„P f l i c h t ! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung
bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch
nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den
Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte
Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer
Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ihm
entgegen wirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die
Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt,
und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen
Wertes ist, den sich Menschen allein selbst geben können?“1
Wie pathetisch der sonst so trockene Kant doch zuweilen werden kann.
P f l i c h t ! ist ein zentraler Begriff der praktischen Philosophie Kants. Er beinhaltet
die Notwendigkeit einer Handlung aus bloßer Achtung fürs praktische Gesetz, welches
ohne Ansehung der Bedingungen oder der Gelegenheit unnachlaßlich gelten
soll. „Hier ist nun die bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne ein auf gewisse Handlungen
bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Prinzip
dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und
chimärischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine Menschenvernunft in ihrer
Beurteilung auch vollkommen überein und hat das gedachte Prinzip jederzeit vor Augen.“ Zu diesem Gesetz der Gesetzmäßigkeit tritt nun ein Maxime genannter, verallgemeinerter
Vorsatz einer je bestimmten Handlung hinzu, was einen, diese Handlung
fordernden, kategorischen Imperativ ergibt, d.i. einer, welcher, im Unterschiede zu
dem hypothetischen, vermöge seiner Einstimmung mit dem praktischen Gesetze, so
fern also die Maxime überhaupt als allgemeines Gesetz gedacht werden kann, ohne
dabei mit sich selbst in Widerstreit zu geraten, als ein solches unbedingt ist und mithin
jederzeit gelten kann. „Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich ereignenden Vorfälle
desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? [...]
Gliederung
Einleitung: Zum Begriff der Pflicht
Erster Abschnitt: Uber die Natur
Natur und Kausalitat der Natur
Wille und Heteronomie des Willens
Zweck und ZweckmaGigkeit
Zweiter Abschnitt: Uber die Freiheit
Dinge an sich und die Moglichkeit der Freiheit
Autonomie des Willens und Achtung vorm Gesetz
Endzweck und Selbstzweck
Dritter Abschnitt: Freiheit in der Erscheinung
Vernunftige Wesen und das transzendentale Subjekt
Wurde und Demutigung
Uber das erhabene Gefuhl
Verwandte Literatur
Einleitung: Zum Begriff der Pflicht
„P f I i c h t! du erhabener grower Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmei- chelung bei sich fuhrt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was naturliche Abneigung im Gemute erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloB ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemute Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ihm entgegen wirken, welches ist der deiner wurdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz aus- schlagt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaBliche Bedingung des- jenigen Wertes ist, den sich Menschen allein selbst geben konnen?"1
Wie pathetisch der sonst so trockene Kant doch zuweilen werden kann. Pflicht! ist ein zentraler Begriff der praktischen Philosophie Kants. Er beinhaltet die Notwendigkeit einer Handlung aus bloBer Achtung furs praktische Gesetz, welches ohne Ansehung der Bedingungen oder der Gelegenheit unnachlaBlich gelten soll. ,,Hier ist nun die bloBe GesetzmaBigkeit uberhaupt (ohne ein auf gewisse Hand- lungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Prinzip dient und ihm auch dazu dienen muB, wenn Pflicht nicht uberall ein leerer Wahn und chimarischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine Menschenvernunft in ihrer Beurteilung auch vollkommen uberein und hat das gedachte Prinzip jederzeit vor Au- gen.“2
Zu diesem Gesetz der GesetzmaBigkeit tritt nun ein Maxime genannter, verallge- meinerter Vorsatz einer je bestimmten Handlung hinzu, was einen, diese Handlung fordernden, kategorischen Imperativ ergibt, d.i. einer, welcher, im Unterschiede zu dem hypothetischen, vermoge seiner Einstimmung mit dem praktischen Gesetze, so fern also die Maxime uberhaupt als allgemeines Gesetz gedacht werden kann, ohne dabei mit sich selbst in Widerstreit zu geraten, als ein solches unbedingt ist und mit- hin jederzeit gelten kann.
,,Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfahig auf alle sich ereignenden Vorfalle desselben gefaBt zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, daB deine Ma- xime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich, und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden Nachteils willen, son- dern weil sie nicht als Prinzip in eine mogliche allgemeine Gesetzgebung passen kann; fur diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich grunde (welches der Philosoph unter- suchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: daG es eine Schatzung des Wertes sei, welcher allen Wert dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit uberwiegt, und daG die Notwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung furs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewe- gungsgrund weichen muG, weil sie die Bedingung eines an sich guten Willens ist, dessen Wert uber alles geht.“3
,,Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daft sie ein allgemeines Gesetz werde.“4 Was jedoch die Maxime angeht, so ist sie vorjetzt eine bloG em- pirisch verallgemeinerte, subjektive Willensbestimmung, d.i. das subjektive Prinzip des Wollens. ,,Nun ist das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbe- stimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloGe Vernunft gegeben wird, muG fur alle vernunftige Wesen gleich gelten.“5 Das Vernunftvermogen allein, als das Vermogen der (spekulativen) Totalitat, ermoglicht die gesetzliche (begriffliche) Allge- meinheit meiner Maximen; indem es mir aber, durch das praktische Gesetz, meinen Willen auch als einer gesetzgebendenden Vernunft unterworfen vorstellt, gebietet es diese Allgemeinheit eben sowohl in Ansehung aller meiner Willensbestimmungen; so fern jedoch durch den Willen die Maxime des Handelns zum allgemeinen Gesetze werden soll, muG sich der Wille eines vernunftigen Wesens im Handeln doch selbst als gesetzgebend begreifen. ,,Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daG er auch als selbstgesetzgebend und deswegen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muG.“6 Dieser Grundsatz der Bestimmung des Willens durch sich selbst ist das Prinzip eines an sich guten Willens, dessen Wert uber alles geht, weil ein solcher Wille sich selbst uber allen Wert, d.i. als allgemein gesetzgebend, setzt, indem er das Prinzip des Wollens uberhaupt zum einzigen Bewegungsgrunde nimmt, also bloG wollen will.
„Wenn es also ein oberstes praktisches Prinzip und in Ansehung des menschli- chen Willens einen kategorischen Imperativ geben soil, so muG es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig fur jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum all- gemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die ver- nunftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So Stellt sich aber auch jedes andere vernunftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch fur mich gilt, vor; also ist es zu- gleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens mussen abgeleitet werden konnen. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daft du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloft als Mittel brauchest.“7 Indem der Wille, als der eines vernunftigen Wesens solcherart das Wollen selbst sich zum einzigen Prinzip macht, macht er sich also den Willen ver- nunftiger Wesen uberhaupt, namlich allgemeine Gesetzgebung, zum Prinzip.
,,Die praktische Notwendigkeit nach diesem Prinzip zu handeln, d.i. die Pflicht, be- ruht gar nicht auf Gefuhlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloG auf dem Ver- haltnisse vernunftiger Wesen zueinander, in welchem der Wille eines vernunftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muG, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken konnte.“ 8
Das Subjekt der Handlung entnimmt das Gesetz seines Handelns also nicht einem anderen Gegenstand, dem es gerade geneigt sein mag oder den es furchtet, sondern einzig allein seinem eigenen, durch Vernunft als ein allgemeines eingesehenen Vermogen, zu Wollen (Setzen), d.i. der Begriff einer Gesetzgebung uberhaupt. Dies ist der Grundsatz des Prinzips der Autonomie, welchem gemaG der schlechthin gute Wille gar nicht am Erfolg noch an der Absicht der Handlung gemessen werden kann, sondern bloG darin, daG seine Maxime Teil einer moglichen allgemeinen Gesetzgebung sein konnte. ,,Es liegt also der moralische Wert der Handlung nicht in der Wir- kung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wirkung zu entlehnen be- darf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmlichkeit seines Zustands, ja gar Beforde- rung fremder Gluckseligkeit) konnten auch durch andere Ursachen zustande ge- bracht werden, und es brauchte also dazu nicht des Willens eines vernunftigen We- sens, worin gleichwohl das hochste und unbedingte Gute allein angetroffen werden kann.“9 Die einzige Bestimmung dieses privatisierten, von allen empirischen Bestim- mungen gereinigten Willens kann daher nur die Bestimmung zum Handeln uberhaupt sein. „Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung ir- gendeines Gesetzes entspringen konnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetz- maGigkeit der Handlungen uberhaupt ubrig, welche allein dem Willen als Prinzip die- nen soll, d.i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daft ich auch wollen konne, meine Maxime konne ein allgemeines Gesetz werden. “10
Nun ist aber der Bestimmung des Willens durchs moralische Gesetz mancherlei anderweitige Triebfeder entgegen, namlich die bereits erwahnten Neigungen und Be- furchtungen in Ansehung sinnlicher Gegenstande. „Nur ein vernunftiges Wesen hat das Vermogen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung von Handlungen nach Gesetzen Vernunft erfor- dert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d.i. der Wille ist ein Vermogen, nur dasjenige zu wahlen, was die Vernunft unabhangig von der Nei- gung als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt. Bestimmt aber die Vernunft allein den Willen nicht hinlanglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objektiven ubereinstimmen; mit ei- nem Worte, ist der Wille nicht an sich vollig der Vernunft gemaG (wie es beim Men- schen wirklich ist): so sind Handlungen die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufallig, und die Bestimmung eines solchen Willens objektiven Gesetzen gemaG ist Notigung; d.i. das Verhaltnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durch- aus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernunftigen Wesens zwar durch Grunde der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist.“11
Wenngleich also der Befolgung des moralischen Gesetzes auch unuberwindliche Hindernisse in der Natur des Menschen entgegenstunden, so kann doch der Forde- rung nach dessen Beachtung kein NachlaG getan werden, so fern nur Handlungen, die bloG aus Pflicht, ohne Ansehung ihrer Wirkungen, mithin aus einem schlechthin guten Willen erfolgen, daher auch schlechthin gut heiGen durfen. ,,Diese Handlungen bedurfen auch keiner Empfehlung von irgend einer subjektiven Disposition Oder Ge- schmack, sie mit unmittelbarer Gunst und Wohlgefallen anzusehen, keines unmittelbaren Hanges Oder Gefuhles fur dieselbe: sie stellen den Willen, der sie ausubt, als Gegenstand einer unmittelbaren Achtung dar, dazu nichts als Vernunft gefordert wird, um sie dem Willen aufzuerlegen, nicht von ihm zu erschmeicheln, welches letztere bei Pflichten ohnedem ein Widerspruch ware."12
Wenn also auBer dem Gesetze selbst ein Grund zu solchen Handlungen gefunden wurde, so konnten sie zwar immer noch pflichtgemaB sein, niemals aber aus Pflicht geschehen, sondern immer nur aus jenem anderen Grunde, welcher dann zwar bei dieser oder jener Ge- legenheit zu Handlungen in Einstimmung mit der Pflicht, im allgemeinen jedoch ebenso gut zu pflichtwidrigen Grund genug geben mag (selbst dann, wenn alle bisherige Erfahrung kein einziges Beispiel an die Hand gabe, in welchem dies der Fall gewesen), hiemit die Pflichtge- maBheit einer besonderen, aus diesem Grunde erfolgenden Handlung bloB zufallig und gar nicht notwendig ist. ,,Wenn der Wille irgend worin anders, als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin, wenn er, indem er uber sich hin- ausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn be- stimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus."13 AuBer dem Gesetz selbst kann also uberall gar kein Grund, welcher den Willen zu schlechthin guten Handlungen bestimmen konnte, angegeben werden.
,,Und hierin liegt eben das Paradoxon: daB bloB die Wurde der Menschheit als ver- nunftiger Natur ohne irgend einen andern dadurch zu erreichenden Zweck oder Vor- teil, mithin Achtung fur eine bloBe Idee dennoch zur unnachlaBlichen Vorschrift des Willens dienen sollte, und daB gerade in dieser Unabhangigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Erhabenheit derselben bestehe und die Wurdigkeit eines jeden vernunftigen Subjekts, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein; denn sonst wurde es nur als dem Naturgesetze seiner Bedurfnis unterworfen vorgestellt werden mussen."14
Im vorliegenden Aufsatze habe ich mir vorgesetzt, diesem Paradoxon ein wenig nachzuspuren. Stilistisch bediene ich mich dabei der Methode der Zitatenkollage, bei der es darum geht, verschiedene AuBerungen des Autors zum gleichen Thema, auch aus verschiedenen Werken, zusammenzustellen, und ihren Zusammenhang aufzu- finden. Es ist klar, daB es dabei weniger um einzelne Begriffsbestimmungen, als viel- mehr um die Darstellung der Entwicklung eines Gedanken zu tun sein muB.
Der nachste Abschnitt wird sich mit zunachst mit Heteronomie des Willens und der Naturkausalitat befassen. FuBend auf den dortigen Bestimmungen erortert der dar- auffolgende die Autonomie und die Kausalitat der Freiheit, d.h. die Frage, wie ein bloBer Vernunftbegriff eine Kausalitat in der Natur haben konne. Der letzte schlieB- lich wird auf die Beurteilung der Freiheit in der Erscheinung eingehen.
Erster Abschnitt: Uber die Natur
Natur und Kausalitat der Natur
Kausalitat ist eine Kategorie des Verstandes; was der Grund dafur ist, daG die Verknupfung einer Ursache mit einer Wirkung uberhaupt als GesetzmaGigkeit aufge- faGt, d.i. ihr eine Notwendigkeit beigelegt werden kann, welches nicht moglich ware, wenn dieser Begriff aus bloGer Naturbeobachtung gewonnen ware. „Erscheinungen geben gar wohl Falle an die Hand, aus denen eine Regel moglich ist, nach der etwas gewohnlicher maGen geschieht, aber niemals, daG der Erfolg notwendig sei: daher der Synthesis der Ursache und Wirkung auch eine Dignitat anhangt, die man gar nicht empirisch ausdrucken kann, namlich, daG die Wirkung nicht bloG zu der Ursache hinzu komme, sondern d u rch dieselbe gesetzt sei, und aus ihr erfolge."15 Aus der bloGen Beobachtung der Empirie lassen sich allenfalls mehr oder minder brauchbare Regeln gewinnen, denen jedoch nicht ohne weiteres eine allgemeine Gultigkeit zugeschrieben werden kann. ,,Die strenge Allgemeinheit der Regeln ist auch gar keine Eigenschaft empirischer Regeln, die durch Induktion keine andere als komparative Allgemeinheit, d.i. ausgebreitete Brauchbarkeit bekommen konnen."16
Die Notwendigkeit bzw. Allgemeinheit, die zum Begriff des Gesetzes gehort, laGt sich in den RegelmaGigkeiten in der Abfolge Erscheinungen gar nicht auffinden, da diese jederzeit als zufallig angesehen werden mussen. ,,Denn Gesetze existieren ebensowenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inharieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, so fern es Sinne hat. Dingen an sich selbst wurde ihre GesetzmaGigkeit notwendig, auch auGer dem Verstande, der sie erkennt, zukommen."17 Dinge an sich selbst jedoch sind keine Erscheinungen in Raum und Zeit, sondern bloG intelligibele Gegenstande. ,,Auf mehre Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur uberhaupt, als GesetzmaGigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermogen nicht zu, durch bloGe Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben."18
Von Intelligibelen Gegenstanden konnen wir zwar einen Begriff haben, doch bleibt dieser Begriff leer, da ihm kein empirischer Gegenstand, d.i. eine Erscheinung in un- serer Sinnlichkeit, entspricht, und nur von einem solchen konnten wir doch auch ein Erkenntnis haben; von der Synthese von Erscheinungen in unserem innern Sinne (d.i. die Abfolge verschiedener Vorstellungen in der Zeit) konnen wir jedoch bloG sa- gen daG sie sich vollziehe, nicht jedoch, daG sie sich notwendig uberall so vollziehen musse. ,,Der Begriff aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit bei sich fuhrt, kann nur ein reiner Verstandesbegriff sein, und das ist hier der Begriff des Verhaltnisses von Ursache und Wirkung, wovon die erstere die letztere in der Zeit, als die Folge, und nicht als etwas, was bloG in der Einbildung vor- hergehen (oder gar uberall nicht wahrgenommen sein) konnte, bestimmt. Also ist nur dadurch, daG wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Veranderung dem Geset- ze der Kausalitat unterwerfen, selbst Erfahrung, d.i. empirisches Erkenntnis von den- selben moglich; mithin sind sie selbst, als Gegenstande der Erfahrung, nur nach eben dem Gesetze moglich."19 Also muG der Begriff der Kausalitat, als der der Ge- setzlichkeit der Natur, einem jeden empirischen Erkenntnis vorhergehen; er kann nicht selbst ein Erkenntnis sein, sondern muG bereits im reinen Verstande a priori aufgefunden werden konnen, wenn empirische Erkenntnisse moglich sein sollen. ,,Soll also meine Wahrnehmung die Erkenntnis einer Begebenheit enthalten, da nam- lich etwas wirklich geschieht; so muG sie ein empirisches Urteil sein, in welchem man sich denkt, daG die Folge bestimmt sei, d.i. daG sie eine andere Erscheinung der Zeit nach voraussetze, worauf sie notwendig, oder nach einer Regel, folgt. Widrigenfalls, wenn ich das Vorhergehende setze, und die Begebenheit folgte nicht darauf notwendig, so wurde ich sie nur fur ein subjektives Spiel meiner Einbildung halten mussen, und stellete ich mir darunter doch etwas Objektives vor, sie einen bloGen Traum nen- nen."20 Denn dann ware die Reihe der Geschehnisse, so wie sie durch die Verknup- fung von Erscheinungen nach Gesetzen der Kausalitat gebildet wird, unterbrochen, wie es auch beim Ubergange vom Wachen, d.i. der Wahrnehmung der empirischen Wirklichkeit, zum Traume geschieht. In der Tat konnen wir die Wirklichkeit vom Traum unterscheiden, indem sich Ereignisse in der ersteren zu einer solchen unun- terbrochenen kausalen Reihe fugen, im Unterschiede zu bloG getraumten.
,,Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d.i. nach Gesetzen.
Es sind also gewisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine Natur moglich machen; die empirischen konnen nur vermittelst der Erfahrung, und zwar zufolge je- ner ursprunglichen Gesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst moglich wird, stattfinden, und gefunden werden."21 Ohne die Unterstellung eines solchen notwendi- gen Zusammenhangs konnten wir gar keine Veranderungen an Dingen feststellen, sondern bloB einen Wechsel der Erscheinungen. „Alles, was geschieht, ist hypothe- tisch notwendig; das ist ein Grundsatz, welcher die Veranderung in der Welt einem Gesetze unterwirft, d.i. einer Regel des notwendigen Daseins, ohne welche gar nicht einmal Natur stattfinden wurde."22 Denn wo alles Geschehen zufallig und unzusam- menhangend ware, konnte gar nicht gesagt werden, ob ein Wechsel in der Erschei- nung auch das Ding selbst betrifft, d.i. ob sich an einem und demselben Ding eine Veranderung seiner Bestimmungen vollzieht, oder ob es hernach ein ganz anderes Ding ist. ,,Veranderung ist Verbindung kontradiktorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen im Dasein eines und desselben Dinges."23 Dabei wird die Verbindung Entgegengesetzter durch die Synthese der Erscheinungen des inneren Sinnes, d.i. in der Anschauung in der Zeit, geleistet, und zwar so, daB das jeweils vorhergehende als die Bedingung des Erfolgenden angesehen wird; letzteres kann nun wieder Be- dingung weiterer Geschehnisse sein usf. Jeder solcher Bedingung wird eine Kausalitat zugeschrieben, d.i. eine Notwendigkeit ihrer Verknupfung mit dem aus ihr Erfolgenden. Diese Kausalitat der Bedingung heiBt selbst bedingt, wenn diese wiederum Erfolg einer zuvor gegeben Bedingung ist, sonst unbedingt. Alle Erscheinungen der Natur haben bloB bedingte Kausalitat. ,,Da heiBt nun die Bedingung von dem, was geschieht, die Ursache, und die unbedingte Kausalitat der Ursache in der Erschei- nung die Freiheit, die bedingte dagegen heiBt im engeren Verstande Naturursache. Das Bedingte im Dasein uberhaupt heiBt zufallig, und das Unbedingte notwendig. Die unbedingte Notwendigkeit der Erscheinungen kann Naturnotwendigkeit heiBen."24 Dabei ist die Erscheinung so fern unbedingt notwendig, als daB das Ding an sich selbst, als Bedingung seiner Erscheinung, in gewisser Analogie zu einer Kausalitat auch als deren Ursache angesehen werden kann, fur die aber, da sie selbst in keiner Erscheinung gegeben ist, auch keine weiteren Bedingungen gefunden werden konnen. Das bedeutet einerseits, daB die Natur eines Dings, als einem intelligibelen Gegenstand, die unbedingte (innere) Notwendigkeit desjenigen gesetzlichen Zusam- menhangs vorstellt, unter welche das Subjekt des Erkenntnisses die unterschiedli- chen Bestimmungen seiner Erscheinung gebracht hat; andererseits die Natur an sich, als Inbegriff der Erscheinungen, nur durch deren gesetzlichen Zusammenhang uberhaupt gedacht werden kann, welcher also, in Ansehung der Natur uberhaupt, auch unbedingt notwendig ist. „Natur, adjektive (formaliter) genommen, bedeutet den Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges, nach einem innern Prinzip der Kausalitat. Dagegen versteht man unter Natur, substantive (materialiter), den Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermoge eines inneren Prinzips der Kausalitat, durchgangig zusammenhangen."25
Da nun Handlungen, wie alle Geschehnisse, Erscheinungen sind, muG es auch moglich sein, sie unter deren Inbegriff, d.i. einen kausalen Zusammenhang mit allen anderen Erscheinungen zu bringen; dieser aber ist auch fur Handlungen, in Ansehung ihrer Kausalitat, jederzeit anzunehmen, welche also immer nur eine bedingte sein kann. ,,Eine ursprungliche Handlung , wodurch etwas geschieht, was vorher nicht war, ist von der Kausalverknupfung der Erscheinungen nicht zu erwar- ten.“26
Wille und Heteronomie des Willens
Die Frage nach der Freiheit des Willens wird so beantwortet, daG dieselbe gar nicht in der Welt der Erscheinungen (Natur) stattfinde, sondern daG die Grunde der Bestimmung der Willkur bloG in einer intelligibelen Welt (Verstand) vorfindlich seien. „Nun tut ihm [dem Satz der Kausalitat, Anm. d. Verf.] das nicht den mindesten Ab- bruch, gesetzt daG es ubrigens auch bloG erdichtet sein sollte, wenn man annimmt, daG unter den Naturursachen es auch welche gebe, die ein Vermogen haben, welches nur intelligibel ist, indem die Bestimmung desselben zur Handlung niemals auf empirischen Bedingungen, sondern auf bloGen Grunden des Verstandes beruht, so doch, daG die Handlung in der Erscheinung von dieser Ursache allen Gesetzen der empirischen Kausalitat gemaG sei.“27 Nun hat eine jede Ursache eine Regel, nach der sie ihre Wirkungen hervorbringt; diese kann man ihren Charakter nennen. Jeder Handlung kann also auGer ihrem empirischen Charakter (d.i. die Regel ihrer Kausalitat nach Naturursachen) auch ein intelligibeler (ihrer Kausalitat nach Grunden) beigemessen werden. ,,Dieser intelligibele Grund ficht gar nicht die empirischen Fragen an, sondern betrifft etwa bloB das Denken im reinen Verstande, und, obgleich die Wirkungen dieses Denkens und Handelns des reinen Verstandes in den Erscheinungen angetroffen werden, so mussen diese jedoch nichts desto minder aus ihrer Ursache in der Erscheinung nach Naturgesetzen vollkommen erklart werden konnen, indem man den bloB empirischen Charakter derselben, als den obersten Erklarungsgrund, befolgt, und den intelligibelen Charakter, der die transzendentale Ursache von jenem ist, ganzlich als unbekannt vorbeigeht, auBer so fern er nur durch den empirischen als das sinnliche Zeichen desselben angegeben wird."28 Denn nicht nur kann unter gar keinen Umstanden ein Zerbrechen der Reihe der Naturursachen und eine Abweichung von der Erklarung ihrer Erscheinungen nach dem Satze der Kausalitat erlaubt werden: es konnen die Grunde, die bei einer Handlung den Willen bestimmten, anhand der Erscheinung derselben nie ganz sicher, und gleichsam nur vermutungsweise angegeben werden, zumal wir uns selbst, als Handelnde, eingestehen mussen, kaum je uber vollige Klarheit in Ansehung der Grunde zu verfugen, die unsere Willkur bestimmen mogen. ,,ln Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit, und nach diesem konnen wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten, und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen wollen."29
,,Die Handlung nun, sofern sie der Denkungsart, als ihrer Ursache, beizumessen ist, erfolgt dennoch daraus gar nicht nach empirischen Gesetzen, d.i. so, daB die Be- dingungen der reinen Vernunft, sondern nur so, daB deren Wirkungen in der Erscheinung des inneren Sinnes vorhergehen ."30 In Ansehung der intelligibelen Ursache der Handlung also finden wir eine Art der Umkehrung der Kausalitat auf, die in der Natur nirgend sonst anzutreffen ist, und die daher der letzteren gar nirgend wi- derstreiten kann. ,,Der Wille mag frei sein, so kann dieses doch nur die intelligibele Ursache des Wollens angehen. Denn, was die Phanomene der AuBerung desselben, d.i. die Handlungen betrifft, so mussen wir, nach einer unverletzlichen Grundmaxime, ohne welche wir keine Vernunft im empirischen Gebrauche ausuben konnten, sie niemals anders als alle ubrige Erscheinungen der Natur, namlich nach unwandelba- ren Gesetzen derselben, erklaren."31
[...]
1 I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Reclam, Ditzingen 1998 (im folgenden KdpV), S. 139-140 [S. 154 d. 1. Auflage bei Hartknoch, Riga 1788]
2 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Reclam, Ditzingen 1996 (im folgenden Grundlegung), S. 40-41 [S. 402 d. Konigl. PreuB. Akademie-Ausgabe]
3 Grundlegung, S. 42-43 [403]
4 Grundlegung, S. 68 [421]
5 Grundlegung, S. 77 [427]
6 Grundlegung, S. 82 [43l]
7 Grundlegung, S. 79 [428-429]
8 Grundlegung, S. 87 [434-435]
9 Grundlegung, S. 39 [400-401]
10 Grundlegung, S. 40 [401-402]
11 Grundlegung, S. 56 [412-413]
12 Grundlegung, S. 88 [435]
13 Grundlegung, S. 96 [440-441]
14 Grundlegung, S. 93-94 [438-439])
15 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Reclam, Ditzingen 1993 (im folgenden KdrV), S. 167 [S. 91-92 der 1. Auflage von 1781 (im folgenden mit A bezeichnet), S. 124 der 2. Auflage von 1787 (im folgenden B), beide bei Hartknoch, Riga]
16 ebd.
17 KdrV, S. 202 [B164]
18 KdrV, S. 203 [B165]
19 KdrV, S. 269 [A189, B243]
20 KdrV, S. 280 [A201-202, B246-247]
21 KdrV, S. 293-294 [A215, B263]
22 KdrV, S. 309 [A228, B280]
23 KdrV, S. 319 [B291]
24 KdrV, S. 461 [A418, B447]
25 KdrV, S. 461 [A418, B447] Anm.
26 KdrV, S 583 [A544, B572]
27 KdrV, S. 584 [A545, B573]
28 KdrV, S. 585 [A545-546, B573-574]
29 KdrV, S. 588 [A550, B578]
30 KdrV, S. 589-590 [A551, B579]
31 KdrV, S. 809 [A798, B826]
- Arbeit zitieren
- Magister Artium Wolfgang Schmeißer (Autor:in), 2001, Pflicht! du erhabener großer Name... , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120645
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