Die vorliegende Diplomarbeit befasst sich mit den philosophisch-anthropologischen Konzeptionen von Friedrich Nietzsche und Albert Camus. Um diese besser darstellen zu können, werden sie im Kontext weiterer Thesen der nietzscheanischen und camusschen Philosophie betrachtet und diskutiert.
Das Ziel der Arbeit ist, die philosophischen Entwürfe zu erläutern und Analogien bzw. Unterschiede der beiden Denker zu zeigen und herauszustellen. Aus diesem Grund wurde ebenso auf biographisches Material wert gelegt. Dieses vervollständigt die Thematik dieser Diplomarbeit.
Inhalt
Einführung
Vorwort
Einleitung
I. Lebensgeschichten zweier „Freigeister“
1) Der Jünger des Dionysos: Friedrich Nietzsche.
2) Auf Prometheus´ Spuren: Albert Camus
II. In einer Welt ohne Sinn und ohne Gott: Philosophische Erläuterungen
1) Friedrich Nietzsche: Gottes Tod oder Die Versuchung durch das Nichts
2) Das Absurde und die schweigende Welt in Camus´ Philosophie.
III. Über das Menschsein: Anthropologische Konzeptionen und Ideale
1) Nietzsche: Vom „freien Geist“ zum „Übermenschen“.
1a) Über den Mut zur intellektuellen Redlichkeit
1b) Der Mensch als Glied zwischen Tier und Übermensch
2) Camus: Sisyphos und Prometheus – Zwei Helden
2a) Sisyphos` Lächeln oder Der Mensch im Angesicht des Absurden
2b) Die Darstellung des „absurden Menschen“ als philosophisches Projekt
2c) Prometheus´ Erben: Über Verantwortung und Solidarität
IV. Nietzsche und Camus: Analogien und Missverständnisse
1) Analogien und Gemeinsamkeiten im Denken von Nietzsche und Camus
2) Missverständnisse, Fehldeutungen und Interpretationen von Nietzsches und Camus´ Denken.
Anhang
Nachwort
Bibliographie.
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
Wie entsteht eine schriftliche Arbeit?
Jedes Schaffen braucht eine Inspiration. Diese habe ich in den Schriften von Friedrich Nietzsche und Albert Camus gefunden. Der Inspiration folgte bald die Idee einer Symbiose der Konzeptionen beider Philosophen, welche sich auf den Bereich der philosophischen Anthropologie beschränken sollte, also den Raum, der Nietzsche und Camus für mich derart interessant machte. Aus der intensiven Beschäftigung mit den philosophischen Werken und Biographien erwuchs nicht nur die Ambition, eine Diplomarbeit mit dieser Thematik zu schaffen, sondern auch der Wunsch, sich, zu den diskutierten Themen, künstlerisch zu äußern. Dieser fand seinen Ausdruck im Drama Caligula liebt dich, welches im Mai 2006 seine Uraufführung in Graz erlebte.
Jede schriftliche Arbeit vervollkommnet sich durch Rat und Dialog. An dieser Stelle halte ich es für notwendig, mich bei den Menschen zu bedanken, die mich bei meiner Arbeit, in vielfältigster Weise, unterstützt haben.
Zum einen möchte ich Prof. Dr. Kurt Salamun für seine Ratschläge und sein Bemühen danken, die wesentlich zur Gestaltung der Diplomarbeit beigetragen haben. Sein Engagement hat mich sehr ermutigt; seine Vorschläge haben die Arbeit bereichert.
Zum anderen gilt mein Dank den Personen, die mich in zahlreichen (nächtlichen) Diskussionen zu (neuen) Ansätzen inspiriert und motiviert haben. Hier sind vornehmlich Michaela Krucsay und Werner Mandlberger zu nennen, die unermüdlich meinen philosophischen „Geist“ gefordert haben.
Schlussendlich möchte ich mich bei meiner Familie bedanken, vor allem bei meinen Eltern Barbara und Franz Hirn, die meine philosophischen Bemühungen durch ihren Enthusiasmus seit jeher gefördert haben. Sie haben mich Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen gelehrt.
Jede schriftliche Arbeit verfolgt (mindestens) ein Ziel. Meines war es, den Leser die anthropologischen Konzeptionen und außergewöhnlichen Ideen von Nietzsche und Camus darzulegen und zu erläutern, sowie Einblicke in das Leben der beiden Philosophen zu geben und das Interesse und die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken. Ich habe mein Bestes getan, um meine (eigenen) Erwartungen zu erfüllen.
Jedes schriftliche Schaffen setzt ein Denkmal, bewahrt vor dem Vergessen. Meines ist meinem, vor kurzer Zeit verstorbenen, Urgroßvater Alois Pinter und meinem Großvater Franz Hirn gewidmet – zwei außergewöhnlichen Menschen. Die Zeit, die ich mit ihnen verbringen durfte, hat mich sehr geprägt.
Einleitung
Um eine bessere Einsicht in die, für die Arbeit ausgewählte Thematik zu bieten, ist die vorliegende Diplomarbeit in vier Teile strukturiert, welche die thematische Fülle zu bändigen versuchen. Zur Einleitung wird hier ein kurzer Überblick über die einzelnen Kapitel präsentiert:
Der erste Abschnitt, Lebensgeschichten zweier „Freigeister“, beschäftigt sich mit der Biographie von Friedrich Nietzsche und mit der von Albert Camus. Durch ihn bekommt der Rezipient eine Zusammenfassung des Lebens und Wirkens der Philosophen, sowie auch Informationen über ihre Werke. Der Leser begibt sich quasi auf Spurensuche in die Vergangenheit.
Der zweite Teil behandelt unter dem Titel In einer Welt ohne Sinn und ohne Gott: Philosophische Erläuterungen Themen wie Nihilismus und Atheismus in den Werken von Nietzsche und Camus. Das Ziel dieses Kapitels ist die Klärung dieser Begriffe und Definitionen, aber auch deren Verarbeitung in der nietzscheanischen und camusschen Philosophie stehen im Vordergrund. Dieser Abschnitt bildet die Basis für das Verständnis der nachfolgenden Teile.
Der dritte Abschnitt, Über das Menschsein: Anthropologische Konzeptionen und Ideale, widmet sich den philosophisch-anthropologischen Konzeptionen und versucht sich in einer adäquaten Darstellung derselben. Hier geht es darum, einen ersten Ein- und Überblick zu bekommen und sich sowohl der Ausgangsposition der Philosophen als auch ihrer, im Laufe der Zeit entwickelten, Innovationen bewusst zu werden.
Der vierte Teil, Nietzsche und Camus: Analogien und Missverständnisse, setzt sich mit den Konsequenzen, Nachwirkungen und Interpretationen des nietzscheanischen und camusschen Denken auseinander. Es setzt sich mit den Gründen auseinander, die zu schwerwiegenden und katastrophalen Fehldeutungen geführt haben.
Ein weiteres Ziel dieses Kapitels ist es Analogien und Gemeinsamkeiten, aber auch Gegensätze der beiden Denker herauszustellen, sie in Bezug auf deren Intentionen zu betrachten und zu untersuchen.
In dieser Hinsicht sind der historische Kontext und die Lebenswelt der Denker für dieses Kapitel ebenso bedeutsam.
Es erscheint sinnvoll, die Reihenfolge der einzelnen Abschnitte während des Lesens einzuhalten, damit ein adäquater Gesamteindruck der philosophischen Konzeptionen beider Philosophen und der vorliegenden Diplomarbeit erhalten werden kann.
An dieser Stelle sind noch einige Anmerkungen hinzuzufügen, die bedeutsam für die Lektüre der nachstehenden Arbeit sind:
1) Nicht nur die Lektüre der Primärliteratur war zur Erstellung dieser Diplomarbeit von größter Wichtigkeit, sondern auch die Sekundärschriften einiger Experten Nietzsches und Camus´, sowie die Werke einiger Schriftsteller und Denker, die, bewiesenermaßen, eine Inspiration für die nietzscheanische und camussche Philosophie waren. In der nachstehenden Bibliographie sind folglich nicht nur philosophische Abhandlungen zu finden, sondern ebenso Romanliteratur.
2) Zur besseren Herausarbeitung der nietzscheanischen Konzeptionen habe ich neben der Gesamtausgabe Nietzsche-Werke, die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegeben wurde, einige handlichere und übersichtlichere Ausgaben seiner Werke verwendet, die im Philipp Reclam Verlag jun. erschienen sind. Diese sind selbstverständlich in der Bibliographie am Ende dieser Arbeit angeführt.
3) Die Schrift Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, die erst von Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche nach seinem Tod veröffentlicht wurde, ist äußerst umstritten:
Einerseits, weil diese nach dem Ermessen Elisabeth Förster-Nietzsches aus verschiedenen Schriftstücken des bereits verstorbenen Philosophen zusammengefügt wurde, also nicht ihre Ordnung durch ihn selbst erhielt.
Zweitens, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass gerade diese Auswahl und Anordnung der philosophischen Fragmente Nietzsches interessensgeleitet gewesen ist. Es ist bekannt, dass Elisabeth Förster-Nietzsche, ebenso wie ihr Mann, ein Anhänger des Antisemitismus war und daran arbeitete, Nietzsche als nationalsozialistischen Vordenker zu präsentieren – ein fatales Missverständnis, wie sich (auch im Verlauf dieser Diplomarbeit) herausstellen wird. Aufgrund der Umstrittenheit des Werkes Der Wille zur Macht werden sich hier (absichtlich) keine Zitate aus dieser Schrift finden. Es ist allerdings in der Bibliographie, die im Anhang zu finden ist, verzeichnet.
I. Lebensgeschichten zweier „Freigeister“
1) Der Jünger des Dionysos: Friedrich Wilhelm Nietzsche
„[104] >>- und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer anderen Liebe werde ich euch dann lieben<<.“[1]
Zarathustra, Von der schenkenden Tugend (I. p. 97-98)
Wir befinden uns im Jahre 1844 inmitten des kleinen Dorfes Röcken, genauer gesagt im von der Kirche überschatteten Pfarrhaus, in dem am 15. Oktober Friedrich Wilhelm Nietzsche als Sohn des protestantischen Pastors Carl Ludwig Nietzsche und dessen Frau Franziska Nietzsche (vormals Oehler) das Licht der Welt erblickt. Noch ahnt keiner welch herausragende Wirkung der Pastorensohn für das Geistesleben der folgenden Jahrzehnte haben wird, wie visionär und radikal er seiner Zeit gegenübertreten wird und – wie sehr er in Misskredit gebracht werden wird.
Nietzsche bleibt nicht das einzige Kind des Paares, eine Schwester, Elisabeth Nietzsche, folgt 1846. Man sollte nun meinen, dass der kleine Friedrich in einer familiären Idylle aufwächst, in der Religion, Fleiß und Musikalität gelebt werden. Nun passiert der Familie ein Schicksalsschlag, den vor allem Nietzsche zeitlebens nicht verwinden wird: Carl Ludwig Nietzsche erliegt 1848 einer schweren Gehirnerkrankung. Die junge Witwe zieht darauf mit den beiden Geschwistern, zwei Tanten und der Großmutter väterlicherseits nach Naumburg und ist darauf bedacht, ihre beiden Kinder fromm zu erziehen, ihnen einen gesunden Körper zu bewahren und das alltägliche Leben wieder aufzunehmen. Sie versucht ihren „Fritz“ davor zu bewahren, „´anders als die andern` zu sein, sich ausschließlich dem Lesen, Dichten und der Musik zu widmen.“[2]
1858 beginnt der junge Friedrich seine Ausbildung an der berühmten Landesschule Pforta, Montinari schreibt über diese:
„Die Schule genoß ein hohes Ansehen wegen ihres Erziehungssystems, ihrer einfachen und gesunden Lebensweise – Leibesübungen wurden keineswegs vernachlässigt – und wegen des hohen Niveaus ihrer Lehrer. Die sechs Jahre, die Nietzsche in Pforta verbrachte, waren für seine Bildung entscheidend. Der strenge Tagesablauf, die fast militärische Disziplin, die anspruchsvollen Lehrpläne waren für Nietzsche eine heilsame Erfahrung, [...].“[3]
Hier kann sich der junge Nietzsche dichterisch, „philosophisch“ und musikalisch entfalten, er komponiert und übt sich im Klavierspiel. Er beginnt sich auch für die griechische Kultur zu interessieren – eine Begeisterung, die er wenig später in seiner Philosophie zum Ausdruck bringen wird. Zusammen mit seinen Freunden eifert er nun musikalisch und dichterisch um die Wette, immer mit dem Ziel, sich selbst zu übertreffen, sich selbst zu überwinden. 1862 entstehen im Zuge dieses Wettbewerbes zwei philosophische Abhandlungen: Fatum und Geschichte sowie Willensfreiheit und Fatum. Kurz bevor Nietzsche Schulpforta im Jahr 1864 verlässt und sein Studium aufnimmt, entsteht eine Abhandlung mit dem Titel Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung; in ihr schimmern schon „[..] Motive aus der Geburt der Tragödie [...].“[4] Gemeinsam mit seinem Freund Paul Deussen beginnt er im Herbst desselben Jahres sein Studium, Theologie und Philologie, in Bonn, beendet aber enttäuscht seinen Aufenthalt nach bereits zwei Semestern; Nietzsche kann dem studentischen Leben insbesondere dem eintönigen Lebenswandel der studentischen Verbindungen nichts abgewinnen, goutiert hat Nietzsche diesen auf jeden Fall: Schließlich hält sich die These, dass ein in dieser Zeit begangenes sexuelles Abenteuer des jungen Studenten inklusive (angeblicher) syphilitischer Ansteckung wesentlich zu seinem geistigen (und physischen) Verfall in späteren Jahren beigetragen haben soll.
Nach familiären Zerwürfnissen studiert Nietzsche ab 1865 in Leipzig, wo er unter der Obhut des Philologen Friedrich Ritschl steht, welcher nach akademischen Differenzen von Bonn nach Leipzig „emigrierte“ – mit vielen seiner studentischen Anhänger im Schlepptau.
Mittlerweile hat Nietzsche das Studium der Theologie aufgegeben; er kann den frommen Glauben seiner Mutter nicht teilen, zu sehr hat er sich von Gott und Kirche entfernt. In den folgenden vier Semestern verschreibt er sich ganz der Philologie und macht sich mit der Philosophie Schopenhauers vertraut, welche seine künftigen philosophischen Arbeiten sehr beeinflussen wird. In Leipzig lernt er auch Erwin Rohde kennen und schätzen – die beiden Männer werden Freunde. Ihr erhaltener Briefwechsel hat viel zu einer umfassenden Nietzsche-Interpretation beigetragen.
Nach einjährigem Dienst in der reitenden Artillerie in Naumburg kehrt Nietzsche nach Leipzig zurück, wo er sich mit Philosophen wie Demokrit, Platon und Laertius Diogenes beschäftigt. In diesem Umfeld, das heißt als „[...] Gast im Hause Ritschl und bei dem Orientalisten Hermann Brockhaus, der mit einer Schwester Richard Wagners verheiratet [...]“[5] ist, lernt er 1868 Richard Wagner kennen – eine Person, die, wie auch Arthur Schopenhauer, Nietzsche wesentlich prägt. Diese freundschaftliche Beziehung wird einige Jahre danach ihr außerordentliches Konfliktpotential offenbaren.
Im Februar 1869 wird Nietzsche an die Universität Basel berufen; unterstützt durch den Einsatz Ritschls und hinsichtlich seiner 1870 erschienenen Publikation Analecta Laertiana.
„Am 23. März 1869 wurde Nietzsche von der philologischen Fakultät Leipzig aufgrund seiner im Rheinischen Museum veröffentlichen Aufsätze zum Doktor der Philologie ernannt. Am 17. April nahm er die schweizerische Staatsbürgerschaft an und legte die preußische ab.“[6]
Nietzsche unterrichtet an der Universität Basel von 1869 bis 1879. Er sticht hervor durch sein pädagogisches Talent wie auch durch seine Bewunderung für seinen Kollegen Jacob Burckhardt. Seine Lehrtätigkeit ist ereignisreich: 1870/1871 bricht der Deutsch-Französische Krieg aus, der zu einer Einigung Deutschlands unter Bismarck (und Preußen) führt und bei Nietzsche tiefsten Missmut auslöst. Auch der ab 1869 intensivierte Kontakt zum Hause Wagner stimuliert und inspiriert Nietzsche, sowie auch seine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person des Sokrates. All diese (exzessiven) Erfahrungen gipfeln 1872 in dem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik und in den Schriften Unzeitgemäße Betrachtungen (1873-76) – Nietzsches Interesse an der Philosophie steigert sich weiter. Es folgen weitere bekannte Werke wie Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1876-80) und Morgenröthe – Gedanken über die moralischen Vorurteile (1880-81).
Während seiner Universitätstätigkeit verschlechtert sich Nietzsches physischer Zustand stetig, sodass er 1879 den Dienst quittiert, die Universität samt einer bescheidenen Pension verlässt und vorerst zur Rekonvaleszenz in das Oberengadin flüchtet. In den kommenden Jahren wird Nietzsche zum rastlosen Wanderer werden – immer auf dem Weg durch Italien, Schweiz, Deutschland und Frankreich – mit einzelnen ausgewählten Stationen. Eine davon, Sils-Maria in der Schweiz, erkürt sich der „Philosoph“ als Sommerresidenz, wo er fruchtbare Gedanken fassen und entwickeln kann, unter anderem durch intensive Auseinandersetzung mit Spinozas Denken. Unter all diesen günstigen Einflüssen entsteht Die fröhliche Wissenschaft (1881-82) – Nietzsche strebt nach neuem. Inspiriert durch die Krisen und die Enttäuschungen des Jahres 1882, die Nietzsche vor allem im zwischenmenschlichen Bereich ereilen, findet er die Kraft für sein wohl berühmtestes Werk Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883-85), in welchem Nietzsches meist diskutierte philosophische Ansätze zu finden sind, zum einen der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen, zum anderen die folgenschwere Konzeption oder Lehre vom Übermenschen. Der Nietzsche von 1872 hat sich merklich gewandelt:
„Der Nietzsche von Also sprach Zarathustra vollzieht eine Art Flucht nach vorn, er versucht die Werte der bestehenden Gesellschaft umzustürzen, um wieder zu einer rein irdischen Vision des Menschen und des Lebens zu gelangen. Dieser Versuch geschieht in völliger Einsamkeit, er ist ganz und gar individuell.“[7]
Nietzsche entfremdet sich nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seinen Freunden mehr und mehr. 1886 veröffentlicht Nietzsche (auf eigene Kosten) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft und kurz darauf Zur Genealogie der Moral (1887). Ab 1880 beschäftigt Nietzsche ein weiterer problematischer Gedanke, den er als Wille zur Macht tituliert. 1886 fasst er die Idee eines Werkes auf dieser Basis mit dem Titel Der Wille zur Macht. Umwerthung aller Werte. Das Ergebnis seiner Studien sind nummerierte und gegliederte Fragmente, welche unter vier Teile zu subsumieren sind. Eine Veröffentlichung kommt jedoch nicht zustande; diese ermöglicht nach Nietzsches Tod Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester des Philosophen.
1888 werden Götzendämmerung. Wie man mit dem Hammer philosophiert, Der Antichrist und Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, sowie auch Nietzsche contra Wagner vollendet – Nietzsches Gesundheit schwindet unaufhörlich.
Wie viel Friedrich Nietzsche von seinem kommenden Ruhm ahnt, bevor er 1889 in geistige Umnachtung fällt, ist schwer einschätzbar – ebenso wenig wie der Einfluss seiner Gedanken, seiner Philosophie auf das vergangene und die kommenden Jahrhunderte.
Friedrich Wilhelm Nietzsche stirbt am 25. August 1900 in Weimar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abb. 1
Peter Gast, der vor allem in Nietzsches letztem Jahrzehnt ein enger Vertrauter geworden ist und nachträglich mit Elisabeth Förster-Nietzsche das wohl umstrittenste Buch des Philosophen, Der Wille zur Macht, publiziert, hält am 28. August 1900 die Grabrede:
„Und nun, da dein Leib, nach der ungeheuren Odyssee deines Geistes, zur Heimaterde zurückkehrt, rufe ich dir, als dein Schüler und im Namen deiner Freunde, ein heißes „Habe Dank!“ in deine große Vergangenheit nach.
Wie konnten wir deine Freunde sein? Doch nur, indem du uns überschätztest!
Was du als weltbewegender Geist warst, das liegt vor aller Augen, und was du als Mensch des Herzens warst – gewiß verkündet es jeder deiner Gedanken. Denn auf all deinem Denken lag die Weihe der Größe – und alle großen Gedanken kommen, wie Vauvenargues sagt, aus dem Herzen.
Wir aber, die wir das unendliche Glück hatten dir im täglichen Leben nahe sein zu dürfen – wir wissen nur zu gut, daß mit Buch und Schrift sich nicht wiedergeben läßt, was den Zauber gerade deines Wesens ausmachte. Das ist nun für immer dahin.
Was der Blick deines Auges, was dein liebreicher Mund saget – es war voll Schwung und Güte, es war ein Verbergen deiner Majestät. Du wolltest – um an eines deiner zartesten Worte zu erinnern – du wolltest uns Schaum ersparen. Denn dem Reichtum deines Geistes, dem Trieb deines Herzens, anderen Freude zu machen – wer von uns hätte ihm etwas Gleiches entgegensetzen können?
Du warst einer der edelsten, der lautersten Menschen, die je über diese Erde gegangen sind...
Friede deiner Asche! Heilig sei dein Name allen kommenden Geschlechtern!“[8]
2) Auf Prometheus´ Spuren: Albert Camus
„Alles, was das Leben steigert, vermehrt zugleich seine Sinnlosigkeit. Der algerische Sommer hat mich gelehrt, daß eines noch tragischer als das Leiden ist: das Leben eines glücklichen Menschen.“[9]
Albert Camus wird am 7. November 1913 in dem algerischen Dorf Mondovi geboren, westlich von Oran und östlich von Constantine. Er ist der Sohn eines elsässischen Landarbeiters, Lucien Camus, und einer spanischen Magd; der Vater fällt nur ein Jahr nach der Geburt des Sohnes in der Marne-Schlacht (1914). Die Witwe zieht mit dem kleinen Albert und seinem älteren Bruder, sowie mit ihrer Mutter und einem Onkel Camus´ zusammen in eine kleine Wohnung, in ein Armenviertel der Hauptstadt Algier. Albert Camus wächst unter bescheidensten Umständen auf, liebt seine Heimat nichtsdestotrotz schon früh sehr zärtlich –Camus wird der nordafrikanischen Erde, wie auch den Menschen und deren Mentalität lebenslänglich die Treue halten:
„Dennoch glaube ich sagen zu können, daß diese Menschen nicht gegen das Leben gesündigt haben. Denn wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln, als darin, auf ein anderes zu hoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen. Diese Leute haben nicht gemogelt.“[10]
Nach der absolvierten Grundschule begegnet er dem Lehrer Louis Germain, der an der Elementarschule unterrichtet und Camus´ ein Stipendium für das Gymnasium verschafft, welches er 1932 abschließt.
1930 überschattet ein Anfall von Tuberkulose sein junges Leben; Camus´ muss sich Krankheit und Tod stellen und reift durch die schmerzlichen Erfahrungen. „Das Jahr 1930 wurde somit zum Beginn eines von Camus vorsätzlich und bewusst geführten Lebens, zu welchem alle seine Zeitgenossen aufzurufen er bis ans Ende seiner Tage nicht müde werden sollte.“[11]
1932 beginnt Camus das Studium der Philosophie an der Universität Algier auf Anraten Jean Greniers, eines Lehrers und später engen Vertrauten. Kurz darauf heiratet der Student Simone Hie – die Ehe verläuft jedoch äußerst unglücklich, so dass die Trennung kaum ein Jahr später erfolgt.
1934 tritt Camus in die Kommunistische Partei ein – jedoch bleibt seine Mitgliedschaft nur ein kurzes Zwischenspiel. Lieber wendet er sich 1936 der Verfassung seiner Diplomarbeit zu, welche den Titel Die hellenistisch-christlichen Verbindungen in den Werken Plotins und des heiligen Augustin trägt. Seit 1935 wirkt Camus auch mit leidenschaftlichem Eifer am Theater; hier ist es ihm möglich, seine außerordentliche dramatische Begabung zu entfalten. Im Laufe des Jahres gründet er „Das Theater der Arbeit“ (Le Théâtre du Travail), welches vier Jahre bestehen sollte. Die Begeisterung für das Theater, sowohl als Dramatiker und Regisseur als auch als Schauspieler wird ihn sein ganzes Leben begleiten.
1937 wird Camus wieder von der Krankheit geplagt; aufgrund dieser widmet sich Camus vermehrt der literarischen Tätigkeit. Eines der Ergebnisse dieses Schaffens ist L´Envers et l´Etroit (Licht und Schatten), wenig später folgt der Essay Entre Oui et Non (Zwischen Ja und Nein). Im selben Jahr begibt sich Camus auf Wanderschaft. Er verlässt erstmals algerischen Boden – nicht zur Vergnügung, sondern um sich selbst zu „finden“:
„Was Camus auf dieser Reise erfährt, ist mehr und mehr eine vom Menschen abgezogene, erweiterte Weltschau, vergleichbar der, die Nietzsche (mit dem sich Camus ab 1938 ernsthaft auseinandersetzt) angesichts des Engadins erfährt [...].“[12]
1938 verlegt Camus´ Freund Charlot Noces (Hochzeit des Lichts), eine vierteilige „Ode“ an die Erde. Kurz darauf stellt der Dichter sein erstes Drama fertig, Caligula, welches jedoch erst 1945 in Paris seine Uraufführung erlebt und arbeitet für den Alger Républicain, einer sozialistischen Zeitung, in der er, zusammen mit dem Herausgeber Pascal Pia, für menschenwürdigere Umstände kämpft.
Camus ist nicht der weltfremde Dichter und Philosoph. Als der Krieg 1939 ausbricht, meldet er sich zum Kriegsdienst, wird aber, zu seiner Enttäuschung, aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes abgelehnt. 1940 beginnt er für den Paris-Soir in Lyon zu schreiben und schreibt die Erzählung L´Etranger (Der Fremde). 1941 gelingt ihm der Essay Le Mythe de Sisyphe (Der Mythos des Sisyphos), zudem schließt er die Ehe mit Francine Faure und zieht mit ihr (für kurze Zeit) in ihre Geburtsstadt Oran. 1945 wird Camus Vater von Zwillingen, Cathérine und Jean.
1943 schloss sich Albert Camus der Widerstandsgruppe Combat an. Die gleichnamige Zeitschrift unterstützt er bis 1947. Ende 1943 wird er in Paris zum Lektor des Verlages Gallimard bestimmt.
1944 lernt Camus den Existentialisten Jean-Paul Sartre kennen, mit dem er bis 1952 freundschaftlich verkehrt. Erwähnenswert ist auch, dass Sartre Camus´ Der Fremde interpretiert und analysiert und somit wesentlich zu Erfolg und Berühmtheit des Werkes beiträgt. Die unterschiedliche politische Einstellung der beiden Philosophen, offenbart durch das Werk L´Homme Révolté (Der Mensch in der Revolte), wird 1952 zum Bruch der (fruchtbaren) Beziehung führen.
1945 erscheint Briefe an einen deutschen Freund; gerade in diesen vier Briefen beweist sich der Autor als Widerstandskämpfer. Nach Beendigung der Kriegswirren wird das zweite Drama, Le Malentendu (Das Missverständnis) aufgeführt; Erfolg ist diesem keiner beschert.
Camus´ Popularität nimmt weiter zu. Gern nimmt er Einladungen zu Lesungen und Vorträgen in die Vereinigten Staaten an, wo er auf großes Interesse und Begeisterung der Jugend stößt.
1947 erscheint Die Pest, ein Roman, der zu einem Welterfolg werden sollten. Wie in keinem von Camus´ anderen Schriften ist das Leid und der Horror des Jahrhunderts so deutlich ablesbar wie in diesem Roman.
„Leicht zu erraten, welche Erscheinungen seines Zeitalters Camus mit der Pest bildlich darstellen will: die menschenfressenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wie Konzentrations- und Vernichtungslager, technisch perfektionierte Raubzüge einzelner Herostraten, und Kriege.“[13]
Camus hat das Theater nicht vergessen. 1948 erscheint sein Drama L`Etat de Siège (Der Belagerungszustand), 1949 Les Justes (Die Gerechten); im selben Jahr trägt Camus in Südamerika vor.
1949 plagen den Philosophen neue tuberkulöse Anfälle, die ihn zur Ruhe zwingen. Von 1949-51 arbeitet Camus an L´Homme Révolté (Der Mensch in der Revolte), den er 1951 beendet und in welchem „[...] von den ersten Zeilen an wieder die Grundeinstellung Camus´ erkennbar wird, nämlich die der mitmenschlichen Solidarität, die auch der abstrakte Denker-Dichter niemals aufgibt.“[14] Im L´Homme Révolté versucht Camus´ Auswege aus dem nihilistischen Zeitgeist zu finden, an dem das „Abendland“ leidet: Le Mythe des Sisyphe hat Fragen offen gelassen, die Camus nun zu beantworten sucht.
In den kommenden Jahren ist Camus vorwiegend journalistisch und am Theater tätig, erfüllt sich den Traum einer Griechenlandreise; seine Vorliebe zur art de vivre méditerrannée bleibt bis zu seinem Tod sein Ideal.
La Chute (Der Fall) wird 1956 herausgegeben, eines der bedeutendsten Werke seines Schaffens, 1957 L´Exil et le Royaume (Das Exil und das Reich), eine Novellensammlung. Vollkommen überraschend erhält Albert Camus am 17. Oktober 1957 den Nobelpreis für Literatur von der Schwedischen Akademie - zweifellos ein Höhepunkt seines Lebens und die Krönung seines Schaffens. Das Drama Les Possédes (Die Besessenen), basierend auf Dostojewskis Dämonen, stellt Camus 1959 fertig. Der Philosoph, erstmals finanziell abgesichert, kauft sich ein Haus in der Provence und beginnt gleichzeitig mit der Arbeit an Le Premier Homme (Der Erste Mensch) – der Roman bleibt jedoch unvollendet.
Albert Camus kommt am 4. Januar 1960 durch einen Autounfall ums Leben. 1970 wird postum La Mort heureuse (Der glückliche Tod) veröffentlicht; erst 1995 erscheint Le Premier Homme.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2
Am 24. Oktober 1957, kurz nachdem er sich als Nobelpreisträger weiß, gibt Albert Camus eines der wenigen Interviews, welche, vielleicht noch mehr als so manche seiner Schriften, den Charakter und die Lebenshaltung des Philosophen offenbaren:
„In den Kämpfen unserer Zeit habe ich mich immer mit den Hartnäckigen solidarisch gefühlt, insbesondere mit jenen, die es nie vermochten, an einer gewissen Ehre zu verzweifeln. Ich teilte und teile manch einen Wahn meiner Zeitgenossen. Aber ich habe mich nie entschließen können, wie so viele andere, auf das Wort Ehre zu spucken. Zweifellos, weil ich mir meiner menschlichen Schwächen und meiner Ungerechtigkeit bewußt war und bin, weil ich instinktiv wußte und weiß, daß die Ehre (wie das Mitleid) jene unvernünftige Tugend ist, die an die Stelle der machtlos gewordenen Gerechtigkeit und Vernunft tritt. Der Mensch, den sein Blut, seine Torheiten, sein gebrechliches Herz den allgemein verbreiteten Schwächen ausliefern, muß wohl bei irgend etwas Halt suchen, um sich und infolgedessen die Mitmenschen achten zu können. Darum verabscheue ich eine gewisse selbstzufriedene Tugendhaftigkeit; ich verabscheue die gräßliche Moral der Welt, und zwar weil sie, genau wie der unbedingte Zynismus, die Menschen schließlich zur Verzweiflung treibt und daran hindert, ihr eigenes Leben mit seiner ganzen Last an Fehlern und Größe auf sich zu nehmen.“[15]
[...]
[1] NIETZSCHE, Friedrich: 1994. Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Stuttgart: Philipp
Reclam jun., S. 82.
[2] MONTINARI, Mazzino: 1991. Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Berlin/New York: de Gruyter, S. 12.
[3] ebda, S. 17f.
[4] ebda, S. 27.
[5] ebda, S. 46.
[6] ebda, S.50.
[7] ebda, S. 94.
[8] WÜRZBACH, Friedrich: [o.J.]. Nietzsche. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten. München:
Wilhelm Goldmann. S. 394f.
[9] CAMUS, Albert: 1997. Hochzeit des Lichts. IN: Horst WERNICKE [Hrsg.]: Unter dem Zeichen der
Freiheit. Camus Lesebuch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag, S. 25f.
[10] ebda, S. 26.
[11] PETERSEN, Carol: 1961. Albert Camus. Berlin: Colloquium Verlag, S. 12.
[12] ebda, S. 28.
[13] ebda, S. 61.
[14] ebda, S. 71.
[15] Albert Camus, Die Wette unserer Generation. IN: Horst WERNICKE [Hrsg.], Unter dem Zeichen der Freiheit,
S. 242f.
- Quote paper
- Dr. phil. Lisz Hirn (Author), 2006, Über das Menschsein in einer Welt ohne Sinn und ohne Gott, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121225
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