Räume prägen das Aufwachsen und Lernen von Kindern und Jugendlichen. Sie können Ressourcen bereitstellen, sie können anregend und fördernd auf den Sozialisationsprozess und den Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen wirken, sie können deren Entwicklungschancen aber auch einschränken. Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema der Nutzung von öffentlichen Räumen durch Kinder und im speziellen Mädchen, in welcher Form und in welchem Ausmaß sie sich dieser Räume habhaft machen, um sie für ihre Interessen zu nutzen. Im ersten Kapitel wird der Begriff Sozialisation geklärt und anschließend erläutert, wie die Geschlechterrollen in Kindheit und Jugend vorbereitet werden. Aus den möglichen psychologischen Bezugstheorien wird die sozial-kognitive Lerntheorie herangezogen, da diese bezüglich Geschlechtersozialisation interessante Erklärungsmöglichkeiten bietet. Darauf folgend werden die Begriffe Raum und Aneignung geklärt. Im dritten Kapitel wird die Untersuchung von Martha Muchow dargestellt, die als Pionierin der ökologischen Psychologie gilt und in den 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine bemerkenswerte Untersuchung in ökologischer Hinsicht durchführte. Des weiteren spielt eine Rolle, ob und inwiefern sich die jugendliche Raumnutzung im Laufe der Zeit verändert hat und worin dies begründet liegt. Anschließend wird anhand von aktuellen Untersuchungen versucht, die Nutzung und den Aufenthalt von Mädchen im öffentlichen Räumen herauszuarbeiten. Die Ergebnisse der zitierten Studien erlauben abschließend einzelne Rückschlüsse bezüglich der Raumnutzung und Aneignung von Mädchen in der modernen Stadt zu ziehen.
Inhalt
1. Einleitung
2.Sozialisation
2.1 Zum Begriff der Sozialisation
2.2 Sozialisation und Geschlecht
2.3 Sozial-kognitive Lerntheorie
3. Raum und Aneignung
3.1 Das Raumkonzept sozialer Ungleichheiten
3.2 Sozialökologischer Ansatz
3.3 Aneignung
4.Martha Muchow: Forschungsergebnisse aus den 30er Jahren
4.1 Forschungsansatz und Besonderheiten der Studie
4.2 Der Lebensraum des Großstadtkindes in den 30er Jahren
4.3 Der Raum, den das Kind lebt
4.4 Zusammenfassung
5. Der Lebensraum heutiger Kinder in der Stadt
5.1 Veränderungsprozesse – Verinselung und Verhäuslichung
5.1.1 Verinselung
5.1.2 Verhäuslichung
5.2 Zusammenfassung
6. Die Raumaneignung von Mädchen in der heutigen Stadt
6.1 Die Nutzung von öffentlichen Räumen durch Mädchen
6.2 Raumeinschränkungen
6.2.1 Mithilfe im Haushalt
6.2.2 Sexuelle Bedrohung
6.2.3 Institutionalisierte Freizeitangebote
6.2.4 Eingeschränkter Körperraum
6.2.5 Mobilität
6.2.6 Andere räumliche Einschränkungen
6.3 Zusammenfassung
7. Schluss
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Räume prägen das Aufwachsen und Lernen von Kindern und Jugendlichen. Sie können Ressourcen bereitstellen, sie können anregend und fördernd auf den Sozialisationsprozess und den Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen wirken, sie können deren Entwicklungschancen aber auch einschränken. Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema der Nutzung von öffentlichen Räumen durch Kinder und im speziellen Mädchen, in welcher Form und in welchem Ausmaß sie sich dieser Räume habhaft machen, um sie für ihre Interessen zu nutzen. Im ersten Kapitel wird der Begriff Sozialisation geklärt und anschließend erläutert, wie die Geschlechterrollen in Kindheit und Jugend vorbereitet werden. Aus den möglichen psychologischen Bezugstheorien wird die sozial-kognitive Lerntheorie herangezogen, da diese bezüglich Geschlechtersozialisation interessante Erklärungsmöglichkeiten bietet. Darauf folgend werden die Begriffe Raum und Aneignung geklärt. Im dritten Kapitel wird die Untersuchung von Martha Muchow dargestellt, die als Pionierin der ökologischen Psychologie gilt und in den 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine bemerkenswerte Untersuchung in ökologischer Hinsicht durchführte. Des weiteren spielt eine Rolle, ob und inwiefern sich die jugendliche Raumnutzung im Laufe der Zeit verändert hat und worin dies begründet liegt. Anschließend wird anhand von aktuellen Untersuchungen versucht, die Nutzung und den Aufenthalt von Mädchen im öffentlichen Räumen herauszuarbeiten. Die Ergebnisse der zitierten Studien erlauben abschließend einzelne Rückschlüsse bezüglich der Raumnutzung und Aneignung von Mädchen in der modernen Stadt zu ziehen.
2. Sozialisation
2.1 Zum Begriff der Sozialisation
Sozialisation wird nach der Definition von Klaus Hurrelmann verstanden als
... den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundlagen, die für den Menschen die >innere Realität< bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen >äußere Realität< bilden (Hurrelmann, 2002, S. 15).
Diese ausführliche Definition versucht mehrere Komponenten zu berücksichtigen. Es wird betont, dass alle Umweltfaktoren Einfluß nehmen können und historisch bedingt sind, inwieweit diese Umweltfaktoren aber zum Tragen kommen, ist nicht zuletzt vom Individuum selbst abhängig. Hinsichtlich dem Charakter der Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt und zwischen Mensch und Gesellschaft hat sich ein ‚aktives Modell’ durchgesetzt, das alle neueren Sichtweisen zur Sozialisation beinhalten. Sozialisationstheoretiker wie Dieter Geulen, Klaus Hurrelmann und Klaus-Jürgen Tillmann sehen den Menschen als ein autonomes Subjekt, „ das seiner selbst mächtig und in schöpferisch-tätiger Auseinandersetzung mit der Welt Ausgangspunkt von Aktivität und Geschichte ist“ (Nissen, 1998, S. 22). Die biologische Ausstattung wird oft vergessen oder als unwichtig angesehen, zum Beispiel Peter Zimmermann sieht die Persönlichkeit des Säuglings nahezu als eine ‚Tabula rasa’ (2006, S. 12). Solche einseitigen Vorstellungen der gesellschaftlichen Beeinflussung des Sozialisationsprozesse können diesem vielschichtigen Thema nicht Rechnung tragen, da es eine Vielzahl von Faktoren auf der Subjektseite und auf der Umweltseite gibt, die es gerade auch für die methodisch-empirische Umsetzung schwierig machen.
2. 2 Sozialisation und Geschlecht
Ein Mädchen oder eine Frau in der Öffentlichkeit, auf Straßen und Plätzen, ist nie einfach nur ein Mensch, sondern immer festgelegt und definiert durch die vorgesehene Frauenrolle. In der Geschlechterforschung wird zwischen den Begriffen „Sex“ und „Gender“ unterschieden. Der erste deutet auf das biologische, der zweite auf das soziale Geschlecht hin. Männer und Frauen unterscheiden sich nicht nur biologisch, das Geschlecht stellt auch eine soziale Kategorie dar (vgl. Bilden, 1991). Erst über das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit erlangt das biologische Geschlecht an Bedeutung (vgl. Hagemann-White, 1984).
Das soziale Geschlecht ist bei der Betrachtung von geschlechtsspezifischer Sozialisation ausschlaggebend. Helga Bilden dazu: „Indem wir als Frauen oder Männer handeln, Männlichkeit oder Weiblichkeit darstellen, arbeiten wir permanent an der Produktion des Geschlechterverhältnis mit“ (doing gender) (1991, S. 294). Unter weiblich verstehen wir all das, was mit der polaren Geschlechtsrollencharakterisierung verbunden wird: Emotionalität, Einfühlungsvermögen, Sanftheit, Geduld und nicht zuletzt auch Selbstlosigkeit und Passivität. Geschlechtstypisches Verhalten wird also zu einem großen Teil erlernt und dadurch verstärkt, dass Mädchen und Jungen Zustimmung erhalten, wenn sie sich wie ein Mädchen bzw. wie ein Junge verhalten (vgl. Flade, 1996, S. 15). Die soziale-kognitive Lerntheorie kann Erklärungen bieten, bezüglich der Aneignung von Geschlechterrollen durch Identifikation und Imitation.
2.3 Die soziale-kognitive Lerntheorie
Lerntheorien sind im allgemeinen Theorien, die sich mit dem Lernen des menschlichen Gesamtverhaltens beschäftigen, indem sie dauerhafte Verhaltensänderungen beschreiben und analysieren, welche von äußeren Ereignissen und materiellen Umweltbedingungen beeinflusst werden (Zimmermann, 2006, S. 28). Die Persönlichkeitsentwicklung ist vor diesem theoretischen Hintergrund eine Abfolge von Lernerfahrungen. Ein wesentlicher Anteil haben hierbei andere Personen oder Gruppen auf deren tatsächliche oder mutmaßliche Reaktionen das eigene Verhalten bezogen wird (Fischer und Wiswende, 1997, S. 65).
Albert Bandura beschrieb 1959, in seinem Buch „Adolescent Aggresion“, die zentrale Rolle des Modellernens in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung. Durch diesen Ansatz nahm er eine wichtige theoretische Erweiterung der behavioristischen Lerntheorien vor. Menschen lernen nicht nur durch einzelne Verhaltensverstärkungen - wie dies in den klassischen behavioristischen Theorien der Fall ist -, sondern auch durch Nachahmung anderer Menschen (vgl. Bandura, 1976).
Diese Theorie geht davon aus, dass Beobachtung und Nachahmung einen großen Teil von Sozialisation ausmachen. Die Modelle sind dabei sehr vielfältig und schließen auch beispielsweise Lernen über Medien oder symbolische Verhaltensmuster mit ein. Es werden dabei nicht nur einzelne Verhaltensschritte, sondern auch soziale Vorbilder in ihrer Gesamtheit nachgeahmt (Bandura, 1976, S. 9). Dadurch ist es möglich, die Übernahme komplexer Verhaltensmuster zu erklären.
Der Lernvorgang gliedert sich in vier Phasen: Der Mensch ist aufmerksam, er behält, reproduziert und bewertet (Fischer & Wiswende, 1997, S. 68).
Es wird also nicht jedes Modell nachgeahmt, sondern nur dasjenige, das nach einer Bewertung als geeignet eingestuft wird. „Unter den zahllosen Reaktionen, die auf dem Wege der Beobachtung erworben werden, werden jene Verhaltensweisen, die für andere von Nutzen zu sein scheinen, gegenüber solchen Verhaltensweisen bevorzugt, bei denen sich negative Konsequenzen beobachten lassen (Bandura, 1979, S. 38).
Lernen über Beobachtung heißt im Sinne Banduras auch Lernen über Selbstbeobachtung, diese werden nach bestimmten Kriterien bewerten um uns selbst zu kritisieren oder zu belohnen. Der Mensch ist in dieser Tradition ein Subjekt, das durch Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung, Reflexivität des Bewusstseins und die Fähigkeit zur Selbstentwicklung bestimmt ist. Die Theorie befasst sich nicht nur mit äußeren Einflussquellen, sondern unterstellt dem Menschen die Möglichkeit selbstgesteuerter Anreize oder Belohnungen und selbsterzeugter Konsequenzen (Fischer & Wiswende, 1997, S. 66).
Die sozial-kognitive Theorie versucht nachzuweisen, daß wir nicht einfach irgendwelche Modelle und deren Verhaltensweisen imitieren, sondern dass unsere Modellierungen in einer selbstgesteuerten Situation stattfinden (Zimmermann, 2000, S. 36).
Babys können bereits im ersten Lebensjahr zwei Geschlechter unterscheiden, im zweiten Lebensjahr produzieren sie selbst geschlechtsbezogene Verhaltensweisen und bevorzugen Aktivitäten, die mit ihrem Geschlecht verbunden sind. Durch kognitive Verarbeitungen von direkten und indirekten Erfahrungen kategorisieren sich Kinder selbst als Mädchen oder Junge. Sie erwerben dabei grundlegendes Wissen über Geschlechtseigenschaften und lernen zugleich, welches Verhalten für ihr eigenes Geschlecht als angemessen angesehen wird (Bussey/Bandura, 1999, S. 696, zitiert nach Faulstich-Wieland 2008, S. 242-243).
Nach Bandura zeigt das Kind sein Verhalten nicht in erster Linie deshalb, weil es von seiner Umwelt dazu angehalten wird, sondern vor allem, weil es sich Modelle sucht die in sein Selbstbild passen.
Der Erwerb einer Geschlechtsidentität wird zu einem großen Teil durch kognitive Fähigkeiten erworben. Geschlechtsdifferenzen entstehen durch gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensschemen. „Kinder haben ein großes Interesse daran, sich sozial kompetent zu zeigen. Als sozial kompetent gilt, wer sich den Regeln gemäß verhält“ (Faulstich-Wieland, 2008, S. 243).
Banduras Ansatz hat mit kognitiven Theorien mehr Ähnlichkeit als mit traditionellen behavioristischen Lerntheorien. Das menschliche Lernen ist ein komplexer Prozess der Auseinandersetzung mit der Umwelt, „der immer zugleich Einwirkung und Aneignung, Anpassung und Veränderung einschließt. Lernen heißt für beide: beobachtende, verstehende, nachvollziehende und zugleich konstruktive kognitive Organisation und Strukturierung...“ (Ulich, 1998, S. 70).
3. Raum und Aneignung
3.1 Das Raumkonzept sozialer Ungleichheiten
Der Begriff Raum meint zum einen den physischen Raum mit Häusern, Straßen und Bäumen, zum anderen den sozialen Raum, der durch Beziehungen und soziale Geflechte geprägt ist. Dieser soziale Raum ist durch Ungleichheiten bestimmt. Nach Pierre Bourdieu sind es die sozialen Positionen der AkteurInnen, die ihre relative Stellung innerhalb dieses Raumes definieren (1985, S. 10). Dies bedeutet nicht nur die Lokalität eines Menschen im Raum, sondern zugleich auch die soziale Position die ein Individuum im sozialen Raum einnimmt. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer hierarchischen Gesellschaft, in der es unterschiedliche Chancen gibt. Er beschreibt drei „Kapitalorte“, von denen die materielle oder symbolische Aneignung von Gütern abhängen, dem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital. In der Struktur der räumlichen Verteilung dieser Kapitalien ist die Hierarchie einer Gesellschaft sichtbar (Bourdieu, 1991, S. 26-27). Das Geschlecht stellt ein solches Kapital dar. So bewirkt die Hierarchie des Geschlechterverhältnisses, daß alles, was als männlich gilt höherwertig ist, gegenüber allem, was als weiblich gilt. Dieses Machtverhältnis kann sich zum Beispiel in Redensarten, Sprichwörtern, aber auch in Sachlichem wie zum Beispiel in Stoffen, Schmuck und anderen Gegenständen zeigen (Faulstich-Wieland, 2008, S. 245). Individuen befinden sich immer in einem Raum und sind somit räumlichen Gesetzen unterworfen. So beeinflusst in Bezug auf Bourdieus Theorie die männliche Herrschaft die eigene Sozialisationsgeschichte und Erziehung und öffnet oder verschließt Räume für die Einzelnen.
3.2 Sozialökologischer Ansatz
Urie Bronfenbrenner beschreibt den Raum als ein Zonenmodell, welches aus konzentrischen, ineinadergeschachtelten Strukturen besteht. Die kleinste Raumeinheit ist das Mikrosystem, welches „ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, das die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit seinen eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt.“ (Bronfenbrenner, 1996, S.76). Das Mesosystem besteht aus einzelnen Lebensbereichen die meist kollektiv genutzt werden, wie zum Beispiel für ein Kind etwa die Beziehung zwischen Elternhaus, Schule und Spielkameraden sich ein solcher Raum darstellen könnte. Das Exosystem besteht aus dem Teil an dem das Kind nicht direkt teilnimmt, welcher aber Auswirkungen auf den Lebensbereich des Kindes hat, wie zum Beispiel der Arbeitsplatz der Eltern. Im Makrosystem finden sich Weltanschauungen und Ideologien und im Chronosystem befinden sich ganze Lebensläufe oder Umweltsysteme die über einen längeren Zeitraum betrachtet werden. (Bronfenbrenner, 1996, S. 76-77). Wenn man mit Bronfenbrenner die Auffassung teilt, daß die Entwicklung eines Individuums gleichzusetzen ist mit seiner wachsenden Kontrolle über die Umwelt, so wird dem unmittelbaren Nahraum des Kindes eine sehr hohe Bedeutung zugemessen, indem ihm eine selbständige Raumaneignung möglich ist. Wie weit sich das Kind von der Wohnung entfernen darf, hängt nicht zuletzt von den Merkmalen der unmittelbaren und mittelbaren Umgebung ab (Hellbrück & Fischer, 1999, S. 442).
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- Citation du texte
- B.A. Sabine Kaspar (Auteur), 2008, Sozialisation und Raumaneignung von Mädchen im öffentlichen Raum, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120647
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