»Ein richtiges Nest, ich meine von einem Vogel, nicht ein Krähen- oder Storchennest, das muß so weich sein wie der Flachs von Reginens Wocken.«
»Und so ist es auch. Komm nur. Ich zeig es dir.« Und dabei sprang er vom Zaun in den Garten seines elterlichen Hauses zurück.
»Ich darf nicht«, sagte Grete.
»Du darfst nicht?«
»Nein, ich soll nicht. Trud ist dawider.«
»Ach Trud, Trud. Trud ist deine Schwieger, und eine Schwieger ist nicht mehr als eine Schwester. Wenn ich eine Schwester hätte, die könnte den ganzen Tag verbieten, ich tät es doch. Schwester ist Schwester. Spring. Ich fange dich.«
»Hole die Leiter.«
»Nein, spring.«
Und sie sprang, und er fing sie geschickt in seinen Armen auf.
Jetzt erst sah man ihre Gestalt. Es war ein halbwachsenes Mädchen, sehr zart gebaut, und ihre feinen Linien, noch mehr das Oval und die Farbe ihres Gesichts, deuteten auf eine Fremde.
»Wie du springen kannst«, sagte Valtin, der seinerseits einen echt märkischen Breitkopf und vorspringende Backenknochen hatte. »Du fliegst ja nur so. Und nun komm, nun will ich dir das Nest zeigen.«
Er nahm sie bei der Hand, und zwischen Gartenbeeten hin, auf denen Dill und Pastinak in hohen Dolden standen, führte er sie bis in den Mittelgang, der weiter abwärts vor einer Geißblattlaube endigte.
»Ist es hier?«
»Nein, in dem Holunder.«
Und er bog ein paar Zweige zurück und wies ihr das Nest.
Grete sah neugierig hinein und wollte sich damit zu schaffen machen, aber jetzt umkreiste sie der Vogel, und Valtin sagte: »Laß; er ängstigt sich. Es ist wegen der Jungen; unsere Mütter sind nicht so bang um uns.«
»Ich habe keine Mutter«, erwiderte Grete scharf.
»Ich weiß«, sagte Valtin, »aber ich vergeß es immer wieder. Sieht sie doch aus, als ob sie deine Mutter wäre, versteht sich, deine Stiefmutter. Höre, Grete, sieh dich vor. Hübsch ist sie, aber hübsch und bös. Und du kennst doch das Märchen vom Machandelboom?«
»Gewiß kenn ich das. Das ist ja mein Lieblingsmärchen. Und Regine muß es mir immer wieder erzählen. Aber nun will ich zurück in unsern Garten.«
»Nein, du mußt noch bleiben. Ich freue mich immer, wenn ich dich habe. Du bist so hübsch. Und ich bin dir so gut.«
»Ach, Narretei. Was soll ich noch bei dir?«
»Ich will dich noch ansehen. Mir ist immer so wohl und so weh, wenn ich dich ansehe. Und weißt du, Grete, wenn du groß bist, da mußt du meine Braut werden.«
»Deine Braut?«
»Ja, meine Braut. Und dann heirat ich dich.«
»Und was machst du dann mit mir?«
»Dann stell ich dich immer auf diesen Himbeerzaun und sage ›spring‹; und dann springst du, und ich fange dich auf, und...«
»Und?«
»Und dann küß ich dich.«
Sie sah ihn schelmisch an und sagte: »Wenn das wer hörte! Emrentz oder Trud...«
»Ach Trud und immer Trud. Ich kann sie nicht leiden. Und nun komm und setz dich.«
Er hatte diese Worte vor dem Laubeneingang gesprochen, an dessen rechter Seite eine Art Gartenbank war, ein kleiner niedriger Sitzplatz, den er sich aus vier Pflöcken und einem darübergelegten Brett selbst zurechtgezimmert hatte. Er liebte den Platz, weil er sein eigen war und nach dem Nachbargarten hinübersah. »Setz dich«, wiederholte er, und sie tat's, und er rückte neben sie. So verging eine Weile. Dann zog er einen Malvenstock aus der Erde und malte Buchstaben in den Sand.
»Lies«, sagte er. »Kannst du's?«
»Nein.«
»Dann muß ich dir sagen, Grete, daß du deinen eignen Namen nicht lesen kannst. Es sind fünf Buchstaben, und es heißt Grete.«
»Ach, griechisch«, lachte diese. »Nun merk ich erst; ich soll dich bewundern. Hatt es ganz vergessen. Du gehörst ja zu den sieben, die seit Ostern zum alten Gigas gehen. Ist er denn so streng?«
»Ja und nein.«
»Er sieht einen so durch und durch. Und seine roten Augen, die keine Wimpern haben...«
»Laß nur«, beruhigte Valtin. »Gigas ist gut. Es muß nur kein Kalvinscher sein oder kein Katholscher. Da wird er gleich bös und Feuer und Flamme.«
»Ja, sieh, das ist es ja eben...«
Valtin malte mit dem Stocke weiter. Endlich sagte er: »Ist es denn wahr, daß deine Mutter eine Katholsche war?«
»Gewiß war sie's.«
»Und wie kam sie denn ins Land und in euer Haus?«
»Das war, als mein Vater in Brügge war, da sind viele Spansche. Kennst du Brügge?«
»Freilich kenn ich's. Das ist ja die Stadt, wo sie die beiden Grafen enthauptet haben.«
»Nein, nein. Das verwechselst du wieder. Du verwechselst auch immer. Weißt du noch... Ananias und Äneas?! Aber das war damals, als du noch nicht bei Gigas warst... Ach, bei Gigas! Und nun soll ich auch hin, denn ich werde ja vierzehn, und Trud ist bei ihm gewesen, wegen Unterricht und Firmung, und hat es alles besprochen... Aber sieh, ihr habt ja noch Kirschen an eurem Baum. Und wie dunkel sie sind! Nur zwei. Die möcht ich haben.«
»Es ist zu hoch oben; da können bloß die Vögel hin. Aber laß sehen, Gret, ich will sie dir doch holen... wenn...«
»Wenn?«
»Wenn du mir einen Kuß geben willst. Eigentlich müßtest du's. Du bist mir noch einen schuldig.«
»Schuldig?«
»Ja. Von Silvester.«
»Ach, das ist lange her. Da war ich noch ein Kind.«
»Lang oder kurz. Schuld ist Schuld.«
»Und bedenke, daß ich morgen zu Gigas komme...«
»Das ist erst morgen.«
Und eh sie weiter antworten konnte, schwang er sich in den Baum und kletterte rasch und geschickt bis in die Spitze, die sofort heftig zu schwanken begann.
»Um Gott, du fällst«, rief sie hinauf; er aber riß den Zweig ab, an dem die zwei Kirschen hingen, und stand im Nu wieder auf dem untersten Hauptast, an dem er sich jetzt, mit beiden Knien einhakend, waagerecht entlangstreckte.
»Nun pflücke«, rief er und hielt ihr den Zweig entgegen. »Nein, nein, nicht so. Mit dem Mund...«
Und sie hob sich auf die Fußspitzen, um nach seinem Willen zu tun. Aber im selben Augenblicke ließ er die Kirschen fallen, bückte sich mit dem Kopf und gab ihr einen herzhaften Kuß.
Das war zuviel. Erschrocken schlug sie nach ihm und lief auf die Gartenleiter zu, die dicht an der Stelle stand, wo sie das Gespräch zwischen den Himbeerbüschen gehabt hatten. Erst als sie die Sprossen hinauf war, hatte sich ihr Zorn wieder gelegt, und sie wandte sich und nickte dem noch immer verdutzt Dastehenden freundlich zu. Dann bog sie die Zweige voneinander und sprang leicht und gefällig in den Garten ihres eigenen Hauses zurück.
Zweites Kapitel
Trud und Emrentz
In den Gärten war alles still, und doch waren sie belauscht worden. Eine schöne, junge Frau, Frau Trud Minde, modisch gekleidet, aber mit strengen Zügen, war, während die beiden noch plauderten, über den Hof gekommen und hatte sich hinter einem Weinspalier versteckt, das den geräumigen, mit Gebäuden umstandenen Mindeschen Hof von dem etwas niedriger gelegenen Garten trennte. Sechs Stufen führten hinunter. Nichts war ihr hier entgangen, und die widerstreitendsten Gefühle, nur keine freundlichen, hatten sich in ihrer Brust gekreuzt. Grete war noch ein Kind, so sagte sie sich, und alles, was sie von ihrem Versteck aus gesehen hatte, war nichts als ein kindisches Spiel. Es war nichts und es bedeutete nichts. Und doch, es war Liebe, die Liebe, nach der sie sich selber sehnte und an der ihr Leben arm war bis diesen Tag. Sie war nun eines reichen Mannes ehelich Weib; aber nie, soweit sie zurückdenken mochte, hatte sie lachend und plaudernd auf einer Gartenbank gesessen, nie war ein frisches, junges Blut um ihretwillen in einen Baumwipfel gestiegen und hatte sie dann kindlich unschuldig umarmt und geküßt. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und Neid und Mißgunst zehrten an ihrem Herzen.
Sie wartete, bis Grete wieder diesseits war, und ging dann raschen Schrittes über den Hof auf Flur und Straße zu, um nebenan ihre Muhme Zernitz, des alten Ratsherrn Zernitz zweite Frau und Valtins Stiefmutter, aufzusuchen. In der Tür des Nachbarhauses traf sie Valtin, der beiseite trat, um ihr Platz zu machen. Denn sie war in Staat, in hoher Stehkrause und goldner Kette.
»Guten Tag, Valtin. Ist Emrentz zu Haus? Ich meine deine Mutter.«
»Ich denke, ja. Oben.«
»Dann geh hinauf und sag ihr, daß ich da bin.«
»Geh nur selbst. Sie hat es nicht gern, wenn ich in ihre Stube komme.«
Es klang etwas spöttisch. Aber Trud, erregt wie sie war, hatte dessen nicht acht und ging, an Valtin vorüber, in den ersten Stock hinauf, dessen große Hinterstube der gewöhnliche Aufenthalt der Frau Zernitz war. Das nach vorn zu gelegene Zimmer von gleicher Größe, das keine Sonne, dafür aber viele hohe Lehnstühle und grünverhangene Familienbilder hatte, war ihr zu trist und öde. Zudem war es das Wohn- und Lieblingszimmer der ersten Frau Zernitz gewesen, einer steifen und langweiligen Frau, von der sie lachend als von ihrer »Vorgängerin im Amt« zu sprechen pflegte.
Trud, ohne zu klopfen, trat ein und war überrascht von dem freundlichen Bilde, das sich ihr darbot. Alle drei Flügel des breiten Mittelfensters standen auf, die Sonne schien, und an dem offenen Fenster vorbei schossen die Schwalben. Über die Kissen des Himmelbetts, dessen hellblaue Vorhänge zurückgeschlagen waren, waren Spitzentücher gebreitet, und vom Hof herauf hörte man das Gackern der Hühner und das helle Krähen des Hahns.
»Ei, Trud«, erhob sich Emrentz und schritt von ihrem Fensterplatz auf die Muhme zu, um diese zu begrüßen. »Zu so früher Stunde. Und schon in Staat! Laß doch sehen. Ei, das ist ja das Kleid, das du den Tag nach deiner Hochzeit trugst. Wie lang ist es? Ach, als ich dir damals gegenübersaß, und Zernitz neben mir, und die grauen Augen der guten alten Frau Zernitz immer größer und immer böser wurden, weil er mir seine Geschichten erzählte, die kein Ende hatten, und immer so herzlich lachte, daß ich zuletzt auch lachen mußte, aber über ihn, da dacht ich nicht, daß ich zwei Jahre später an diesem Fenster sitzen und auch eine Frau Zernitz sein würde.«
»Aber eine andre.«
»Gott sei Dank, eine andre... Komm, setz dich... Und ich glaube, Zernitz denkt es auch. Denn Männer in zweiter Ehe, mußt du wissen, das sind die besten. Das erst ist, daß sie die erste Frau vergessen, und das zweit ist, daß sie alles tun, was wir wollen. Und das ist die Hauptsache. Ach Trud, es ist zum Lachen; sie schämen sich ordentlich und entschuldigen sich vor uns, schon eine erste gehabt zu haben. Andre mögen anders sein; aber für meinen alten Zernitz bürg ich, und wäre nicht der Valtin...«
»Um den eben komm ich«, unterbrach Trud, die der Muhme nur mit halbem Ohre gefolgt war, »um eben deinen Valtin. Höre, das hat sich ja mit der Gret, als ob es Braut und Bräutigam wäre. Er muß aus dem Haus. Und ich denke, du wirst ihn missen können.«
»Laß doch. Es sind ja Kinder.«
»Nein; es sind nicht Kinder mehr. Valtin ist sechzehn oder wird's, und Gret ist über ihre Jahre und hat's von der Mutter.«
»Nicht doch. Ich war ebenso.«
»Das ist dein Sach, Emrentz.«
»Und dich verdrießt es«, lachte diese.
»Ja, mich verdrießt es; denn es gibt einen Anstoß im Haus und in der Stadt. Und ich mag's und will's nicht. Du hast einen leichten Sinn, Emrentz, und siehst es nicht, weil du zuviel in den Spiegel siehst. Lache nur; ich weiß es wohl, er will es; alle Alten wollen's, und du sollst dich putzen und seine Puppe sein. Aber ich, ich seh um mich, und was ich eben gesehen hab... Emrentz, mir schlägt noch das Herz. Ich komme von Gigas und suche Greten und will ihr sagen, daß sie sich vorbereitet und ernst wird in ihrem Gemüt, da find ich sie... nun rate, wo? Im Garten zwischen den Himbeerbüschen. Und wen mit ihr? Deinen Valtin...«
»Und er gibt ihr einen Kuß. Ach Trud, ich hab's ja mitangesehn, alles, hier von meinem Fenster, und mußt an alte Zeiten denken, und an den Sommer, wo ich auch dreizehn war und mit Hans Hensen Versteckens spielte und eine geschlagene Glockenstunde hinter dem Rauchfang saß, Hand in Hand und immer nur in Sorge, daß wir zu früh gefunden, zu früh in unserm Glück gestört werden könnten. Laß doch, Trud, und gönn's ihnen. 's ist nichts mit alter Leute Zärtlichkeiten, und ich wollt, ich stünde wieder, wie heute die Grete stand. Es war so hübsch, und ich hatt eine Freude dran. Nun bin ich dreißig, und er ist doppelt so alt. Hätt ich noch vier Jahre gewartet, höre, Trud, ich glaube fast, ich hätte besser zu dem Jungen als zu dem Alten gepaßt. Sieh nicht so bös drein und bedenk, es trifft's nicht jeder so gut wie du. Gleich zu gleich und jung zu jung.«
»Jung zu jung!« sagte diese bitter. »Es geht ins dritte Jahr, und unser Haus ist öd und einsam.«
»Alt oder jung, wir müssen uns eben schicken, Trud«; und dabei nahm Emrentz ihrer Muhme Arm und schritt mit ihr in dem geräumigen Zimmer auf und ab. »Mein Alter ist zu jung, und dein Junger ist zu alt; und so haben wir's gleich, trotzdem uns der Schuh an ganz verschiedenen Stellen drückt. Nimm's leicht, und wenn du das Wort nicht leiden kannst, so sei wenigstens billig und gerecht. Wie liegt's denn? Höre, Trud, ich denke, wir haben nicht viel eingesetzt und dürfen nicht viel fordern. Hineingeheiratet haben wir uns. Und war's denn besser, als wir mit fünfundzwanzig, oder war's noch ein Jahr mehr, auf dem Gardelegner Marktplatz saßen und gähnten und strickten und von unsrem Fenster aus den Bauerfrauen die Eier in der Kiepe zählten? Jetzt kaufen wir sie wenigstens und leben einen guten Tag. Und das Sprichwort sagt, man kann nicht alles haben. Was fehlt, fehlt. Aber dir zehrt's am Herzen, daß dir nichts Kleines in der Wiege schreit, und du versuchst es nun mit Gigas und mit Predigt und Litanei. Aber das hilft zu nichts und hat noch keinem geholfen. Halte dich ans Leben; ich tu's und getröste mich mit der Zukunft. Und wenn der alte Zernitz eine zweite Frau nahm, warum sollt ich nicht einen zweiten Mann nehmen? Da hast du meine Weisheit, und warum es mir gedeiht. Lache mehr und bete weniger.«
Es schien, daß Trud antworten wollte, aber in diesem Augenblick hörte man deutlich von der Straße her das Schmettern einer Trompete und dazwischen Paukenschläge. Es kam immer näher, und Emrentz sagte: »Komm, es müssen die Puppenspieler sein. Ich sah sie schon gestern auf dem Anger, als ich mit meinem Alten aus dem Lorenzwäldchen kam. Und danach gingen beide junge Frauen in das Frau Zernitzsche Vorderzimmer mit den hohen Lehnstühlen und den verhangenen Familienbildern und stellten sich an eins der Fenster, das sie rasch öffneten.«
Und richtig, es waren die Puppenspieler, zwei Männer und eine Frau, die, bunt und phantastisch aufgeputzt, ihren Umritt hielten. Hunderte von Neugierigen drängten ihnen nach. Es war ersichtlich, daß sie nicht hier, sondern erst weiter abwärts, an einem unmittelbar am Markte gelegenen Eckhause zu halten gedachten, als aber der zur Rechten Reitende, der lange, gelb und schwarz gestreifte Trikots und ein schwarzes, enganliegendes Samt- und Atlascollet trug, der beiden jungen Frauen gewahr wurde, hielt er sein Pferd plötzlich an und gab ein Zeichen, daß der die Pauke rührende, hagre Hanswurst, dessen weißes Hemd und spitze Filzmütze bereits der Jubel aller Kinder waren, einen Augenblick schweigen solle. Zugleich nahm er sein Barett ab und grüßte mit ritterlichem Anstand zu dem Fenster des Zernitzschen Hauses hinauf. Und nun erst begann er: »Heute abend, sieben Uhr, mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung, auf dem Rathause hiesiger kurfürstlicher Stadt Tangermünde: Das Jüngste Gericht. «
Dies Wort wurde, während der Schwarzundgelbgestreifte die Trompete hob, von einem ungeheuern Paukenschlage begleitet.
»Das Jüngste Gericht! Großes Spiel in drei Abteilungen, so von uns gespielet worden vor Ihren christlichen Majestäten, dem römischen Kaiser und König und dem Könige von Ungarn und Polen. Desgleichen vor allen Kurfürsten und Fürsten deutscher Nation. Worüber wir Zeugnisse haben allerdurchlauchtigster Satisfaktion. Das Jüngste Gericht! Großes Spiel in drei Abteilungen, mit Christus und Maria, samt dem Lohn aller Guten und der Verdammnis aller Bösen. Dazu beides, Engel und Teufel, und großes Feuerwerk, aber ohne Knall und Schießen und sonstige Fährlichkeit, um nicht ›denen schönen Frauen‹, so wir zu sehen hoffen, irgendwie störend oder mißfällig zu sein.«
Und nun wieder Paukenschlag und Trompetenstoß, und auf den Marktplatz zu nahm der Umritt seinen Fortgang, während der Puppenspieler im Trikot noch einmal zu dem Zernitzschen Hause hinaufgrüßte. Auch die dunkelfarbige Frau, die zwischen den beiden andern zu Pferde saß, verneigte sich. Sie schien groß und stattlich und trug ein Diadem mit langem schwarzem Schleier, in den zahllose Goldsternchen eingenäht waren.
»Gehst du heute?« fragte Emrentz.
»Nein. Nicht heut und nicht morgen. Es widersteht mir, Gott und Teufel als bloße Puppen zu sehen. Das Jüngste Gericht ist kein Spiel, und ich begreif unsre Ratmannen nicht, und am wenigsten unsern alten Peter Guntz, der doch sonst ein christlicher Mann ist. Heiden und Türken sind's. Sahst du die Frau? Und wie der lange schwarze Schleier ihr vom Kopfe hing?«
»Ich gehe doch«, lachte Emrentz.
Damit trennten sich die Frauen, und Trud, unzufrieden über das Gespräch und das Scheitern ihrer Pläne, kehrte noch übellauniger, als sie gekommen, in das Mindesche Haus zurück.
Drittes Kapitel
Das »Jüngste Gericht« und was weiter geschah
In jener Stille, wie sie dem Mindeschen Hauswesen eigen war, verging der Tag; nur der Pfauhahn kreischte von seiner Stange, und aus dem Stallgebäude her hörte man das Stampfen eines Pferdes, eines schönen flandrischen Tieres, das der alte Minde, bei Gelegenheit seiner zweiten Heirat, aus den Niederlanden mit heimgebracht hatte. Das war nun fünfzehn Jahr; es war alt geworden wie sein Herr, aber hatte bessere Tage als dieser.
Grete hatte gebeten, das Puppenspiel im Rathaus besuchen zu dürfen, und es war ihr, allem Abmahnen Truds unerachtet, von ihrem Vater, dem alten Minde, gestattet worden, nachdem dieser in Erfahrung gebracht hatte, daß auch Emrentz und Valtin und der alte Zernitz selbst dem Spiele beiwohnen würden. Lange vor sieben Uhr hatte man Greten abgeholt, und in breiter Reihe, als ob sie zusammengehörten, schritten jetzt alle gemeinschaftlich auf das Rathaus zu. Die Freitreppe, die hinaufführte, war mit Neugierigen besetzt, auch mit solchen, die drinnen ihre Plätze hatten und nur wieder ins Freie getreten waren, um so lange wie möglich noch der frischen Luft zu genießen. Denn in dem niedrig gewölbten Saale war es stickig, und kein anderes Licht fiel ein als ein gedämpftes von Flur und Treppe her. In der zweiten Reihe waren ihnen, unter Beistand eines alten Stadt- und Ratsdieners, einige Mittelplätze freigehalten worden, auf denen sie bequemlich Platz nahmen, erst Zernitz selbst und Emrentz, dann Valtin und Grete. Das war auch die Reihenfolge, in der sie saßen. Grete war von Anfang an nur Aug und Ohr, und als Emrentz ihr aus einem Sandelkästchen allerhand Süßigkeiten bot, wie sie damals Sitte waren, überzuckerte Frucht und kleine Theriakkügelchen, dankte sie und weigerte sich, etwas zu nehmen. Valtin sah es und flüsterte ihr zu: »Fürchtest du dich?«
»Ja, Valtin. Bedenke, das Jüngste Gericht.«
»Wie kannst du nur? Es sind ja Puppen.«
»Aber sie bedeuten was, und ich weiß doch nicht, ob es recht ist.«
»Das hat dir Trud ins Gewissen geredt«, lachte Emrentz, und Grete nickte.
»Glaub ihr nicht; es ist 'ne fromme Sach. Und in Stendal haben sie's in der Kirchen gespielt.« Und dabei nahm Emrentz eine von den kandierten Früchten und drückte den Stengel in ihres Alten große Sommersprossenhand. Der aber nickte ihr zärtlich zu, denn er nahm es für Liebe.
Während dieses Gesprächs hatte sich der Saal auf allen Plätzen gefüllt. Viele standen bis nach dem Ausgang zu, vor den Zernitzens aber saß der alte Peter Guntz, der schon zum vierten Male Burgemeister war und den sie um seiner Klugheit und Treue willen immer wieder wählten, trotzdem er schon an die achtzig zählte. »Das ist ja Grete Minde«, sagte er, als er des Kindes ansichtig wurde. »Sei brav, Gret.« Und dabei sah er sie mit seinen kleinen und tiefliegenden Augen freundlich an.
Und nun wurd es still, denn auf dem Rathausturme schlug es sieben, und die Gardine, die bis dahin den Bühnenraum verdeckt hatte, wurde langsam zurückgezogen. Alles erschien anfänglich in grauer Dämmerung, als sich aber das Auge an das Halbdunkel gewöhnt hatte, ließ sich die Herrichtung der Bühne deutlich erkennen. Sie war, der Breite nach, dreigeteilt, wobei sich der treppenförmige Mittelraum etwas größer erwies als die beiden Seitenräume, von denen der eine, mit der schmalen Tür, den Himmel und der andre, mit der breiten Tür, die Hölle darstellte. Engel und Teufel standen oder hockten umher, jeder auf der ihm zuständigen Seite, während eine hagere Puppe, mit weißem Rock und trichterförmiger Filzmütze, die dem lebendigen Hanswurst des Vormittagsrittes genau nachgebildet schien, zu Füßen der großen Mitteltreppe saß, deren Stufen zu Christus und Maria hinaufführten. Was nur der Hagere hier sollte? Grete fragte sich's und wußte keine Antwort; allen anderen aber war kein Zweifel, zu welchem Zweck er da war und daß ihm oblag, Schergendienste zu tun und die Sonderung in Gut' und Böse, nach einer ihm werdenden Ordre, oder vielleicht auch nach eigenem souveränem Ermessen, durchzuführen. Und jetzt erhob sich Christus von seinem Thronsessel und gab mit der Rechten das Zeichen, daß das Gericht zu beginnen habe. Ein Donnerschlag begleitete die Bewegung seiner Hand, und die Erde tat sich auf, aus der nun, erst langsam und ängstlich, dann aber rasch und ungeduldig, allerhand Gestalten ans Licht drängten, die sich, irgendeinem berühmten Totentanz entnommen, unschwer als Papst und Kaiser, als Mönch und Ritter und viel andere noch erkennen ließen. Ihr Hasten und Drängen entsprach aber nicht dem Willen des Weltenrichters, und auf seinen Wink eilte jetzt der sonderbare Scherge herbei, drückte die Toten wieder zurück und schloß den Grabdeckel, auf den er sich nun selber gravitätisch setzte.
Nur zwei waren außerhalb geblieben, ein wohlbeleibter Abt mit einem roten Kreuz auf der Brust und ein junges Mädchen, ein halbes Kind noch, in langem weißem Kleid und mit Blumen im Haar, von denen einzelne Blätter bei jeder Bewegung niederfielen. Grete starrte hin; ihr war, als würde sie selbst vor Gottes Thron gerufen, und ihr Herz schlug und ihre zarte Gestalt zitterte. Was wurd aus dem Kind? Aber ihre bange Frage mußte sich noch gedulden, denn der Abt hatte den Vortritt, und Christus, in einem Ton, in dem unverkennbar etwas von Scherz und Laune mitklang, sagte:
»Mönchlein, schau hin, du hast keine Wahl,
Die schmale Pforte, dir ist sie zu schmal.«
Und im selben Augenblick ergriff ihn der Scherge und stieß ihn durch das breite Tor nach links hin, wo kleine Flammen von Zeit zu Zeit aus dem Boden aufschlugen.
Und nun stand das Kind vor Christi Thron. Maria aber wandte sich bittend an ihren Sohn und Heiland und sprach an seiner Statt:
»Dein Tag war kurz, dein Herze war rein,
Dafür ist der Himmel dein.
Geh ein!
Unter Engeln sollst du ein Engel sein.«
Und Engel umfingen sie, und es war ein Klingen wie von Harfen und leisem Gesang. Und Grete drückte Valtins Hand. Unter allen Anwesenden aber herrschte die gleiche Befriedigung, und der alte Zernitz flüsterte: »Hör, Emrentz, der versteht's. Ich glaube jetzt, daß er vor Kaiser und Reich gespielt hat.«
Und das Spiel nahm seinen Fortgang.
Inzwischen, es hatte zu dunkeln begonnen, waren die Mindes in dem rechts neben der Flurtür gelegenen Unterzimmer versammelt und nahmen an einem Tische, der nur zur Hälfte gedeckt war, ihre Abendmahlzeit ein. Der alte Jacob Minde hatte den Platz an der einen Schmalseite des Tisches, während Trud und Gerdt, seine Schwieger und sein Sohn, an den Längsseiten einander gegenübersaßen, Trud steif und aufrecht, Gerdt bequem und nachlässig in Kleidung und Haltung. In allem der Gegenpart seines Weibes; auch seines Vaters, der trotz eines Zehrfiebers, an dem er litt, aus einem starken Gefühle dessen, was sich für ihn zieme, die Schwäche seines Körpers und seiner Jahre bezwang.
Es schien, daß Trud ihre schon vormittags gegen Emrentz gemachten Bemerkungen über das Puppenspiel eben wiederholt hatte, denn Jacob Minde, während er einzelne von den großen Himbeeren nahm, die, wie er es liebte, mit den Stielchen abgepflückt worden waren, sagte: »Du bist zu streng, Trud, und du bist es, weil du nur unser tangermündisch Tun und Lassen kennst. Und in Alt-Gardelegen ist es nicht anders. Aber draußen in der Welt, in den großen Ländern und Städten, da wagt sich die Kunst an alles Höchste und Heiligste, und sie haben fromme und berühmte Meister, die nie andres gedacht und gedichtet und gemalt und gemeißelt haben als die Glorie des Himmels und die Schrecknisse der Hölle.«
»Ich weiß davon, Vater«, sagte Trud ablehnend. »Ich habe solche Bilder in unsrer Gardelegner Kirche gesehn, aber ein Bild ist etwas andres als eine Puppe.«
»Bild oder Puppe«, lächelte der Alte. »Sie wollen dasselbe, und das macht sie gleich.«
»Und doch, Vater, mein ich, ist ein Unterschied, ob ein frommer und berühmter Meister, wie du sagst, eine Schilderei malt zur Ehre Gottes oder ob ein unchristlicher Mann, mit einem Türkenweib und einem Pickelhering, Gewinnes halber über Land zieht und mit seinem Spiel die Schenken füllt und die Kirchen leert.«
»Ah, kommt es daher?« lachte Gerdt und streckte sich noch bequemer in seinem Stuhl. » Daher also. Warst heut in der Pfarr, und da haben wir nun den Pfarrwind. Ja, das ist Gigas: er bangt um sich und seine Kanzel. Und nun gar das Jüngste Gericht! Das ist ja sein eigener Acker, den er am besten selber pflügt. So wenigstens glaubt er. Weiß es Gott, ich hab ihn nie sprechen hören, auch nicht bei Hochzeit und Kindelbier, ohne daß ein höllisch Feuer aus irgendeinem Ritz oder Ritzchen aufgeschlagen wär. Und nun kommt dieser Puppenspieler und tut's ihm zuvor und brennt uns ein wirklich Feuerwerk...«
Er konnte seinen Satz nicht enden, denn in eben diesem Augenblicke hörten sie, vom Marktplatze her, einen dumpfen Knall, der so heftig war, daß alles Gerät im Zimmer in ein Klirren und Zittern kam; und eh sie noch einander fragen konnten, was es sei, wiederholten sich die Schläge, dreimal, viermal, aber schwächer. Trud erhob sich, um auf die Straße zu sehn, und ein dicker Qualm, der sich in Höhe der gegenübergelegenen Häuser hinzog, ließ keinen Zweifel, daß bei den Puppenspielern ein Unglück geschehen sein müsse. Flüchtig Vorübereilende bestätigten es, und Trud, indem sie sich ins Zimmer zurückwandte, sagte triumphierend: »Ich wußt es: Gott läßt sich nicht spotten.« Auf Gerdts blassem und gedunsenem Gesicht aber wechselten Furcht und Verlegenheit, wodurch es nicht gewann, während der alte Minde sein Käppsel abnahm und mit halblauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes und den Beistand aller Heiligen anrief. Denn er war noch aus den katholischen Zeiten her. In einem Anfluge von Teilnahme war Trud, die sonst gern ihre herbe Seite herauskehrte, an den Alten herangetreten und hatte ihre Hand auf die Rückenlehne seines Stuhls gelegt, als sie aber den Namen Gretens zum dritten Mal aus seinem Munde hörte, wandte sie sich wieder ab und schritt unruhig und übellaunig im Zimmer auf und nieder. Man sah, daß sie fremd in diesem Hause war und keine Gemeinschaft mit den Mindes hatte.
Sie war eben wieder ans Fenster getreten und sah nach dem Marktplatze hin, als sie plötzlich, inmitten einer Gruppe, Greten selbst erkannte, die, mit einem Stücke Zeug unter dem Kopf, auf einer Bahre herangetragen wurde. War sie tot? Es war oft ihr Wunsch gewesen; aber dieser Anblick erschütterte sie doch. »Gott, Grete!« rief sie und sank in einen Stuhl.
Die Träger hatten mittlerweile die Bahre niedergesetzt und trugen das schöne Kind, dessen Arme schlaff herabhingen, von der Straße her ins Zimmer. »Hier«, sagte Gerdt, als er die Leute verlegen und unschlüssig dastehen sah, und wies auf eine mit Kissen überdeckte Truhe. Und auf eben diese legten sie jetzt die scheinbar Leblose nieder. Mit ihnen war auch die alte Regine, die Pflegerin Gretens, jammernd und weinend eingetreten und beruhigte sich erst, als nach Besprengen mit frischem Wasser ihr Liebling die Augen wieder aufschlug.
»Wo bin ich?« fragte Grete. »Ach... nicht in der Hölle!«
»Gott, mein süß Gretel«, zitterte Regine hin und her. »Was sprichst du nur? Du bist ja ein gutes und liebes Kind. Und ein gutes und liebes Kind, das kommt in den Himmel. Aber das ist auch noch nicht, noch lange nicht. Du kommst auch noch nicht in den Himmel. Du bist noch bei uns. Gott sei Dank, Gott sei Dank. So sieh doch, sieh doch, ich bin ja deine alte Regine.«
Die Träger standen noch immer verlegen da, bis der alte Minde sie bat, ihm zu erzählen, was vorgefallen sei. Aber sie wußten nicht viel, da sie wegen des großen Andrangs nur draußen auf der Treppe gewesen waren. Sie hatten nur gehört, daß, gegen den Schluß hin, ein brennender Papierpfropfen in das mit Schwärmern und Feuerrädern angefüllte Vorratsfaß des Puppenspielers gefallen sei und daß es im selben Augenblick einen Schlag und gleich darauf ein furchtbar Menschengedränge gegeben habe. In dem Gedräng aber seien zwei Frauen und ein sechsjährig Kind elendiglich ums Leben gekommen.
Grete richtete sich auf, ersichtlich um zu sprechen und den Bericht nach ihrem eigenen Erlebnis zu vervollständigen; als sie aber ihrer Schwieger ansichtig wurde, wandte sie sich ab und sagte: »Nein, ich mag nicht.«
Trud wußte wohl, was es war. Sie nahm deshalb ihres Mannes Hand und sagte: »Komm. Es ist besser, Grete bleibt allein. Wir wollen in die Stadt gehen und sehen, wo Hülfe not tut.« Und damit gingen beide.
Als sie fort waren, wandte sich Grete wieder und sagte, ohne daß es einer neuen Aufforderung bedurft hätte: »Ja, so war es. Der Hagre, mit den Schlackerbeinen und der häßlichen, spitzen Filzmütze, bat ihn eben, daß er ihm als einen Bringerlohn eine von den Seelen wieder freigeben solle – da gab es einen Knall, und als ich mich umsah, sah ich, daß alles nach der Türe hindrängte. Denn da, wo das Spiel gewesen war, war alles Rauch und Qualm und Feuer. Und ich dachte, der Letzte Tag sei da. Und Emrentz hatte mich bei der Hand genommen und zog mich mit sich fort. Aber mit einem Male war ich von ihr los, und da stand ich nun und schrie, denn es war, als ob sie mich erdrückten, und zuletzt hatt ich nicht Luft und Atem mehr. Da packte mich Valtin von hinten her und riß mich aus dem Gedränge heraus und in den Saal zurück. Und ich meinte, daß er irre geworden, und so wollt ich wieder in den Knäuel hinein. Er aber zwang mich auf eine Bank nieder und hielt mich mit beiden Händen fest. ›Willst du mich morden?‹ rief ich. ›Nein, retten will ich dich.‹ Und so hielt er mich, bis er sehen mochte, daß das Gedränge nachließ. Und nun erst nahm er mich auf seinen Arm und trug mich über den Vorplatz und die Treppe hinunter, bis wir unten auf dem Marktplatz waren. Da schwanden mir die Sinne. Und was weiter geschehen, weiß ich nicht. Aber das weiß ich, daß ich ohne Valtin erdrückt oder verbrannt oder vor Angst gestorben wäre.«
Der alte Minde war an einen Schrank getreten, um von seinem Melissengeist, den er noch bei den Brügger Karmeliterinnen erstanden hatte, ein paar Tropfen in ein Spitzglas mit Wein und Wasser zu tun. Grete nahm es; und als eine halbe Stunde später Trud und Gerdt von ihrem Ausgange zurückkehrten, versicherte sie, kräftig genug zu sein, um ohne Beistand in ihre hohe Giebelstube hinaufsteigen zu können.
Viertes Kapitel
Regine
Diese Giebelstube teilte sie mit der alten Regine, die von lange her das Mindesche Hauswesen führte. Freilich, seit Trud da war, war es anders geworden, aber zu niemandes rechter Zufriedenheit. Am wenigsten zur Zufriedenheit der alten Regine. Diese setzte sich jetzt an das Bett ihres Lieblings, und Grete sagte: »Weißt du, Regine, Trud ist böse mit mir.«
Regine nickte.
»Und darum konnt ich's nicht sagen«, fuhr Grete fort, »ich meine das von dem Valtin, und daß er mich aus dem Feuer herausgetragen; und sie merkte wohl, was es war und warum ich schwieg und mich abwandte. Denke nur, ich soll nicht mehr sprechen mit ihm. Ja, so will sie's; ich weiß es von ihm selbst; er hat mir's heute gesagt. Und er hat es von der Emrentz. Aber die hat gelacht. Höre, Regine, der Emrentz könnt ich gut sein. Wenn ich doch eine Mutter hätte wie die ! Ach, meine Mutter! Glaubst du nicht, daß sie mich liebhätte?«
»Das hätte sie«, sagte Regine und fuhr sich mit der Hand über das Auge; »das hätte sie. Jede Mutter hat ihr Kind lieb, und deine Mutter... ach, ich mag es gar nicht denken. Ja, mein Gretelchen, da hätten wir andre Tage, du und ich. Und der Vater auch. Er ist jetzt krank, und Trud ist hart mit ihm und glaubt es nicht. Aber ich weiß es und weiß schon, was ihm fehlt: ein Herz fehlt ihm, und das ist es, was an ihm nagt und zehrt. Ja, deine Mutter fehlt ihm, Gret. Er war nicht mehr jung, als er sie von Brügg' her ins Haus bracht, aber er liebte sie so, und das mußt er auch, denn sie war wie ein Engel. Ja, so war sie.«
»Und wie sah sie aus? Sage mir' s.«
»Ach, du weißt es ja. Wie du. Nur hübscher, so hübsch du bist. Denn es ist, als ob du das blasse Bild von ihr wärst. Und so war es gleich den ersten Tag, als dein Vater dich auf den Arm nahm und sagte: ›Sieh, Gerdt, das ist deine Schwester.‹ Aber er wollte dich nicht sehn. Und als ich ihm zuredete und sagte: ›Sieh doch nur ihre schwarzen Augen; die hat sie von der Mutter‹, da lief er fort und sagte: ›Von ihrer Mutter. Aber das ist nicht meine.‹«
»Und wie war denn seine Mutter? Hast du sie noch gekannt?«
»O gewiß.«
»Und war sie schöner?«
»Ach, was du nur frägst, Gretel. Schöner als deine Mutter? Schöner war keine. 's war eine Stendalsche, weiter nichts, und der alte Zernitz, der sie nicht leiden konnt und immer über sie lachte, wiewohlen sie mit seiner eignen Frau zum Verwechseln war, der sagte: ›Höre, Regine, sieht sie nicht aus wie der Stendalsche Roland?‹ Und wahrhaftig, so sah sie auch aus, so steif und so lang und so feierlich. Und auch so schlohweiß, denn sie trug immer selbstgebleichtes Linnen! Und warum trug sie's? Weil sie geizig war; und es sollt immer mehr und mehr werden. Denn sie war eines reichen Brauherrn Tochter, und alles Geld, das wir haben, das kommt von ihr.«
»Und hatte sie der Vater auch lieb?«
»Ich hab ihm nicht ins Herz gesehen. Aber ich glaub's nicht recht. Denn sieh, sie hatte keine Liebe, und wer keine Liebe hat, der findt auch keine. Das ist so Lauf der Welt, und es war just so, wie's mit der Trud ist. Aber ein Unterschied ist doch. Denn unsre Trud, obwohlen sie mir das gebrannte Herzeleid antut, ist doch hübsch und klug und weiß, was sie will, und paßt ins Haus und hat eine vornehme Art. Das haben so die Gardelegenschen. Aber die Stendalsche, die hatt es nicht und hat keinem was gegönnt und paßte nicht ins Haus, und wäre nicht der Grabstein mit der langen Inschrift, es wüßte keiner mehr von ihr. Auch Gigas nicht. Und zu dem hielt sie sich doch und ging in die Beichte.«
»Und zu dem soll ich nun auch gehen, Regine: morgen schon. Trud ist bei ihm gewesen, und das Spielen und Klettern soll nun ein End haben, und ich soll vernünftig werden, so sagen sie. Aber ich fürchte mich vor Gigas. Er sieht einen so durch und durch, und mir ist immer, als mein er, ich verstecke was in meinem Herzen und sei noch katholisch von der Mutter her.«
»Oh, nicht doch, Gret. Er hat dich ja selber getauft. Und jeden Sonntag bist du zur Kirch und singst Doktor Lutheri Lieder, und singst sie, wie sie Gigas nicht singen kann. Ich hör immer deine feine kleine Stimme. Nein, nein, laß nur und ängst'ge dich nicht. Er meint es gut. Und nun schlaf, und wenn du von dem Puppenspiele träumst, so gib acht, mein Gretel, und träume von der Seite, wo die Engel stehn.«
Und damit wollte sie nebenan in ihre Kammer gehen. Aber sie kehrte noch einmal um und sagte: »Und weißt du, Grete, der Valtin ist doch ein guter Jung. Alle Zernitzens sind gut... Und von dem Valtin darfst du auch träumen. Ich erlaub es dir, ich, deine alte Regine.«
Fünftes Kapitel
Grete bei Gigas
Es war den andern Vormittag, und von Sankt Stephan schlug es eben zehn, als Trud und Grete die Lange Straße hinaufgingen. Trotz früher Stunde brannte die Sonne schon, und beide standen unwillkürlich still und atmeten auf, als sie den schattigen Lindengang erreicht hatten, der, an der niedrigen Kirchhofsmauer entlang, auf das Predigerhaus zulief. Auch dieses Haus selber lag noch unter alten Linden versteckt, in denen jetzt viele Hunderte von Sperlingen zwitscherten. Eine alte Magd, als die Glocke das Zeichen gegeben, kam ihnen von Hof oder Küche her entgegen und wies, ohne gegrüßt oder gefragt zu haben, nach links hin auf die Studierstube. Wußte sie doch, daß Frau Trud immer willkommen war.
Es war ein sehr geräumiges Zimmer, mit drei großen und hohen Fenstern, ohne Vorhänge, wahrscheinlich um das wenige Licht, das die Bäume zuließen, nicht noch mehr zu verkümmern. An den Wänden hin liefen hohe Regale mit hundert Bänden in braun und weißem Leder, während an einem vorspringenden Pfeiler, gerade der Tür gegenüber, ein halblebensgroßes Kruzifix hing, das auf einen langen, eichenen Arbeitstisch herniedersah. Auf diesem Tische, zwischen aufgeschlagenen Büchern und zahlreichen Aktenstößen, aber bis an die Kruzifix Wand zurückgeschoben, erhob sich ein zierliches, fünfstufiges Ebenholztreppchen, das, in beabsichtigtem oder zufälligem Gegensatz, oben einen Totenkopf und unten um seinen Sockel her einen Kranz von roten und weißen Rosen trug. Eigene Zucht. Zehn oder zwölf, die das Zimmer mit ihrem Dufte füllten.
Gigas, als er die Tür gehen hörte, wandte sich auf seinem Drehschemel und erhob sich, sobald er Trud erkannte. »Ich bitt Euch, Platz zu nehmen, Frau Minde.« Dabei schob er ihr einen Stuhl zu und fuhr in seiner Rede fort: »Das ist also Grete, von der Ihr mir erzählt habt, Eure Schwieger und Euer Kind. Denn Ihr tragt es auf dem Herzen, und sein Wohl und Weh ist auch das Eure. Und das schätz ich an Euch, Frau Minde. Denn der Teufel mit seinen Listen geht immer um, am meisten aber bei der Jugend, und von ihr gilt es doppelt: ›Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet.‹ Betest du, Grete?«
»Ja, Herr.«
»Oft?«
»Jeden Abend.«
Er sah, daß Grete zitterte und immer auf Trud blickte, aber nicht um Rat und Trostes willen, sondern aus Scham und Scheu. Und Gigas, der nicht nur das menschliche Herz kannte, sondern sich aus erbitterten Glaubenskämpfen her auch einen Schatz echter Liebe gerettet hatte, wandte sich jetzt an Trud und sagte: »Ich spräche gern allein mit dem Kind. So's Euch gefällt, Frau Minde, wartet auf mich in Hof oder Garten. Ihr wißt den Weg.«
Und damit erhob sich Trud und verließ das Zimmer. Grete folgte mit dem Ohr und wurd erst ruhiger, als sie die schwere Hoftür in den Rollen gehn und wieder zuschlagen hörte.
Auch Gigas hatte gewartet. Nun aber fuhr er fort: »Also jeden Abend betest du, Grete. Das hör ich gern. Aber was betest du?«
»Ich bete die sieben Bitten.«
»Das ist gut. Aber was betest du noch?«
»Ich bet auch einen Spruch, den mich unsre alte Regine gelehrt hat.«
»Das ist die Magd, die dich großgezogen, eh deine Schwieger ins Haus kam?«
»Ja, Herr.«
»Und wie lautet der Spruch? Ich möcht ihn wohl hören. Denn sieh, Grete, das mußt du wissen, ein für allemal, so wie wir beten, so sind wir. Es ist schon ein Zeichen, wie der Mensch zum Menschen spricht, aber wie der Mensch zu Gott spricht, das entscheidet über ihn. Da liegt es, gut oder böse. Willst du mir den Spruch sagen? Du mußt dich nicht fürchten vor mir. Sammle dich und besinne dich. Sieh, ich will dir auch eine Rose schenken. Da. Und wie gut sie dir kleidet. Du gleichest deiner Mutter, aber nicht in allem, denk ich. Denn du weißt doch, daß sie sich zu dem alten Glauben hielt. Und sie mied mich, wenn ich in euer Haus kam. Aber ich habe für sie gebetet. Und nun sage mir deinen Spruch.«
»Ich glaube, Herr, es ist ein Lied.«
»Auch das ist gut. Spruch oder Lied. Aber beginne.«
Und nun faltete Grete die Hände und sagte, während sie zu dem Alten aufsah:
»Himmelwärts
Richte, Gott, mein sündig Herz,
Laß der Kranken und der Armen
Mich in ihrer Not erbarmen;
Was ich irdisch gebe hin,
Ist mir himmlischer Gewinn.«
Gigas lächelte. Die Lieblichkeit des Kindes ließ das Feuer, das sonst wohl auf seiner Stirne hoch aufgeschlagen hätte, nicht übermächtig werden, und er sagte nur: »Nein, Grete, das macht es nicht: darin erkenn ich noch die Torheit von den guten Werken. Lernen wir lieber einen andern Spruch. Denn sieh, unsre guten Werke sind nichts und bedeuten nichts, weil all unser Tuen sündig ist von Anfang an. Wir haben nichts als den Glauben, und nur eines ist, das sühnet und Wert hat: der Gekreuzigte.«
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- Theodor Fontane (Author), 2009, Grete Minde - Nach einer altmärkischen Chronik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121411
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