Einleitung
Wer Aufschluß darüber erhalten will, was das soziale Leben am ehesten charakterisiert, ist auf dem kürzesten Weg, wenn er oder sie die Sozialwissenschaftler danach fragt, was sie selbst für die unverzichtbaren Begriffe ihrer Disziplin halten. Carl Böhret (1985: 308) hat es unter den deutschen Politikwissenschaftlern getan. Die 256 Befragten haben 639 Begriffe benannt. Die mit Abstand am häufigsten vorgeschlagenen Begriffe sind in der ersten Linie Konflikt(e) (117mal) und Interesse (110mal), und in der zweiten Linie Macht (66mal) und Konsens (58mal). In den Sozialwissenschaften handelt es sich tatsächlich vor allem um Begriffe bzw. Phänomene wie Konflikte, Interesse, Macht und Konsens. Dieser Feststellung liegt die Vermutung nahe, daß eine umfassende Theorie oder Konzeption der Ordnung und des Wandels des sozialen Lebens von diesen vier Begriffen – in ihrem allgemeinsten Sinne und nicht in dieser oder jener fertigen Bedeutung – ausgehen sollte.
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INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
2. Zur Bestimmung des Mikro-Makro-Problems
3. Tief und durch und durch vs. System und Akteur
4. Heterogenität der Zeit vs. Prozeß und Struktur
5. Zirkularität der Produktivität vs. Kausalität
6. Fazit
Literatur
1. Einleitung
Wer Aufschluß darüber erhalten will, was das soziale Leben am ehesten charakterisiert, ist auf dem kürzesten Weg, wenn er oder sie die Sozialwissenschaftler danach fragt, was sie selbst für die unverzichtbaren Begriffe ihrer Disziplin halten. Carl Böhret (1985: 308) hat es unter den deutschen Politikwissenschaftlern getan. Die 256 Befragten haben 639 Begriffe benannt. Die mit Abstand am häufigsten vorgeschlagenen Begriffe sind in der ersten Linie Konflikt(e) (117mal) und Interesse (110mal), und in der zweiten Linie Macht (66mal) und Konsens (58mal). In den Sozialwissenschaften handelt es sich tatsächlich vor allem um Begriffe bzw. Phänomene wie Konflikte, Interesse, Macht und Konsens. Dieser Feststellung liegt die Vermutung nahe, daß eine umfassende Theorie oder Konzeption der Ordnung und des Wandels des sozialen Lebens von diesen vier Begriffen – in ihrem allgemeinsten Sinne und nicht in dieser oder jener fertigen Bedeutung – ausgehen sollte.
Michel Foucault (1926 – 1984) war im großen und ganzen in die oben umrissene Richtung gegangen, wobei er durchaus eine andere Begrifflichkeit verwendete. Seine umfangreichen Forschungsinteressen und theoretischen Modelle drehten sich dabei um Begriffe wie ‚Macht‘, ‚Krieg‘ oder ‚Strategie‘. Die Begriffe ‚Macht‘, ‚Krieg‘ und ‚Strategie‘ gehören nämlich zu derselben Kategorie wie die Begriffe ‚Macht‘, ‚Konflikt‘ und ‚Interesse‘. Lediglich ‚Konsens‘ kommt kaum in seinem ‚Diskurs‘ vor. Wie ein roter Faden durchzieht Foucaults Werke der Begriff der Macht. Um dieses Phänomen, oder genauer: Wort, herum baute er ein Gedankengebäude, das höchst unkonventionell doch nicht unvernünftig, vielfältig doch nicht inkohärent ist. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, daß er „heute weltweit der wohl am meisten diskutierte Philosoph im Umkreis von ‚Poststrukturalismus‘ und ‚Postmoderne‘" (Fink-Eitel 1992: 7) ist. Foucault (1978b: 56) selbst beschrieb sein Gedanken, seine Forschungsergebnisse als „gestrichelte Linien", und es wäre an den Lesern, sie fortzuführen oder anderswohin zu lenken, an ihm gegebenenfalls, sie voranzutreiben oder ihnen eine andere Gestalt zu geben. Anschließend sagte er:
Was mich betrifft, so kam ich mir wie ein Fisch vor, der aus dem Wasser hochspringt, und auf der Oberfläche eine kleine, kurze Schaumspur hinterläßt und der glauben läßt oder glauben machen will oder glauben möchte oder vielleicht tatsächlich selbst glaubt, daß er weiter unten, dort, wo man ihn nicht mehr sieht, wo er von niemandem bemerkt oder kontrolliert wird, einer tieferen, kohärenten, vernünftigeren Bahn folgt. (ebd.)
Eben dieses ‚freche‘ Spiel fordert eine Rekonstruktion und gegebenenfalls eine Interpretation heraus, die Foucaults ‚kleine, kurze Spuren‘ klarer macht und gleichzeitig aufzeigen kann, inwieweit die ‚tiefe Bahn‘ zur Lösung der Probleme der Sozialwissenschaften beitragen vermag. Das wäre aber eine zu ehrgeizige Aufgabe. In der vorliegenden Arbeit optiere ich für eine viel bescheidene Fragestellung. Foucaults Analysenraster der Macht und seine Geschichte der Formation der modernen Gesellschaft werden vor der Folie des Mikro-Makro-Problems rekonstruiert und an entsprechenden Stellen interpretiert.
Das Mikro-Makro-Problem wird deshalb als Hintergrund der Rekonstruktion gewählt, weil es ein zentrales methodologisches und theoretisches Problem der Soziologie ist. Wenn Theorie immer eine Sichtweise impliziert und wenn die Vielfältigkeit zur Natur der Tatsachenwelt gehört, so ist die Einseitigkeit eine der verlockendsten Fallen in der theoretischen Arbeit und es ist sinnvoll, Theorien nach der Ebene der Analyse zu gruppieren. Tatsächlich werden die soziologische Theorien häufig und gewöhnlich in Mikro- bzw. Makro-Soziologie klassifiziert und dies trotz der Bemühungen durch eine Vielheit von Ansätzen, gegensätzliche Perspektiven zu integrieren.
Obwohl Foucault das Mikro-Makro-Problem nie mit dieser Bezeichnung benannt hat, war er sich des Problems ganz bewußt. Dieses Problem steht am Anfang seiner „Geschichte der modernen Seele" (Foucault 1976: 33), die er in seinem wohl populärsten Werk „Überwachen und Strafen" erzählt. Er wollte nämlich in seiner ‚Analytik der Macht‘ zwei an Einseitigkeit reiche Vorgehensweisen, eine ontologisch-statische und eine an Durkheim gebundene metaphysisch-makrosoziologische, vermeiden (ebd.).
Vor diesem Hintergrund wird es interessant, die Frage zu stellen und zu prüfen, wie der Foucaultsche Ansatz das Mikro-Makro-Problem – explizit oder implizit – bewältigt hat. Sowohl die Lösungen, die er für das Problem anzubieten hat, wie auch die Schwierigkeiten, auf die er bei der Problemlösung stoßt, liefert uns weitere Einsichten nicht nur in das theoretische Mikro-Makro-Problem, sondern auch in das praktische Problem des Machteinsatzes.
2. Zur Bestimmung des Mikro-Makro-Problems
In den Sozialwissenschaften beschäftigt man sich mit Mensch(en) und Gesellschaft(en). Daher entstehen zwei große Schulen, die den theoretischen Horizont der Sozialwissenschaften polarisieren: der methodologische Individualismus und der methodologische Kollektivismus. Dem methodologischen Individualismus zufolge stellt das ‚Individuum‘ die Quelle aller sozialen Erscheinungen dar: ‚Der Mensch macht die Geschichte.‘ Während dessen unterstellt der methodologische Kollektivismus (auch Funktionalismus genannt), daß die ‚Gesellschaft‘ das individuelle Handeln in eine Art Logik zwingt: ‚Die Geschichte verläuft nach ihrer eigenen Logik.‘ Aber dieser Antagonismus stellt nur ein Beispiel des Mikro-Makro-Problems dar. Die Terme ‚Mikro‘ und ‚Makro‘ sind in der Tat relativ. Es geht im allgemeinen um zwei gegensätzlichen Betrachtungsweisen, die eine versucht, eine komplexe Erscheinung aus der Lokalperspektive als eine aus Teilen bestehende zu untersuchen, während die andere das Phänomen als Ganzes aus der Globalperspektive betrachtet. Dies ist das Problem des Verhältnisses zwischen ‚Teilen und Ganzes‘. Als eine Konsequenz gibt es in den Sozialwissenschaften zwei große Theoriengruppierungen, die handlungstheoretischen Ansätze auf der Mikroseite und die systemtheoretischen Ansätze auf der Makroseite.
Der ‚Teile-Ganze-Gegensatz‘ hat wiederum zwei entgegengesetzten Sichtweise zur Folge. Logischerweise erkennt eine absolute Globalanschauung keine Zeitdimension, während eine absolute Lokalperspektive nur Bewegungen sieht. Das ‚Teil-und-Ganze‘-Problem wandelt sich zum Problem der Statik-versus-Dynamik um. Dieses Problem tritt unmittelbar und unvermeidlich bei der Behandlung der zentralen Frage der (konventionellen) Soziologie, nämlich der Frage nach der sozialen Ordnung, auf. Die Soziologie hat sich seit eh und je mit der Frage beschäftigt: Wie kommt es zur sozialen Ordnung? Die zentrale Frage bei Thomas Hobbes war: Wie ist es möglich, aus dem Urzustand, aus einem ‚Krieg aller gegen alle‘, zu einer gesellschaftlichen Ordnung zukommen? (Hobbes 1965). Talcott Parsons zufolge liegt die Aufgabe der Soziologie darin, diesem Hobbesschen Problem Lösungen anzubieten (Parsons 1968). Parsons wurde aber vorgeworfen, mit einem statischen und daher unangemessenen Modell (dem Struktur-Funktionalismus und der ‚pattern variables‘) einen dynamischen Vorgang zu analysieren (vgl. dazu die massive Kritik Norbert Elias‘ in Elias 1977: XIV ff.). Das Beispiel Parsons‘ sollte nicht implizieren, daß ein makrosoziologischer Ansatz notwendigerweise ein statisches Modell ist. Ein systemtheoretischer Ansatz kann sich sehr wohl mit Makroprozessen beschäftigen. Die beiden Dichotomien Akteur-System und Prozeß-Struktur sind zwar nicht miteinander zu identifizieren, doch sind sie eng miteinander verbunden. Mein Vorschlag für die Unterstellung dieser Verbindung wäre, das Problem Akteur vs. System als das Mikro-Makro-Problem erster Ordnung und das Problem Prozeß vs. Struktur als das Mikro-Makro-Problem zweiter Ordnung zu bezeichnen.
Eng mit dem Prozessieren der Strukturen und dem Strukturieren der Prozesse verknüpft sich das Problem der Kausalität. Ein kausales Verhältnis ist eine zeitliche Beziehung zwischen einer oder mehreren Ursache(n) auf der einen Seite und einer oder mehreren Wirkung(en) auf der anderen Seite. Eine Ursache kann mehrere Wirkungen hervorrufen. Genauso kann eine Wirkung mehrere Ursache haben. Oft verwickeln sich die Fäden der Kausalbeziehung zwischen ihnen. Die Verwirrung steigert sich erheblich, wenn man bei der Modellbildung die Strukturen, also statische Beziehungsmuster, dynamisiert bzw. den Prozessen bestimmte Ordnungsschemata zuschreibt. In der Mehrheit der Modelle, die eine integrative Perspektive aufzeigen, die also nahe an eine erfolgreiche Mikro-Makro-Verknüpfung gekommen sind, kommt es oft vor, daß man Wechselwirkungen und Gegenseitigkeiten feststellt und dann über die Gleichzeitigkeit der Beziehungen spricht. Ein Beispiel dafür ist die Theorie der Strukturation von Anthony Giddens (vgl. Giddens 1992). Kann man bei einer Gleichzeitigkeit noch von Kausalität sprechen? Und wenn ein Modell den kausalen Beziehungen nein sagt, wo liegt dann seine Erklärungskraft? Weil dieses Problem so eng mit den beiden erwähnten Mikro-Makro-Problemen verbunden ist, würde ich das Problem der Kausalität als das Mikro-Makro-Problem dritter Ordnung nennen. Der ‚rote Faden‘, der das System-Akteur-Problem, das Struktur-Prozeß-Problem und das Kausalität-Problem durchzieht und verbindet, wird noch deutlicher, wenn wir ihm einen Name geben. Er heißt Form; und die Mikro-Makro-Probleme erster, zweiter sowie dritter Ordnung können jeweils als das Problem der Form, der Transformation und der Formation bezeichnet werden. Mit dieser Namensgebung wird zugleich einsichtiger, warum das Mikro-Makro-Problem eng mit dem zentralen Problem der Soziologie, nämlich dem der sozialen Ordnung, verbunden ist.
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- Arbeit zitieren
- Alexander Hong Lam Vu (Autor:in), 1999, Macht und Geschicht: Das Mikro-Makro-Problem bei Michel Foucault, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1210